herrscht, hatten Jahrhunderte lang gewirkt und
wirkten noch heute, um ein einziges Ziel zu er-
reichen, das Reich Gottes auf Erden zu gründen,
zu befestigen und seinen Glanz zur Entfaltung
zu bringen. Dieser Idee unterwarf sich be-
dingungslos der einzelne, unterwarfen sich die
Massen, die in ihr ihr diesseitiges Glück und
ihre jenseitige Seligkeit verbürgt sahen. Gern
gab der Mensch seine Individualität auf, setzte
seiner Vernunft Schranken und begnügte sich,
das Weltbild nur so weit zu erkennen, als es
ihm mit den Mitteln des Verstandes möglich
war. Mit den Geheimnissen und Wundern des
Glaubens füllte er die Lücken, löste er die
Rätsel.
Anderthalb Jahrtausende hat die Kirche rast-
los und unermüdlich danach gestrebt, die
Menschheit als Ganzes und den einzelnen Men-
schen an sich zu ziehen. Sie hat seinem Geiste
ein einheitliches, in sich geschlossenes, lücken-
loses Weltbild dargeboten, hat ihn gelehrt, es
mit den Mitteln des Verstandes, den der Glaube
ergänzt und stützt, oder, wo er nicht ausreicht,
ersetzt, zu erkennen. Sie hat im Dogma, in der
Verpflichtung zum Glauben, eine Form gefunden,
die Skepsis zu ersticken, und hat ihre Lehre mit
einer beispiellosen, suggestiven Gewalt auszu-
statten gewußt, in der sich in unerhört glück-
licher Mischung wuchtiger Ernst und grenzen-
lose Liebe paarten. So erreichte sie es, daß der
Glaubenszwang nicht als Zwang empfunden
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