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Ritter Blaubart.
wie das Berliner, und nirgends versagt die Führung so oft,
nirgends wird der geradezu vorbildlich gute Wille des Publi—
kums so oft in falsche Wege geleitet wie in Berlin. Das
hat auch den großen englischen Kritiker Willibald Archer frap⸗
piert, der vor einiger Zeit die Berliner Theater besucht und
der Berliner Kritik, weil sie Sudermann unterschätzt und Wede—
kind überschätzt, „Verstiegenheit“ vorgeworfen hat. „Eine solche
verstiegene Kritik,“ schreibt Archer, „ist in England keines—
wegs unbekannt, doch bei uns hat sie kaum einen nennens—
werten Einfluß. Aber während sie bei uns nur sporadisch
auftritt, ist sie in Deutschland endemisch und wirkt nach—
drücklich auf das große Publikum. Ich kann das Gefühl nicht
los werden, daß eine überintellektuelle, allzu kritische Kritik,
die vielleicht mit dem behaftet ist, was in Deutschland Snobis—
mus heißt, augenblicklich eine Gefahr bedeutet.“ (Es versteht
sich von selbst, daß es neben der Kritik, die Willibald Archer
hier im Auge hat, in Berlin auch eine solche gibt, die nicht
„verstiegen“ ist und ein gesundes, treffendes Urteil hat.)
Namentlich das Premierenpublikum der Bühnen von Rein⸗
hardt und Brahm ist von dem Drange erfüllt, nur ja immer
sich als modern zu erweisen, nur ja immer, wie die Fran—
zosen sagen, „du dernier bateau“ zu sein. Man hat nun in
den letzten Jahren manchmal beobachten können, wie desorien—
tiert gerade dieses Publikum ist. Da es nämlich so und so
oft hat erleben müssen, daß Stücke, die es am liebsten ab—
gelehnt hätte, am nächsten Morgen von denjenigen gebilligt
worden sind, die darüber zu befinden haben, ob ein Stück
„modern“ ist oder nicht, — so weiß es am Ende gar nicht
mehr, wann es Ja und wann es Nein sagen soll, und schließt
anscheinend auf die Vortrefflichkeit eines Stückes nur mehr
aus der Tatsache, daß dieses Stück ihm im Grunde der Seele
zuwider ist.