Das Moskauer Künstlerische Theater. 305
den Lärm durchdringt das Geschrei der armen Natascha,
die von Kostylew, dem Besitzer des Nachtasyls, und dessen
Frau hinter der Szene geprügelt wird, — das Geschrei einer
Frau in Todesangst, mit furchtbarer Naturtreue nachgeahmt.
Und plötzlich teilt sich der Haufe, und Kostylew, der alte Schuft,
rennt wie wahnsinnig im Hofe umher, gefolgt von Wasska
Pepel, dem Dieb, Nataschas Liebhaber, der in der russischen
Aufführung ein ganz besonders robuster Geselle ist. Es ist
eine schreckliche Jagd. Bald hat der Junge den Alten er—
reicht, schleudert ihn mit einem Ruck zu Boden, stemmt ihm
das Knie auf die Brust und würgt ihn mit seinen gewaltigen
Fäusten, bis er sich nicht mehr rührt. Da verstummt der
Lärm mit einemmal; und während Wasska vor der ohnmäch—
tigen Natascha kniet, verläuft sich der Volkshaufe, und in
dem leeren Hofe liegt die Leiche des Alten.
Den tiefsten Eindruck aber macht der Schluß des zweiten
Aktes. Luka, der Pilger, zieht von dem Bette, in dem die
kranke Frau des Schusters liegt, den zerlumpten Vorhang
zurück, beugt sich über sie und sieht, daß sie gestorben ist.
Da zieht er den Vorhang wieder zu, bückt sich dreimal tief
zur Erde und schlägt dreimal das Kreuz. Von den anderen
tritt dieser oder jener an das Bett heran, schiebt den Vor⸗
hang ein wenig zur Seite, wirft einen Blick hinein und
geht dann gleichgültig weiter. Das Leben im Nachtasyl
nimmt seinen gewohnten Lauf, keiner kümmert sich um die
Tote. Luka ist einen Augenblick hinausgegangen. Nun kommt
er wieder und trägt ein brennendes Licht in der Hand. Nie—
mand hält es der Mühe für wert, dieser armen Frau, deren
Tod so gleichgültig ist, die letzte Ehre zu erweisen. Aber
der alte Luka, der sie vor dem Sterben getröstet hat, ver—
läßt sie auch nach dem Tode nicht. Und es ist unsagbar
ergreifend, wie er neben dem Bette steht und die Toten—
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Goldmann, Rückgang.