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da, was echtes, wirkliches Leben hätte. Die hohe Tragödie
braucht dessen freilich nicht, aber sie braucht dafür leiden⸗
schaftlich gespannte Tendenzen, eine hinreißende Macht
der Ideen und Gegensätze, Konflikte, die wir empfinden,
in denen wir selber mit aufgehen. Aber ist dies hier der
Fall? Nein und abermals nein. Ich interessiere mich
für Reif-Reiflingen dreiunddreißigmal mehr als für
alle dreiunddreißig Personen dieses Trauerspiels zu—
sammengenommen. Sie sind mir nichts, ich habe keine
Spur von Zusammenhang mit ihnen; es ist mir gleich—
gültig, ob sie sich heut' in den Vesuv oder morgen in
den Ätna stürzen.
Die Quitzows.
9. November 1888.
Zum ersten Male.
Das neue vaterländische Drama Frnst v. Wilden⸗
bruchs wurde, wenn auch nicht ganz unbestritten, von
dem erwartungsvollen Publikum mit außerordentlicher
Begeisterung aufgenommen. Die Kritik im allgemeinen
wird vieles zu beanstanden haben und sich dieser Be—
geisterung nur sehr bedingungsweise anschließen, die meinige
streckt aber die Waffen und erklärt sich freudig für über—
wunden. Dies neueste Stück vereinigt bei fast gänzlichem
Wegfall der oft hervorgehobenen Mängel nicht nur alle
jene Tugenden, die selbst von dem Widerstrebendsten der
Wildenbruchschen Muse zugestanden wurden, es ist auch,
was unendlich viel mehr bedeutet, schlankweg ein Genialitäts—
stück. Das Stück Genie, nach dem ich mich, wenn ich
Wildenbruchsches sah, sieben Jahre lang vergeblich um—
gesehen habe, hier ist es zum ersten Male, aber nun auch
mit erobernder Gewalt. Das ist ein Stück, wie's sein