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Full text: Glossar urbane Praxis / Becker, Jochen (Rights reserved)

Glossar Urbane Praxis Auf dem Weg zu einem Manifest Das Glossar Urbane Praxis (Auf dem Weg zu einem Manifest) ­erscheint anlässlich des Projekts Situation Berlin #2: Auf dem Weg zu einem Manifest der Urbanen Praxis in der nGbK, Berlin / The Glossary of Urban Praxis (Towards a Manifesto) is published on the occasion of the project ­Situation Berlin #2: Towards a Manifesto of Urban P ­ raxis at nGbK, Berlin Folgende Projekte sind seit 2020 Teil der Initiative Urbane Praxis / The following projects have been part of the Initiative Urban ­Pr­ axis since 2020: Berlin Mondiale mit ihren Knotenpunkten / with its nodes; Stadtwerk MRZN/S27; station urbaner kulturen /nGbK ­ ellersdorf; Zentrum für Kunst H und Urbanistik, Floating ­University, Haus der Statistik, Baupalast und / and CoCooN neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V. Oranienstr. 25 10999 Berlin Tel. +49 (0)30 6165 13-0 Fax +49 (0)30 6165 13-77 ngbk@ngbk.de www.ngbk.de Präsidium / Board: Ingo Arend, Eylem Sengezer, Ingrid Wagner Geschäftsstelle / Office Geschäftsführung / Managing D ­ irector: Annette Maechtel Sekretariat und Mitglieder­be­treuung / Office and Member Services: Kristina Kramer Buchhaltung / Accounting: Janett Dörr Kommunikation / ­Communications: Carolin Schulz Presse / Press: Wayra Schübel Publikationen / Publications: ­Cordelia Marten Technische Leitung / Technical Manager: Elie Peuvrel Produktion / Production: Anna Schanowski Mitarbeit / Assistance: Hartmut Schulenburg Die nGbK dankt der Senatsverwaltung für Kultur und Europa für die Förderung und der LOTTO Stiftung Berlin für die Finanzierung. / The nGbK would like to thank the Senate Department for Cultural Affairs and Europe for their support and the LOTTO-Stiftung Berlin for financing. Herausgegeben von / Edited by: Jochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh, nGbK Berlin Publikation / Publication Redaktion und Koordination, Lektorat / Editing and Coordination, Copyediting: Jochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh Deutsche Übersetzung / German Translation: Dettmers & Weps Englische Übersetzung / English Translation: David Koralek / ArchiTrans Deutsches Korrektorat / German Proofreading: Eva Hertzsch Englisches Korrektorat / English Proofreading: Lindsay Jane Munro Gestaltung / Design: Lena Appenzeller, Andrea Appenzeller Coverillustration / Cover I­ llustration: Christoph Schäfer Druck / Printing: Medialis Offsetdruck, Berlin Auflage / Edition: 750 Verlag und Vertrieb / Publisher and Distribution: nGbK, Berlin Konzeptionelle Entwicklung und Umsetzung des Projekts Situation Berlin #2: / Conceptual ­ evelopment and Production of D the project ­Situation Berlin #2: J­ ochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh mit / with Birgit Effinger © nGbK, Berlin, die Künstler_innen, Autor_innen, Übersetzer_innen und Fotograf_innen / the artists, the authors, the translators, and the photographers © für die Konzeption bei der Arbeitsgruppe / for the concept by the project group Das Projekt Urbane Praxis mit den Campusstandorten und Knotenpunkten wird im Rahmen der DRAUSSENSTADT von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert. / The project Urbane Praxis with its campus locations and nodes is funded by the Senate Department for Culture and Europe as part of DRAUSSENSTADT . In Zusammenarbeit mit / In cooperation with Berlin, 2021 ISBN 978-3-938515-93-8 Gedruckt in Deutschland / ­ Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved Glossar Urbane Praxis Auf dem Weg zu einem Manifest [Glossary of Urban Praxis] Herausgegeben von: Jochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh, nGbK Berlin 04 – 08 Auf dem Weg zu einem Manifest der Urbanen Praxis 10 – 88 Glossar Urbane Praxis mit Schattenindex 10 12 Ankunftsstadt Fürsorge Anarchiv Gestaltung Anlage /Anlegen Gebaute Zeit Asyl, Exil, Migration 15 17 19 21 24 Autonomie Bürgerbeteiligung Chor Gremienarbeit 32 33 36 Commons Komplizenschaft Design Build Ehrenamt 26 29 I–XXIV Konflikt 39 41 43 Empowerment / Ermutigung Freiraum Bibliographie Installieren Koalitionen Demonstration Edge City / Outer City Infrastruktur, urban Institutionalisierung Community Organizing Dokumentation Haushalterschaft Kooperation Manual (DIY ) Mehr Parkplätze! Narrativ Netzwerk 45 Nicht-Disziplinär 47 Niedrigschwellig Selbstrepräsentation Öffentliche Konsultation 49 52 55 58 60 Site Oral history 67 Partizipation 68 Parteilichkeit Spazierengehen Performance 71 Post-Pandemic Living 74 Plattform Prozess 76 radikal divers 78 Quartier Terrain Vague Verlust Versammlung Verstetigung Raumaneignung 81 Reclaiming Public Space 83 Von Sinnen Wirkungsorientierung Workshop Reproduktiver Urbanismus Ressourcenelend STRESS + STRASSE Türöffner Realismus 64 Soziale Arbeit Zeitlichkeit Zentrum Peripherie Zugang (Zugänglichkeit) 85 Zwischennutzungen Auf dem Weg zu einem Manifest der Urbanen Praxis Wer macht Stadt und mit welchen Kulturen und Praktiken? Wie formuliert sich ein Recht auf Stadt ohne Rechthaberei? Berlin ist seit L ­ angem geprägt von eigensinnig initiierten Bauten, von selbstorganisierten Räumen und einer reichen ­sozialen Kultur. Das Recht auf Stadt wird von Vielen mit Mitteln der Künste, Gestaltung, ­Planung und Aktion erstritten und gemacht. Die Stadt verfügt über eine Vielzahl e­rfahrener Akteur_innen aus dem Feld Urbaner ­Praxis, um im Zuge der krisenhaften Entwicklung von Stadt Veränderungsprozesse voranzutreiben. ­Urbane Praxis heißt nicht einfach, Aktionen an der ­frischen Luft durchzuführen. Vielmehr ist es eine eigenständige Form urbaner Kultur mit einer oftmals langjährigen Expertise, die über eine bisherige punktuelle Projektförderung hinaus nach Verstetigung verlangt. 4 Auf Vorschlag des Rates der Künste entstand 2020 die Initiative Urbane Praxis mit Berlin-weiten Projektpartner_innen, die dafür neue strukturelle Vorschläge an der Schnittstelle von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen, Verwaltung und Politik entwickelt. Die Sammelbewegung der Urbanen Praxis speist sich grundlegend aus drei Richtungen: der künstlerischen und kuratorischen, der urbanistisch-planenden und gestalterisch-bauenden sowie der soziokulturellen und aktivistischen Praxis. Die Initiative Urbane Praxis arbeitet an einem Kulturwandel in Berlin, um zu klären, in welcher Art Stadt wir künftig zusammenleben wollen. Dazu gehören physischer Raum, Umwelt, Prozesse, Artefakte, Kommunikationen, Formen der Interaktion und Politiken wie auch die Verknüpfung von Stadtraumqualitäten und künstlerischen Praxisformen. In Fortsetzung der Konferenz Urbane ­Kulturen (2019) veranstaltet die neue Gesellschaft für ­bildende ­ rbane Praxis 2021 Kunst als Teil der Initiative U zwei Werkstatt-Konferenzen zur SITUATION BERLIN , die das Potenzial der ­Bewegung mit 5 ihren künstlerischen, gestalterischen und aktivistischen Verfahrensweisen in einen Zusammenhang stellen sowie in einen Diskurs einschreiben. Ein wichtiger Bezugspunkt ist die Initiative Haben und Brauchen mit einem Manifest und zwei Offenen Briefen (2011– 13), aus der unter anderem die ­Citytax-basierten neuen Fördermodell oder die breite mietenpolitische Bewegung erwuchsen. Ziel des vorliegenden Glossars ist es, über die Vielstimmigkeit der Akteur_innen der ­Urbanen Praxis das Verständnis von „Urbaner Praxis“ zu schärfen und dadurch zentrale Kriterien und ­Q ualitäten der Urbanen Praxis herauszuarbeiten. Die Autor_innen stellen die für sie wichtigsten Begriffe der Urbanen Praxis zur Verfügung oder setzen sich kritisch mit zirkulierenden Termini auseinander. Diese werden gemeinsam mit hin­ zukommenden Begriffen und einem Schattenindex auch online gestellt. Zusammen bilden die ­Bei­träge nicht nur ein Vokabular über die aktuelle Urbanität und den Bedarf an städtischem und künstlerischem Handeln, sondern auch einen 6 Diskurs über ­Urbane Praxis als solche. Sie zeigen auch, was Urbane Praxis für die heutige und zukünftige Stadt einbringen kann und welche Projekte und Politiken für die Menschen in und von der Stadt und nicht nur für ihre Investor_innen und Entwickler_innen umgesetzt werden müssen. In den Beiträgen wird dabei die gattungsund ressortübergreifende Dimension der Urbanen Praxis sichtbar. Wie genau stehen diese Handlungsweisen zueinander, welche „Eigenlogiken“ begleiten sie? Und was lässt sich im Sinne einer selbstkritischen Post-Disziplinarität von den Praxen und Standards der anderen Bereiche lernen? Und schließlich lässt sich bei der ­Lektüre feststellen, dass in zunehmendem Maße das ­Zusammenleben (im weitesten Sinne des Wortes) und das Beharren auf der gemeinsamen Nutzung des städtischen Raums zu einem entscheidenden Faktor für jede Art von urbaner Zukunfts­ fähigkeit verstanden wird. Durch die konkrete Formulierung von Zielen, Mitteln, Ideen und Idealen hoffen wir, dass ­dieses 7 Glossar nicht nur Begriffe für den Gebrauch bereitstellt, sondern auch zur Ausarbeitung des geplanten ersten Manifests der Urbanen Praxis beiträgt. Mit der zusätzlichen Zusammen­führung einer umfangreichen Bibliographie ist es uns außerdem ein Anliegen, Urbane Praxis zu kon­ textualisieren und Anknüpfungspunkte an historische Konzepte zu ermöglichen, die alternative Wege skizzieren. Wie also lassen sich neue Formen des Zusammenlebens in der Stadt umsetzen, die auf die verborgenen Geschichten und Fragmente der Vergangenheit zurückgreifen, aktuelle Probleme ansprechen und sich an der Zukunft orientieren? Wie können Ansätze dafür in strukturelle und auch institutionelle Bahnen geleitet und gefestigt werden, ohne dabei zu versteinern und um künftig ein besseres Zusammenleben zu ermöglichen? Aus der Urbanen Praxis können wir eine urbane Strategie entwickeln. Jochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh 8 »In der städtischen Praxis ­ mschreiben die Abhand­ u lungen über die bzw. der Stadt Handlungen, Anweisungen. Sie schreiben sie nieder und schreiben sie vor. Kann man sagen, daß diese Praxis durch eine ­gedankliche Gesamtheit definiert ist? Durch ein Wort und eine Schrift? Die städtische Wirklichkeit ist nur ­insofern der Ort einer ­unbegrenzten Anzahl von Denkweisen, als sie zwar in endlicher, aber großer Zahl Wege anbietet. » Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte, CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014 [1970], S. 170. 9 Ankunftsstadt Ankunftsstadt [Arrival City] Migration hat die Stadtgesellschaft von Berlin immer schon geprägt. Die Herausforderung für Städte wie Berlin, so der Journalist und Migrationsexperte Doug Saunders in seinem Buch „Arrival City“, sei, ihre Rolle in den globalen ­Netzwerken der Migration zu verstehen und anzunehmen. ­Berlin durchläuft laut Saunders eine ähnliche Entwicklung wie Istanbul, Delhi oder Peking: Die Städte waren und werden zu „Ankunftsstädten“, wo Migrant_innen und geflüchtete Menschen versuchen, ihren Platz zu finden. Zu Städten, die es in der Hand haben, diese Suche zu erleichtern oder zu erschweren. Der Kontext Migration, Asyl, Exil und die Frage, wie Berlin nicht nur zu einer Stadt des Ankommens, sondern auch zu einer Stadt des Bleibens im positiven Sinn werden kann, ist deshalb zentral für die Urbane Praxis. Konkret besteht eine solche Praxis etwa im Aufbau von Knotenpunkten für Kunst, Kultur und Begegnung, an denen sich mit einem Fokus auf Diversität, Mehrsprachigkeit und der künstlerischen Selbstrepräsentation Gemeinschaften etablieren können. Im Sinne von Arrival (Ankunft) ermöglichen diese offenen Begegnungsräume auch das „Reclaimen“ des öffentlichen Raums für eine diverse Stadtgesellschaft. Eine solche machtkritische, zugängliche und 10 Dr. Sabine Kroner ist Politologin und promovierte Migrationsforscherin. Seit 2015 ist sie Projektleiterin der Berlin Mondiale, einem berlinweiten Netzwerk von Kulturpraktiker_innen und Künstler_innen der Urbanen Praxis im Kontext von Migration, Asyl und Exil. 11 Ankunftsstadt ressortübergreifende Netzwerkarbeit kann als zentraler Bestandteil einer Urbanen Praxis verstanden werden, die eine Stadt des Ankommens, eine „Stadt für Alle“ fördert. Ein Projekt wie Berlin Mondiale versteht sich beispielsweise als Netzwerk, das vor allem aus Künstler_innen und Praktiker_innen mit Fluchtbiografie und engagierten Beteiligten verschiedener Berliner Kultureinrichtungen besteht. Mit solchen künstlerischen Netzwerken versucht die U ­ rbane Praxis in kulturell und sozial eher dünn aufgestellte Sozial­ räume zu gehen und mit lokalen Akteur_innen aus den Nachbarschaften Räume für strukturell und institutionell benachteiligte Communities / Gruppen und Praktiker_innen zu öffnen. Anlage /Anlegen Anlage/Anlegen [Anlage] Urbane Praxis versucht mit künstlerischen Mitteln, Visionen und Strategien für ein verbessertes städtisches Zusammenleben zu schaffen. Dafür werden aktuelle Herausforderungen angepackt, solidarische Gemeinschaft gestärkt und vor allem der städtische Raum neu gedacht. Als Keimzelle oder Schaltzentrale dieses neuen städtischen Handelns kann die Anlage verstanden werden. An bestehenden oder neuen Orten legt sie lokale, interdisziplinäre, kooperative, beziehungsorientierte und visionäre Arbeitsweisen an. Das Ziel: gemeinsame Stadtgestaltung. Urbane Praxis ist weder Projekt, Prozess oder Profession, sondern ein Experiment dessen, was wir uns als städtische Gemeinschaft vorstellen: Genossenschaftshochhaus, Nachbarschaftscampus, Peripheriemuseum, Pfahlbautenuniversität, Stadtweidenmusikschule, Materialkreislauflager – was brauchst Du in Deiner Stadt? Dabei geht es nicht unbedingt darum, neue Institutionen zu gründen, wie diese unzulässige Aufzählung suggeriert, sondern um die Diskussion und Gestaltung dessen, was wir als Stadtbewohner_innen eigentlich brauchen. Das kann auch beispielsweise etwas Temporäres, Performatives oder Anarchisches sein. 12 13 Anlage /Anlegen Es liegt also erstmal an uns, das anzulegen, was wir brauchen. Klingt nach einer großen Aufgabe, lässt sich aber recht einfach machen, wenn man sich einen Garten, eine Allmende oder einen sonstigen gemeinsamen Ort vorstellt. Das sind uns doch sehr vertraute Prinzipien, denn schon seit Jahrhunderten üben wir uns im Umgang mit der Entwicklung von Flächen und Räumen, die eine Gruppe von Menschen für das Gemeindewohl als notwendig erachtet. Diese Kulturleistungen können im Heute und der Großstadt ganz verschiedene Formen annehmen: lang geplant, groß gestaltet, weit sichtbar oder, genau entgegengesetzt, kurzfristig notwendig, spannend intervenierend, szeneaffin. Manchmal wird etwas ganz Neues gesetzt, oder aber es wird auf bestehenden Strukturen aufgebaut – wie bei einem Brettspiel gewissermaßen das noch fehlende Teil angelegt. Wichtig ist vor allem, dass es zum Mitmachen einlädt. Wir haben bestimmte Veranlagungen, also bestehende Bedürfnisse, die es im Rahmen der sich schnell verändernden Städte zu diskutieren gilt. Wo lohnt es sich anzulegen bzw. in was wollen wir als Gemeinschaft eigentlich investieren? Da es das, was es braucht, damit es besser wird, meistens noch nicht gibt, legen wir es darauf an: Wo ist ein guter Ort? Wen brauchen wir dafür? Wie funktioniert das eigentlich? Manches ist dann doch schon in Teilen vorhanden, braucht nur einen Ort, mehr Aktivismus oder ein neues Gesicht. Vieles ist aber neu, weil der entstehenden Anlage die involvierte Disziplin oder betroffene Institution nicht so wichtig Anlage /Anlegen ist. Das heißt, sie operiert mit visionärem Blick auf das zu gestaltende Ziel, holt sich notwendiges Wissen dazu und leistet politische Überzeugungsarbeit: Das mitreißende, gemeinsame Machen. Das Ergebnis ist ein neuer oder wiederentdeckter Ort, als Beitrag zum Allgemeinwohl und mit einem aufrüttelnden Bild für die Zukunft unserer Stadt. Eine neue Anlage. Anton Schünemann ist Experte für Kulturelle und Politische Bildung. Als Absolvent der Bauhaus- und der Europa-­Universität in Weimar und Frankfurt /Oder berät und unterstützt er u. a. ­Stiftungen, NGOs und wissenschaftliche Einrichtungen. Seit 20­­­­14 ist er Programmkoordinator und Strategieentwickler bei der S27 – Kunst und Bildung. Er ist Mitbegründer der Arbeitsintegra­tionsinitiative Arrivo Berlin, des Zentrums für Kreislaufwirtschaft­ Haus der Materialisierung und der Initiative Urbane Praxis. 14 [Autonomy] Einer der Begriffe, die sowohl in der Kunst als auch in der Politik am meisten beachtet und umstritten sind, ist der der Autonomie, ein Begriff, der in beiden Bereichen unterschied­ liche, aber auch miteinander verknüpfte Bedeutungen hat, was jedoch nur zu weiterer Verwirrung und Komplexität beiträgt. Nichtsdestotrotz hat er jedoch eine große Bedeutung für urbane Praktiken, nicht zuletzt deshalb, weil sie genau an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik stattfinden. Im Bereich der künstlerischen Praxis (und sehr wohl auch in der Kunsttheorie) wird Autonomie üblicherweise im Sinne der historischen Avantgarde-Bewegungen der frühen europäischen Moderne verstanden, wo sie eine künstlerische Produktion bezeichneten, die unabhängig von Kirche und Staat und sogar vom Markt war. Autonome Kunst war formal neuartig und brach mit der Tradition. Gleichzeitig war sie jedoch auch kritisch gegenüber institutioneller Macht, innerhalb der Kunst und innerhalb der Gesellschaft. In der zeitgenössischen Kunst hat künstlerische Autonomie jedoch auch negative Konnotationen, die sich darauf beziehen, dass einige Künstler_innen alles, was sie tun oder sagen, als freie Rede verteidigen, ohne Rücksicht auf Privilegien, Konsequenzen und Kontexte. Aus diesem Grund gilt der 15 Autonomie Autonomie Autonomie Begriff der Autonomie mittlerweile als unzureichend, um die Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten der Kunst in einer multi­polaren Gesellschaft zu verstehen, was zu dem ­dienlicheren Begriff der relativen Autonomie geführt hat. Auch in der politischen Theorie und Praxis der Avantgarde hat der Begriff der Autonomie eine umstrittene Geschichte. Technisch gesehen steht er für Selbstverwaltung, in der Regel im Sinne eines Territoriums, das außerhalb der Kontrolle des Staates bleibt und in einem urbanen Kontext oft mit Hausbesetzungen und selbstorganisierten Räumen in Verbindung gebracht wird. Autonomie steht aber auch für eine radikale linke Politik, die die Idee einer Avantgarde­ partei an der Spitze des Volkes ebenso ablehnt wie die Institution des Parlaments zugunsten der Versammlung. Ausgehend von dieser Geschichte können wir ­Urbane Praxis eher als selbstinstituierend als als ­anti-institutionell einordnen, im Sinne des Autonomieverständnisses von ­Cornelius Castoriadis, der Autonomie als Gegensatz zu ­Heteronomie und nicht zu Institutionalisierung verstand. A ­ utonome Gesellschaften sind solche, in denen die Mitglieder genau wissen, wie sie die sozialen Beziehungen durch und für sich instituieren, im Gegensatz zu heteronomen, in denen die Mitglieder die Ordnung einer Autorität außerhalb der Gesellschaft zuschreiben. Autonomie in diesem Sinne ist der Wille, sich selbst zu organisieren und damit selbst zu instituieren. Dr. Simon Sheikh ist Kurator und Theoretiker. 16 Bürgerbeteiligung Die Stadt umfasst sowohl gebaute als auch gelebte Faktoren: Straßen und Gebäude gehören ebenso zu einer Stadt wie die individuellen und gemeinschaftlichen Raumkonstitutionen ihrer Bewohner_innen und Nutzer_innen. Diese formen die Stadt tagtäglich durch ihr Handeln, das wiederum durch gebaute und strukturelle Bedingungen beeinflusst wird. Eine Beteiligung an Veränderungsprozessen der Stadt bezieht sich daher sowohl auf bau­liche und strukturelle Faktoren als auch auf das urbane, das ­städtische Leben – und damit letztlich auf jede_n Einzelne_n: Unsere sozialen Beziehungen, unseren Lebensstil, die Frage, wer wir eigentlich sind und in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Bürgerbeteiligung an Veränderungsprozessen der Stadt beinhaltet die Möglichkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten und mit diesen Vorstellungen in einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess einzutreten – denn in Städten lebt man als eine_r unter Vielen. Wenn wir das beachten, dann realisieren wir die Relevanz der Beteiligung von Bürger_innen: Es geht nicht um das Antlitz der Stadt oder einzelne befristete Beteiligungen an Bauvorhaben, sondern um Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen, um 17 Bürgerbeteiligung [Public Participation] Bürgerbeteiligung Ein- und Ausschlüsse, um Systeme und unsere Fähigkeit, Vielfalt auszuhalten. Möchte man tatsächlich einer breiten Bürgerschaft die Möglichkeit geben, ihre Lebensräume aktiv mitzugestalten, so gilt es, Bürger_innenbeteiligung grundsätzlich neu zu denken. Veränderungen der Stadt müssen einen Aushandlungsprozess ermöglichen, an dem Bürger_innen teilhaben können. Dies gelingt erst, wenn Veränderungen und ihre Planung im Stadtraum wahrnehmbar und verhandelbar werden. Nur dann steht nicht die bloße „Befriedung“ und die Optimierung einer Stadt als Ware im Vordergrund, sondern ein radikales Verständnis urbaner Demokratie. Dann geht es nicht um schnelle Lösungen und Ergebnisse, sondern um die Stadt in ihrer Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Komplexität. Bürgerbeteiligung an Veränderungsprozessen der Stadt bedeutet in diesem Sinne, Diskursräume zu schaffen und Widersprüche zuzulassen, um eine vielfältige Stadt zu ermöglichen. Leonie Wendel lebt und arbeitet als Public Interest Designerin in Düsseldorf. Sie ist Mitglied der Planwerkstatt 378 und erforscht in diesem Kontext sowohl wissenschaftlich als auch in der Praxis die Beteiligung von Bürger_innen an Veränderungsprozessen der Stadt. 18 Chor Ich möchte den Begriff „Chor“ einführen, um eine „nichtkollektive Kollektivität“ zu definieren: (kon)temporär, partiell, fließend und eher an einen bestimmten Anlass oder ein bestimmtes Projekt gebunden als an eine vorgegebene geteilte Weltanschauung. Wir könnten den Chor als ein Ganzes betrachten, das bereit ist, zu einer Pluralität zu werden, das zur P ­ artizipation neigt und von einer Sozialität angezogen wird, in der sein Wert anerkannt wird (und dabei gleichzeitig Freude am Teilen und an der Begegnung hat, auch wenn dies zu ­Konflikten führt), ohne dass sich dabei eine etablierte Gemeinschaft oder eine feste Identität herauskristallisieren. Tatsächlich ist diese Möglichkeit, gesichert durch die herrschenden Spielbedingungen, stets gebannt. Anders als das Kollektiv, das im Gegensatz zum Individuum steht, bietet der Chor keine Übereinkunft zwischen den Subjekten, die zur Konstruktion einer Identität führt und damit unweigerlich einen Teil der Vielfalt, die im Singulären enthalten ist, opfert. Das Kollektiv passt unweigerlich an, standardisiert und definiert sich selbst durch ein Manifest, indem es ein spezifisches „Wir“ wählt und so oft jede Abweichung als Exzentrizität verurteilt. Andererseits 19 Chor [Choral] Chor wird das Singuläre, die Individualität der Künstler_innen bis zu dem Punkt gefeiert, an dem man glaubt, dass es möglich ist, jede Verbindung mit der eigenen Zeitgenossenschaft zu lösen, wie zum Beispiel in der abgenutzten Theorie des Genies. Es handelt sich also um zwei unmessbare Positionen, denn: im Chor findet das individuelle, oppositionelle Paar im Gegensatz zum kollektiven Paar einen Ausweg aus der Sackgasse sich entscheiden zu müssen, ob sie das Ego oder das Politische und Soziale opfern. Ein Chor ist eine Ansammlung von Singularitäten, ja sogar Anomalien, der beschließt, bei der Schaffung eines gemeinsamen, aber streitbaren Raums zusammenzuarbeiten, das heißt, eines Raums zum Vergleich, in dem alles relativ und möglicher Gegenstand der Diskussion ist, abzüglich des Werts, der den Unterschied ausmacht. In meinen künstlerischen und kuratorischen Projekten ist jede Forderung an die Kunst immer von der Vorstellung ausgegangen, dass sie sich in einem durchlässigen und großzügigen, aber auch vielfältigen und fruchtbaren Konfliktraum befindet, der in der Lage ist, „Kathedralen“, jedoch keine Religionen hervorzubringen. Giorgio de Finis arbeitet als Anthropologe, Künstler und Kurator in Rom. Er ist der Gründer von MAAM Metropoliz – Museum of the Other and Elsewhere, dem MACRO Asilo, das zwei Jahre lang das Museum für zeitgenössische Kunst in Rom in eine Piazza verwandelte. Derzeit entwickelt er das Museo delle periferie a Tor Bella Monaca (RIF ) am Rande der Metropole. 20 Commons Das Konzept der Commons entstand in England im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Einfriedung von Land, den frühen Stadien dessen, was Marx später als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnete, das heißt, der Inanspruchnahme von Land und Ressourcen als Privateigentum durch die Herrschenden. An manchen Orten äußerte sich diese ursprüngliche Akkumulation in Form von Landraub für Bergbau, Industrialisierung und billigen Arbeitskräften; an anderen Orten ist sie sichtbar durch gerade Linien auf einer Landkarte, eine Pipeline oder die Auslöschung von Inseln in nuklearen Testgeländen. Meist jedoch zeigt sie sich in der Errichtung von Zäunen oder manchmal auch Golfplätzen, um ein Gebiet als privatisiert oder militarisiert zu definieren. Der Staatskapitalismus treibt den Prozess der Einfriedung voran, der außerhalb demokratischer ­Prozesse stattfindet und kollektive Rechte, Holz zu sammeln, ­T iere zu weiden, Lebensmittel anzubauen, Kultur zu besitzen, in einem leeren Gebäude zu leben, frisches Wasser zu ­trinken, spazieren zu gehen und die Landschaft zu genießen oder einfach auf einem Stadtplatz zu sitzen und zu singen außer Kraft setzt. Im Mittelalter hatten auch die 21 Commons [Commons] Commons einfachen Bevölkerungsschichten traditionell Zugangsund ­Nutzungsrechte, selbst wenn das Land im Besitz der Krone war. Heute bezeichnet Commoning v­ erschiedene Arten von kollektivem Eigentum und Verantwortung. Dazu ­gehören Genossenschaften, Hausbesetzerrechte und Systeme zum Schutz kultureller und geistiger Gemeingüter wie Creative Commons-Lizenzen und Open-Access-Veröffentlichungen. Denkt man auf diese Weise über Commons als ein Konzept für das 21. Jahrhundert nach, ergeben sich daraus Zusammenhänge zwischen den Einfriedungen und der Kolonisierung, wodurch Räume für neue Formen von Bündnissen entstehen. Die Kolonisierung ist die Umsetzung der Einfriedung im globalen Maßstab, die Menschen und den Planeten zu Waren macht, Körper und Ökosysteme ausbeutet und erodiert und Praktiken von F ­ ürsorge und H ­ aushalterschaft verletzt. Die Menschen sehen ihre ­Landrechte jedoch als Verantwortung, sie finden und erhalten eine Stimme, ihre Beziehung zum Ort artikuliert sich durch kollektives Gärtnern, Teilen, Produzieren, ­L eben und Widerstand, indem sie neue rechtliche und politische Strukturen schaffen. Commons sind nicht einfach nur Ressourcen oder auch einzelne Gruppen von Menschen, der Akt des ­Commoning ist ein Prozess, eine gelebte kollektive Ethik, die die Beziehungen zwischen den Menschen und die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt für den Erhalt allen Lebens 22 Commons und Nichtlebens wertschätzt. Commoning ist ein Widerstand gegen die Einfriedungen der Kolonisierung, den wir von unseren Kindern erben. Dr. Ele Carpenter ist Professorin für interdisziplinäre Kunst und Kultur und Direktorin von UmArts. Sie arbeitet direkt mit der School of Architecture, der School of Art, der School of Design, dem Department of Creative Arts und dem Bildmuseet zusammen, um neue Kunstforschung zu unterstützen und zu e­ntwickeln. UmArts wurde im Jahr 2021 gegründet und konzentriert sich auf einige der wichtigsten Themen unserer Zeit, u. a. Planetary Care, Dekolonisierung und das nukleare Anthropozän. 23 Community Organizing Community Organizing [Community Organizing] Beim Community Organizing geht es um die ­systematische und möglichst nachhaltige Organisierung von weniger ­privilegierten Menschen, um Macht von unten aufzubauen, dadurch Machtverhältnisse zu verschieben und eigene Anliegen durchzusetzen. Ziele sind die konkrete Verbesserung von Lebensbedingungen und die Stärkung einer substantiell demokratischen Gesellschaft oder auch deren grundlegende Transformation in Richtung der Aufhebung unterdrückender und ausbeuterischer Verhältnisse. Als Begründer gilt der Chicagoer Soziologe Saul D. Alinsky, dessen Bücher ‚Reveille for Radicals‘ und ‚Rules for Radicals‘ als pragmatische Anleitungen zur sozialen Revolution gelesen werden können. „The Prince was written by Machiavelli for the Haves on how to hold power. Rules for Radicals is written for the Have-Nots on how to take it away.“(Alinsky 2010 [1971], 3). Zentrale Begriffe im Community Organizing sind „Macht“, als Fähigkeit mit anderen gemeinsam zu handeln; „Community“ als ein räumlich definiertes, dynamisches Geflecht aus Beziehungen, Organisationen und Institutionen, das in einer mobilen, modernen Stadtgesellschaft nicht in erster Linie physisch oder ethnisch, sondern über gemeinsame 24 Dr. Sabine Stövesand, Stadtteilaktivistin (u. a. Park Fiction, ­Initiative Esso Häuser), Professorin für Soziale Arbeit an der HAW Hamburg. 25 Community Organizing Interessen bestimmt ist; „Organisieren“ als Zusammenbringen von Menschen, der Aufbau tragfähiger Beziehungen, Mobilisierung, die Entwicklung eines strategischen, geplanten Vorgehens und Aufbau nachhaltiger und basisdemokratischer Strukturen. Das Herzstück und der Beginn eines Organisierungsprozesses sind Hunderte von Gesprächen in der Community, an Haustüren, bei Haus- und Nachbarschaftstreffen bzw. mit Akteur_innen aus lokalen Vereinen, Institutionen. Erkundet und ausgewählt werden Probleme, die viele betreffen / empören und an kollektivierbare Eigeninteressen anknüpfen; sie sollen veränderbar sein, d. h. konkret und überschaubar. Zentral ist dabei die Gewinnung und das Empowerment von Schlüsselpersonen (local leaders) durch den / die professionellen Organizer. Es folgt eine ausführliche Recherche, Mapping und Kartierungen (u. a. Machtanalysen, Bereitschaft zum Engagement, eigene ­Ressourcen) und auf dieser Basis große, sorgfältig orchestrierte Versammlungen, Aufbau von Organisationen, s­ ystematische Strategieentwicklung und Umsetzung in vielfältigen, ­direkten Aktionen, von Blockparties bis Boykott. Betont wird immer auch die Bedeutung von anschließender gemeinsamer Reflektion und das Feiern von Erfolgen. Party und ­Organizing sind keine Gegensätze – im Gegenteil! Empowerment / Ermutigung Empowerment / Ermutigung [Empowerment/Encouragement] Empowerment oder Ermutigung umfassen Prozesse, Strategien und praktische Schritte, mit denen Stadtbewohner_innen ihre Interessen selbstverantwortlich und selbstbestimmt zum Ausdruck bringen, sich aktiv dafür einsetzen und gemeinsame Interessen auch gemeinsam vertreten. Eine daran orientierte Urbane Praxis unterstützt und ermutigt Prozesse der Selbstorganisation und /oder schafft Rahmenbedingungen, die solche Prozesse anstoßen und ermöglichen können. Empowerment unterscheidet sich ­insofern von allen Formen einer Stellvertreterpolitik, bei der gewählte oder selbsternannte „Expert_innen“ für die Betroffen handeln, auch wenn dies mit den besten Absichten geschieht. Erfahrungsgemäß sind es auch bei städtischen Initiativen und Bewegungen Einzelne, die sich u. a. durch Sprachkompetenz, Bildung, durch ihr soziales und kulturelles ­Kapital (im Sinne Bourdieus) auszeichnen und die zugleich auch über die zeitlichen Spielräume bzw. die materiellen Möglichkeiten verfügen, um sich in Initiativen, Projekten und bei Aktionen einzubringen. Sie sind in der Lage, 26 27 Empowerment / Ermutigung Situationen zu definieren, Ziele vorzugeben sowie Inhalte, Richtung und Aktionsformen zu bestimmen. Empowerment zielt deswegen darauf ab, auch jenen, deren Stimme üblicherweise nicht gehört wird, die sich (bisher) nicht zu Wort gemeldet und eingemischt haben, Gehör zu verschaffen und sie zu ermutigen, selbst aktiv zu werden. In städtischen Quartieren wie z. B. dem Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk mit einem überdurchschnittlichen Anteil migrantischer Bevölkerung ist es eine große Herausforderung, gerade diese Bevölkerungsgruppe in die öffentlichen Debatten darüber einzubeziehen, in welcher Stadt „wir“ leben wollen. Bisher kommt die migrantische Bevölkerung in diesem „Wir“ nicht oder nur am Rande vor. Strategien von Empowerment zielen darauf ab, G ­ efühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein zu überwinden, die durch äußere Ereignisse und Entwicklungen ausgelöst werden, die als unverständlich und unverfügbar erfahren werden. Ein erster Schritt kann die praktische Erfahrung sein, mit individuell erlebten Problemen oder ­Konflikten wie z. B. rassistischer Diskriminierung, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung nicht allein zu sein. Individuelle Betroffenheit kann sich so zu kollektiver Betroffenheit entwickeln. Aus dem Gefühl, gemeinsam ­weniger machtlos zu sein, kann schließlich der Wunsch erwachsen, sich auch selbst an kollektiven Aktionen zu beteiligen. Erfahrung dieser Art kann man im Gespräch mit anderen, ähnlich Betroffenen, in Versammlungen, bei Empowerment / Ermutigung Kundgebungen oder Demonstrationen machen. Empowerment-Strategien zielen darauf ab, Möglichkeitsräume für solche Erfahrungen zu schaffen. Helmut Schneider: Universitäre Forschung und Lehre als ­W irt-­ schafts- und Stadtgeograph (regionale Schwerpunkte Südostasien, Großraum Düsseldorf, Ruhrgebiet); nach der Pensionierung im Jahr 2016 Mitgründer der Stadtteilinitiative „Runder Tisch Oberbilk“, des Geschichtsvereins „Aktion Oberbilker Geschichte(n)“ und seit 2019 Engagement im Rahmen des D ­ üsseldorfer „Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“ 28 Freiraum Fast alle Erzählungen über das Berlin der ­Nachwendezeit beginnen mit der Beschreibung von verlassenen und leerstehenden Räumen und Brachflächen im Zentrum der Stadt. Diese wurden als „Freiraum“ deklariert, sie waren frei von Verwertungsdruck und bürokratischer Kontrolle, denn im Zuge der politischen Transformation durch die Wiedervereinigung blieben viele Eigentumsverhältnisse ungeklärt. Zentrale Grundlagen des kapitalistischen Systems und seiner Verwertung von Raum funktionierten vorübergehend nicht mehr. Diese Situation wird oft als Ausgangspunkt dafür gesehen, dass Berlin sich als Kulturstandort etablieren konnte. Selbstorganisierte, kollektive und disziplinübergreifende Strukturen sowie kostengünstig und einfach anzumietende Räume boten eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten des Produzierens, Präsentierens und Vermittelns von Kunst. Während die Narration des Freiraums in der Nachwende davon ausgeht, dass dieser einfach vorhanden sei und nur entsprechend genutzt, umgenutzt und angeeignet werden müsse, möchte ich mit Henri Lefebvre dagegen argumentieren: Raum – und damit auch Freiraum – existiert nicht per se, auch wenn de facto leerstehender Raum vorhanden 29 Freiraum [Freiraum] Freiraum ist. Im Sinne von Lefebvre ist Raum das Produkt gesellschaftlicher Prozesse: Dazu gehören politische Entscheidungen, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen genauso wie subjektive Vorstellungen. Es handelt sich insofern bei Raum nicht nur um physischen Raum und um gebaute Architekturen, vielmehr kommt ihm durch die Betrachtung der mit seiner Entstehung verbundenen sozialen Prozesse eine kulturelle und zeitliche – und damit veränderbare – Dimension zu. In der Prozessualisierung von Raum liegt dann auch das politische Verständnis, denn die damit verbundenen Machtverhältnisse sind nicht als starre Konstanten zu denken. Raum in Bezug auf Lefebvre ist Teil eines gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozesses, der ihn gleichsam erst hervorbringt. Urbane Praxis setzt hier an, denn sie gestaltet soziale Prozesse und damit auch die Teilhabe an der ­Veränderung von Raum und seinen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Kulturpolitisch kann aus dem Rückblick auf die 1990er Jahre das Fazit gezogen werden, dass nicht allein der Leerstand der Nachwende die Voraussetzung für die Entwicklungen war, sondern ebenso die nicht renditeorientierten Eigentumsstrukturen sowie ausreichend finanzielle ­Förderung von künstlerischer Arbeit und ein Verständnis von Kunst als Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Dies sollten die Stichworte für eine zukünftige Kulturpolitik sein. 30 Freiraum Annette Maechtel ist seit März 2020 Geschäftsführerin der nGbK, seit September 2020 ist sie Mitglied in der Initiative Urbane Praxis im Rat für die Künste. Mehrere ihrer Ausstellungs- und Forschungsprojekte beschäftigten sich mit Berlin als einem politischen und diskursiven Raum. 2018 schloss sie ihre Dissertation an der HGB Leipzig am Institut für Theorie ab. 2020 erschien diese bei b_books unter dem Titel „Das Temporäre politisch d ­ enken. Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre“. 31 Haushalterschaft Haushalterschaft [Stewardship] In der Regel orientiert an den jüngsten Bewegungen im globalen Süden, die lebendige Alternativen zur euroamerikanischen Vorstellung von Eigentum verkörpern, vom Amazonas-Regenwald bis zu Standing Rock. Was alle diese Orte des Widerstands gemeinsam haben, ist die Abkehr von anthropozentrischen Ansprüchen auf Landbesitz und die Hinwendung zu der Vorstellung, dass der Mensch nur eine Gemeinschaft unter vielen ist, ein einziger Teil eines komplexen, sich ausbreitenden Biotops von Arten und (widerstreitenden) Interessen. Es ist offensichtlich, dass der Mensch nicht Eigentümer sein muss, der entweder das Land ausbeutet oder die Landschaft genießt, er kann Verwalter sein, der für das ökosystemare Wohlergehen des ihn umgebenden Landes mitverantwortlich ist, mit dem Ziel einer regenerativen biologischen Vielfalt anstelle einer monokulturellen Extraktion. Tirdad Zolghadr ist Kurator und Schriftsteller. Derzeit ist er künstlerischer Leiter der Sommerakademie Paul Klee. Außerdem arbeitet er am langfristigen kuratorischen Projekt REALTY ­jenseits traditioneller Entwürfe von Kunst und Gentrifizierung. 32 Infrastruktur, urban Das gängige Bild der europäischen Stadt ist zumeist das einer Stadt als eng verknüpfte Einheit, die durch S ­ tadtmauern geschützt und durch dieses architektonische Element klar von dem „Anderen“, dem Land getrennt ist. Folglich wird die Gründung einer Stadt als ein magischer Akt gedacht, mit dem eine Gemeinschaft in einem Gebiet etabliert wird, und somit immer noch in ihrer alten Form gefangen ist, die nichts weiter als eine nostalgische Reminiszenz ist. Wie Historiker_innen und Archäolog_innen jedoch nachgewiesen haben, ist die Entstehung einer Stadt in der R ­ egel das Ergebnis einer sorgfältigen Planung von Logistik und Kommunikation. Die geografische Lage einer Stadt entspricht der Notwendigkeit (und dem Wunsch), eine menschliche Gemeinschaft in ein Gebiet einzubetten, aber auch, und das ist entscheidend, diesen Ort zu einem Knotenpunkt für ausgedehnten Verkehr und Austausch zu machen. Vor diesem Hintergrund sind Städte eher aus ihren Straßen als aus ihren Gebäuden erwachsen. Folgen wir dieser Logik, ist die Stadt der Punkt, an dem sich die Ströme verdichten, und die Urbanisierung ein Prozess der Organisierung und Artikulierung eines Territoriums entsprechend dem Paradigma der Zirkulation. Wir 33 Infrastruktur, urban [Infrastructure, urban] Infrastruktur, urban können also die Entwicklung der Städte und ihre heutige Dynamik nur dann richtig verstehen, wenn wir sie nicht weiterhin als isolierte Einheiten betrachten. Im Gegenteil, wir müssen Städte als komplexe Gebilde untersuchen, die sich auf vielfachen Ebenen gemeinsam entwickeln. Ein epistemischer Wandel hin zu einer so genannten infrastrukturellen Analyse von Städten und Urbanisierungsprozessen ist ein entscheidendes Instrument für das Überdenken jeglicher Urbanen Praxis. Darüber hinaus kann das diagrammatische Netzwerk, das das Infrastruktursystem darstellt, zu einem ökologischen Verständnis des städtischen Stoffwechsels führen, bei dem die Gesamtheit der urbanen Vektoren berücksichtigt wird. Es sind nicht nur die Ströme von Menschen, sondern auch die von Kapital, Waren, Zeichen und Ideen, die die Städte erhalten und ihnen fortwährend Geltung verschaffen. Im weiteren Sinne müssen wir auch die Wasserversorgung, die Stromnetze, die Telekommunikationssysteme, die Kanalisation, die Abfallentsorgung usw. zusammen mit den Eisenbahnen, Brücken, Tunneln und Straßen als wesentliche Bestandteile der physischen und digitalen Infrastruktur betrachten, die das städtische Leben, wie wir es kennen, ermöglichen. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass diese bestehende infrastrukturelle Matrix nicht (nur) die überwältigenden technischen Funktionen, sondern auch eine politische Form zum Ausdruck bringt. Wenn wir die Stadt als infrastrukturellen Knotenpunkt oder als eine 34 Niccolò Cuppini ist Forscher an der Hochschule für Angewandte Technik und Kunst der Südschweiz. Seine Forschungen ­orientieren sich an einem transdisziplinären Ansatz in den ­Bereichen Stadtforschung, Geschichte der politischen Doktrinen sowie Logistik und soziale Bewegungen, Arbeitssoziologie und Plattformökonomie. Niccolò ist Teil der Forschungsgruppe Into the Black Box. 35 Infrastruktur, urban Meta-Infrastruktur begreifen, impliziert dies eine neue Konzeptualisierung ihrer Ästhetik und ihrer Planung und eröffnet sowohl eine Forschungsagenda als auch eine konkrete Herausforderung für einen zeitgemäßen urbanen Aktivismus. Darüber hinaus führen die neue planetarische Beschaffenheit der urbanen Textur und die Ausbreitung städtischer Infrastrukturen über die Grenzen des städtischen Raums hinweg zu vielfältigen politischen Konflikten, Verhandlungen und Exklusionen. Die neue Grenze dieser anhaltenden Auseinandersetzung ist das Platforming planetarischer „Stadtlandschaften“ (anstelle von Landschaften). Das allgegenwärtige Betreiben digitaler Plattformen – nur der jüngste infrastrukturelle Akteur – gestaltet unser Leben und den Planeten, auf dem wir leben, radikal um. Es entstehen neue Orte der politischen Auseinandersetzung, um das Recht auf Stadt zu erwerben, und Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, alternative (­urbane) Bürgerschaftsmodelle auszuhandeln und zu gestalten. Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Politik der Navigation in diesem Vortex. Installieren Installieren [Install] Die öffentliche Wahrnehmung der Urbanen Praxis ist visuell geprägt durch Bilder von neu erschlossenen und oftmals fantastisch anmutenden Räumen, die andere Formen der kollektiven Erfahrung versprechen. Diese mit künstlerischen Mitteln hergestellten Handlungsräume lassen sich als Installationen begreifen, die in der Kunstgeschichte gemeinhin hybride künstlerische Praktiken ab den 1960er Jahren bezeichnen, die Aspekte der Ereignis- und Prozesshaftigkeit sowie Orts- und Zeitspezifik vereinen. Historisch verschob sich damals der Fokus von der Produktion eines einzelnen Werkes hin zur Reflexion der Bedingtheit des eigenen Handelns. Damit einher ging die sich Bahn brechende Auffassung des Eingebundenseins von künstlerischer Praxis in gesellschaftliche Prozesse. Mehr noch wurde künstlerischem Handeln das Potenzial einer gesellschaftlichen Wirksamkeit zugesprochen, im Sinne der Hervorbringung und der Veränderung von gesellschaftlicher Realität. Die Praxis des Installierens beinhalten demnach immer auch das emanzipatorische Potenzial der künstlerischen Kontrollübernahme und Selbstermächtigung. Dabei bewegt sich dieses Handeln teilweise auch an den Grenzen des Erlaubten und darüber hinaus. Die Installation etabliert 36 37 Installieren einen Raum außerhalb der üblichen Ordnung und öffnet damit gleichzeitig den Blick auf die Voraussetzungen dieser Ordnung selbst. Das Sichtbarmachen von Aushandlungsprozessen führt nicht nur zu einer kritischen Hinterfragung der eigenen Wertsetzungen, sondern schärft das Bewusstsein für die Bedingungen des gesellschaftlichen Kontextes. Dies lässt sich auch in der Entscheidungsstruktur vieler ­Initiativen der Urbanen Praxis ablesen, die sich selbst oftmals basisdemokratisch organisieren oder nach dem Konsensprinzip agieren. Diese Verknüpfung von Gesellschaftskritik und Selbstreflexion lässt sich mit Nowotny und Raunig als das instituierende Potenzial von Urbaner Praxis verstehen, das sich im Zusammenspiel von politischen Praxen, sozialen Bewegungen und künstlerischen Kompetenzen entwickelt. Neben der Absicherung von konkret physischen Räumen ist eine strukturelle Verstetigung der Urbanen Praxis nicht zuletzt deshalb wichtig, weil im Hamsterrad der temporären Projektlogik kaum Ressourcen für die Dokumentation und Reflektion dieser Installierungspraxis bereitstehen und daher ein ständiger Verlust von Handlungswissen droht. Das stellt auch neue Anforderungen an die Aufgabe der Erhaltung von Urbaner Praxis, denn allein das Material konventionell zu lagern reicht hier nicht aus. Vielmehr braucht es Möglichkeiten zur Erprobung neuer Tradierungsweisen und der Weitergabe von Urbaner Praxis. Installieren Dr. Anna Schäffler forscht praktisch und theoretisch zur Er­ haltung von Kunst und Kulturgut an der Schnittstelle von ­Kunstgeschichte, Restaurierung und Kuratieren. Ihre Faszina­tion für das Potenzial Urbaner Praxis begann während ihrer Arbeit bei der Zwischennutzung des Palastes der Republik in Berlin (2003 – 2005). Anna ist Mitbegründerin von CoCooN, einem Stadtlabor der Urbanen Praxis rund um die Erhaltung von künstlerischen, kollektiven und urbanen Praktiken. 38 [Cooperation] Die Stadt gilt als ein Habitat der Kooperation und logischer Ort für das Entstehen von gesellschaftlichen Laborsituationen und sozialen Innovationen. Der urbane Raum bietet beste Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Werkzeuge und Handlungsmodelle, um das Versprechen auf individuelle Lebensgestaltung als positive Errungenschaft der Moderne mit der sozialen Verfasstheit des Menschen stärker in Einklang zu bringen. In der Tat kann man sowohl historisch als auch aktuell argumentieren, dass es eher die Zusammenarbeit als der Wettbewerb ist, die die Menschheit am Leben erhält. So sieht David Graeber die alltägliche Kooperation als eine Basis und Konstante in der Menschheitsgeschichte und bezeichnet sie als „elementaren Kommunismus“, ohne den eine Gesellschaft nicht funktionieren kann. Dem Stadtsoziologen Henri Lefebvre galten Städte immer als Œuvre. Damit wollte er sie nachdrücklich von einem warenförmigen Produkt abgrenzen und betonen, dass Städte ein kooperatives Werk aller Stadtbewohner_innen sind. Diese Entwicklung sah er als gefährdet und prognostizierte schon frühzeitig Entwicklungen wie Privatisierung, Verdrängung oder globale Urbanisierung, die heute offensichtlich sind. 39 Kooperation Kooperation Kooperation Die Suche nach alternativen Wegen, um den sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen zu begegnen, hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren, der sich auch in den vielen Projekten einer Urbanen Praxis zeigt. Im Ruf der Kommunen nach Zusammenarbeit mit ihren Bürger_innen steckt aber auch ein ­gehöriges Maß an neoliberaler Ideologie. Wichtige Diskussionen über die Verteilung von Macht, Mitteln und den Zustand u ­ nserer demokratischen Systeme bleiben gerne auf der ­S trecke. Auch in Sachen Zusammenarbeit gilt es also genau zu ­fragen, wer mit wem, wie und warum auf welcher Basis ­kooperieren soll. Das Schöne an der Kooperation der Urbanen Praxis ist ihr Potenzial, sowohl ein völlig anderes Bild einer gewohnten Situation zu erzeugen, wie auch die urbane Umgebung als stärker nutzbaren und lebenswerteren Raum zu inszenieren. Genau diese von Urbaner Praxis hervorgerufenen ­neuen, anderen Bilder können Ahnungen der künftigen Stadt im Hier und Jetzt stärken und konkretisieren. Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive – Zeitschrift für Stadtforschung und veranstaltet gemeinsam mit Elke Rauth das urbanize! Festival. Er ist Teil des habiTAT -Hausprojekts „Bikes and Rails“. Gemeinsam mit Andrej Holm hat er zuletzt den Band „Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen“ ­ (TU Academic Press 2021) herausgebracht. 40 [Manual (DIY )] Schon seit den 1970ern gibt es zahlreiche Versuche, sich aus Sicht der Partizipation und DIY-Kulturen kritisch mit In­sti­ tutionen und Konsumkultur auseinanderzusetzen. In dieser Tradition wurzelt auch die Urbane Praxis. Durch ein experimentelles Verfahren („learning by doing“: Ausprobieren und direktes Machen) und der Vielfalt an sozialen Begegnungen werden Räume geschaffen, die noch nicht bestimmt und verplant sind, sondern in denen durch eine bewusste Beteiligung eine Community/Gemeinschaft wachsen kann. Sozialer Wandel sei in erster Linie eine räumliche Bedingung, so beschreibt es die Architektin und Künstlerin Marjetica Potrč. Und wenn dies gelingt, dann entstehen Orte, an denen die Einwohner_innen sich direkt engagieren und die eigene Lebensumgebung gestalten können. Das gemeinsame Machen und Bauen sind dabei Werkzeuge für eine räumliche und soziale Transformation (wer einen Raum selbst herstellt, wird Teil davon und fühlt sich verantwortlich). Zudem bilden die entstehenden Objekte Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umgebung. Die Hoffnung künstlerisch-aktivistischer P ­ rojekte der Urbanen Praxis ist es, dadurch Möglichkeiten der demokratischen Kommunikation, der Vernetzung, des Empowerments 41 Manual (DIY ) Manual (DIY ) Manual (DIY ) und der Teilhabe zu bieten. In sozialen Bewegungen (vor allem in der DIY - und Frauenbewegung), die sich für einen progressiven und demokratischen Wandel einsetzen, spielen dabei selbst publizierte Zeitschriften und „Fanzines“ eine wichtige Rolle. In solchen Heften, Flyern oder Pamphleten werden (und wurden) Comics und Illustrationen sowie Umgangssprache für die Vermittlung von kritischen kulturellen Inhalten verwendet. Das Zeichnen ist ein lebendiges, spekulatives Werkzeug künstlerischen Handelns, es kann Lernprozesse unterstützen und die Kommunikation zwischen Menschen erleichtern, die nicht dieselbe Sprache sprechen. Kulturelle Produktion und die Praxis bleiben oft getrennt. Wünschenswert wäre, dass sie sich etwas näherkommen, sich im Sinne von Donna Haraway v­ oneinander „kontaminieren“ lassen und zugänglicher werden für „Nicht-Expert_innen“ (ein diverses, mehrsprachiges, nichtakademisches Publikum). ftts / Federica Teti: Seit 2015 arbeiten die Architektin und Grafikerin Federica Teti und der Bildhauer und Performer Todosch Schlopsnies in partizipativen Strukturen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (mit und ohne Fluchthintergrund). In Workshops unterschiedlicher Formate wird gebaut, gegärtnert, erfunden und gespielt. Im Vordergrund steht, neben der unmittelbaren Erfahrung kultureller Teilhabe über alle Herkunfts- und Sprachgrenzen hinweg, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, was man alleine nie hinkriegen würde und außerdem großen Spaß macht. Seit 2020 künstlerische Leitung von Pilot Stadtwerk mrzn (S27). 42 Mehr Parkplätze! Beim Betrachten der Stadt passiert Ähnliches wie beim Augenspiel mit einem Vexierbild: Der eingeübte Blick spürt als erstes Figuren nach, die er bereits kennt. Von einem etablierten Bildeindruck kann man schlecht wieder loskommen, selbst wenn sich Fehler abzeichnen, Konditionen und Bedarfe verändern. Urbane Praxis wechselt stets die Perspektive auf das Städtische und stellt probeweise Bilder auf den Kopf. Im Mannheimer Ordnungsamt ist ein Streit darüber entbrannt, ob Herr Kleeberg, passionierter Radfahrer und Angestellter der Hochschulverwaltung, mit seinem ­mobilen Gartenbeet auf einem Fahrradhänger einen städtischen Parkplatz belegen darf. Das einschlägige Argument der Stadtverwaltung gegen den „Falschparker“ lautete „Parkdruck“. Ein neues Parkstück in der Stadt ist nicht durch die Straßenverkehrsordnung geregelt, wieso eigentlich nicht? Schieben wir das Gartenmobil also ein Haus weiter, vom Straßenverkehrsamt zum Grünflächenamt. Wir hätten es ahnen können – das fahrende Grün trifft hier brüsk auf amtliche Unzuständigkeit; als Daten des Grünflächenkatasters können nur stehende Flächen erfasst werden. Wie sich täglich an den Verschiebungen demografischer, sozialer, ökologischer und kultureller Koordinaten 43 Mehr Parkplätze! [More Park(ing) Spaces!] Mehr Parkplätze! des Stadtkörpers beobachten lässt, reichen die tradierten Themenzuschnitte der Verwaltung nicht mehr aus. Die ­F luidität und Verknüpfungen drängender Fragen verlangen nach Zusammenarbeit der Planungs- und Verwaltungsebenen, nach Wissenstransfer und Querverbindungen unter Expert_innen und nach Beteiligung aller Menschen, die Stadt aus / machen und gestalten. Wie sieht das aus, das Neue, Mögliche? Die Urbane ­Praxis tickt künstlerisch: Mit Visualisierungen, Performances und „strukturellen Infektionen“ kann Gewohntes verschoben werden und Zukünftiges durchscheinen. Mit den bisherigen Regularien, Prüfverfahren und Planungstools wird sich der neue Lebensraum „Stadt“ nicht ausformen lassen. Stadtentwicklung, die bei der Retrospektive ansetzt, „so-wie-es-einmal-war“, wird grundlegende Fehler nur flicken und Problemzonen optimieren. Impulse aus dem In- und Ausland, Kooperationen und empathische Zusammenarbeit quer durch alle Amtsstuben sind jetzt hilfreich. Und Modellversuche, kreative Baustellen, neue „Figuren“ – eine forschende Urbane Praxis, die radikal ausprobiert und Unerwartetes setzt. Barbara Meyer ist Leiterin des Kulturzentrums S27–Kunst und Bildung in Berlin Kreuzberg. Sie wuchs in der Schweiz auf und studierte Bildende Kunst. Im Jahr 2006 organisierte sie im ­Auftrag des Rates für die Künste die Kampagne OFFENSIVE KULTURELLE BILDUNG . Sie ist Mitglied im Berliner Flüchtlingsrat und Mitbegründerin der Initiative Urbane Praxis. 44 Nicht-Disziplinär Urbane Praxis wird oft in einem Feld gemacht, das scheinbar gar nicht existiert, das von einigen, aber nicht von allen gesehen wird. Die Beschreibungen der Praxis waren deshalb lange Zeit von langen Aufzählungen von Disziplinen gekennzeichnet, in deren Zwischenraum sich die Praktiker_innen verorten. Gearbeitet wird zwischen den Feldern der Architektur, Stadtentwicklung, Kunst, dem Sozialen und der Bildung. Da all diese Begriffe mit großen institutionellen Formalisierungen verknüpft sind (Ministerien, Schulen, Museen, Universitäten, Planungsämter, Kammern, etc.), ist es um so schwieriger, neue Verbindungen zu konstruieren, die von den Akteur_innen innerhalb der jeweiligen Disziplin auch gelesen und mit der eigenen Praxis verbunden werden können. Warum das Nein und die Ablehnung, Urbane Praxis mit Disziplin verbinden? In dieser Ablehnung steckt die Lust, aber auch die Notwendigkeit, die Grenzen der erlernten Disziplinen nicht nur zu übertreten, um zwischen den Disziplinen (interdisziplinär) nach Austausch und neuen Formen des Wissens zu suchen, sondern auch bestimmte Codes und Vorgehensweisen der erlernten Disziplinen aktiv zu verlernen, um anderen Wissensformen Raum zu 45 Nicht-Disziplinär [Nondisciplinary] Nicht-Disziplinär geben. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass wir so die neuen Wege finden, um alte Muster hinter uns zu lassen und die komplexen Veränderungen, die wir gestalten müssen, anpacken können. Markus Bader ist Mitbegründer der Gruppe raumlaborberlin. Seit 2016 leitet er das Fachgebiet Entwerfen und Gebäudeplanung am Institut für Architektur und Städtebau an der UdK Berlin. Er ist Mitglied im Rat für die Künste Berlin und engagiert sich in den Initiativen Haus der Statistik sowie Urbane Praxis. 46 Niedrigschwellig Kunst und Kulturinstitutionen gestalten ihre Angebote häufig für ein Publikum, das sich als bildungsnah und vielleicht sogar akademisch geprägt bezeichnen würde. In der Kommunikation dieser Angebote werden gerne altsprachliche Wortelemente genutzt (griechisch, lateinisch) oder neusprachliche Internationalismen zum Beschreiben aktueller Phänomene herangezogen. Die inhaltlichen – gerne als ‚diskursiv‘ oder ‚kritisch‘ bezeichneten – Themen dieser Angebote sind häufig abstrakt und vermeiden zu viel Nähe zu praktischen Alltagsfragen, um nicht als ‚banal‘ verurteilt zu werden. Die Angebote sind nicht selten auch für das Publikum schwer verständlich und trennen so auch innerhalb der Adressatengruppe den Weizen der Verstehenden vom Spreu der Unwissenden. Diese Form des Ausschlusses bzw. der Unterscheidung wird als soziale ‚Distinktion‘ bezeichnet und u. a. vom Soziologen Pierre Bourdieu ausführlich untersucht und beschrieben. Wenn hingegen von ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten die Rede ist, so ist häufig der Versuch gemeint, eine oben beschriebene Form der Exklusion zu vermeiden. In der ­Urbanen Praxis erfolgt dies über die Wahl der Inhalte, z. B. werden auch alltagsrelevante Fragen thematisiert, über die Form des Aufführungsortes jenseits der ornamentbefreiten 47 Niedrigschwellig [Low-Threshold] Niedrigschwellig Weißwandwelt und über die Art der Ansprache bzw. Sprachwahl. Weitere Attribute sind ‚bezahlbar‘, ‚unbürokratisch‘ sowie Anreizelemente wie Speisen und günstige Getränke. Eine nachhaltige strukturelle Niedrigschwelligkeit kann erreicht werden, indem Entscheidungs- und Verantwortungsfragen für möglichst diverse Akteur_innen zugänglich gemacht werden. Hier bedarf es in der gegebenen administrativen Sprachkultur einer nicht unwesentlichen Übersetzungsleistung, die wiederum die Gefahr eines Machtgefälles in sich birgt. Auch stellt die Vermittlung komplexer Inhalte, Praxen und Strukturen eine Herausforderung dar: Wie kann eine breite Zugänglichkeit aufrechterhalten werden, ohne allzu verkürzt oder gar populistisch daher zu kommen? ‚Niedrigschwellige‘ Formate können vor allem bei der Arbeit im öffentlichen Raum eine wichtige Vermittlerrolle spielen und Begegnung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Bildungschancen und Milieu­zugehörigkeiten ermöglichen und so das Ideal einer diversen, integrierten und offenen Stadt erlebbar machen. Matthias Einhoff ist Co-Direktor des Zentrum für Kunst und ­Urbanistik (ZK / U ). Das ZK / U verbindet globale, urbane Diskurse mit einer lokalen, künstlerischen Praxis und fördert den wechselseitigen Wissensaustausch von Stadtmacher_innen über analoge und digitale Formate. Matthias ist leidenschaftlicher Ermöglicher kollektiver Prozesse. 48 [Partisanship] Wenn wir wollen, dass gesellschaftliche Konflikte die konstitutive Triebkraft einer neuen, kritischen und fortschrittlichen Urbanen Praxis bilden, dann stellt sich die Frage nach Akteur_innen und Themen dieser Konflikte – danach, welche Subjekte, Haltungen und Unterscheidungen die Ausgangs- und Bezugspunkte dieser Konflikte darstellen. Wie diese Positionierungen innerhalb von Auseinandersetzungen organisiert und repräsentiert werden können, ist keine banale Frage. Die historische Antwort darauf waren mit gewisser Berechtigung parteiische Versammlungen und Interessensvertretungen wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Lobbygruppen, Vereine, Verbände und Institutionen und insbesondere die politischen Parteien. Ich möchte das Parteiische als Notwendigkeit jeder Urbanen Praxis hervorheben und für ein parteiisches Design plädieren. Parteiisches Design ist jedoch nicht die Gestaltung der Arena möglicher Auseinandersetzung, nicht die Gestaltung vermittelnder Strukturen und partizipativer Prozesse des Austauschs, des Kompromisses und des Einvernehmens. Parteiisches Design versteht Gestaltung nicht als 49 Parteilichkeit Parteilichkeit Parteilichkeit Tätigkeitsfeld distanzierter oder einfühlsamer Beobachter_ ­­ innen oder mutiger wie auch sensibler Interventionist_innen. Nicht als letztlich übergeordnete Perspektive auf das gesellschaftliche Spiel der Differenzen. Parteiisches ­Design verortet das Entwerfen direkt in den Konflikten, in den dort verhandelten Dingen und Themen und bei den ­Akteur_innen dieser Auseinandersetzungen und ihren Haltungen. Design schlägt sich auf eine Seite. Was fies klingt – parteiisch sein – und was auch wirklich gemein sein kann, weil es den gerechten Wettkampf verzerrt und keine objektive und neutrale Position darstellt, ist in der Praxis der Gestaltung erstens immer der Fall – wenn auch meist uneingestanden – und zweitens nötig. Einem parteiischen Design reicht es nicht mehr, ein humanistisches Weltbild vorzuweisen, eigene Vorstellungen vom guten Leben auf andere zu projektieren und redlich auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten zu sein. Dieses harmonische Bild muss durch eines von unauflösbaren Konflikten gezeichnetes ersetzt werden. Gemeinsam mit den Akteur_innen und Themen dieser Konflikte könnte tatsächlich in die politische Ebene der Auseinandersetzung um Idee und Praxis des Zusammenseins als gelebte Form des Streitens eingetreten werden. 50 Parteilichkeit Jesko Fezer arbeitet als Gestalter zu gesellschaftlichen Relevanz entwerferischer Praxis. In Kooperation mit ifau (Institut für ­angewandte Urbanistik) realisiert er Architekturprojekte, ist M ­ itbegründer der Buchhandlung Pro qm in Berlin sowie Teil der ­Kooperative für Darstellungspolitik. Er gibt die Bauwelt Fundamente und die Studienhefte für problemorientiertes Design mit heraus. Er ist Professor für Experimentelles Design an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg und betreibt mit ­S tudierenden seit 2011 die Öffentliche Gestaltungsberatung St. Pauli. 51 Partizipation oder: How to sell Grandmothers Partizipation [Participation] Der Begriff Partizipation ist schon in seiner Definition uneindeutig und schwankt zwischen Teilhaben, Teilnehmen und Beteiligung. Bestenfalls gemeint ist damit ein Gestaltungsprinzip im Sinne von Mitwirkung. Dabei liegt ein Grundproblem von Partizipation in ihren Rahmenbedingungen, die selten besprochen werden: Wer beteiligt hier eigentlich wen, an was und warum? Stattdessen werden die Methodenkoffer gepackt und Partizipationsprofi XY steigt in den ICE von A nach B, um irgendwas irgendwo hin- oder wegzupartizipieren – je nach Auftrag. In einem mehr oder weniger kreativ gestalteten Prozess werden dann mehr oder weniger beteiligte und / oder anteilnehmende Menschen aufsuchend befragt, die Antworten auf bunte Karten sortiert, mit Klebepunkten behaftet und daraus dann – manchmal mehr, meistens weniger transparent – irgendein Konsens katalysiert, der eventuell dem Kontext, in jedem Fall aber dem Auftrag dienlich ist. Das bringt uns direkt zum größten Knackpunkt in der Sache: Partizipation ist keine Dienstleistung, sondern die Grundlage unseres Zusammenlebens in einer 52 53 Partizipation demokratischen Gesellschaft. Wer sich jetzt also in diesem Feld bewegt, das in der Urbanen Praxis ja aus genau diesem Grund eine nicht wegzudenkende und extrem wichtige Rolle spielt, sollte sich immer wieder bewusst machen, wofür dieses Gestaltungsprinzip angewendet werden ­sollte: um Zugänge zu Verantwortung zu schaffen und um tatsächliche Mitwirkung zu ermöglichen. Wenn man es ernst meint mit der Partizipation, dann kann man sie nicht vom E ­ rgebnis her denken, und dann kann man auch keine wahllos s­ kalier- und reproduzierbaren Methoden in einen Koffer stecken und damit nach Egal-wohin fahren, wie ein ­S taubsaugervertreter. Kann man natürlich schon, aber dann ist es halt Stadtmarketing und / oder politische ­Legitimierungshilfe. Echte Partizipation muss ergebnisoffen und ­s ituativ sein. Dazu braucht es eine gewisse Autonomie in der Durchführung, die selten gegeben ist – auch im Förderkontext nicht, wo meist schon im Vorfeld der „Impäääct“ abgefragt wird. Wir brauchen an dieser Stelle ein neues Selbstverständnis für unsere Arbeit – und mir hilft dabei eine Idee aus der Kunst. Wenn wir nämlich Partizipation als Soziale Plastik begreifen würden (was sie ist), fiele es uns vielleicht auch leichter, die Notwendigkeit eines autonomen Schaffensprozesses einzufordern, wie er in der Kunst elementar ist und vor Geldgebenden (selten) erklärt werden muss. Schon klar, dass das mindestens so viel Vermittlungsarbeit bräuchte wie Partizipation die Ideen von Joseph Beuys. Das scheint mir aber vielmehr Teil der Aufgabe zu sein, als das Sortieren von Meinungen. Denn das hat mit Gestaltung recht wenig zu tun, auch wenn es gut gemeint ist. Gut gemeint ist halt nicht gut gemacht. Kannste jede Oma fragen. Ivana Rohr ist Künstlerin und ein Teil von endboss. Endboss ist ein interdisziplinäres Studio für Raumfragen und -antworten in allen Maßstäben. 54 Plattform Digitale Plattformen haben in den letzten Jahren erheblichen Einfluss auf die Gestaltung urbaner Räume genommen. Sie unterlaufen herkömmliche Dienstleistungsangebote, erschließen noch nicht besetzte Nischen städtischen Bedarfs, verbinden unterschiedliche Gruppen direkt miteinander, suggerieren soziale Zugehörigkeit und stimulieren auf diese Weise neue Formen des Arbeitens, Zusammenlebens, Lernens, Kommunizierens und Konsumierens. Von Online-Shopping und Co-Working-Spaces bis zu plattformbasierten Bildungs-, Wohn- und Mobilitätsangeboten versprechen Plattformen, das Leben ihrer Mitglieder einfacher, genussvoller und aussichtsreicher zu gestalten. Nicht nur der individuell erzielte Nutzen, sondern auch die Idee einer neuen Art von Gemeinschaft mit geteilen Interessen, Werten und Anschauungen ist ein wesentlicher Teil der ­Attraktivität vieler digitalen Plattformen. Um erfolgreich zu sein, sind kommerzielle Plattformen auf Netzwerkeffekte und damit verbundendes Wachstum angewiesen. Je mehr Interaktionen eine solche Plattform abwickelt, umso mehr Daten können gewonnen und für weitere Expansionsversuche eingesetzt werden. Global agierende Plattformen beeinflussen städtisches Verhalten, indem 55 Plattform [Platform] Plattform sie Nutzer_innen Zugang zu bequem konsumierbaren Services weltweit anbieten. Deren Nebenwirkungen verändern den konkreten städtischen Raum und das Leben in ihm sehr häufig negativ: Mietsteigerungen, Gig-Work, erhöhtes Verkehrsaufkommen, Umweltbelastungen, soziale und räumliche Segregation. Angesichts der Folgen dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie eine sozial, politisch und ökologisch verantwortungsvolle Urbane Praxis auf Plattformen ablaufen und das gestalterische Potenzial von Plattformen selbst in die Hand nehmen kann. Wege der Aneignung dieses Potenzials eröffnen sich zum einen durch den Umstand, dass die wichtigste Ressource von Plattformen die jeweiligen Nutzer_innen und deren Interaktionen selbst sind – die Art der Inanspruchnahme einer Plattform kann somit auch abweichenden bzw. subversiven Charakter haben. Zum anderen können die technologischen Möglichkeiten von digitalen Plattformen – direkte Vernetzung, Echtzeitkommunikation, Koordination translokaler Öffentlichkeiten – auch jenseits von Gewinninteressen eingesetzt werden, um etwa Interessensgruppen, Hausgemeinschaften oder kooperativen Verbänden eine Aktionsbühne für urbanen Austausch, wechselseitige Unterstützung und Solidarität zu bieten. 56 Plattform Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer arbeiten als Architekturforscher, Autoren und Kuratoren in London und Wien. Sie leiten das Centre for Global Architecture und lehren an der TU Wien und am Goldsmiths, University of London. Zu ihren Projekten zählen u. a. die EU - und FWF -Projekte Networked Cultures (2005 – 08), Relational Architecture (2006 – 09), ­Other Markets (2010 – 15) Data Publics (2016 – 21), Incorporating ­Informality (2018 – 23) und Platformed City (2022 – 26) sowie der österreichische Beitrag zur Architekturbiennale Venedig 2021 zum Thema Plattform-Urbanismus. 57 Quartier des Trivialen Quartier [Quartier] Kann ein Wort den Stadtraum entpolitisieren? Oder wenigstens unseren Blick darauf ? Sprache wandelt sich, Wörter verändern ihre Bedeutung, werden verworfen, ersetzt oder, was eher ärgerlich ist, zu Worthülsen. Um welche Wörter müssen wir kämpfen? – Gemeinwohl. Welche können wir gar nicht mehr hören? – kreativ. Und welche Wörter schleichen sich in den Diskurs und werden uns nie gehören? Das Quartier als Synonym für Stadtviertel ist in der deutschen Alltagssprache eher ungebräuchlich. Es ist ein Begriff der Bauträger, die in ihren Werbetexten neue, lebendige und kreative Quartiere anpreisen. Es ist ein Begriff der Verwaltung, wenn sie heute nicht mehr von Wohngebieten, sondern Wohnquartieren spricht; es ist Stadtentwicklung von oben wie im Quartiersmanagement. Weil die neuen Berliner Innenstadt-Quartiere hauptsächlich aus breiten Einkaufsstraßen, touristischen Attraktionen, Bürogebäuden und Hotels mit dunklen Glasfassaden bestehen, fällt es schwer, dem Quartier die gleiche Bedeutung beizumessen wie den vertrauten Begriffen: das Viertel, in dem Du aufgewachsen bist, die Kiezkneipe in der Nachbarschaft, Dein Block, Deine Hood. Das Quartiersmanagement wiederum organisiert z. B. „[…] 58 Jenny Goldberg, Stadtteilbüro Friedrichshain, ist eine Berliner Raumaktivistin und interdisziplinäre Künstlerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Methoden kollektiver Produktionsprozesse und insbesondere die Rolle soziokultureller Zentren als informelle Akteure der Stadtentwicklung. Seit 2020 moderiert sie die ­monatliche Radiosendung Fassadenfunk. 59 Quartier Partizipationstreffen, auf denen zwar mehr Experten als ­Anwohner anwesend sind, die aber dennoch als Momente der politischen Teilhabe lokaler Bevölkerung gefeiert werden. Oder ­Informationsveranstaltungen, auf denen die kritische Meinung der lokalen Bevölkerung auf die Meinung der hochqualifizierten und professionellen P ­ laner trifft.“ (Mössner 2015, 308). Als Instrument der ­Depolitisierung in der neoliberalen Stadt beschreibt es Mössner und bringt die Kritik der Stadtgesellschaft am Quartiersmanagement gut auf den Punkt. So ist der Alltagsbegriff von Quartier in Bezug auf Stadt entweder mit der Verwertung von Raum oder mit der Administration vom Mitgestaltungswillen ihrer Bewohner_innen verknüpft. Wenn wir aus Perspektive der stadt- und mietenpolitischen Bewegung fragen, welche Begriffe wir (wieder-) aneignen müssen, fragen wir doch auch, welche lieber nicht! Mit dem Quartier verbindet die Erfahrung nichts Emanzipatorisches, keine Selbstermächtigung. Es bleibt ein Wort aus der Vogelperspektive, dem die politische D ­ imension der STRASSE fehlt: Als Ort der Begegnung und Unterschiedlichkeit, der Versammlung und des Protests. Raumaneignung als Raumproduktionen Raumaneignung [Claiming Space] In der zeitgenössischen Kunst kennt der Raumbegriff ­keine Grenzen. Der Raum hat längst seine physische Ausdehnung überwunden und ist selbst zum künstlerischen ­Material ­geworden; auch soziale Gefüge und Machtstrukturen werden heute unter dem Begriff des Raums gefasst – und zum Gegenstand künstlerischer Bearbeitung. Die historische Entwicklung hin zu einer Entgrenzung des Raums sowie der Künste stellt selbst einen Prozess von Raumaneignungen dar. In der Kunst entwickelte sich der Raumdiskurs im 20. Jahrhundert; Künstler_innen erkundeten ­verschiedene Raumvorstellungen (u. a. Kubismus, Konstruktivismus) und mit Kurt Schwitters „Merzbau“ (ca. 1923) wurde der reale Raum selbst zur Kunst. Mit der konzeptuellen ­Ver­schiebung weg von einer Darstellung hin zu einer Herstellung von Raum übertrat die künstlerische Raumanalyse eine erste Schwelle. Nach der Zäsur durch den 2. Weltkrieg begann in den 1940er und 1950er Jahren eine eingehende Beschäftigung mit dem Bildraum sowie den Bedingungen des Mediums 60 61 Raumaneignung Malerei und in Folge mit der Verfasstheit der physischen und institutionellen Räume der Kunst. Bald darauf verließ eine neue Avantgarde diese etablierten (Re-)Präsentationsräume, um ihre Arbeiten im eigenen Studio oder in verschiedenartigen öffentlichen Räumen zu zeigen – oder um selbst gänzlich neue Räume (und Orte) zu erschaffen. Die Produktion von sogenannten Alternative Spaces und Lofts stellt eine zweite Form der Aneignung von Raum dar. Die genuin neuen künstlerischen P ­ raktiken der 1960er und 1970er Jahren lösten gleichzeitig die ­G renzen zwischen den Künsten auf und schufen diese neuartigen Formen von Arbeits- / Lebensräumen. Mit der ­Installationskunst entstand darüber hinaus eine raumgreifende Kunstform, die auch die „Betrachter_innen“ implizit körperlich involviert. Diese Praktiken entstanden zeitgleich mit dem einsetzenden Paradigmenwechsel der räumlichen Wende (spatial turn), die realen Raum per se als sozialen Raum definiert. Ausgangspunkt dafür ist die Theorie der p ­ rozessualen Raumproduktion des französischen neomarxistischen Philo­ sophen Henri Lefebvre. Der raumtheoretische Diskurs dazu etablierte sich jedoch erst in den 1990er Jahren in den Sozial­wissenschaften, um nach der Jahrtausendwende disziplin­übergreifend Einzug zu halten. Die zentrale ­These in Lefebvres Buch „La Production De L’Espace“ (1974) lautet, dass jede Gesellschaftsform ihren eigenen Raum produziert, der in einem fortwährenden wechselseitigen Raumaneignung Prozess diese wiederum bedingt, sodass Raum (als eine Art Meta-Raum, der alle Konzeptionen von Raum umfasst, vom gebauten über den politischen bis hin zum Raum der Energie­flüsse) immer als sozialer Raum verstanden werden muss. Im globalen Kapitalismus moderner Gesellschaften sei Raum darüber hinaus zwangsläufig urbaner Raum. Zeitgenössische künstlerische Raumaneignungsstrategien umfassen legale sowie illegale Handlungen, temporäre Aktionen wie langfristige Planungen, große Setzungen aber auch poetische, ephemere Situationen, und arbeiten mit Innen- und Außenräume. Gemein ist ihnen, dass sie in das wechselseitige Verhältnis von Raumaneignung und Raumproduktion eingreifen. Während künstlerische Praktiken Prozesse initiieren, sind die daraus entstehenden Räume temporär und etwaige langfristige Effekte stets Ergebnisse von Aushandlungsprozessen, die nur bedingt künstlerisch formbar sind. Laut Lefebvre tragen sie jedoch das revolutionäre Potential in sich, die vorherrschende kapitalistische Raumproduktion in Frage zu stellen. So weist er der Kunst gar eine utopische Rolle zu: „On the horizon, then, at the furthest edge of the possible, it is a matter of producing the space of the human species—the collective (generic) work of the species—on the model of what used to be called ‘art’ […].“ (Lefebvre 1993, 422). 62 Raumaneignung Friederike Schäfer ist Kunstwissenschaftlerin (F U Berlin; UoW , Seattle; Bard Graduate Center, NYC ; HU Berlin; HfG ­Karlsruhe; COOP Design Research, Dessau) und forscht als Postdoc am EXC „Temporal Communities“ (F U Berlin) zu Ausstellungen zum ­Thema Anthropozän. Ihre Dissertation „Claiming Space(s). ­L ocating Suzanne Harris’ Dance Practice and Ephemeral Installations within New York City in the 1970s“ (HU Berlin) erscheint 2022 bei De Gruyter. Sie realisiert interdisziplinäre Projekte (u. a. nGbK Berlin; Bauhaus Dessau; Badischer Kunstverein KA ; Kunstverein Harburger Bahnhof, HH ) und ist Mitbegründerin von CoCooN Berlin. 63 Reproduktiver Urbanismus Urbane Reproduktion Reproduktiver Urbanismus [Reproductive Urbanism] Die historische Entstehung der Moderne nahm in Form der Urbanisierung materielle Gestalt an. Die auf den Ideologien des Rassenkapitalismus, des kolonialen Heteropatriarchats und des menschlichen Exzeptionalismus basierende Moderne drückte sich in den sozio-ökologischen Beziehungen aus, die durch die Steuerung der Städteplanung definiert und die Ökonomie des Bauens umgesetzt wurden. Dazu gehörte die Organisation von Arbeit, Wohnen, ­Mobilität, Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen sowie die räumliche Gestaltung des öffentlichen Lebens und der Freizeit. Die baulichen, materiellen und räumlichen Prozesse der modernen Urbanisierung basierten auf den Paradigmen von Produktion, Wachstum, Innovation und Fortschritt. Folglich sind diese Paradigmen zu einer Selbstverständlichkeit für das geworden, was als wichtig für Städte und die u­ rbane Transformation gilt: Städte müssen wachsen, produktiv, ­innovativ und fortschrittlich sein. 64 65 Reproduktiver Urbanismus Seit den Anfängen der Moderne lenken feministisches politisches Denken und Aktivismus die Aufmerksamkeit darauf, dass die für das Leben und Überleben wesentliche spezifische Arbeit durch die herrschenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen prekär gemacht wurde. Durch diese Strukturen wurden die lebensgestaltenden Praktiken abgewertet und diejenigen, die diese Arbeit verrichteten, unfrei und abhängig gemacht, ausgebeutet und von der vollständigen Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben ausgeschlossen. In Anlehnung an das Marx’sche Denken ist diese Arbeit eine reproduktive Arbeit. Das Überleben der Städte als Ganzes hängt von der urbanen reproduktiven Arbeit ab, kurz gesagt, von der urbanen Reproduktion. Diese Arbeit ist heute weltweit abhängig von Klasse, Geschlecht, Rasse und Sexualität. In sämtlichen Städten erhält die sozio-ökologische Reproduktion Leben, Umwelt sowie physische, technologische oder digitale Infrastrukturen aufrecht. Urbane Reproduktion ist auf allen Ebenen und zu allen Zeiten erforderlich, um das Leben der Stadtbewohner_innen zu erhalten und die Infrastruktur der Städte am Laufen zu halten. Der gegenwärtige und künftige wirtschaftliche und politische Wandel muss daher von der Interdependenz der Reproduktion ausgehen. Nur wenn der Wert der urbanen Reproduktion politisch und ökonomisch in den Mittelpunkt gestellt wird, können sich die Bedingungen für diejenigen verändern, die die urbane Reproduktion leisten. Reproduktiver Urbanismus Die Urbane Praxis kann durch Forschung zu dieser Umkehr beitragen, indem sie die materiellen, ökologischen und immateriellen Dimensionen der Orte als reproduziert versteht. Die historische und zeitgemäße Erforschung der materiellen, ökologischen, infrastrukturellen und immateriellen urbanen Reproduktion von Orten kann dazu beitragen, Städte aus dem Blickwinkel der Reproduktion zu verstehen. Einige Standorte werden besser gepflegt, andere sind durch strukturelle Nachlässigkeit und mangelnde Investitionen in die urbane Reproduktion zu prekären Orten geworden. Und die Urbane Praxis kann dazu beitragen, die urbane ­Reproduktion zu verändern, indem sie diese wichtige Arbeit auf eine andere Art und Weise mit all jenen leistet, die Teil der Orte sind, an denen die Urbane Praxis sichtbar wird und stattfindet. Dr. Elke Krasny ist Professorin für Kunst und Pädagogik und Leiterin der Abteilung für Kunstpädagogik an der Akademie der bildenden Künste Wien. Die Ausstellung und der Sammelband „Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet“, 2019 kuratiert und herausgegeben zusammen mit Angelika Fitz, führt eine Care-Perspektive in der Architektur ein, die sich mit den anthropozänen Bedingungen der globalen Gegenwart auseinandersetzt. 66 [Social Work] Diejenigen von uns, die per Status in einem Sozialstaat ­leben, in dem der Grundgedanke ist, allen Menschen bei Bedarf Hilfeleistungen zur Verfügung zu stellen, können sich glücklich schätzen. Finden wir uns in diesem System nicht zurecht oder sind exkludiert von diesem, gibt es Strukturen der Sozialarbeit, die uns dabei helfen sollen. Man wird als hilfsbedürftig angesehen, gesellschaftlich eine sehr ­passive Position. Urbane Praxis schafft Identifikationsorte aktiven Handelns. Ein physischer Ort, der gemeinsam gestaltet und an dem gemeinsam eine Kommunikationsform gefunden werden muss. Dies baut soziale Beziehungen auf und macht Menschen zu Entscheider_innen. Sie werden trotz ihrer „Hilfebedürftigkeit“ mündige Gestalter_innen ihrer Stadt. Die Soziale Arbeit als Urbane Praxis bedeutet darin, Anwältin sein zu können zwischen beispielsweise Ämtern und Einzelpersonen, aber vor allem Anwältin zu sein für eine Gesellschaft, die sich aus sich heraus berät und gestaltet. Vera Fritsche ist Projektleiterin des Pilot Stadtwerk mrzn sowie Programmkoordinatorin und Pädagogische Leitung der S27– Kunst und Bildung. Sie arbeitet seit 10 Jahren im Kontext von partizipativen Projektprozessen im öffentlichen Raum. 67 Soziale Arbeit Soziale Arbeit STRESS + STRASSE [ STRESS + STREET ] STRESS + STRASSE        Als ich vor vierzehn Jahren in meine Wohnung zog, war ich sicher, sie würde eine Zwischenstation sein. Vielleicht lag es an den Niedrigdecken, dem dottergelben Wandanstrich oder den sparsamen, quadratischen Fenstern; jedenfalls fühlte sie sich ungewohnt an. Nach Rückschritt oder einem viel grundlegenderen Umzug, als ich ihn vorgehabt hatte. Doch ich mochte die Bedingungen der Wohnung. Die großen Zimmer lagen nach Südost, die Fenster zeigten nichts als Licht und freien Himmel. Dann wechselten die Blätter die Farbe, die Häuser die Besitzer, die Wohnungen die Preise und ich, ich strich die Wände in sanfteren Tönen. Das war, als der Wohnungsmarkt einfror und der lange Winter der Spekulation begann. Heute kitzeln meinen Aussichtshimmel hochgewachsene Baumkronen. Darunter liegt eine veränderte Stadt. Doch verlasse ich meine Wohnung und spaziere in der Stunde der einsetzenden Dämmerung über die Kottbusser Brücke, dann werde ich immer noch oft von Aufregung erfasst. Eine Erregung, die Geschehnisse und Anwesende zusammennimmt und mit der gebauten Umgebung verwebt. Zwischen aufflammenden Lichtern, eiligen Passant_innen, 68 69 STRESS + STRASSE aufgeschreckten Taubenschwärmen und blinkendem Feierabendverkehr entspinnt sich eine Welt der Möglichkeit, die kaum zur Mittagszeit aufscheint. Es ist die Stunde der unverhofften Begegnung, der mischenden Sphären, die Stunde des Unfalls und des Zusammenstoßes, der Kakophonie und der sehnsüchtigen Unruhe – es ist die vielleicht städtischste Stunde von allen. Nur wenige Schritte bis zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, es hat sich über die Jahre im 5 Minuten-­ Radius des Kottbusser Tors gehalten. Meine vorherige Wohnung lag gleich direkt dahinter, neben einer für ihren Uringeruch berüchtigten Gasse. Für einige Jahre war sie zum Mekka internationaler Street Art aufgestiegen, ­junge Menschen und Art-Directors pilgerten hierhin, M ­ odels ­p osierten vor grindigen Betonmauern und codierten Schriftzügen. Heute scheint das niemals passiert zu sein, eine Adelung flüchtiger als der Sonnenuntergang. Vom Balkon des Wettbüros lässt sich der Platz gut überschauen. Während sich unten eilende Angestellte und Wohnungslose, Ausgegrenzte und Nachtschwärmer_innen, Geflüchtete und Expats, Urberliner_innen und Tourist_innen, Kulturelite und Proletarier_innen, Queers und gläubige Muslim_innen, Dealer und Polizei zum Kollektiv der Straße mischen, türmen sich über diesem Ort und denen, die ihn ausmachen, soziale Widersprüche, soziale Debatten und nochmal darüber – noch etwas zugreifender, noch etwas drohender – allgegenwärtige Kapitalinteressen. STRESS + STRASSE Ein letztes Mal leuchtet nun der Himmel auf, taucht den trotzigen Fleck in ein fremdes, überwältigendes Licht. Es mag aus Damaskus, Addis, Moskau herüberscheinen oder von dort hinten, der vergessenen Passage. Jedenfalls von dort, wo die Stadt auch Wohnraum ist und das geteilte Leben nicht ganz aus ihr verbannt. Was aus dem Stress der Straße leuchtet, ist das Licht der Möglichkeit. Mitten im Winter, eine Ahnung von Frühling. Die 1979 in Khartum / Sudan geborene Autorin Elisa Aseva ­ lebt und arbeitet in Berlin. Seit Jahren veröffentlicht sie poetische und politische Betrachtungen auf Facebook und anderen digitalen Medien. Asevas autofiktionale Kurztexte bedienen sich auch essayistischer und lyrischer Formen und finden in diesem Neben­einander zu kaleidoskopischer Ordnung. 2021 erschien ein ­S ammelband mit ihren Arbeiten unter dem Titel „ ÜBER ­S TUNDEN “ im Weissbooks Verlag. 70 [Terrain Vague] Die Planung und Nicht-Planung in ihrer Aufgeräumtheit und Unaufgeräumtheit: Die architektonische und städtische Planung beginnt oft mit dem technischen Aufmaß des Bestehenden und versucht in Folge, über die räumlichen Maße Urbanität und die größtmögliche Nutzungsbandbreite sicherzustellen. Bei geplanten Orten wird der Zugang meist durch die soziale und gesellschaftliche Stellung kontrolliert. Geplante Orte haben oft Regeln und Vorschriften – manchmal sogar sehr genaue Verhaltensvorschriften – oder sie sind direkt für bestimmte gesellschaftliche Klassen geplant. Ungeplantes versucht den Ort erst einmal so zu belassen, wie er ist, um dadurch einen größtmöglichen Zugang und eine sich immer wieder verändernde Nutzungsvielfalt zuzulassen. Ungeplante Orte werden von ihren Benutzer_innen immer wieder neu ausgehandelt. Dies ist wichtig festzuhalten, da die ungeplanten – und manchmal auch die verplanten – Orte Ansatzpunkte bieten für eine künstlerische Urbane Praxis, die sich direkt mit der Geschichte, den aktuellen Bewohnern_innen und deren Wünschen auseinandersetzt. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass die „Nicht-Planung“ einer Urbanen Praxis 71 Terrain Vague Terrain Vague Terrain Vague immer dann angewandt wird, wenn alle klassische Planung versagt hat. Es gibt viele Bezeichnungen für ungeplante Orte, wertend im Deutschen: „Brachfläche“ und noch negativer im Englischen: „Wasteland “. Es wäre ratsam, das französische Terrain Vague für ein vages und unbestimmtes Gelände zu nutzen. Der Gärtner und Landschaftsplaner Gilles Clément hat dafür auch den Begriff der Dritten Landschaft geprägt, für dessen Existenz und Erhaltung man sich in Ergänzung zur klassischen Raumplanung einsetzen sollte. Er erklärt so die Flächen, die nicht vom Menschen beplant, beackert und bebaut werden – also unbenutzte und verlassene Gelände (neben dem ökologischen Primärsystem und dem menschgemachten Nutzraum) – zur Dritten Landschaft. Hierbei stellt er fest, dass diese Zonen große Diversität und Artenvielfalt aufweisen. In seinen Thesen spricht er sich dafür aus, Unproduktivität als Politik zu verstehen und „die Mentalität des Nicht-Eingreifens ebenso (zu) schulen, wie die des Eingreifens“. Dies entspricht einer künstlerischen Praxis, die versucht, das Nötigste mit und für einen Ort zu entwickeln. Dessen „Besetzung“ ist so angelegt, dass sie nach einer vorher festgelegten Zeitspanne wieder neu verhandelt wird. Oder man entscheidet sich für Refugien, die sich selbst überlassen sind und gleichzeitig in ihrer Unzugänglichkeit den größtmöglichen menschlichen Imaginationsraum bieten. Die Dritte Landschaft und die poetische Zustandsbeschreibung eines Terrain Vague sind wichtige Bereiche, in 72 Erik Göngrich ist forschender Künstler, politischer Architekt, produzierender Kurator, diskursiver Zeichner, gemeinwohlorientierter Koch und performativer Verleger. Seine Arbeit thematisiert die Nutzung und Veränderung des städtischen Raumes, welchen er aktiv skulptural mitgestaltet. Mit der von ihm initiierten ­M ITKUNSTZENTRALE und deren SATELLIT betreibt er seit 2019 eine Werkstatt / einen Ausstellungsraum zu den Themen Materialkreisläufe und Kunst in Zeiten des Klimanotstandes. 73 Terrain Vague der die Urbane Praxis modellhaft wirksam wird. Sie befinden sich im Zentrum und an den Rändern einer Stadt. Sie stellen immer wieder die Fragen: Wie kann man in einer durchgeplanten modernen Stadt, die eine gewisse (klein-) bürgerliche Aufgeräumtheit repräsentiert, und die zum Teil aus unterforderten Außenräumen und Abstandsflächen besteht, ergänzende alternative Lebensmodelle denken, zulassen, umsetzen und leben? Wie lassen sich Gebautes, Grün, Natur, Tier und Mensch zusammenbringen, in Austausch bringen und verdichten? Wieviel Aufgeräumtheit braucht man für die eigene Arbeit? Und für welche Räume lohnt es sich zu kämpfen? Verlust Verlust [Loss] Es mutet sicherlich traurig an, Verlust als Bestandteil eines Glossars zu Urbaner Praxis auszuwählen. Doch viele der Orte, an denen ich in städtisches Handeln involviert war, existieren nicht mehr. Die Mission, ein 1997 in Hamburg gegründeter, von Wohnungslosen mit Künstler_innen selbstverwalteter Ort, musste bis zur Erschöpfung umziehen, weil die benachbarten Ladenbetreiber sich belästigt fühlten. Der Kaispeicher A, in dem wir 2002 mit ready2capture einen Sommer lang ein alternatives Informationszentrum zur Hamburger HafenCity betrieben, beherbergt heute die Elbphilharmonie. Die Brachflächen des temporären Skulpturenparks Berlin_Zen­ trum auf dem ehemaligen Mauerstreifen in Berlin Kreuzberg wurden ab 2012 u. a. mit den Fellini Residencies versiegelt. Der Berliner Schlossplatz ist wieder ein Schlossplatz, nachdem er vieles andere war und hätte werden können. Verluste zeigten sich in vielen der Projekte, an denen ich beteiligt war, aber auch in den Biografien der Teilnehmenden. Verlust der Wohnung, Verlust der Arbeit, damit einhergehend Verlust an gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. Verlust von identitätsstiftenden Fixpunkten als Folge von Transformationsprozessen oder Migration. 74 Jelka Plate studierte bildende Kunst und Bühnenbild an der HfbK Hamburg. Ihre Arbeiten basieren auf lnterviews und Recherchen. So entstand „A very merry unarchitecture to you“ im Skulpturenpark Berlin_Zentrum mit Anwohner_innen und Beteiligten einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Für „Rekonstruktion des Berliner Schlossplatzes nach Plänen von 5000 Jahren vor unserer Zeit“ sprach sie mit einem Vegetationshistoriker und Passant_innen an der Schlossbaustelle. 75 Verlust Urbane Praxis, wie ich sie verstehe, zielt u. a. auf die gemeinsame Gestaltung von Orten oder Aktionen ab, an denen viele dieser Verluste einerseits als Ergebnis kapitalistischer Praxis lesbar werden, gleichzeitig aber im gemeinsamen Tun alternative Handlungsmöglichkeiten zumindest temporär praktiziert werden können. Das unterscheidet mein Verständnis von „Verlust“ von einer reaktionären Verwendung des Begriffes, wenn z. B. der Wiederaufbau eines Schlosses mit dem „Schließen einer Wunde im Stadtbild“ gerechtfertigt wird und damit ein vermeintlicher Status Quo von Stadt bzw. Gemeinschaft reinstalliert werden soll. Ich möchte den Begriff des Verlustes in dieses Glossar einbringen, weil ich denke, dass er klar macht, mit welchen Belastungen zu rechnen ist, wenn man sich auf Urbane Praxis einlässt und weil ich noch viel mehr klarstellen möchte, dass ich es für einen der größten Verdienste von gelungener Urbaner Praxis halte, Kooperationen und Orte zu schaffen, an denen man mit Verlusten nicht alleine bleibt, was mir in einer von Siegermentalitäten und -ästhetiken bestimmten Öffentlichkeit unverzichtbar scheint. Versammlung Versammlung [Assembly] Die öffentliche Versammlung gilt als eine Bedingung für die kollektive politische Auseinandersetzung in und mit der Stadt. In den unterschiedlichen Ausformungen von der historischen Pariser Kommune vor 150 Jahren über den Gezi Park in Istanbul, die Besetzung des Syntagma Platzes in Athen oder die Asambleas in spanischen Städten, von der weltweiten Occupy-Bewegung bis zum Refugee Camp auf dem Kreuzberger Oranienplatz werden in Versammlungen Fragen nach Teilhabe an Stadt und Gesellschaft verhandelt. Durch die Aneignung der Straßen und Plätze, das Besetzen oder Bewohnen und die Bewegung der Körper im urbanen Raum, die spezifischen Sets von Alltagspraktiken und temporären Architekturen werden gleichermaßen die Normen der politischen wie der urbanen Landschaft in ­Frage gestellt, unterwandert und suspendiert. Versammlungen lassen sich als infrastrukturelle Materialität, als Archiv politischer Positionen und als Methode der sozialen Organisation beschreiben. Versammlungen im öffentlichen Raum transformieren die Straßen und Plätze zu einer für alle sichtbaren Bühne für Forderungen und „verwandeln sie in temporäre Orte städtischer Bürgerschaft“ (Lanz 2015). Eine Versammlung stellt 76 Kathrin Wildner forscht als Stadtethnologin zu Theorien des öffentlichen Raumes, ethnographischen Methoden und transnationalen Aspekten von Urbanismus. Von 2012 – 2021 war sie Professorin im Fachbereich Kultur der Metropole an der HafenCity Universität Hamburg, hier u. a. im Leitungsteam des Graduierten­ kollegs Performing Citizenship. Sie ist Gründungsmitglied der Gruppe metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten und Ko-Kuratorin der Ausstellung „Mapping Along. Ränder des Widerstreits aufzeigen“ (Berlin 2021). 77 Versammlung einen temporären Raum dar, in dem das Recht zu sprechen und gehört zu werden verhandelt wird. In Anlehnung an Engin Isins lassen sich diese alltäglichen, performativen Handlungen und kollektiven Aneignungen von öffentlichen städtischen Räumen als einen „act of citizenship“ beschreiben. Fragen nach urbaner Praxis verknüpfen sich mit den Debatten der Versammlung: Was sind die Voraussetzungen für Versammlungen, was sind die Orte, Regeln und Wirkungen? Was sind kulturelle und körperliche Praktiken der Versammlung? Wer ist dort sichtbar und hörbar, wer eher nicht? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie manifestiert sich Politik? Wer repräsentiert wen? Wie lassen sich Versammlungen gestalten und inszenieren? Und schließlich auch: Welche Rolle spielen städtische Institutionen, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen entwickeln sich Versammlungen im öffentlichen Raum zu politischen Akten, die die Stadt verändern? Von Sinnen Von Sinnen [Without Sense(s)] Warum wird ein alltäglicher Besuch der Großsiedlungen und speziell der „die Platte“ genannten DDR -Variante als wenig reizvoll erachtet? Sind die von industriell gefertigten Wohngebäuden geprägten Stadtareale wirklich ohne Reiz? Was wäre, wenn sich die Nervenzellen langweilen? Sensorische Deprivation gehört zu den Foltermethoden, die keine offensichtlichen Spuren an den Opfern verursachen. Dies wird durch eine größtmögliche Abschirmung der Sinnesorgane perfektioniert. Nicht benutzte Nervenzellen drohen zu verkümmern und benötigen ständige Stimulation – sonst fangen sie an, sich mit sich selbst zu beschäftigen und irreale Sinneseindrücke zu produzieren. Die inneren Bilder, die sich als Halluzinationen bemerkbar machen, bemerken wir normalerweise nicht, da wir ständig mit anderen Dingen beschäftigt sind. Länger andauernde sensorische Deprivation als Entzug von Sinneseindrücken kann zu Persönlichkeitsveränderungen, psychischen Schäden oder Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Menschen führen. Die Beraubung der Sinne ist der Zustand der Reizverarmung. Laut dem Arbeitsblatt ‚Deprivationsprophylaxe‘ ist eine Person „depriviert, wenn ihre objektiven (sozio78 79 Von Sinnen ökonomischer Status, soziale Eingebundenheit, Gesundheitszustand) und subjektiven Lebensumstände (physischer bzw. psychischer Zustand, zwischenmenschliche Beziehungen, Berufszufriedenheit, Freizeitgestaltung) schlecht sind“. Als Maßnahme zur Deprivationsprophylaxe gälte es also, „eine möglichst reizvolle Umgebung zu schaffen. Abwechslung schafft Reize“. Der Reiz ist weniger eine Frage der Ästhetik denn der Sinnlichkeit. Die vermeintliche „Hässlichkeit“ von Großsiedlungen – so zeigt ja die kultische Begeisterung für das „Plattenbauquartett“ oder die neuerliche Euphorie für den „Brutalismus“ genannten Baustil vor allem der 1970er Jahren – ist wandelnden Konjunkturen des Geschmacks und der Bewertungen unterworfen. Doch die Sinnlichkeit, die Komplexität und die Ausstrahlungskraft eines Gebiets hängt von vielen Faktoren ab. Ohne gesellschaftliche Fragen auf ein Krankheitsbild reduzieren zu wollen, scheint das Einzugsgebiet von P ­ egida, AfD oder NSU zumindest der sensorischen Gesundheit nicht förderlich zu sein. So zumindest legte es die Ausstellung ‚Winzerla – Kunst als Spurensuche im Schatten des NSU ‘ des Künstlers Sebastian Jung nahe. Der in Jena lebende Künstler wuchs in der gleichen Vororts-Großsiedlung wie die NSU-Kader Mundlos, Böhnhardt und Z ­ schäpe auf und begegnete bis zu dessen Gerichtsverhandlung 2012 dem inzwischen verurteilten NSU -Unterstützer Ralf ­Wohlleben im Alltag. Von Sinnen Sebastian Jung beschreibt den alltäglichen Terror normativer Reduktionen wie folgt: „Da unsere Wohnung im Erdgeschoss lag, konnten meine Eltern vor dem Balkon viele Gewächse anpflanzen. Darunter ein ansehnlicher Flieder. Als wir eines Tages nach Hause kamen, war er abgesägt. ‚Wenn ich auf dem Balkon mein Honigbrötchen esse, möchte ich nicht von irgendwelchen Bienen gestört werden.‘ So der Nachbar, der ihn absägte.“ Über den homogenisierenden Schulunterricht heißt es: „In der ersten Klasse kam die Mathelehrerin zu mir und sagte vorsichtig, während ich das Heft mit Zahlen versah: ‚Das ist ja sehr schön, aber willst Du nicht vielleicht versuchen, die Zahlen in die Kästchen zu schreiben?‘ Diese Überlegung war für mich in der Tat neu.“ In seinen einfach gehaltenen, kindlich wirkenden Zeichnungen und beiläufigen Schnappschüssen von Kindheitserinnerungen an Winzerla brechen die alltäglichen Zumutungen in einer Kombination aus baulichen und sozialen Mustern wieder hervor. Jochen Becker (Berlin) arbeitet als Autor, Kurator und Dozent und ist Mitbegründer von metroZones | Center for Urban Affairs und der station urbaner kulturen / nGbK. Zuletzt kuratierte er Chinafrika. under construction und entwickelte am Düsseldorfer Theaters FF T das Projekt Stadt als Fabrik und Place Internationale (2017-21) sowie die metroZones-Ausstellung Mapping Along (Kunstraum Kreuzberg / Bethanien, Berlin, 2021). Er ist aktiv in der Initiative Urbane Praxis und bereitet hierfür den zweiten Kongress SITUATION BERLIN vor. 80 Wirkungsorientierung Veränderung zu bewirken behaupten viele. Auch die U ­ rbane Praxis hat veränderte Perspektiven, Planungspraktiken und urbane Gestaltungsformen zum Ziel: Mit künstlerischen, erprobenden Ansätzen, die niedrigschwellig ein breites Spektrum Interessierter miteinbeziehen, greift Urbane Praxis in die Anschauung und das Erleben von Stadt und Stadtmachen ein. Die Relevanz dieser Veränderung liegt auf der Hand – so, wie viele Städte gerade geregelt sind, scheinen sie nicht (mehr) für alle Menschen gleich gut und fair zu funktionieren. Wie wichtig es ist, diese Veränderungen – die Aus-Wirkungen der Praxis – gut zu beobachten, festzuhalten woher sie kommen, sie zu analysieren, zu vermitteln und als Navigation zu nutzen, scheint weniger auf der Hand zu liegen. Wirkungsorientierung heißt, sich frühzeitig bewusst zu machen, was eine Unternehmung bewirken soll – was am Ende anders sein soll – und wie das im Laufe des (noch unbekannten) Prozesses beobachtet und festgehalten werden kann. Warum passiert etwas, in welcher Güte und mit welchen Konsequenzen (Wirkungen)? Wirkungsorientierung erfasst Kriterien und Anhaltspunkte, an denen das Gelingen und die Wirksamkeit der 81 Wirkungsorientierung [Impact Orientation] Wirkungsorientierung eigenen Arbeit abgelesen werden kann. Diese Anhaltspunkte pro-aktiv vorzuschlagen und nicht herkömmlichen Bewertungsskalen (die Verwaltungen und Förderern vorliegen) zu folgen, fördert das Ernstgenommen-Werden der Praxis und den konstruktiven Austausch mit Verwaltungen und Fördergeber_innen über die reale Wirkmacht der Urbanen Praxis aus der Praxis heraus. Jennifer Aksu arbeitet seit über 10 Jahren an der Schnittstelle von Kunst, Stadtraum und Transformation. Sie hat an der Humboldt Universität gelehrt, Spiele mit Schülern in Südamerika entwickelt und Raumstrategien zur Vernetzung für das Wirtschaftsministerium gebaut. Kunst nutzt sie als Mittel für Veränderungen und findet, dass diese Veränderungen Sinn machen und eine Funktion haben, die man betrachten kann. Und betrachten sollte, vor allem, wenn sie öffentlich gefördert sind. 82 [Temporality] … ist eine Haltung der Urbanen Praxis. „Auf Zeit“ versteht sie es, sich einzunisten; sie nutzt die Lücke, findet die ­Nische, lädt ein zu „Pioniernutzungen“, aus denen wohlmöglich sogar eine regelrechte „Realitätsumnutzung“ wird. Für einen Moment, für eine Weile, aber eben nicht „für immer“ findet sie darin gleichsam „immer wieder aufs Neue“ ihre Mitstreiter_innen als Ausdruck einer Freiheit, die sie in die Lage versetzt, wirklich zu improvisieren, eine Kreativität zu entfalten, die eigene Fragen stellt und Vorschläge entwickelt. Michel de Certeau nennt solche Vorgehensweisen in seiner Kunst des Handelns von 1980 „… vielgestaltig, resistent, listig und hartnäckig, die der Disziplin entkommen, ohne ihren Einflußbereich zu verlassen.“ Und weiter heißt es dazu in dem Kapitel ‚Vom Konzept der Stadt zu urbanen Praktiken‘: „Indem die funktionalistische Organisation den Fortschritt (die Zeit) privilegiert, läßt sie sogar ihre Entstehungsbedingung in Vergessenheit geraten, nämlich den Raum selber, der zum Unbedachten, zum blinden Fleck einer wissenschaftlichen und politischen Technologie wird.“ Dieser „Umgang mit dem Raum“, der „tatsächlich die determinierenden Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens 83 Zeitlichkeit Zeitlichkeit Zeitlichkeit bestimmt“, ist Gegenstand unseres Interesses und ein „Material“ der Urbanen Praxis, zu dessen Bearbeitung nicht nur ein spezieller „Werkzeugkasten“notwendig ist, sondern mitunter auch eine „Komplizenschaft“ mit Verwaltung, Eigentum und Politik. Urbane Praxis braucht einen „langen Atem“, denn die Stadt kennt keinen Stillstand; eine „Pause“ müssen wir (gemeinsam) selbst gestalten. ftts / Todosch Schlopsnies: Seit 2015 arbeiten die Architektin und Grafikerin Federica Teti und der Bildhauer und Performer Todosch Schlopsnies in partizipativen Strukturen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (mit und ohne Fluchthintergrund). In Workshops unterschiedlicher Formate wird gebaut, gegärtnert, erfunden und gespielt. Im Vordergrund steht, neben der unmittelbaren Erfahrung kultureller Teilhabe über alle Herkunfts- und Sprachgrenzen hinweg, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, was man alleine nie hinkriegen würde und außerdem großen Spaß macht. Seit 2020 künstlerische Leitung von Pilot Stadtwerk mrzn (S27). 84 Zwischennutzungen Die Aktivierung von Leerständen als Experimentierfläche für Ideen und Projekte hat inzwischen einen langen Vorlauf. Zwischennutzungen waren schon seit je ein Ort, an dem sich (sub)kulturelle und soziale Initiativen formieren konnten und die als kreative Orte erst Nutzer_innen und später auch Besucher_innen anzogen. Fand dies im Wesentlichen informell und eher unter Duldung der öffentlichen Hand statt, ist das Thema spätestens seit Beginn der 2000er Jahre zunehmend institutionalisiert und in formellen Rahmen organisiert. Dennoch wurde der Bereich eher als Nische wahrgenommen, in dem sich Initiativen und die wenigen geförderten öffentlichen Zwischennutzungsagenturen mit viel Idealismus an den Widerständen bei Eigentümer_innen und in der Verwaltung abarbeiten. Dies änderte sich mit den wenig überraschenden, wachsenden Leerständen in den Einzelhandelslagen deutscher Innenstädte. Nach dem die lange bewährten Instrumente von Festivalisierung und Inszenierung des Konsums nicht mehr greifen und die lange aufrechterhaltene Fassade einzustürzen droht, entdecken Wirtschaftsförderungen und Einzelhandelsverbände plötzlich das geschmähte Thema 85 Zwischennutzungen [Interim Uses] Zwischennutzungen Zwischennutzung, um den Einzelhandelslagen neues Leben einzuhauchen. Doch was verstehen wir unter Zwischennutzungen? Zwischennutzungen sind eine Möglichkeit, um vielen Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zu Räumen zu eröffnen, an denen sie (erstmalig) die Möglichkeit haben, an ihren Ideen zu arbeiten, sich mit anderen Menschen zu treffen, Angebote für ihre Nachbarschaft zu schaffen und ohne finanziellen Druck arbeiten zu können. Natürlich mit den Einschränkungen, die diese Leerstände haben und der Möglichkeit, dass diese in eine reguläre Nutzung überführt werden. Unser Ziel ist es, sowohl für die Nutzer_innen als auch für die Räume die Möglichkeiten aufzuzeigen, die in ­ihnen liegen und zu helfen, diese zum Vorschein zu bringen. ­Dafür unterstützen wir die Akteur_innen in der Umsetzung ihrer Projekte, stellen Kontakte zwischen Nutzer_innen und Eigentümer_innen her, helfen in der Zusammenarbeit mit der Verwaltung und tragen Initiativen und ihre Ideen in die lokale Politik und Gesellschaft. Dies reicht von der eher abstrakten Erstellung von Genehmigungsunterlagen für Nutzungsänderungsanträgen über die Unterstützung mit konkreten Sachmitteln bis hin zum Anpacken in der praktischen Umsetzung der einzelnen Zwischennutzungen. Die Instrumentalisierung von Zwischennutzungen, von Kunst und Kultur, um öffentliche Plätze auf Zeit zu 86 Zwischennutzungen bespaßen und zu bespielen, um den Status Quo zu konservieren, ohne die Bewohner_innen an der zukünftigen Entwicklung ihrer Städte teilhaben zu lassen, lehnen wir entschieden ab. Das AAA – Autonome Architektur Atelier arbeitet seit 2006 in der Entdeckung, der Inszenierung und der Nutzung von Stadträumen. Die Zwischennutzung von Leerständen und Brachen ist dabei eins seiner Hauptarbeitsfelder. 87 » Haben und Brauchen fassen zusammen: Das wesentliche ­Kapital Berlins formiert sich ­entlang einer kollektiven und ­egalitären Raumproduktion und ­-nutzung. Sollen ­diese Potenziale ‚vom Tisch‘ in die Stadt, dann braucht es zeitgemäße K ­ onzepte, ­Strategien und A ­ kteure zu ihrer ­Arti­kulation, ­Re-Aktivierung und ­Q ualifizierung für das 21. Jahrhundert. » Haben & Brauchen Manifest (01/2012) www.habenundbrauchen.de 88 Altrock, Uwe; Huning, Sandra und Peters, Heike: Neue Wege in der Planungspraxis und warum aktuelle Planungstheorien unvollständig bleiben, in: Klaus Selle (Hg.): Zur räumlichen Entwicklung beitragen, 2006, S. 248 – 263 McAlevey, Jane: Keine halben Sachen. 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