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bogen zu sehen glaubte. Und zu so vielem diese heut—
zutage passen müssen, so passen sie doch nicht zur Jung—
frau von Orleans. In der Szene zwischen Dunois und
Burgund klang ihr Dazwischentreten so schwach und ver—
legen, als ob es sich um die Beschwichtigung eines eifer—
süchtigen Gatten handle, und in dem Momente, da sie
dem schönen Lionel den Helm vom Haupte reißt, zitterte
ein Ach über ihre Lippen. Dies vom Dichter seiner
Dichtung nicht einverleibte Ach war extemporiert und
kann als charakteristisch für das ganze Spiel gelten. In
ihrer Auffassung der Rolle ruht alles auf einem Liebes-
verhältnis, mitunter nicht zum Schaden; und Stellen, die
den entsprechenden Ton nicht nur ertragen können, sondern
ihn sogar fordern, gelangen ihr durchaus. So beispiels-
weise das schwer zu sprechende: „Ich sterbe, wenn du
fällst von ihren Händen.“ UÜberhaupt wolle man aus
meinen Ausstellungen nicht den Schluß ziehen, daß das
Spiel ohne Wirkung auf mich geblieben wäre. Trotz
Ach und Stockelschuhen traf es mich mehr als einmal, und
diele Jungfrauen, die heldischer oder begeisterter auf⸗
traten, haben mich kälter gelassen. Am kältesten die
deklamatorische und blondesentimentalen. Von diesen
ist allerdings Fräulein Borry durch Toupet und
Temperament gleich sehr geschieden, und in letzterem, so
mein' ich, ruht ihre Kraft und ihr Erfolg. Das Tempera—
ment macht zwar noch keine Jungfrau, aber es führt
doch in ihre Nähe. Ob das Feuer etwas heiliger oder
weniger heilig brennt, es brennt wenigstens. Amphibiale
Jungfrauen, wie ich deren so viele gesehen habe, sind die
schlimmsten. Enfin, Fräulein Borry war keine Jeanne
d'Are; aber im einzelnen deckte sich's, und im ganzen
kam ihr die Verwandtschaft zwischen Vision und Passion,
zwischen Prophetie und Chiromantie zu statten.