195
wohl vieles getan, was ihr Zuruͤckhaltung gebot,
doch sie hatte auch einen Stolz, der sich nicht auf⸗
geben ließ. So redeten sie kein Wort miteinander.
Auch als er wegging und sie zufaͤllig in der Diele
war, bot er ihr nicht die Zeit zum Abschied.
Am Abend wartete sie, bis er sich zuruͤckzog. Dann
ließ sie durch Kluge, der sie sagte, daß der Herr jetzt
unruhig schlafe und sie zu sehr herunter sei, als
daß sie es vertruͤge, fuͤr sich auf der Ottomane im
Herrenzimmer ausbetten. Am Morgen wartete sie,
bis er fort war, und legte sich dann noch fuͤr ein
paar Stunden in ihr Bett, nachdem sie zuvor das
seine mit roter Seide hatte uͤberdecken lassen ...
Die naͤchsten Tage gingen nicht anders hin. Sie
wies Mama, die ihre Gesellschaft aufdraͤngen wollte,
zuruͤck, da sie kein Beduͤrfnis hatte, sich zu zerstreuen.
Die Tage verflogen wie Stunden, obwohl manche
Stunden wie Tage waren, und wenn sie sich zer⸗
streuen wollte, konnte sie allein spazieren gehen, aus—
fahren oder ein Buch nehmen, das sie dann nicht zu
Ende brachte. Denn es gab aus ihm zu viel auf sich zu
beziehen und die Gedanken schwebten leichtfuͤßig weg;
wenn sie kaum zwei Seiten umgeschlagen hatte, hielt
sie schon bei Dingen, die um Himmelreiche davon
entfernt lagen. Aber sie konnte sich dafuͤr am Abend
sagen, daß sie tapfer an jenen anderen weder zaͤrt⸗
lich noch hingebend gedacht hatte, sondern so sachlich
wie es nur ging, wenn man uͤber die Unfaͤlle dieser
13*