Mit sicherem Empfinden erfaßte er den
Grundmangel, der dem Glauben seiner Kindheit
anhaftete. Der Protestantismus stellte jeden
Menschen einzeln, als Persönlichkeit, nicht als
Glied einer umfassenden Gemeinschaft, vor
seinen Gott. Er überließ die Beantwortung aller
im Umkreis der Religion aufzuwerfenden
Fragen der individuellen Auffassung. Seinen
Sätzen fehlte die allgemeine und für ewig bin-
dende Gültigkeit und damit die wesentlichste
Vorbedingung, die Einheit der Lehre unter
seinen Anhängern zu begründen und aufrecht
zu erhalten. Am schwersten machte sich dieser
Mangel bei der Bestimmung des Absoluten
(Gottes) geltend. Der heiligste Name war weder
durch ein allgemein verbindliches Glaubens-
bekenntnis, noch durch eine für alle Teile der
Bibel gleichmäßig geltende Offenbarung, noch
durch eine Jahrhunderte alte, geheiligte Tra-
dition. geschützt. Dem Protestantismus fehlte
also die fundamentalste Bedingung aller Re-
ligion, ein klares Verhältnis zu ihrem obersten
Prinzip, das gänzlich der Spekulation der ewig
irrenden, ewig sich ändernden menschlichen
Vernunft ausgeliefert ist. So konnte sich der
Protestantismus gleich im Entstehen in mehrere
Hauptrichtungen spalten, zu denen bald zahl-
lose kleine Sekten und Sondergemeinden
traten. Sie alle: Lutheraner, Calvinisten und
Zwinglianer, Wiedertäufer und Schwarmgeister,
Herrenhuter und Methodisten, die Anhänger
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