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Zweiter Teil. 1874-1877 Viertes Kapitel. Die Krisis 1875 (Fortsetzung). Die Sorgen des Reichskanzlers

Full text: Meine Botschafterzeit am Berliner Hofe 1872-1877 / Gontaut-Biron, Élie de (Public Domain)

536 Die Krisis 1875. (Fortsetzung.) Die Sorgen des Reichskanzlers. 
Lord Derby bestimmten Befürchtungen über unsere Rüstungen 
nur in seinem eigenen Namen zum Ausdruck gebracht hat.*) 
So weist alles darauf hin, daß in diesem Zeitpunkt der Krisis 
der Reichskanzler besonders darauf bedacht ist, sich, wenigstens 
für den Augenblick, nicht durch irgend einen unüberlegten, oder 
nicht wieder gut zu machenden Schritt ernstlich zu binden, und sich 
einen Rückzugsweg zu sichern. 
Wie Lord Derby zu Herrn Gavard geäußert hat, „er ist dabei, 
die Anschauungen in Frankreich und Europa zu erforschen.“ Er 
macht sich den Kriegslärm und die Lehren der Kriegspartei in 
Berlin zu Nutze, sorgt für deren Verbreitung durch die offiziöse 
Presse, und beobachtet ihre Wirkung, um zu erkennen, wie weit er 
selbst sich hervorwagen kann, und was ihm einerseits die in Paris 
hervorgerufene Erregung, andererseits die Haltung der Mächte, 
von uns zu fordern gestatten. Zeigen sich die Mächte entgegenkom— 
mend, oder wenigstens indifferent, greift in Frankreich die Angst 
um sich, so wird er ohne Krieg, durch die bloße Einschüchterung, die 
Verminderung unserer Streitkräfte erreichen. 
Das ist möglich, und sogar wahrscheinlich, wird man sagen; 
doch war dies nur der günstigere Fall; wenn Europa dem Fürsten 
Bismarck frei Hand gelassen, und Frankreich, wie zu erwarten 
war, den Kampf der Erniedrigung vorgezogen hätte, würde er 
dann nicht durch den Krieg die Abrüstung durchgesetzt haben, die er 
mit dem Versuch der Einschüchterung nicht hatte erreichen können? 
Wir geraten hier auf das Gebiet der Konjunkturen und in 
eine neue Phase des Konfliktes, zu deren Eintritt Europa keine 
Zeit ließ. Was würde der Reichskanzler getan haben, gegenüber 
einem gleichgültigen oder wohlwollenden Europa und einem zum 
Widerstand gegen seine Forderungen entschlossenen Frankreich? 
Würde er an der Abrüstung selbst unter dem Zwang eines Krie— 
ges festgehalten haben? Sicher, wenn man dem Fürsten Orlow 
glauben darf; nach seiner Ansicht wollte Fürst Bismarck den Krieg 
nur, wenn er ihn ohne die Mißbilligung Europas beginnen konn— 
te. Doch ist das eine persönliche Anschauung. In Wirklichkeit 
*) Es kann auch erwähnt werden, daß weder der „Reichsanzeiger“ noch die 
„Provinzialkorrespondenz“, die beiden einzigen offiziellen Regierunasorgane. an dem 
Pressefeldzug teilgenommen haben.
	        
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