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"Ein idealer Gatte" von Oskar Wilde

Full text: Vom Rückgang der deutschen Bühne / Goldmann, Paul (Public Domain)

Ein idealer Gatte. J 333 
setzte er uns die schrecklichste aller Philosophien, die Philosophie 
der Macht, auseinander; er predigte uns das wunderbarste 
aller Evangelien, das Evangelium des Goldes. Er sagte, 
daß die Macht, die Macht über andere Männer, das einzige 
sei, was des Besitzes wert sei, die einzige Freude, deren man 
nie satt würde, und daß in unserem Jahrhundert dies alles 
nur die Reichen besäßen.“ Und weiter sagt Sir Robert: „Um 
vorwärts zu kommen, bedarf man des Reichtums. Was dieses 
Jahrhundert anbetet, ist Reichtum. Und jeder Mann von 
Ehrgeiz muß sein Jahrhundert mit dessen eigenen Waffen 
bekämpfen.“ 
Lord Goring weiß keinen Rat. Das einzige, das er 
für seinen Freund zu tun vermag, ist, daß er versucht, dessen 
Frau vorzubereiten und nachsichtig zu stimmen. Die Szene, 
in der dies geschieht, ist eine der zartesten und anmutigsten 
des Dramas, und der schöne Gedanke, den es ausdrücken will, 
wird hier zum erstenmal in Worte gekleidet. „Niemand ist 
unfähig, etwas Unrechtes zu begehen, selbst der Rechtschaffenste 
nicht,“ sagt Lord Goring im Laufe des Gesprächs. — „Sind 
Sie Pessimist?“ fragt die Lady. — „Ich weiß kaum, was 
Pessimismus eigentlich heißt,“ antwortet Lord Goring. „Alles, 
was ich weiß, ist nur, daß das Leben nicht ohne viel Nach— 
sicht verstanden und nicht ohne viel Nachsicht gelebt werden 
kann. Liebe ist es und nicht deutsche Philosophie, welche 
die wahre Erklärung des irdischen Lebens liefert.“ 
Das also ist der edle, der echt dichterische Kern dieses 
Dramas: eine Mahnung zur Liebe. Und zwar eine Mahnung 
zur Liebe — in der Liebe. Ihr Frauen, sagt der Dichter, 
solltet uns Männer, wenn ihr uns liebt, mit mehr Liebe 
lieben. Eure Liebe ist zumeist nur Anbetung. Ihr macht 
Ideale aus uns und liegt vor diesen auf den Knien. Aber 
keiner von uns, auch der Beste nicht, ist ein Ideal. Wir
	        
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