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sehen . . . Du darfst es mir ruhig zeigen. Du siehst
ja, daß mich nichts mehr erschreckt“
Abgewandt mit niedergeschlagenen Augen hatte
Sabine dagesessen, in dumpfer Trostlosigkeit. Bei den
Worten ihres Kindes: „Du schämst dich ja vor mir!“
hatte sie das tiefste Weh empfunden und gestöhnt wie ein
krankgeschossenes Stück Wild, das im Dickicht verendet.
Nun atmete sie tief auf und richtete die rotgeweinten
Augen fest und wie verwundert auf Gabrielen.
„Was steht auf dem Blatte, kannst du's mir nicht
zeigen?“
Sabine nahm es und reichte es ihrem Kinde.
Gabriele las: „Vergib deiner unglücklichen Mut—
ter, die dich glücklich hat machen wollen und dich un⸗—
glücklich gemacht hat. Vielleicht kommt der Tag, da
du alles begreifen ...“
Der Satz war nicht ausgeschrieben.
„Siehst du, Mamachen!“ lächelte Gabriele mit zärt⸗
lichem Vorwurf. „Ich wußte es ja! Aber du hast
wohl nicht bedacht, daß ich nicht allein bleiben würde.
Wir brauchen uns nicht zu trennen. Es gibt etwas,
das uns vereint. Das weißt du auch. Und wenn
du mich nicht mitnimmst, dann folge ich dir. Das
schwöre ich dir zu.“
Sabine faßte unwillkürlich an den Bügel des Tisch⸗
kastens. Aber sie zog die Hand schnell zurück, als habe
sie sich die Finger verbrannt. Gabriele hatte die jähe
Bewegung wohl bemerkt.
Sie beugte sich über die Schulter ihrer Mutter
und zog die Schublade auf. Da leuchtete in freudigem