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Wir haben also einen vollständigen Sieg zu ver—
zeichnen; Erscheinung, Haltung, Stimme nahmen Parkett
und Parterre im Sturm. Von den Montagnards ganz
zu schweigen. Ein solcher Sieg kann nie und nimmer
ein bloßer Zufall sein oder gar ein Irrtum der Welt—
geschichte, wie die Franzosen unsere siebziger Siege an—
zusehen belieben; eine Kraft ist nötig, um derartig
über die Herzen zu triumphieren. Aber so groß und so
unzweifelhaft diese Kraft ist, die Frage ist nicht zurück—
zudrängen, ob die vorhandene reiche Begabung richtig
verwandt wird, ob sie die richtigen Wege geht. Und
die Antwort lautet: nein!
Wenn vor dreißig Jahren und mehr mit einiger
gedanklicher Kühnheit über Fanny Elsler geschrieben
wurde: sie tanzt Goethe, so darf man füglich von
Fräulein Ziegler aus München sagen: sie spielt Kaul—
bach. Ihr ganzes Auftreten wirkt wie die Treppenhausbilder
im Museum. Rechts zieht die Chriftengemeinde Palmen
tragend und Psalmen singend in die Freiheit, links ent—
flieht der ewige Jude, im Hintergrunde brennt Jerusalem,
und der Hohepriester zückt das Dolchmesser zum Stoß
in die eigene Brust. Die Ähnlichkeit ist frappant. Liegt
es an München? Ist dies die Stätte, wo nach einem
erst noch zu findenden Entwicklungsgesetz eine blendende,
aber in die Irre gehende Kunst geboren werden mußte,
jene Kunst, die das Auseinanderfallen von Schönheit und
Wahrheit bedeutet? Der Mensch soll nicht arabeskenhaft
verbraucht werden, bloß mit Rücksicht darauf, ob die
Form an sich gefällig wirkt. Es kommt nicht darauf
an, ob dieser vor⸗ oder zurückgebeugte Körper, ob diese
Kopf- oder Armhaltung rein äußerlich innerhalb der
Schönheitslinie liegt, sondern darauf, ob diese Linie dem
innerlichen Hergang entspricht, ob sie wahr ist. Diese