Georg Engel
lich nicht eines gewissen poetischen Schimmers entbehrt,
und das in seiner anspruchslosen Bescheidenheit für
die Reichshauptstadt ebenso Original bleibt, wie für
Paris die Loretten, Lalletten und Phemies des Quartier
latin, welche Murger in ihrem prickelnden, leicht—
sinnigen, bezaubernden Zigeunertum so unübertrefflich
geschildert hat. Diese pariser Abstufung des amüsanten,
geistreichen Bohemientums kennt Berlin überhaupt
nicht; was bei uns unter dieser Flagge segelt, ist eine
ungleich rohere Abart, deren Mitglieder man mit
einem schlechten Ausdruck: „Wohlleberinnen“ nennen
möchte. Im Gegensatz zu dem gutmütigen, einfachen,
im Grunde genommen keuschen „kleinen Mädchen“,
das nur einem dunklen ungestümen Drange nach
Liebe und Sonnenschein folgt, und das sich stumm
und vorwurfslos in ihre dunkle Volksschichte wieder
zurückzieht, sobald die erste große Enttäuschung ihres
Lebens über sie hinweggerauscht; im Gegensatz zu
diesem liebenswürdigen kleinen Ding, das nur schenken,
beglücken, dulden will für den Einen, im Gegensatz
zu ihr ist die „Wohlleberin“ eine herzlose Egoistin.
Das „kleine Mädchen“ war beschränkt, aber bildungs—
fähig, manchmal geradezu bildungshungrig. Die
„Wohlleberin“ dagegen ist dumm, hegt einen' Abscheu
gegen alle geistige Verfeinerung, und über Herum—
flanieren, seidene Kleider, dänische Handschuhe, auf—
fallende Sonnenschirme, Puder, Schminke, Speziali—
tätentheater und Zirkus reicht ihr Horizont nicht
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