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Zweites Buch. Ruth Drittes Kapitel

Full text: René Richter / Brieger, Lothar (Public Domain)

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„Das wirst du nicht, Naemi, ich weiß es. 
Stammst du nicht aus einer alten Familie und bist 
stolz darauf wie wir alle? Die Familie vor allem! 
Das liegt im jüdischen Blut. Wer sich von ihr löst, 
verliert sein Bestes.“ 
Naemi erhob sich seufzend. Die Unterhaltung 
hatte sie aufgeregt, und ihr Gesicht war blutrot. 
„Du hast recht, Rens! Das Ende wird so sein, 
wie ich es vorhin vorausgesehen habe. Aber daß ich 
ihm so hilflos entgegengehe, daß ich mich nicht aus 
Leibeskräften dagegen wehre — das ist furchtbare 
Feigheit.“ 
Sie hob ihre Hände stöhnend zu den Schläfen 
und flüsterte: 
„Ist es nicht sonderbar, Renéè, daß wir beide 
künstlerische Neigungen haben?“ 
„Weil wir Juden sind, Naemi!“ 
„Wie meinst du das?“ 
„Alle Juden aus alten Familien haben in unserer 
Zeit künstlerische Neigung. Kunst ist ein Kultur—⸗ 
gipfel. Die feinste Kultur trifft man aber immer bei 
den entarteten Sprößlingen alter Geschlechter an, die 
nur noch Nerven sind. Sieh meine Hände und Füße 
an, wie unnatürlich fein und zart sie sind! Und du 
selbst wie ein Porzellanpüppchen mit deiner dünnen 
weißen Haut, unter der die blauen Adern beängsti⸗ 
gend hervorschlagen! Wir sind Künstler, weil wir 
aus altem Geschlechte entsprossen, weil wir Décadents 
sind, Naemi!“ 
Naemi sah ihn sinnend an.
	        
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