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Traumulus.
deln, daß sein Sohn ihn belügt, daß seine Frau ihn betrügt,
ohne daß er von alledem auch nur das geringste merkt.
Kurzum, wenn jemand in sämtlichen Fragen des Lebens eine
geradezu kindische Unkenntnis bekundet, wenn er von allen,
mit denen er zu tun hat, gefoppt wird, weil er nicht im—
stande ist, einen einzigen Menschen richtig zu beurteilen, dann
ist er — so lehrt das Schauspiel „Traumulus“ — ein
Idealist.
Eine Schilderung des Idealismus wäre, wie gesagt, die
Hauptaufgabe der Autoren gewesen, die sich zum Thema ge—
nommen haben, in einem Stücke die tragischen Schicksale zu
zeigen, die ein Mann erduldet, weil er ideal gesinnt ist. Es
genügt nicht, daß alle Personen des Dramas den Professor
Niemeyer einen Idealisten nennen. Es genügt auch nicht,
daß er sich selbst als solchen bezeichnet. Das Publikum muß
diesen Idealismus spüren, muß ihn selbst gleichsam miterleben;
und das konnten die Autoren nur erreichen mit Hilfe einer
in die Tiefe gehenden, aus dem Grunde der Seele schöpfenden
Charakteristik. Der Naturalismus, zu dessen Begründern Arno
Holz gehört, ist zwar bemüht gewesen, das Psychische im
Drama zu beseitigen. Seit das Milieu erfunden worden ist,
ist die Seele abgeschafft worden. Aber bei einem Drama,
das vom Idealismus handelt, der nun einmal in der Seele
seinen Sitz hat, muß man sie schon in Betracht ziehen. Oder
es kommt eben eine Figur heraus, wie dieser Professor Nie—
meyer, bei dem der Idealismus nicht den Eindruck macht, als
gehöre er zum Wesen des Menschen, sondern vielmehr, als
hafte er an ihm, wie eine angeklebte Etikette. Man könnte
auch sagen, daß der Professor Niemeyer den Idealismus aus—
übt wie eine Funktion, einen Beruf. Er ist Idealist, wie eine
Person in einem anderen Stücke Gemischtwarenhändler ist oder
Regierungsassessor.