Die Baukunst von Jerusalem.
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erschien die russische Kirche auf dem Platze und erbaute von 1860 bis 1864
eine großartige Missionsstation mit kuppelgekrönter Kathedrale, mit
Hospiz und Krankenhaus, eine Bauanlage, welche die Weltstellung
Rußlands den Pilgern wie den Eingeborenen an jedem Tage deutlich
vor Augen stellt. Osterreich gründete sein stattliches Pilgerhaus, wie
unser preußischer Johanniterorden sein bescheidenes Hospiz. Nach der
Besitzergreifung des vom Sultan an Kaiser Wilhelm geschenkten Platzes
mit den Ruinen der St. Marien-Kirche wurde 1870 der deutschen
evangelischen Gemeinde ein noch erhaltener gewölbter Saal zur Kapelle
überwiesen, und drei Jahre darauf, 1873, erweiterten die Franziskaner
ihre stattlichen Hospizräume um ein erhebliches. So hat sich in den
letzten Jahrzehnten ein förmlicher Wetteifer unter den Nationen und
Konfessionen erhoben, um Spitäler, Waisenhäuser und Erziehungs—
anstalten, unter diesen das Musterinstitut Talitha Kumi unserer Kaisers—
werther Diakonissinen, an verschiedenen Punkten ins Leben zu rufen.
Alles dies Werke der dienenden Liebe, aber keine Schöpfungen der
höheren Baukunst.
Frankreich begnügte sich mit zwei Unternehmungen der Monu—
mentalarchitektur: mit der Restauration der St. Anna⸗-Kirche und mit
der Erneuerung der dem Einsturze wieder nahen Kuppel über der
Grabrotunde. Die erste Wiederherstellung ist ein ausgezeichnetes, man
darf sagen, mustergültiges Werk. Dagegen ist die Grabeskuppel, welche
vertragsmäßig im Bunde mit Rußland und der Pforte aus Eisen her—
gestellt und 1868 vollendet wurde, eine sehr bedauerliche Leistung, da
jedes Streben nach harmonischem Anschlusse an die alten Bauteile
vermißt wird und weil auch hier der Dämon der Eitelkeit sein Spiel
getrieben hat, indem die Namen der Erbauer, dreier Architekten aus
dem Elsaß, Eppinger, Mauß und Salzmann, in großen goldenen Buch—
staben von der blaßgrün gefärbten Flachkuppel herabschimmern.
Für unsere Zeit beschließt dieser Umbau eine mehr als anderthalb—
tausendjiährige Bautätigkeit an einer Stelle. Sollte es die letzte
gewesen sein? — Schwerlich, wenn man die still verborgene, aber mit
immanenter Kraft wirksame Tätigkeit der russischen Kirche, deren Ziel—
punkt der ausschließliche Besitz der heiligen Grabeskirche ist, beachtet
und sich der Tatsache erinnert, daß schon aus dem Streite um die
Schlüssel dieser Kirche der blutige Krimkrieg entsprang.
Die Religionsgeschichte des Abendlandes kennt nur einen Aus—
gangspunkt, nur eine Heimat: Jerusalem. Diesem ruhmvollen Charakter
entspricht auch die Bedeutung der Stadt für die Geschichte der Kirchen—