Die Frau Geheime Rätin
Sie ist mit der Zeit eine Persönlichkeit geworden,
die man kennt, wenn auch lange nicht in ganz Berlin,
so doch in dem engeren Bezirk, der sich selbst gegen
die Masse abzugrenzen liebt. Man spricht da mit
großer Achtung von ihr und rühmt ihr Geschick,
auch hochadeligen Damen gegenüber ihr Standes—
bewußtsein würdigst zu behaupten. Es fehlt ihr nicht
an dem Freimut, ihre sittlichen Prinzipien, die etwas
altmodisch geworden, zu verteidigen, sie ist aber dabei
weit entfernt von Prüderie und Intoleranz, oder
giebt sich wenigstens mit Geschick den Anschein, es zu
sein. Sie trägt ihre religiöse Gesinnung so wenig
zur Schau, als ihre politische; nur hält sie in ge—
messenem Abstande von sich, was ihr gesellschaftlich
unbequem werden könnte, und versteht zur rechten
Zeit zu schweigen. In einen gewissen Kreis von An—
schauungen ist sie mit einer Art von Naturnotwendig—
keit gebannt; man würde sich wundern, wenn sie ein—
mal hinausträte. Man darf sie deshalb nicht be—
schränkt nennen. Ihre ganze Lebensstellung beruht
eben auf Bedingungen, deren Zwang nicht merken zu
lassen ein Zeichen kluger Selbstbeherrschung ist.
So öffentlich hochgestellt und genötigt zu re—
präsentieren, erscheint sie in ihrem Hause als die stets
sparsame Wirtin, die ihre knappen Mittel zusammen—
zuhalten hat, um nach außen hin der Familie ein
standesgemäßes Auftreten ermöglichen zu können. Sie
führt ihr Ausgabenbuch mit der saubersten Ordnung,