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Max Klingers Todesphantasien

Full text: Gesammelte Reden und Aufsätze / Meyer, Alfred Gotthold (Public Domain)

Um so stärker mußte hier demgemäß das psychologische Ele- 
ment hervortreten, um so mehr wird es innerhalb dieses Cyklus 
in einzelnen Blättern, wie beispielsweise in jenem „Integer 
vitae“, vermißt. Daß der Künstler in den Umrahmungen der 
Bilder seiner Phantasie völlig die Zügel schießen ließ, Spuk- 
gebilde mit landschaftlichen Motiven und _ornamentalen 
Spielereien wechseln läßt, soll darum nicht beanstandet werden. 
Doch wir haben die Betrachtung der Radierungen selbst 
unterbrochen; noch folgen: zwei Blätter, die der Künstler 
zum Abschluß der zweiten Serie geschaffen hat. Unsere Auf- 
nahmefähigkeit ist spröde geworden, jene kritische Rückschau 
war zu stimmungsvoller Vorbereitung wenig geeignet, der Blick 
ist für Mängel und Unzulänglichkeiten geschärft, und auch in 
uns regen sich leise Zweifel, ob das ’absprechende Urteil der 
Klingerfeinde nicht dennoch zu Recht besteht. — Vor diesen 
beiden Werken aber müssen sie beschämt verstummen, vor ihnen 
treten alle bisherigen Eindrücke zurück. So spontan und ge- 
waltig vermag nur die Offenbarung eines Genies zu packen. In 
herrlicher Landschaft voll wilder und lieblicher Pracht zeigt sich 
ein seltsames Paar. Die Titanengestalt eines Jünglings von 
überirdischer Kraft und Schönheit schreitet vorüber, ein Panzer 
umfängt die Brust, die Rechte ist in die Hüfte gestemmt, die 
Linke faßt einen gewaltigen, geschulterten Hammer. Blick und 
Schritt sind starr gradaus gerichtet. Kein Stürmen und Eilen, 
sondern ein völlig ruhiges Vorwärtsdringen. Aber es liegt 
in dieser scheinbaren Ruhe eine Bewegung von fruchtbarer 
Kraft, unaufhaltsam, unentrinnbar. Klinger ist in der Wieder- 
gabe einer solchen ruhigen Bewegung, die zu den schwersten 
Aufgaben der Kunst zählt, ein unübertroffener Meister, Er hat 
im Cyklus „Ein Leben“ das langsame Hinabgleiten ins Meer 
der Sinnlichkeit und ins bodenlose Nichts mit grauenvoller 
Wahrheit geschildert; das zu neuen trügerischen Freuden im 
Flug durch das All schwebende Paar in „Eine Liebe“ dringt 
von geheimnisvoller Macht gezogen sicher empor: gleich ge- 
waltig aber, wie auf diesem Bilde, hat er diese seltene Seite 
seiner Kunst nie offenbart. Stellt man im Geist diese Jüng- 
lingsgestalt den genialsten Verkörperungen gegenüber, die Men- 
schengeschick und Tod in der bildenden Kunst gewonnen haben: 
an sinnberückender Macht wird sie selten erreicht. Der Boden 
scheint unter ihrem langsamen Tritt zu dröhnen. Gegen diesen 
Tritt gibt es keinen Widerstand. Die herrliche, geflügelte Frauen- 
gestalt am Boden krümmt sich vor ihm, in hilfloser Ohnmacht
	        
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