94 Stein unter Steinen.
habe. Nun erst kann in dem Drama gezeigt werden, was
gezeigt werden soll: daß nämlich die Arbeiter den Biegler
meiden, als wäre er ein Pestkranker. Doch der Autor erreicht
seine Absicht nur, indem er der Wahrheit Gewalt antut. Denn
Biegler ist nun einmal kein Mörder, sondern ein Totschläger;
und der Gipfel der Unwahrscheinlichkeit ist, daß die Ver—
wechssung von Mord und Totschlag einem Kriminalkommissar
in den Mund gelegt wird, von dem man also annehmen
müßte, daß er das Strafgesetzbuch nicht kennt, das er täg⸗
lich anwendet.
Davon abgesehen aber hat der Autor in der Figur
des Jakob Biegler eine bemerkenswerte Charakterisierungs⸗
kunst bewiesen, und der entlassene Zuchthäusler, der von allen
Gemiedene, in seiner ganzen unsäglichen Armut, seiner Zer—
brochenheit, seiner Verzweiflung, seiner finsteren Scheu ist mit
einfachen und lebenswahren Zügen gezeichnet. Im ersten Akt
kommt Biegler zum Steinmetzmeister Zarncke, dem der „Verein
zur Besserung entlassener Strafgefangener“ solche Entlassene
zu senden pflegt, weil Zarncke, wenn er es irgend vermag,
ihnen Arbeit gibt. Ein bleicher Mann in dürftigster Klei—
dung — so schwach, daß er sich anscheinend nur mit Mühe
auf den Beinen zu halten vermag.
Zarncke sieht auf den ersten Blick, was hier das Aller—
notwendigste ist. Er läßt ihm Butterbrot bringen. „Ich hab'
keinen Hunger,“ sagt Biegler. Er ist so verschüchtert, daß
er nicht einmal den Hunger zu gestehen wagt, dessen Qualen
man ihm doch vom Gesicht ablesen kann. Dann läßt er sich
zureden, wendet sich zur Wand und schlingt das Brot gierig
herunter. „Hat der Verein Ihnen keine Arbeit besorgt?“
fragt Zarncke. „Jawohl,“ antwortet Biegler. „Einmal wurd'
ich eingestellt. Zwei Tag' später kam's 'raus. Da lag ich
schon auf der Straße.“