Wir sehen einfach ein liebendes Weib, das zwar dem
Lockruf der Jugend und des Temperaments nicht hat
widerstehen können, aber scheu und ehrfürchtig vor
der Schwelle des Hauses mit ihrer Leidenschaft Halt
macht. In dem Augenblick, in welchem sie aus den
berauschenden Heimlichkeiten ihrer Liebe wieder in
des Familienzimmer zurückkehrt, verwandelt sie sich
in die aufmerksamste Gattin, in die zärtlichste Mutter,
in die sorgsamste Hausfrau — und wenn der Vorhang
sich hebt, um uns ein harmloses und liebenswürdiges
Nachtischidyll zwischen Marn, Frau und Kind zu
zeigen, so würde Niemand hinter dem Gemälde eines
fast spiessbürgerlichen Familienglückes eine so leiden-
schaftsvolle Vorgeschichte vermuten. In einem Ge-
spräch, das der Geliebte dieser Frau mit einem Freunde
und Vertrauten führt, heisst es sehr charakteristisch:
»Diese seltsame Frau, die so unbegreiflich ist für
jeden, der sie in ihrem Hause sieht, sie löst das
Problem, zwei Männer gleichzeitig zu beglücken: den
ainen mit dem Herzen, den andern mit dem Verstande.
Auf diese Weise ist sie die hingebendste Freundin und
zugleich die zärtlichste Gattin, und ihr Mann ist weit
entfernt, an ihr zu zweifeln. Woher kommt es, dass
bei den meisten treulosen Frauen der Mann früher
oder später den Fehltritt entdeckt? Vor allen Dingen.
weil die Frau sich selbst verrät. Von dem Tage an,
von dem sie einen Geliebten hat, wird sie kaltherzig
gegen ihren Gatten, behandelt ihn lieblos und gleich-
gültig, und der gute Mann, der seine Frau so erkalten
sieht, denkt selbstverständlich: Irgend jemand ist an
meine Stelle getreten. Er fängt an zu zweifeln — er
beobachtet die Frau in ihrem Thun, in ihren Worten