Glossar
Urbane Praxis
Auf dem Weg zu einem Manifest
Das Glossar Urbane Praxis
(Auf dem Weg zu einem Manifest)
erscheint anlässlich des Projekts
Situation Berlin #2: Auf dem Weg zu
einem Manifest der Urbanen Praxis
in der nGbK, Berlin /
The Glossary of Urban Praxis
(Towards a Manifesto) is published
on the occasion of the project
Situation Berlin #2: Towards
a Manifesto of Urban P
raxis at
nGbK, Berlin
Folgende Projekte sind seit 2020
Teil der Initiative Urbane Praxis /
The following projects have been
part of the Initiative Urban Pr axis
since 2020: Berlin Mondiale mit
ihren Knotenpunkten / with its
nodes; Stadtwerk MRZN/S27;
station urbaner kulturen /nGbK
ellersdorf; Zentrum für Kunst
H
und Urbanistik, Floating University,
Haus der Statistik, Baupalast
und / and CoCooN
neue Gesellschaft für
bildende Kunst e.V.
Oranienstr. 25
10999 Berlin
Tel. +49 (0)30 6165 13-0
Fax +49 (0)30 6165 13-77
ngbk@ngbk.de
www.ngbk.de
Präsidium / Board:
Ingo Arend, Eylem Sengezer,
Ingrid Wagner
Geschäftsstelle / Office
Geschäftsführung / Managing
D
irector: Annette Maechtel
Sekretariat und Mitgliederbetreuung / Office and Member
Services: Kristina Kramer
Buchhaltung / Accounting:
Janett Dörr
Kommunikation / Communications:
Carolin Schulz
Presse / Press: Wayra Schübel
Publikationen / Publications:
Cordelia Marten
Technische Leitung / Technical
Manager: Elie Peuvrel
Produktion / Production:
Anna Schanowski
Mitarbeit / Assistance:
Hartmut Schulenburg
Die nGbK dankt der Senatsverwaltung für Kultur und Europa für
die Förderung und der LOTTO Stiftung Berlin für die Finanzierung. /
The nGbK would like to thank the
Senate Department for Cultural
Affairs and Europe for their support
and the LOTTO-Stiftung Berlin
for financing.
Herausgegeben von / Edited by:
Jochen Becker, Anna Schäffler,
Simon Sheikh, nGbK Berlin
Publikation / Publication
Redaktion und Koordination,
Lektorat / Editing and Coordination,
Copyediting: Jochen Becker,
Anna Schäffler, Simon Sheikh
Deutsche Übersetzung / German
Translation: Dettmers & Weps
Englische Übersetzung /
English Translation:
David Koralek / ArchiTrans
Deutsches Korrektorat / German
Proofreading: Eva Hertzsch
Englisches Korrektorat / English
Proofreading: Lindsay Jane Munro
Gestaltung / Design:
Lena Appenzeller,
Andrea Appenzeller
Coverillustration / Cover
I llustration: Christoph Schäfer
Druck / Printing:
Medialis Offsetdruck, Berlin
Auflage / Edition: 750
Verlag und Vertrieb / Publisher and
Distribution: nGbK, Berlin
Konzeptionelle Entwicklung
und Umsetzung des Projekts
Situation Berlin #2: / Conceptual
evelopment and Production of
D
the project Situation Berlin #2:
J ochen Becker, Anna Schäffler,
Simon Sheikh mit / with
Birgit Effinger
© nGbK, Berlin, die Künstler_innen,
Autor_innen, Übersetzer_innen
und Fotograf_innen / the artists,
the authors, the translators, and
the photographers
© für die Konzeption bei der
Arbeitsgruppe / for the concept by
the project group
Das Projekt Urbane Praxis mit
den Campusstandorten und
Knotenpunkten wird im Rahmen
der DRAUSSENSTADT von
der Senatsverwaltung für Kultur
und Europa gefördert. /
The project Urbane Praxis with
its campus locations and nodes
is funded by the Senate Department for Culture and Europe
as part of DRAUSSENSTADT .
In Zusammenarbeit mit /
In cooperation with
Berlin, 2021
ISBN 978-3-938515-93-8
Gedruckt in Deutschland /
Printed in Germany
Alle Rechte vorbehalten /
All rights reserved
Glossar
Urbane Praxis
Auf dem Weg zu einem Manifest
[Glossary of Urban Praxis]
Herausgegeben von:
Jochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh, nGbK Berlin
04 – 08
Auf dem Weg zu einem Manifest
der Urbanen Praxis
10 – 88
Glossar Urbane Praxis mit Schattenindex
10
12
Ankunftsstadt
Fürsorge
Anarchiv
Gestaltung
Anlage /Anlegen
Gebaute Zeit
Asyl, Exil, Migration
15
17
19
21
24
Autonomie
Bürgerbeteiligung
Chor
Gremienarbeit
32
33
36
Commons
Komplizenschaft
Design Build
Ehrenamt
26
29
I–XXIV
Konflikt
39
41
43
Empowerment /
Ermutigung
Freiraum
Bibliographie
Installieren
Koalitionen
Demonstration
Edge City / Outer City
Infrastruktur, urban
Institutionalisierung
Community Organizing
Dokumentation
Haushalterschaft
Kooperation
Manual (DIY )
Mehr Parkplätze!
Narrativ
Netzwerk
45
Nicht-Disziplinär
47
Niedrigschwellig
Selbstrepräsentation
Öffentliche Konsultation
49
52
55
58
60
Site
Oral history
67
Partizipation
68
Parteilichkeit
Spazierengehen
Performance
71
Post-Pandemic Living
74
Plattform
Prozess
76
radikal divers
78
Quartier
Terrain Vague
Verlust
Versammlung
Verstetigung
Raumaneignung
81
Reclaiming Public Space
83
Von Sinnen
Wirkungsorientierung
Workshop
Reproduktiver
Urbanismus
Ressourcenelend
STRESS + STRASSE
Türöffner
Realismus
64
Soziale Arbeit
Zeitlichkeit
Zentrum Peripherie
Zugang (Zugänglichkeit)
85
Zwischennutzungen
Auf dem Weg zu einem
Manifest der Urbanen Praxis
Wer macht Stadt und mit welchen Kulturen und
Praktiken? Wie formuliert sich ein Recht auf
Stadt ohne Rechthaberei? Berlin ist seit L
angem
geprägt von eigensinnig initiierten Bauten, von
selbstorganisierten Räumen und einer reichen
sozialen Kultur. Das Recht auf Stadt wird von
Vielen mit Mitteln der Künste, Gestaltung,
Planung und Aktion erstritten und gemacht.
Die Stadt verfügt über eine Vielzahl erfahrener
Akteur_innen aus dem Feld Urbaner Praxis,
um im Zuge der krisenhaften Entwicklung von
Stadt Veränderungsprozesse voranzutreiben.
Urbane Praxis heißt nicht einfach, Aktionen an
der frischen Luft durchzuführen. Vielmehr ist
es eine eigenständige Form urbaner Kultur mit
einer oftmals langjährigen Expertise, die über
eine bisherige punktuelle Projektförderung hinaus
nach Verstetigung verlangt.
4
Auf Vorschlag des Rates der Künste entstand
2020 die Initiative Urbane Praxis mit Berlin-weiten
Projektpartner_innen, die dafür neue strukturelle
Vorschläge an der Schnittstelle von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen, Verwaltung und Politik
entwickelt. Die Sammelbewegung der Urbanen
Praxis speist sich grundlegend aus drei Richtungen:
der künstlerischen und kuratorischen, der urbanistisch-planenden und gestalterisch-bauenden sowie
der soziokulturellen und aktivistischen Praxis. Die
Initiative Urbane Praxis arbeitet an einem Kulturwandel in Berlin, um zu klären, in welcher Art
Stadt wir künftig zusammenleben wollen. Dazu
gehören physischer Raum, Umwelt, Prozesse, Artefakte, Kommunikationen, Formen der Interaktion
und Politiken wie auch die Verknüpfung von Stadtraumqualitäten und künstlerischen Praxisformen.
In Fortsetzung der Konferenz Urbane Kulturen
(2019) veranstaltet die neue Gesellschaft für bildende
rbane Praxis 2021
Kunst als Teil der Initiative U
zwei Werkstatt-Konferenzen zur SITUATION
BERLIN , die das Potenzial der Bewegung mit
5
ihren künstlerischen, gestalterischen und aktivistischen Verfahrensweisen in einen Zusammenhang
stellen sowie in einen Diskurs einschreiben. Ein
wichtiger Bezugspunkt ist die Initiative Haben und
Brauchen mit einem Manifest und zwei Offenen
Briefen (2011– 13), aus der unter anderem die
Citytax-basierten neuen Fördermodell oder die
breite mietenpolitische Bewegung erwuchsen.
Ziel des vorliegenden Glossars ist es, über die
Vielstimmigkeit der Akteur_innen der Urbanen
Praxis das Verständnis von „Urbaner Praxis“ zu
schärfen und dadurch zentrale Kriterien und
Q ualitäten der Urbanen Praxis herauszuarbeiten.
Die Autor_innen stellen die für sie wichtigsten
Begriffe der Urbanen Praxis zur Verfügung oder
setzen sich kritisch mit zirkulierenden Termini
auseinander. Diese werden gemeinsam mit hin
zukommenden Begriffen und einem Schattenindex auch online gestellt. Zusammen bilden
die Beiträge nicht nur ein Vokabular über die
aktuelle Urbanität und den Bedarf an städtischem
und künstlerischem Handeln, sondern auch einen
6
Diskurs über Urbane Praxis als solche. Sie zeigen
auch, was Urbane Praxis für die heutige und zukünftige Stadt einbringen kann und welche Projekte und Politiken für die Menschen in und von
der Stadt und nicht nur für ihre Investor_innen
und Entwickler_innen umgesetzt werden müssen.
In den Beiträgen wird dabei die gattungsund ressortübergreifende Dimension der Urbanen
Praxis sichtbar. Wie genau stehen diese Handlungsweisen zueinander, welche „Eigenlogiken“
begleiten sie? Und was lässt sich im Sinne einer
selbstkritischen Post-Disziplinarität von den
Praxen und Standards der anderen Bereiche
lernen? Und schließlich lässt sich bei der Lektüre
feststellen, dass in zunehmendem Maße das
Zusammenleben (im weitesten Sinne des Wortes)
und das Beharren auf der gemeinsamen Nutzung
des städtischen Raums zu einem entscheidenden Faktor für jede Art von urbaner Zukunfts
fähigkeit verstanden wird.
Durch die konkrete Formulierung von Zielen,
Mitteln, Ideen und Idealen hoffen wir, dass dieses
7
Glossar nicht nur Begriffe für den Gebrauch
bereitstellt, sondern auch zur Ausarbeitung des
geplanten ersten Manifests der Urbanen Praxis
beiträgt. Mit der zusätzlichen Zusammenführung
einer umfangreichen Bibliographie ist es uns
außerdem ein Anliegen, Urbane Praxis zu kon
textualisieren und Anknüpfungspunkte an historische Konzepte zu ermöglichen, die alternative
Wege skizzieren.
Wie also lassen sich neue Formen des Zusammenlebens in der Stadt umsetzen, die auf die
verborgenen Geschichten und Fragmente der
Vergangenheit zurückgreifen, aktuelle Probleme
ansprechen und sich an der Zukunft orientieren?
Wie können Ansätze dafür in strukturelle und
auch institutionelle Bahnen geleitet und gefestigt
werden, ohne dabei zu versteinern und um künftig
ein besseres Zusammenleben zu ermöglichen?
Aus der Urbanen Praxis können wir eine urbane
Strategie entwickeln.
Jochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh
8
»In der städtischen Praxis
mschreiben die Abhand
u
lungen über die bzw. der Stadt
Handlungen, Anweisungen.
Sie schreiben sie nieder und
schreiben sie vor. Kann man
sagen, daß diese Praxis durch
eine gedankliche Gesamtheit
definiert ist? Durch ein Wort
und eine Schrift? Die städtische
Wirklichkeit ist nur insofern
der Ort einer unbegrenzten
Anzahl von Denkweisen, als sie
zwar in endlicher, aber großer
Zahl Wege anbietet.
»
Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte,
CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014 [1970], S. 170.
9
Ankunftsstadt
Ankunftsstadt
[Arrival City]
Migration hat die Stadtgesellschaft von Berlin immer schon
geprägt. Die Herausforderung für Städte wie Berlin, so der
Journalist und Migrationsexperte Doug Saunders in seinem Buch „Arrival City“, sei, ihre Rolle in den globalen
Netzwerken der Migration zu verstehen und anzunehmen.
Berlin durchläuft laut Saunders eine ähnliche Entwicklung
wie Istanbul, Delhi oder Peking: Die Städte waren und werden zu „Ankunftsstädten“, wo Migrant_innen und geflüchtete Menschen versuchen, ihren Platz zu finden. Zu Städten,
die es in der Hand haben, diese Suche zu erleichtern oder
zu erschweren. Der Kontext Migration, Asyl, Exil und die
Frage, wie Berlin nicht nur zu einer Stadt des Ankommens,
sondern auch zu einer Stadt des Bleibens im positiven Sinn
werden kann, ist deshalb zentral für die Urbane Praxis.
Konkret besteht eine solche Praxis etwa im Aufbau
von Knotenpunkten für Kunst, Kultur und Begegnung, an
denen sich mit einem Fokus auf Diversität, Mehrsprachigkeit und der künstlerischen Selbstrepräsentation Gemeinschaften etablieren können. Im Sinne von Arrival (Ankunft)
ermöglichen diese offenen Begegnungsräume auch das
„Reclaimen“ des öffentlichen Raums für eine diverse Stadtgesellschaft. Eine solche machtkritische, zugängliche und
10
Dr. Sabine Kroner ist Politologin und promovierte Migrationsforscherin. Seit 2015 ist sie Projektleiterin der Berlin Mondiale,
einem berlinweiten Netzwerk von Kulturpraktiker_innen und
Künstler_innen der Urbanen Praxis im Kontext von Migration,
Asyl und Exil.
11
Ankunftsstadt
ressortübergreifende Netzwerkarbeit kann als zentraler Bestandteil einer Urbanen Praxis verstanden werden, die eine
Stadt des Ankommens, eine „Stadt für Alle“ fördert. Ein
Projekt wie Berlin Mondiale versteht sich beispielsweise
als Netzwerk, das vor allem aus Künstler_innen und Praktiker_innen mit Fluchtbiografie und engagierten Beteiligten
verschiedener Berliner Kultureinrichtungen besteht. Mit
solchen künstlerischen Netzwerken versucht die U
rbane
Praxis in kulturell und sozial eher dünn aufgestellte Sozial
räume zu gehen und mit lokalen Akteur_innen aus den
Nachbarschaften Räume für strukturell und institutionell
benachteiligte Communities / Gruppen und Praktiker_innen
zu öffnen.
Anlage /Anlegen
Anlage/Anlegen
[Anlage]
Urbane Praxis versucht mit künstlerischen Mitteln, Visionen und Strategien für ein verbessertes städtisches Zusammenleben zu schaffen. Dafür werden aktuelle Herausforderungen angepackt, solidarische Gemeinschaft gestärkt und
vor allem der städtische Raum neu gedacht. Als Keimzelle
oder Schaltzentrale dieses neuen städtischen Handelns
kann die Anlage verstanden werden. An bestehenden oder
neuen Orten legt sie lokale, interdisziplinäre, kooperative,
beziehungsorientierte und visionäre Arbeitsweisen an. Das
Ziel: gemeinsame Stadtgestaltung. Urbane Praxis ist weder
Projekt, Prozess oder Profession, sondern ein Experiment
dessen, was wir uns als städtische Gemeinschaft vorstellen: Genossenschaftshochhaus, Nachbarschaftscampus,
Peripheriemuseum, Pfahlbautenuniversität, Stadtweidenmusikschule, Materialkreislauflager – was brauchst Du in
Deiner Stadt?
Dabei geht es nicht unbedingt darum, neue Institutionen
zu gründen, wie diese unzulässige Aufzählung suggeriert,
sondern um die Diskussion und Gestaltung dessen, was wir
als Stadtbewohner_innen eigentlich brauchen. Das kann
auch beispielsweise etwas Temporäres, Performatives oder
Anarchisches sein.
12
13
Anlage /Anlegen
Es liegt also erstmal an uns, das anzulegen, was wir brauchen. Klingt nach einer großen Aufgabe, lässt sich aber
recht einfach machen, wenn man sich einen Garten, eine
Allmende oder einen sonstigen gemeinsamen Ort vorstellt.
Das sind uns doch sehr vertraute Prinzipien, denn schon seit
Jahrhunderten üben wir uns im Umgang mit der Entwicklung von Flächen und Räumen, die eine Gruppe von Menschen für das Gemeindewohl als notwendig erachtet. Diese
Kulturleistungen können im Heute und der Großstadt ganz
verschiedene Formen annehmen: lang geplant, groß gestaltet, weit sichtbar oder, genau entgegengesetzt, kurzfristig
notwendig, spannend intervenierend, szeneaffin. Manchmal
wird etwas ganz Neues gesetzt, oder aber es wird auf bestehenden Strukturen aufgebaut – wie bei einem Brettspiel
gewissermaßen das noch fehlende Teil angelegt. Wichtig ist
vor allem, dass es zum Mitmachen einlädt. Wir haben bestimmte Veranlagungen, also bestehende Bedürfnisse, die es
im Rahmen der sich schnell verändernden Städte zu diskutieren gilt. Wo lohnt es sich anzulegen bzw. in was wollen
wir als Gemeinschaft eigentlich investieren?
Da es das, was es braucht, damit es besser wird, meistens
noch nicht gibt, legen wir es darauf an: Wo ist ein guter Ort?
Wen brauchen wir dafür? Wie funktioniert das eigentlich?
Manches ist dann doch schon in Teilen vorhanden, braucht
nur einen Ort, mehr Aktivismus oder ein neues Gesicht.
Vieles ist aber neu, weil der entstehenden Anlage die involvierte Disziplin oder betroffene Institution nicht so wichtig
Anlage /Anlegen
ist. Das heißt, sie operiert mit visionärem Blick auf das zu
gestaltende Ziel, holt sich notwendiges Wissen dazu und
leistet politische Überzeugungsarbeit: Das mitreißende, gemeinsame Machen.
Das Ergebnis ist ein neuer oder wiederentdeckter Ort,
als Beitrag zum Allgemeinwohl und mit einem aufrüttelnden Bild für die Zukunft unserer Stadt. Eine neue Anlage.
Anton Schünemann ist Experte für Kulturelle und Politische
Bildung. Als Absolvent der Bauhaus- und der Europa-Universität
in Weimar und Frankfurt /Oder berät und unterstützt er u. a.
Stiftungen, NGOs und wissenschaftliche Einrichtungen. Seit 2014
ist er Programmkoordinator und Strategieentwickler bei der
S27 – Kunst und Bildung. Er ist Mitbegründer der Arbeitsintegrationsinitiative Arrivo Berlin, des Zentrums für Kreislaufwirtschaft
Haus der Materialisierung und der Initiative Urbane Praxis.
14
[Autonomy]
Einer der Begriffe, die sowohl in der Kunst als auch in der
Politik am meisten beachtet und umstritten sind, ist der der
Autonomie, ein Begriff, der in beiden Bereichen unterschied
liche, aber auch miteinander verknüpfte Bedeutungen hat,
was jedoch nur zu weiterer Verwirrung und Komplexität beiträgt. Nichtsdestotrotz hat er jedoch eine große Bedeutung
für urbane Praktiken, nicht zuletzt deshalb, weil sie genau an
der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik stattfinden.
Im Bereich der künstlerischen Praxis (und sehr wohl
auch in der Kunsttheorie) wird Autonomie üblicherweise im
Sinne der historischen Avantgarde-Bewegungen der frühen
europäischen Moderne verstanden, wo sie eine künstlerische
Produktion bezeichneten, die unabhängig von Kirche und
Staat und sogar vom Markt war. Autonome Kunst war formal neuartig und brach mit der Tradition. Gleichzeitig war
sie jedoch auch kritisch gegenüber institutioneller Macht,
innerhalb der Kunst und innerhalb der Gesellschaft. In der
zeitgenössischen Kunst hat künstlerische Autonomie jedoch auch negative Konnotationen, die sich darauf beziehen, dass einige Künstler_innen alles, was sie tun oder sagen,
als freie Rede verteidigen, ohne Rücksicht auf Privilegien,
Konsequenzen und Kontexte. Aus diesem Grund gilt der
15
Autonomie
Autonomie
Autonomie
Begriff der Autonomie mittlerweile als unzureichend, um
die Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten der Kunst in
einer multipolaren Gesellschaft zu verstehen, was zu dem
dienlicheren Begriff der relativen Autonomie geführt hat.
Auch in der politischen Theorie und Praxis der Avantgarde hat der Begriff der Autonomie eine umstrittene Geschichte. Technisch gesehen steht er für Selbstverwaltung,
in der Regel im Sinne eines Territoriums, das außerhalb der
Kontrolle des Staates bleibt und in einem urbanen Kontext
oft mit Hausbesetzungen und selbstorganisierten Räumen
in Verbindung gebracht wird. Autonomie steht aber auch
für eine radikale linke Politik, die die Idee einer Avantgarde
partei an der Spitze des Volkes ebenso ablehnt wie die Institution des Parlaments zugunsten der Versammlung.
Ausgehend von dieser Geschichte können wir Urbane
Praxis eher als selbstinstituierend als als anti-institutionell einordnen, im Sinne des Autonomieverständnisses von Cornelius
Castoriadis, der Autonomie als Gegensatz zu Heteronomie
und nicht zu Institutionalisierung verstand. A
utonome Gesellschaften sind solche, in denen die Mitglieder genau wissen, wie sie die sozialen Beziehungen durch und für sich
instituieren, im Gegensatz zu heteronomen, in denen die Mitglieder die Ordnung einer Autorität außerhalb der Gesellschaft zuschreiben. Autonomie in diesem Sinne ist der Wille,
sich selbst zu organisieren und damit selbst zu instituieren.
Dr. Simon Sheikh ist Kurator und Theoretiker.
16
Bürgerbeteiligung
Die Stadt umfasst sowohl gebaute als auch gelebte Faktoren: Straßen und Gebäude gehören ebenso zu einer
Stadt wie die individuellen und gemeinschaftlichen Raumkonstitutionen ihrer Bewohner_innen und Nutzer_innen.
Diese formen die Stadt tagtäglich durch ihr Handeln, das
wiederum durch gebaute und strukturelle Bedingungen
beeinflusst wird. Eine Beteiligung an Veränderungsprozessen der Stadt bezieht sich daher sowohl auf bauliche
und strukturelle Faktoren als auch auf das urbane, das
städtische Leben – und damit letztlich auf jede_n Einzelne_n: Unsere sozialen Beziehungen, unseren Lebensstil,
die Frage, wer wir eigentlich sind und in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Bürgerbeteiligung an Veränderungsprozessen der Stadt
beinhaltet die Möglichkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten und mit diesen Vorstellungen in einen
gesellschaftlichen Aushandlungsprozess einzutreten – denn
in Städten lebt man als eine_r unter Vielen. Wenn wir das
beachten, dann realisieren wir die Relevanz der Beteiligung
von Bürger_innen: Es geht nicht um das Antlitz der Stadt
oder einzelne befristete Beteiligungen an Bauvorhaben, sondern um Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen, um
17
Bürgerbeteiligung
[Public Participation]
Bürgerbeteiligung
Ein- und Ausschlüsse, um Systeme und unsere Fähigkeit,
Vielfalt auszuhalten.
Möchte man tatsächlich einer breiten Bürgerschaft die
Möglichkeit geben, ihre Lebensräume aktiv mitzugestalten, so gilt es, Bürger_innenbeteiligung grundsätzlich neu
zu denken. Veränderungen der Stadt müssen einen Aushandlungsprozess ermöglichen, an dem Bürger_innen teilhaben können. Dies gelingt erst, wenn Veränderungen und
ihre Planung im Stadtraum wahrnehmbar und verhandelbar
werden. Nur dann steht nicht die bloße „Befriedung“ und
die Optimierung einer Stadt als Ware im Vordergrund, sondern ein radikales Verständnis urbaner Demokratie. Dann
geht es nicht um schnelle Lösungen und Ergebnisse, sondern um die Stadt in ihrer Vielfalt, Widersprüchlichkeit
und Komplexität. Bürgerbeteiligung an Veränderungsprozessen der Stadt bedeutet in diesem Sinne, Diskursräume zu
schaffen und Widersprüche zuzulassen, um eine vielfältige
Stadt zu ermöglichen.
Leonie Wendel lebt und arbeitet als Public Interest Designerin
in Düsseldorf. Sie ist Mitglied der Planwerkstatt 378 und erforscht
in diesem Kontext sowohl wissenschaftlich als auch in der Praxis
die Beteiligung von Bürger_innen an Veränderungsprozessen
der Stadt.
18
Chor
Ich möchte den Begriff „Chor“ einführen, um eine „nichtkollektive Kollektivität“ zu definieren: (kon)temporär, partiell, fließend und eher an einen bestimmten Anlass oder ein
bestimmtes Projekt gebunden als an eine vorgegebene geteilte Weltanschauung.
Wir könnten den Chor als ein Ganzes betrachten, das
bereit ist, zu einer Pluralität zu werden, das zur P
artizipation
neigt und von einer Sozialität angezogen wird, in der
sein Wert anerkannt wird (und dabei gleichzeitig Freude
am Teilen und an der Begegnung hat, auch wenn dies zu
Konflikten führt), ohne dass sich dabei eine etablierte Gemeinschaft oder eine feste Identität herauskristallisieren.
Tatsächlich ist diese Möglichkeit, gesichert durch die herrschenden Spielbedingungen, stets gebannt.
Anders als das Kollektiv, das im Gegensatz zum Individuum steht, bietet der Chor keine Übereinkunft zwischen
den Subjekten, die zur Konstruktion einer Identität führt
und damit unweigerlich einen Teil der Vielfalt, die im Singulären enthalten ist, opfert. Das Kollektiv passt unweigerlich an, standardisiert und definiert sich selbst durch ein
Manifest, indem es ein spezifisches „Wir“ wählt und so oft
jede Abweichung als Exzentrizität verurteilt. Andererseits
19
Chor
[Choral]
Chor
wird das Singuläre, die Individualität der Künstler_innen bis
zu dem Punkt gefeiert, an dem man glaubt, dass es möglich
ist, jede Verbindung mit der eigenen Zeitgenossenschaft zu
lösen, wie zum Beispiel in der abgenutzten Theorie des Genies. Es handelt sich also um zwei unmessbare Positionen,
denn: im Chor findet das individuelle, oppositionelle Paar
im Gegensatz zum kollektiven Paar einen Ausweg aus der
Sackgasse sich entscheiden zu müssen, ob sie das Ego oder
das Politische und Soziale opfern.
Ein Chor ist eine Ansammlung von Singularitäten, ja
sogar Anomalien, der beschließt, bei der Schaffung eines gemeinsamen, aber streitbaren Raums zusammenzuarbeiten,
das heißt, eines Raums zum Vergleich, in dem alles relativ
und möglicher Gegenstand der Diskussion ist, abzüglich des
Werts, der den Unterschied ausmacht.
In meinen künstlerischen und kuratorischen Projekten
ist jede Forderung an die Kunst immer von der Vorstellung
ausgegangen, dass sie sich in einem durchlässigen und großzügigen, aber auch vielfältigen und fruchtbaren Konfliktraum befindet, der in der Lage ist, „Kathedralen“, jedoch
keine Religionen hervorzubringen.
Giorgio de Finis arbeitet als Anthropologe, Künstler und Kurator
in Rom. Er ist der Gründer von MAAM Metropoliz – Museum
of the Other and Elsewhere, dem MACRO Asilo, das zwei Jahre
lang das Museum für zeitgenössische Kunst in Rom in eine Piazza
verwandelte. Derzeit entwickelt er das Museo delle periferie a
Tor Bella Monaca (RIF ) am Rande der Metropole.
20
Commons
Das Konzept der Commons entstand in England im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Einfriedung
von Land, den frühen Stadien dessen, was Marx später als
„ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnete, das heißt, der
Inanspruchnahme von Land und Ressourcen als Privateigentum durch die Herrschenden. An manchen Orten äußerte sich diese ursprüngliche Akkumulation in Form von
Landraub für Bergbau, Industrialisierung und billigen Arbeitskräften; an anderen Orten ist sie sichtbar durch gerade
Linien auf einer Landkarte, eine Pipeline oder die Auslöschung von Inseln in nuklearen Testgeländen. Meist jedoch
zeigt sie sich in der Errichtung von Zäunen oder manchmal
auch Golfplätzen, um ein Gebiet als privatisiert oder militarisiert zu definieren.
Der Staatskapitalismus treibt den Prozess der Einfriedung voran, der außerhalb demokratischer Prozesse stattfindet und kollektive Rechte, Holz zu sammeln, T iere
zu weiden, Lebensmittel anzubauen, Kultur zu besitzen,
in einem leeren Gebäude zu leben, frisches Wasser zu
trinken, spazieren zu gehen und die Landschaft zu genießen oder einfach auf einem Stadtplatz zu sitzen und zu
singen außer Kraft setzt. Im Mittelalter hatten auch die
21
Commons
[Commons]
Commons
einfachen Bevölkerungsschichten traditionell Zugangsund Nutzungsrechte, selbst wenn das Land im Besitz der
Krone war. Heute bezeichnet Commoning v erschiedene
Arten von kollektivem Eigentum und Verantwortung.
Dazu gehören Genossenschaften, Hausbesetzerrechte und
Systeme zum Schutz kultureller und geistiger Gemeingüter
wie Creative Commons-Lizenzen und Open-Access-Veröffentlichungen.
Denkt man auf diese Weise über Commons als ein
Konzept für das 21. Jahrhundert nach, ergeben sich daraus Zusammenhänge zwischen den Einfriedungen und
der Kolonisierung, wodurch Räume für neue Formen von
Bündnissen entstehen. Die Kolonisierung ist die Umsetzung der Einfriedung im globalen Maßstab, die Menschen
und den Planeten zu Waren macht, Körper und Ökosysteme ausbeutet und erodiert und Praktiken von F
ürsorge
und H
aushalterschaft verletzt. Die Menschen sehen ihre
Landrechte jedoch als Verantwortung, sie finden und erhalten eine Stimme, ihre Beziehung zum Ort artikuliert
sich durch kollektives Gärtnern, Teilen, Produzieren,
L eben und Widerstand, indem sie neue rechtliche und
politische Strukturen schaffen.
Commons sind nicht einfach nur Ressourcen oder auch
einzelne Gruppen von Menschen, der Akt des Commoning
ist ein Prozess, eine gelebte kollektive Ethik, die die Beziehungen zwischen den Menschen und die Beziehung
zwischen Mensch und Umwelt für den Erhalt allen Lebens
22
Commons
und Nichtlebens wertschätzt. Commoning ist ein Widerstand gegen die Einfriedungen der Kolonisierung, den wir
von unseren Kindern erben.
Dr. Ele Carpenter ist Professorin für interdisziplinäre Kunst und
Kultur und Direktorin von UmArts. Sie arbeitet direkt mit der
School of Architecture, der School of Art, der School of Design,
dem Department of Creative Arts und dem Bildmuseet zusammen, um neue Kunstforschung zu unterstützen und zu entwickeln.
UmArts wurde im Jahr 2021 gegründet und konzentriert sich
auf einige der wichtigsten Themen unserer Zeit, u. a. Planetary
Care, Dekolonisierung und das nukleare Anthropozän.
23
Community Organizing
Community Organizing
[Community Organizing]
Beim Community Organizing geht es um die systematische
und möglichst nachhaltige Organisierung von weniger
privilegierten Menschen, um Macht von unten aufzubauen,
dadurch Machtverhältnisse zu verschieben und eigene Anliegen durchzusetzen. Ziele sind die konkrete Verbesserung
von Lebensbedingungen und die Stärkung einer substantiell
demokratischen Gesellschaft oder auch deren grundlegende
Transformation in Richtung der Aufhebung unterdrückender und ausbeuterischer Verhältnisse.
Als Begründer gilt der Chicagoer Soziologe Saul D.
Alinsky, dessen Bücher ‚Reveille for Radicals‘ und ‚Rules for
Radicals‘ als pragmatische Anleitungen zur sozialen Revolution gelesen werden können. „The Prince was written by
Machiavelli for the Haves on how to hold power. Rules
for Radicals is written for the Have-Nots on how to take it
away.“(Alinsky 2010 [1971], 3).
Zentrale Begriffe im Community Organizing sind
„Macht“, als Fähigkeit mit anderen gemeinsam zu handeln;
„Community“ als ein räumlich definiertes, dynamisches Geflecht aus Beziehungen, Organisationen und Institutionen,
das in einer mobilen, modernen Stadtgesellschaft nicht in erster Linie physisch oder ethnisch, sondern über gemeinsame
24
Dr. Sabine Stövesand, Stadtteilaktivistin (u. a. Park Fiction,
Initiative Esso Häuser), Professorin für Soziale Arbeit an
der HAW Hamburg.
25
Community Organizing
Interessen bestimmt ist; „Organisieren“ als Zusammenbringen von Menschen, der Aufbau tragfähiger Beziehungen,
Mobilisierung, die Entwicklung eines strategischen, geplanten Vorgehens und Aufbau nachhaltiger und basisdemokratischer Strukturen.
Das Herzstück und der Beginn eines Organisierungsprozesses sind Hunderte von Gesprächen in der Community, an Haustüren, bei Haus- und Nachbarschaftstreffen
bzw. mit Akteur_innen aus lokalen Vereinen, Institutionen.
Erkundet und ausgewählt werden Probleme, die viele betreffen / empören und an kollektivierbare Eigeninteressen
anknüpfen; sie sollen veränderbar sein, d. h. konkret und
überschaubar. Zentral ist dabei die Gewinnung und das
Empowerment von Schlüsselpersonen (local leaders) durch
den / die professionellen Organizer. Es folgt eine ausführliche Recherche, Mapping und Kartierungen (u. a. Machtanalysen, Bereitschaft zum Engagement, eigene Ressourcen)
und auf dieser Basis große, sorgfältig orchestrierte Versammlungen, Aufbau von Organisationen, s ystematische
Strategieentwicklung und Umsetzung in vielfältigen,
direkten Aktionen, von Blockparties bis Boykott. Betont
wird immer auch die Bedeutung von anschließender gemeinsamer Reflektion und das Feiern von Erfolgen. Party
und Organizing sind keine Gegensätze – im Gegenteil!
Empowerment /
Ermutigung
Empowerment / Ermutigung
[Empowerment/Encouragement]
Empowerment oder Ermutigung umfassen Prozesse, Strategien und praktische Schritte, mit denen Stadtbewohner_innen ihre Interessen selbstverantwortlich und selbstbestimmt zum Ausdruck bringen, sich aktiv dafür einsetzen
und gemeinsame Interessen auch gemeinsam vertreten.
Eine daran orientierte Urbane Praxis unterstützt und ermutigt Prozesse der Selbstorganisation und /oder schafft
Rahmenbedingungen, die solche Prozesse anstoßen und
ermöglichen können. Empowerment unterscheidet sich
insofern von allen Formen einer Stellvertreterpolitik, bei
der gewählte oder selbsternannte „Expert_innen“ für die
Betroffen handeln, auch wenn dies mit den besten Absichten geschieht.
Erfahrungsgemäß sind es auch bei städtischen Initiativen und Bewegungen Einzelne, die sich u. a. durch Sprachkompetenz, Bildung, durch ihr soziales und kulturelles
Kapital (im Sinne Bourdieus) auszeichnen und die zugleich
auch über die zeitlichen Spielräume bzw. die materiellen
Möglichkeiten verfügen, um sich in Initiativen, Projekten und bei Aktionen einzubringen. Sie sind in der Lage,
26
27
Empowerment / Ermutigung
Situationen zu definieren, Ziele vorzugeben sowie Inhalte,
Richtung und Aktionsformen zu bestimmen.
Empowerment zielt deswegen darauf ab, auch jenen, deren Stimme üblicherweise nicht gehört wird, die sich (bisher) nicht zu Wort gemeldet und eingemischt haben, Gehör
zu verschaffen und sie zu ermutigen, selbst aktiv zu werden.
In städtischen Quartieren wie z. B. dem Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk mit einem überdurchschnittlichen Anteil migrantischer Bevölkerung ist es eine große Herausforderung,
gerade diese Bevölkerungsgruppe in die öffentlichen Debatten darüber einzubeziehen, in welcher Stadt „wir“ leben
wollen. Bisher kommt die migrantische Bevölkerung in diesem „Wir“ nicht oder nur am Rande vor.
Strategien von Empowerment zielen darauf ab, G
efühle
von Ohnmacht und Ausgeliefertsein zu überwinden, die
durch äußere Ereignisse und Entwicklungen ausgelöst
werden, die als unverständlich und unverfügbar erfahren
werden. Ein erster Schritt kann die praktische Erfahrung
sein, mit individuell erlebten Problemen oder Konflikten
wie z. B. rassistischer Diskriminierung, dem Verlust des
Arbeitsplatzes oder der Wohnung nicht allein zu sein.
Individuelle Betroffenheit kann sich so zu kollektiver Betroffenheit entwickeln. Aus dem Gefühl, gemeinsam
weniger machtlos zu sein, kann schließlich der Wunsch
erwachsen, sich auch selbst an kollektiven Aktionen zu
beteiligen. Erfahrung dieser Art kann man im Gespräch
mit anderen, ähnlich Betroffenen, in Versammlungen, bei
Empowerment / Ermutigung
Kundgebungen oder Demonstrationen machen. Empowerment-Strategien zielen darauf ab, Möglichkeitsräume für
solche Erfahrungen zu schaffen.
Helmut Schneider: Universitäre Forschung und Lehre als W irt-
schafts- und Stadtgeograph (regionale Schwerpunkte Südostasien, Großraum Düsseldorf, Ruhrgebiet); nach der Pensionierung
im Jahr 2016 Mitgründer der Stadtteilinitiative „Runder Tisch
Oberbilk“, des Geschichtsvereins „Aktion Oberbilker Geschichte(n)“ und seit 2019 Engagement im Rahmen des D
üsseldorfer
„Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“
28
Freiraum
Fast alle Erzählungen über das Berlin der Nachwendezeit
beginnen mit der Beschreibung von verlassenen und leerstehenden Räumen und Brachflächen im Zentrum der
Stadt. Diese wurden als „Freiraum“ deklariert, sie waren
frei von Verwertungsdruck und bürokratischer Kontrolle,
denn im Zuge der politischen Transformation durch die
Wiedervereinigung blieben viele Eigentumsverhältnisse
ungeklärt. Zentrale Grundlagen des kapitalistischen Systems und seiner Verwertung von Raum funktionierten vorübergehend nicht mehr.
Diese Situation wird oft als Ausgangspunkt dafür gesehen, dass Berlin sich als Kulturstandort etablieren konnte.
Selbstorganisierte, kollektive und disziplinübergreifende
Strukturen sowie kostengünstig und einfach anzumietende
Räume boten eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten des
Produzierens, Präsentierens und Vermittelns von Kunst.
Während die Narration des Freiraums in der Nachwende
davon ausgeht, dass dieser einfach vorhanden sei und nur
entsprechend genutzt, umgenutzt und angeeignet werden
müsse, möchte ich mit Henri Lefebvre dagegen argumentieren: Raum – und damit auch Freiraum – existiert nicht
per se, auch wenn de facto leerstehender Raum vorhanden
29
Freiraum
[Freiraum]
Freiraum
ist. Im Sinne von Lefebvre ist Raum das Produkt gesellschaftlicher Prozesse: Dazu gehören politische Entscheidungen, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen genauso
wie subjektive Vorstellungen.
Es handelt sich insofern bei Raum nicht nur um physischen Raum und um gebaute Architekturen, vielmehr
kommt ihm durch die Betrachtung der mit seiner Entstehung verbundenen sozialen Prozesse eine kulturelle und
zeitliche – und damit veränderbare – Dimension zu. In der
Prozessualisierung von Raum liegt dann auch das politische Verständnis, denn die damit verbundenen Machtverhältnisse sind nicht als starre Konstanten zu denken. Raum
in Bezug auf Lefebvre ist Teil eines gesellschaftlichen und
politischen Aushandlungsprozesses, der ihn gleichsam erst
hervorbringt. Urbane Praxis setzt hier an, denn sie gestaltet soziale Prozesse und damit auch die Teilhabe an
der Veränderung von Raum und seinen gesellschaftlichen
Machtverhältnissen.
Kulturpolitisch kann aus dem Rückblick auf die 1990er
Jahre das Fazit gezogen werden, dass nicht allein der Leerstand der Nachwende die Voraussetzung für die Entwicklungen war, sondern ebenso die nicht renditeorientierten Eigentumsstrukturen sowie ausreichend finanzielle
Förderung von künstlerischer Arbeit und ein Verständnis
von Kunst als Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen.
Dies sollten die Stichworte für eine zukünftige Kulturpolitik sein.
30
Freiraum
Annette Maechtel ist seit März 2020 Geschäftsführerin der
nGbK, seit September 2020 ist sie Mitglied in der Initiative Urbane
Praxis im Rat für die Künste. Mehrere ihrer Ausstellungs- und
Forschungsprojekte beschäftigten sich mit Berlin als einem politischen und diskursiven Raum. 2018 schloss sie ihre Dissertation an
der HGB Leipzig am Institut für Theorie ab. 2020 erschien diese
bei b_books unter dem Titel „Das Temporäre politisch d
enken.
Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre“.
31
Haushalterschaft
Haushalterschaft
[Stewardship]
In der Regel orientiert an den jüngsten Bewegungen im
globalen Süden, die lebendige Alternativen zur euroamerikanischen Vorstellung von Eigentum verkörpern, vom
Amazonas-Regenwald bis zu Standing Rock. Was alle diese
Orte des Widerstands gemeinsam haben, ist die Abkehr von
anthropozentrischen Ansprüchen auf Landbesitz und die
Hinwendung zu der Vorstellung, dass der Mensch nur eine
Gemeinschaft unter vielen ist, ein einziger Teil eines komplexen, sich ausbreitenden Biotops von Arten und (widerstreitenden) Interessen.
Es ist offensichtlich, dass der Mensch nicht Eigentümer
sein muss, der entweder das Land ausbeutet oder die Landschaft genießt, er kann Verwalter sein, der für das ökosystemare Wohlergehen des ihn umgebenden Landes mitverantwortlich ist, mit dem Ziel einer regenerativen biologischen
Vielfalt anstelle einer monokulturellen Extraktion.
Tirdad Zolghadr ist Kurator und Schriftsteller. Derzeit ist er
künstlerischer Leiter der Sommerakademie Paul Klee. Außerdem arbeitet er am langfristigen kuratorischen Projekt REALTY
jenseits traditioneller Entwürfe von Kunst und Gentrifizierung.
32
Infrastruktur, urban
Das gängige Bild der europäischen Stadt ist zumeist das einer Stadt als eng verknüpfte Einheit, die durch S
tadtmauern
geschützt und durch dieses architektonische Element klar
von dem „Anderen“, dem Land getrennt ist. Folglich wird
die Gründung einer Stadt als ein magischer Akt gedacht,
mit dem eine Gemeinschaft in einem Gebiet etabliert wird,
und somit immer noch in ihrer alten Form gefangen ist, die
nichts weiter als eine nostalgische Reminiszenz ist. Wie
Historiker_innen und Archäolog_innen jedoch nachgewiesen haben, ist die Entstehung einer Stadt in der R
egel das
Ergebnis einer sorgfältigen Planung von Logistik und Kommunikation. Die geografische Lage einer Stadt entspricht
der Notwendigkeit (und dem Wunsch), eine menschliche
Gemeinschaft in ein Gebiet einzubetten, aber auch, und
das ist entscheidend, diesen Ort zu einem Knotenpunkt für
ausgedehnten Verkehr und Austausch zu machen. Vor diesem Hintergrund sind Städte eher aus ihren Straßen als aus
ihren Gebäuden erwachsen.
Folgen wir dieser Logik, ist die Stadt der Punkt, an dem
sich die Ströme verdichten, und die Urbanisierung ein Prozess der Organisierung und Artikulierung eines Territoriums entsprechend dem Paradigma der Zirkulation. Wir
33
Infrastruktur, urban
[Infrastructure, urban]
Infrastruktur, urban
können also die Entwicklung der Städte und ihre heutige
Dynamik nur dann richtig verstehen, wenn wir sie nicht
weiterhin als isolierte Einheiten betrachten. Im Gegenteil,
wir müssen Städte als komplexe Gebilde untersuchen, die
sich auf vielfachen Ebenen gemeinsam entwickeln.
Ein epistemischer Wandel hin zu einer so genannten
infrastrukturellen Analyse von Städten und Urbanisierungsprozessen ist ein entscheidendes Instrument für das Überdenken jeglicher Urbanen Praxis. Darüber hinaus kann das
diagrammatische Netzwerk, das das Infrastruktursystem
darstellt, zu einem ökologischen Verständnis des städtischen
Stoffwechsels führen, bei dem die Gesamtheit der urbanen
Vektoren berücksichtigt wird. Es sind nicht nur die Ströme
von Menschen, sondern auch die von Kapital, Waren, Zeichen und Ideen, die die Städte erhalten und ihnen fortwährend Geltung verschaffen. Im weiteren Sinne müssen wir
auch die Wasserversorgung, die Stromnetze, die Telekommunikationssysteme, die Kanalisation, die Abfallentsorgung
usw. zusammen mit den Eisenbahnen, Brücken, Tunneln
und Straßen als wesentliche Bestandteile der physischen
und digitalen Infrastruktur betrachten, die das städtische
Leben, wie wir es kennen, ermöglichen.
An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass
diese bestehende infrastrukturelle Matrix nicht (nur) die
überwältigenden technischen Funktionen, sondern auch
eine politische Form zum Ausdruck bringt. Wenn wir die
Stadt als infrastrukturellen Knotenpunkt oder als eine
34
Niccolò Cuppini ist Forscher an der Hochschule für Angewandte Technik und Kunst der Südschweiz. Seine Forschungen
orientieren sich an einem transdisziplinären Ansatz in den
Bereichen Stadtforschung, Geschichte der politischen Doktrinen
sowie Logistik und soziale Bewegungen, Arbeitssoziologie
und Plattformökonomie. Niccolò ist Teil der Forschungsgruppe
Into the Black Box.
35
Infrastruktur, urban
Meta-Infrastruktur begreifen, impliziert dies eine neue
Konzeptualisierung ihrer Ästhetik und ihrer Planung und
eröffnet sowohl eine Forschungsagenda als auch eine konkrete Herausforderung für einen zeitgemäßen urbanen
Aktivismus. Darüber hinaus führen die neue planetarische
Beschaffenheit der urbanen Textur und die Ausbreitung
städtischer Infrastrukturen über die Grenzen des städtischen
Raums hinweg zu vielfältigen politischen Konflikten, Verhandlungen und Exklusionen.
Die neue Grenze dieser anhaltenden Auseinandersetzung ist das Platforming planetarischer „Stadtlandschaften“
(anstelle von Landschaften). Das allgegenwärtige Betreiben
digitaler Plattformen – nur der jüngste infrastrukturelle Akteur – gestaltet unser Leben und den Planeten, auf dem wir
leben, radikal um. Es entstehen neue Orte der politischen
Auseinandersetzung, um das Recht auf Stadt zu erwerben,
und Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, alternative
(urbane) Bürgerschaftsmodelle auszuhandeln und zu gestalten. Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Politik der Navigation in diesem Vortex.
Installieren
Installieren
[Install]
Die öffentliche Wahrnehmung der Urbanen Praxis ist visuell geprägt durch Bilder von neu erschlossenen und oftmals
fantastisch anmutenden Räumen, die andere Formen der
kollektiven Erfahrung versprechen. Diese mit künstlerischen Mitteln hergestellten Handlungsräume lassen sich als
Installationen begreifen, die in der Kunstgeschichte gemeinhin hybride künstlerische Praktiken ab den 1960er Jahren
bezeichnen, die Aspekte der Ereignis- und Prozesshaftigkeit
sowie Orts- und Zeitspezifik vereinen. Historisch verschob
sich damals der Fokus von der Produktion eines einzelnen Werkes hin zur Reflexion der Bedingtheit des eigenen
Handelns. Damit einher ging die sich Bahn brechende Auffassung des Eingebundenseins von künstlerischer Praxis in
gesellschaftliche Prozesse. Mehr noch wurde künstlerischem
Handeln das Potenzial einer gesellschaftlichen Wirksamkeit
zugesprochen, im Sinne der Hervorbringung und der Veränderung von gesellschaftlicher Realität.
Die Praxis des Installierens beinhalten demnach immer
auch das emanzipatorische Potenzial der künstlerischen
Kontrollübernahme und Selbstermächtigung. Dabei bewegt sich dieses Handeln teilweise auch an den Grenzen
des Erlaubten und darüber hinaus. Die Installation etabliert
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37
Installieren
einen Raum außerhalb der üblichen Ordnung und öffnet
damit gleichzeitig den Blick auf die Voraussetzungen dieser
Ordnung selbst. Das Sichtbarmachen von Aushandlungsprozessen führt nicht nur zu einer kritischen Hinterfragung
der eigenen Wertsetzungen, sondern schärft das Bewusstsein für die Bedingungen des gesellschaftlichen Kontextes.
Dies lässt sich auch in der Entscheidungsstruktur vieler
Initiativen der Urbanen Praxis ablesen, die sich selbst oftmals basisdemokratisch organisieren oder nach dem Konsensprinzip agieren. Diese Verknüpfung von Gesellschaftskritik und Selbstreflexion lässt sich mit Nowotny und
Raunig als das instituierende Potenzial von Urbaner Praxis
verstehen, das sich im Zusammenspiel von politischen Praxen, sozialen Bewegungen und künstlerischen Kompetenzen entwickelt.
Neben der Absicherung von konkret physischen Räumen
ist eine strukturelle Verstetigung der Urbanen Praxis nicht
zuletzt deshalb wichtig, weil im Hamsterrad der temporären
Projektlogik kaum Ressourcen für die Dokumentation und
Reflektion dieser Installierungspraxis bereitstehen und daher ein ständiger Verlust von Handlungswissen droht. Das
stellt auch neue Anforderungen an die Aufgabe der Erhaltung von Urbaner Praxis, denn allein das Material konventionell zu lagern reicht hier nicht aus. Vielmehr braucht es
Möglichkeiten zur Erprobung neuer Tradierungsweisen und
der Weitergabe von Urbaner Praxis.
Installieren
Dr. Anna Schäffler forscht praktisch und theoretisch zur Er
haltung von Kunst und Kulturgut an der Schnittstelle von
Kunstgeschichte, Restaurierung und Kuratieren. Ihre Faszination für das Potenzial Urbaner Praxis begann während ihrer
Arbeit bei der Zwischennutzung des Palastes der Republik in
Berlin (2003 – 2005). Anna ist Mitbegründerin von CoCooN,
einem Stadtlabor der Urbanen Praxis rund um die Erhaltung
von künstlerischen, kollektiven und urbanen Praktiken.
38
[Cooperation]
Die Stadt gilt als ein Habitat der Kooperation und logischer
Ort für das Entstehen von gesellschaftlichen Laborsituationen und sozialen Innovationen. Der urbane Raum bietet
beste Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Werkzeuge und Handlungsmodelle, um das Versprechen auf individuelle Lebensgestaltung als positive Errungenschaft der Moderne mit der sozialen Verfasstheit des Menschen stärker in
Einklang zu bringen. In der Tat kann man sowohl historisch
als auch aktuell argumentieren, dass es eher die Zusammenarbeit als der Wettbewerb ist, die die Menschheit am Leben
erhält. So sieht David Graeber die alltägliche Kooperation
als eine Basis und Konstante in der Menschheitsgeschichte
und bezeichnet sie als „elementaren Kommunismus“, ohne
den eine Gesellschaft nicht funktionieren kann.
Dem Stadtsoziologen Henri Lefebvre galten Städte immer als Œuvre. Damit wollte er sie nachdrücklich von einem warenförmigen Produkt abgrenzen und betonen, dass
Städte ein kooperatives Werk aller Stadtbewohner_innen
sind. Diese Entwicklung sah er als gefährdet und prognostizierte schon frühzeitig Entwicklungen wie Privatisierung,
Verdrängung oder globale Urbanisierung, die heute offensichtlich sind.
39
Kooperation
Kooperation
Kooperation
Die Suche nach alternativen Wegen, um den sozialen,
ökologischen und ökonomischen Herausforderungen zu
begegnen, hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren, der sich auch in den vielen Projekten einer Urbanen
Praxis zeigt. Im Ruf der Kommunen nach Zusammenarbeit
mit ihren Bürger_innen steckt aber auch ein gehöriges Maß
an neoliberaler Ideologie. Wichtige Diskussionen über die
Verteilung von Macht, Mitteln und den Zustand u
nserer
demokratischen Systeme bleiben gerne auf der S trecke.
Auch in Sachen Zusammenarbeit gilt es also genau zu
fragen, wer mit wem, wie und warum auf welcher Basis
kooperieren soll.
Das Schöne an der Kooperation der Urbanen Praxis ist
ihr Potenzial, sowohl ein völlig anderes Bild einer gewohnten Situation zu erzeugen, wie auch die urbane Umgebung
als stärker nutzbaren und lebenswerteren Raum zu inszenieren. Genau diese von Urbaner Praxis hervorgerufenen
neuen, anderen Bilder können Ahnungen der künftigen
Stadt im Hier und Jetzt stärken und konkretisieren.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive – Zeitschrift für
Stadtforschung und veranstaltet gemeinsam mit Elke Rauth das
urbanize! Festival. Er ist Teil des habiTAT -Hausprojekts „Bikes
and Rails“. Gemeinsam mit Andrej Holm hat er zuletzt den Band
„Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen“
(TU Academic Press 2021) herausgebracht.
40
[Manual (DIY )]
Schon seit den 1970ern gibt es zahlreiche Versuche, sich aus
Sicht der Partizipation und DIY-Kulturen kritisch mit Insti
tutionen und Konsumkultur auseinanderzusetzen. In dieser
Tradition wurzelt auch die Urbane Praxis. Durch ein experimentelles Verfahren („learning by doing“: Ausprobieren und
direktes Machen) und der Vielfalt an sozialen Begegnungen
werden Räume geschaffen, die noch nicht bestimmt und
verplant sind, sondern in denen durch eine bewusste Beteiligung eine Community/Gemeinschaft wachsen kann.
Sozialer Wandel sei in erster Linie eine räumliche Bedingung, so beschreibt es die Architektin und Künstlerin
Marjetica Potrč. Und wenn dies gelingt, dann entstehen
Orte, an denen die Einwohner_innen sich direkt engagieren und die eigene Lebensumgebung gestalten können. Das
gemeinsame Machen und Bauen sind dabei Werkzeuge
für eine räumliche und soziale Transformation (wer einen
Raum selbst herstellt, wird Teil davon und fühlt sich verantwortlich). Zudem bilden die entstehenden Objekte Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umgebung.
Die Hoffnung künstlerisch-aktivistischer P
rojekte der
Urbanen Praxis ist es, dadurch Möglichkeiten der demokratischen Kommunikation, der Vernetzung, des Empowerments
41
Manual (DIY )
Manual (DIY )
Manual (DIY )
und der Teilhabe zu bieten. In sozialen Bewegungen (vor allem in der DIY - und Frauenbewegung), die sich für einen
progressiven und demokratischen Wandel einsetzen, spielen
dabei selbst publizierte Zeitschriften und „Fanzines“ eine
wichtige Rolle. In solchen Heften, Flyern oder Pamphleten
werden (und wurden) Comics und Illustrationen sowie Umgangssprache für die Vermittlung von kritischen kulturellen
Inhalten verwendet. Das Zeichnen ist ein lebendiges, spekulatives Werkzeug künstlerischen Handelns, es kann Lernprozesse unterstützen und die Kommunikation zwischen Menschen erleichtern, die nicht dieselbe Sprache sprechen.
Kulturelle Produktion und die Praxis bleiben oft getrennt. Wünschenswert wäre, dass sie sich etwas näherkommen, sich im Sinne von Donna Haraway v oneinander
„kontaminieren“ lassen und zugänglicher werden für
„Nicht-Expert_innen“ (ein diverses, mehrsprachiges, nichtakademisches Publikum).
ftts / Federica Teti: Seit 2015 arbeiten die Architektin und Grafikerin Federica Teti und der Bildhauer und Performer Todosch
Schlopsnies in partizipativen Strukturen mit Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen (mit und ohne Fluchthintergrund). In Workshops unterschiedlicher Formate wird gebaut, gegärtnert, erfunden
und gespielt. Im Vordergrund steht, neben der unmittelbaren
Erfahrung kultureller Teilhabe über alle Herkunfts- und Sprachgrenzen hinweg, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, was man
alleine nie hinkriegen würde und außerdem großen Spaß macht.
Seit 2020 künstlerische Leitung von Pilot Stadtwerk mrzn (S27).
42
Mehr Parkplätze!
Beim Betrachten der Stadt passiert Ähnliches wie beim Augenspiel mit einem Vexierbild: Der eingeübte Blick spürt als
erstes Figuren nach, die er bereits kennt. Von einem etablierten Bildeindruck kann man schlecht wieder loskommen,
selbst wenn sich Fehler abzeichnen, Konditionen und Bedarfe verändern. Urbane Praxis wechselt stets die Perspektive auf
das Städtische und stellt probeweise Bilder auf den Kopf.
Im Mannheimer Ordnungsamt ist ein Streit darüber
entbrannt, ob Herr Kleeberg, passionierter Radfahrer und
Angestellter der Hochschulverwaltung, mit seinem mobilen
Gartenbeet auf einem Fahrradhänger einen städtischen
Parkplatz belegen darf. Das einschlägige Argument der
Stadtverwaltung gegen den „Falschparker“ lautete „Parkdruck“. Ein neues Parkstück in der Stadt ist nicht durch die
Straßenverkehrsordnung geregelt, wieso eigentlich nicht?
Schieben wir das Gartenmobil also ein Haus weiter, vom
Straßenverkehrsamt zum Grünflächenamt. Wir hätten es
ahnen können – das fahrende Grün trifft hier brüsk auf
amtliche Unzuständigkeit; als Daten des Grünflächenkatasters können nur stehende Flächen erfasst werden.
Wie sich täglich an den Verschiebungen demografischer, sozialer, ökologischer und kultureller Koordinaten
43
Mehr Parkplätze!
[More Park(ing) Spaces!]
Mehr Parkplätze!
des Stadtkörpers beobachten lässt, reichen die tradierten
Themenzuschnitte der Verwaltung nicht mehr aus. Die
F luidität und Verknüpfungen drängender Fragen verlangen
nach Zusammenarbeit der Planungs- und Verwaltungsebenen, nach Wissenstransfer und Querverbindungen unter
Expert_innen und nach Beteiligung aller Menschen, die
Stadt aus / machen und gestalten.
Wie sieht das aus, das Neue, Mögliche? Die Urbane
Praxis tickt künstlerisch: Mit Visualisierungen, Performances und „strukturellen Infektionen“ kann Gewohntes
verschoben werden und Zukünftiges durchscheinen. Mit
den bisherigen Regularien, Prüfverfahren und Planungstools wird sich der neue Lebensraum „Stadt“ nicht ausformen lassen. Stadtentwicklung, die bei der Retrospektive
ansetzt, „so-wie-es-einmal-war“, wird grundlegende Fehler
nur flicken und Problemzonen optimieren. Impulse aus
dem In- und Ausland, Kooperationen und empathische
Zusammenarbeit quer durch alle Amtsstuben sind jetzt
hilfreich. Und Modellversuche, kreative Baustellen, neue
„Figuren“ – eine forschende Urbane Praxis, die radikal ausprobiert und Unerwartetes setzt.
Barbara Meyer ist Leiterin des Kulturzentrums S27–Kunst
und Bildung in Berlin Kreuzberg. Sie wuchs in der Schweiz auf
und studierte Bildende Kunst. Im Jahr 2006 organisierte sie im
Auftrag des Rates für die Künste die Kampagne OFFENSIVE
KULTURELLE BILDUNG . Sie ist Mitglied im Berliner Flüchtlingsrat und Mitbegründerin der Initiative Urbane Praxis.
44
Nicht-Disziplinär
Urbane Praxis wird oft in einem Feld gemacht, das scheinbar gar nicht existiert, das von einigen, aber nicht von allen
gesehen wird. Die Beschreibungen der Praxis waren deshalb lange Zeit von langen Aufzählungen von Disziplinen
gekennzeichnet, in deren Zwischenraum sich die Praktiker_innen verorten. Gearbeitet wird zwischen den Feldern
der Architektur, Stadtentwicklung, Kunst, dem Sozialen und
der Bildung. Da all diese Begriffe mit großen institutionellen Formalisierungen verknüpft sind (Ministerien, Schulen,
Museen, Universitäten, Planungsämter, Kammern, etc.), ist
es um so schwieriger, neue Verbindungen zu konstruieren,
die von den Akteur_innen innerhalb der jeweiligen Disziplin auch gelesen und mit der eigenen Praxis verbunden
werden können.
Warum das Nein und die Ablehnung, Urbane Praxis
mit Disziplin verbinden? In dieser Ablehnung steckt die
Lust, aber auch die Notwendigkeit, die Grenzen der erlernten Disziplinen nicht nur zu übertreten, um zwischen den
Disziplinen (interdisziplinär) nach Austausch und neuen
Formen des Wissens zu suchen, sondern auch bestimmte Codes und Vorgehensweisen der erlernten Disziplinen
aktiv zu verlernen, um anderen Wissensformen Raum zu
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Nicht-Disziplinär
[Nondisciplinary]
Nicht-Disziplinär
geben. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass wir so die
neuen Wege finden, um alte Muster hinter uns zu lassen
und die komplexen Veränderungen, die wir gestalten müssen, anpacken können.
Markus Bader ist Mitbegründer der Gruppe raumlaborberlin.
Seit 2016 leitet er das Fachgebiet Entwerfen und Gebäudeplanung am Institut für Architektur und Städtebau an der UdK
Berlin. Er ist Mitglied im Rat für die Künste Berlin und engagiert
sich in den Initiativen Haus der Statistik sowie Urbane Praxis.
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Niedrigschwellig
Kunst und Kulturinstitutionen gestalten ihre Angebote häufig für ein Publikum, das sich als bildungsnah und vielleicht
sogar akademisch geprägt bezeichnen würde. In der Kommunikation dieser Angebote werden gerne altsprachliche Wortelemente genutzt (griechisch, lateinisch) oder neusprachliche
Internationalismen zum Beschreiben aktueller Phänomene
herangezogen. Die inhaltlichen – gerne als ‚diskursiv‘ oder
‚kritisch‘ bezeichneten – Themen dieser Angebote sind häufig
abstrakt und vermeiden zu viel Nähe zu praktischen Alltagsfragen, um nicht als ‚banal‘ verurteilt zu werden. Die Angebote sind nicht selten auch für das Publikum schwer verständlich und trennen so auch innerhalb der Adressatengruppe
den Weizen der Verstehenden vom Spreu der Unwissenden.
Diese Form des Ausschlusses bzw. der Unterscheidung wird
als soziale ‚Distinktion‘ bezeichnet und u. a. vom Soziologen
Pierre Bourdieu ausführlich untersucht und beschrieben.
Wenn hingegen von ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten
die Rede ist, so ist häufig der Versuch gemeint, eine oben
beschriebene Form der Exklusion zu vermeiden. In der
Urbanen Praxis erfolgt dies über die Wahl der Inhalte, z. B.
werden auch alltagsrelevante Fragen thematisiert, über die
Form des Aufführungsortes jenseits der ornamentbefreiten
47
Niedrigschwellig
[Low-Threshold]
Niedrigschwellig
Weißwandwelt und über die Art der Ansprache bzw. Sprachwahl. Weitere Attribute sind ‚bezahlbar‘, ‚unbürokratisch‘ sowie Anreizelemente wie Speisen und günstige Getränke.
Eine nachhaltige strukturelle Niedrigschwelligkeit kann
erreicht werden, indem Entscheidungs- und Verantwortungsfragen für möglichst diverse Akteur_innen zugänglich
gemacht werden. Hier bedarf es in der gegebenen administrativen Sprachkultur einer nicht unwesentlichen Übersetzungsleistung, die wiederum die Gefahr eines Machtgefälles
in sich birgt.
Auch stellt die Vermittlung komplexer Inhalte, Praxen
und Strukturen eine Herausforderung dar: Wie kann eine
breite Zugänglichkeit aufrechterhalten werden, ohne allzu
verkürzt oder gar populistisch daher zu kommen?
‚Niedrigschwellige‘ Formate können vor allem bei der
Arbeit im öffentlichen Raum eine wichtige Vermittlerrolle spielen und Begegnung zwischen Menschen mit
unterschiedlichen Hintergründen, Bildungschancen und
Milieuzugehörigkeiten ermöglichen und so das Ideal einer
diversen, integrierten und offenen Stadt erlebbar machen.
Matthias Einhoff ist Co-Direktor des Zentrum für Kunst und
Urbanistik (ZK / U ). Das ZK / U verbindet globale, urbane Diskurse
mit einer lokalen, künstlerischen Praxis und fördert den wechselseitigen Wissensaustausch von Stadtmacher_innen über analoge
und digitale Formate. Matthias ist leidenschaftlicher Ermöglicher
kollektiver Prozesse.
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[Partisanship]
Wenn wir wollen, dass gesellschaftliche Konflikte die
konstitutive Triebkraft einer neuen, kritischen und fortschrittlichen Urbanen Praxis bilden, dann stellt sich die
Frage nach Akteur_innen und Themen dieser Konflikte – danach, welche Subjekte, Haltungen und Unterscheidungen die Ausgangs- und Bezugspunkte dieser Konflikte
darstellen. Wie diese Positionierungen innerhalb von Auseinandersetzungen organisiert und repräsentiert werden
können, ist keine banale Frage. Die historische Antwort
darauf waren mit gewisser Berechtigung parteiische Versammlungen und Interessensvertretungen wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Lobbygruppen, Vereine, Verbände und Institutionen und insbesondere die politischen
Parteien. Ich möchte das Parteiische als Notwendigkeit
jeder Urbanen Praxis hervorheben und für ein parteiisches
Design plädieren.
Parteiisches Design ist jedoch nicht die Gestaltung der
Arena möglicher Auseinandersetzung, nicht die Gestaltung vermittelnder Strukturen und partizipativer Prozesse
des Austauschs, des Kompromisses und des Einvernehmens. Parteiisches Design versteht Gestaltung nicht als
49
Parteilichkeit
Parteilichkeit
Parteilichkeit
Tätigkeitsfeld distanzierter oder einfühlsamer Beobachter_
innen oder mutiger wie auch sensibler Interventionist_innen. Nicht als letztlich übergeordnete Perspektive auf
das gesellschaftliche Spiel der Differenzen. Parteiisches
Design verortet das Entwerfen direkt in den Konflikten,
in den dort verhandelten Dingen und Themen und bei den
Akteur_innen dieser Auseinandersetzungen und ihren Haltungen. Design schlägt sich auf eine Seite.
Was fies klingt – parteiisch sein – und was auch wirklich
gemein sein kann, weil es den gerechten Wettkampf verzerrt und keine objektive und neutrale Position darstellt, ist
in der Praxis der Gestaltung erstens immer der Fall – wenn
auch meist uneingestanden – und zweitens nötig. Einem
parteiischen Design reicht es nicht mehr, ein humanistisches Weltbild vorzuweisen, eigene Vorstellungen vom
guten Leben auf andere zu projektieren und redlich auf
der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten zu sein. Dieses harmonische Bild muss durch eines von unauflösbaren
Konflikten gezeichnetes ersetzt werden. Gemeinsam mit
den Akteur_innen und Themen dieser Konflikte könnte
tatsächlich in die politische Ebene der Auseinandersetzung
um Idee und Praxis des Zusammenseins als gelebte Form
des Streitens eingetreten werden.
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Parteilichkeit
Jesko Fezer arbeitet als Gestalter zu gesellschaftlichen Relevanz
entwerferischer Praxis. In Kooperation mit ifau (Institut für
angewandte Urbanistik) realisiert er Architekturprojekte, ist M
itbegründer der Buchhandlung Pro qm in Berlin sowie Teil der
Kooperative für Darstellungspolitik. Er gibt die Bauwelt Fundamente und die Studienhefte für problemorientiertes Design
mit heraus. Er ist Professor für Experimentelles Design an der
Hochschule für Bildende Künste Hamburg und betreibt mit
S tudierenden seit 2011 die Öffentliche Gestaltungsberatung
St. Pauli.
51
Partizipation
oder: How to sell Grandmothers
Partizipation
[Participation]
Der Begriff Partizipation ist schon in seiner Definition uneindeutig und schwankt zwischen Teilhaben, Teilnehmen
und Beteiligung. Bestenfalls gemeint ist damit ein Gestaltungsprinzip im Sinne von Mitwirkung. Dabei liegt ein
Grundproblem von Partizipation in ihren Rahmenbedingungen, die selten besprochen werden: Wer beteiligt hier
eigentlich wen, an was und warum? Stattdessen werden
die Methodenkoffer gepackt und Partizipationsprofi XY
steigt in den ICE von A nach B, um irgendwas irgendwo
hin- oder wegzupartizipieren – je nach Auftrag. In einem
mehr oder weniger kreativ gestalteten Prozess werden dann
mehr oder weniger beteiligte und / oder anteilnehmende
Menschen aufsuchend befragt, die Antworten auf bunte Karten sortiert, mit Klebepunkten behaftet und daraus
dann – manchmal mehr, meistens weniger transparent – irgendein Konsens katalysiert, der eventuell dem Kontext, in
jedem Fall aber dem Auftrag dienlich ist.
Das bringt uns direkt zum größten Knackpunkt in
der Sache: Partizipation ist keine Dienstleistung, sondern die Grundlage unseres Zusammenlebens in einer
52
53
Partizipation
demokratischen Gesellschaft. Wer sich jetzt also in diesem
Feld bewegt, das in der Urbanen Praxis ja aus genau diesem Grund eine nicht wegzudenkende und extrem wichtige Rolle spielt, sollte sich immer wieder bewusst machen,
wofür dieses Gestaltungsprinzip angewendet werden sollte:
um Zugänge zu Verantwortung zu schaffen und um tatsächliche Mitwirkung zu ermöglichen. Wenn man es ernst
meint mit der Partizipation, dann kann man sie nicht
vom E
rgebnis her denken, und dann kann man auch keine wahllos s kalier- und reproduzierbaren Methoden in
einen Koffer stecken und damit nach Egal-wohin fahren,
wie ein S taubsaugervertreter. Kann man natürlich schon,
aber dann ist es halt Stadtmarketing und / oder politische
Legitimierungshilfe.
Echte Partizipation muss ergebnisoffen und s ituativ
sein. Dazu braucht es eine gewisse Autonomie in der
Durchführung, die selten gegeben ist – auch im Förderkontext nicht, wo meist schon im Vorfeld der „Impäääct“
abgefragt wird.
Wir brauchen an dieser Stelle ein neues Selbstverständnis für unsere Arbeit – und mir hilft dabei eine Idee aus der
Kunst. Wenn wir nämlich Partizipation als Soziale Plastik
begreifen würden (was sie ist), fiele es uns vielleicht auch
leichter, die Notwendigkeit eines autonomen Schaffensprozesses einzufordern, wie er in der Kunst elementar ist und
vor Geldgebenden (selten) erklärt werden muss. Schon klar,
dass das mindestens so viel Vermittlungsarbeit bräuchte wie
Partizipation
die Ideen von Joseph Beuys. Das scheint mir aber vielmehr
Teil der Aufgabe zu sein, als das Sortieren von Meinungen.
Denn das hat mit Gestaltung recht wenig zu tun, auch wenn
es gut gemeint ist. Gut gemeint ist halt nicht gut gemacht.
Kannste jede Oma fragen.
Ivana Rohr ist Künstlerin und ein Teil von endboss. Endboss
ist ein interdisziplinäres Studio für Raumfragen und -antworten
in allen Maßstäben.
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Plattform
Digitale Plattformen haben in den letzten Jahren erheblichen Einfluss auf die Gestaltung urbaner Räume genommen. Sie unterlaufen herkömmliche Dienstleistungsangebote, erschließen noch nicht besetzte Nischen städtischen
Bedarfs, verbinden unterschiedliche Gruppen direkt miteinander, suggerieren soziale Zugehörigkeit und stimulieren
auf diese Weise neue Formen des Arbeitens, Zusammenlebens, Lernens, Kommunizierens und Konsumierens. Von
Online-Shopping und Co-Working-Spaces bis zu plattformbasierten Bildungs-, Wohn- und Mobilitätsangeboten
versprechen Plattformen, das Leben ihrer Mitglieder einfacher, genussvoller und aussichtsreicher zu gestalten. Nicht
nur der individuell erzielte Nutzen, sondern auch die Idee
einer neuen Art von Gemeinschaft mit geteilen Interessen,
Werten und Anschauungen ist ein wesentlicher Teil der
Attraktivität vieler digitalen Plattformen.
Um erfolgreich zu sein, sind kommerzielle Plattformen
auf Netzwerkeffekte und damit verbundendes Wachstum
angewiesen. Je mehr Interaktionen eine solche Plattform
abwickelt, umso mehr Daten können gewonnen und für
weitere Expansionsversuche eingesetzt werden. Global agierende Plattformen beeinflussen städtisches Verhalten, indem
55
Plattform
[Platform]
Plattform
sie Nutzer_innen Zugang zu bequem konsumierbaren Services weltweit anbieten. Deren Nebenwirkungen verändern
den konkreten städtischen Raum und das Leben in ihm
sehr häufig negativ: Mietsteigerungen, Gig-Work, erhöhtes Verkehrsaufkommen, Umweltbelastungen, soziale und
räumliche Segregation.
Angesichts der Folgen dieser Entwicklung stellt sich
die Frage, wie eine sozial, politisch und ökologisch verantwortungsvolle Urbane Praxis auf Plattformen ablaufen und
das gestalterische Potenzial von Plattformen selbst in die
Hand nehmen kann. Wege der Aneignung dieses Potenzials eröffnen sich zum einen durch den Umstand, dass die
wichtigste Ressource von Plattformen die jeweiligen Nutzer_innen und deren Interaktionen selbst sind – die Art
der Inanspruchnahme einer Plattform kann somit auch
abweichenden bzw. subversiven Charakter haben. Zum
anderen können die technologischen Möglichkeiten von
digitalen Plattformen – direkte Vernetzung, Echtzeitkommunikation, Koordination translokaler Öffentlichkeiten – auch jenseits von Gewinninteressen eingesetzt
werden, um etwa Interessensgruppen, Hausgemeinschaften
oder kooperativen Verbänden eine Aktionsbühne für urbanen Austausch, wechselseitige Unterstützung und Solidarität zu bieten.
56
Plattform
Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer arbeiten als Architekturforscher, Autoren und Kuratoren in London und Wien.
Sie leiten das Centre for Global Architecture und lehren an der
TU Wien und am Goldsmiths, University of London. Zu ihren
Projekten zählen u. a. die EU - und FWF -Projekte Networked
Cultures (2005 – 08), Relational Architecture (2006 – 09), Other
Markets (2010 – 15) Data Publics (2016 – 21), Incorporating
Informality (2018 – 23) und Platformed City (2022 – 26) sowie
der österreichische Beitrag zur Architekturbiennale Venedig
2021 zum Thema Plattform-Urbanismus.
57
Quartier des Trivialen
Quartier
[Quartier]
Kann ein Wort den Stadtraum entpolitisieren? Oder wenigstens unseren Blick darauf ? Sprache wandelt sich, Wörter verändern ihre Bedeutung, werden verworfen, ersetzt oder, was
eher ärgerlich ist, zu Worthülsen. Um welche Wörter müssen
wir kämpfen? – Gemeinwohl. Welche können wir gar nicht
mehr hören? – kreativ. Und welche Wörter schleichen sich in
den Diskurs und werden uns nie gehören?
Das Quartier als Synonym für Stadtviertel ist in der
deutschen Alltagssprache eher ungebräuchlich. Es ist ein
Begriff der Bauträger, die in ihren Werbetexten neue, lebendige und kreative Quartiere anpreisen. Es ist ein Begriff der
Verwaltung, wenn sie heute nicht mehr von Wohngebieten,
sondern Wohnquartieren spricht; es ist Stadtentwicklung
von oben wie im Quartiersmanagement.
Weil die neuen Berliner Innenstadt-Quartiere hauptsächlich aus breiten Einkaufsstraßen, touristischen Attraktionen, Bürogebäuden und Hotels mit dunklen Glasfassaden bestehen, fällt es schwer, dem Quartier die gleiche
Bedeutung beizumessen wie den vertrauten Begriffen:
das Viertel, in dem Du aufgewachsen bist, die Kiezkneipe in der Nachbarschaft, Dein Block, Deine Hood. Das
Quartiersmanagement wiederum organisiert z. B. „[…]
58
Jenny Goldberg, Stadtteilbüro Friedrichshain, ist eine Berliner
Raumaktivistin und interdisziplinäre Künstlerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Methoden kollektiver Produktionsprozesse
und insbesondere die Rolle soziokultureller Zentren als informelle Akteure der Stadtentwicklung. Seit 2020 moderiert sie die
monatliche Radiosendung Fassadenfunk.
59
Quartier
Partizipationstreffen, auf denen zwar mehr Experten als
Anwohner anwesend sind, die aber dennoch als Momente der
politischen Teilhabe lokaler Bevölkerung gefeiert werden. Oder
Informationsveranstaltungen, auf denen die kritische Meinung
der lokalen Bevölkerung auf die Meinung der hochqualifizierten und professionellen P
laner trifft.“ (Mössner 2015, 308). Als
Instrument der Depolitisierung in der neoliberalen Stadt
beschreibt es Mössner und bringt die Kritik der Stadtgesellschaft am Quartiersmanagement gut auf den Punkt.
So ist der Alltagsbegriff von Quartier in Bezug auf Stadt
entweder mit der Verwertung von Raum oder mit der Administration vom Mitgestaltungswillen ihrer Bewohner_innen
verknüpft. Wenn wir aus Perspektive der stadt- und mietenpolitischen Bewegung fragen, welche Begriffe wir (wieder-)
aneignen müssen, fragen wir doch auch, welche lieber nicht!
Mit dem Quartier verbindet die Erfahrung nichts Emanzipatorisches, keine Selbstermächtigung. Es bleibt ein Wort
aus der Vogelperspektive, dem die politische D
imension der
STRASSE fehlt: Als Ort der Begegnung und Unterschiedlichkeit, der Versammlung und des Protests.
Raumaneignung als
Raumproduktionen
Raumaneignung
[Claiming Space]
In der zeitgenössischen Kunst kennt der Raumbegriff keine
Grenzen. Der Raum hat längst seine physische Ausdehnung
überwunden und ist selbst zum künstlerischen Material
geworden; auch soziale Gefüge und Machtstrukturen werden heute unter dem Begriff des Raums gefasst – und zum
Gegenstand künstlerischer Bearbeitung. Die historische
Entwicklung hin zu einer Entgrenzung des Raums sowie
der Künste stellt selbst einen Prozess von Raumaneignungen dar.
In der Kunst entwickelte sich der Raumdiskurs im
20. Jahrhundert; Künstler_innen erkundeten verschiedene
Raumvorstellungen (u. a. Kubismus, Konstruktivismus)
und mit Kurt Schwitters „Merzbau“ (ca. 1923) wurde
der reale Raum selbst zur Kunst. Mit der konzeptuellen
Verschiebung weg von einer Darstellung hin zu einer Herstellung von Raum übertrat die künstlerische Raumanalyse
eine erste Schwelle.
Nach der Zäsur durch den 2. Weltkrieg begann in den
1940er und 1950er Jahren eine eingehende Beschäftigung
mit dem Bildraum sowie den Bedingungen des Mediums
60
61
Raumaneignung
Malerei und in Folge mit der Verfasstheit der physischen
und institutionellen Räume der Kunst. Bald darauf verließ
eine neue Avantgarde diese etablierten (Re-)Präsentationsräume, um ihre Arbeiten im eigenen Studio oder in verschiedenartigen öffentlichen Räumen zu zeigen – oder um
selbst gänzlich neue Räume (und Orte) zu erschaffen.
Die Produktion von sogenannten Alternative Spaces
und Lofts stellt eine zweite Form der Aneignung von
Raum dar. Die genuin neuen künstlerischen P
raktiken
der 1960er und 1970er Jahren lösten gleichzeitig die
G renzen zwischen den Künsten auf und schufen diese
neuartigen Formen von Arbeits- / Lebensräumen. Mit der
Installationskunst entstand darüber hinaus eine raumgreifende Kunstform, die auch die „Betrachter_innen“ implizit
körperlich involviert.
Diese Praktiken entstanden zeitgleich mit dem einsetzenden Paradigmenwechsel der räumlichen Wende (spatial turn),
die realen Raum per se als sozialen Raum definiert. Ausgangspunkt dafür ist die Theorie der p
rozessualen Raumproduktion des französischen neomarxistischen Philo
sophen Henri Lefebvre. Der raumtheoretische Diskurs
dazu etablierte sich jedoch erst in den 1990er Jahren in
den Sozialwissenschaften, um nach der Jahrtausendwende
disziplinübergreifend Einzug zu halten. Die zentrale These
in Lefebvres Buch „La Production De L’Espace“ (1974)
lautet, dass jede Gesellschaftsform ihren eigenen Raum
produziert, der in einem fortwährenden wechselseitigen
Raumaneignung
Prozess diese wiederum bedingt, sodass Raum (als eine Art
Meta-Raum, der alle Konzeptionen von Raum umfasst,
vom gebauten über den politischen bis hin zum Raum der
Energieflüsse) immer als sozialer Raum verstanden werden
muss. Im globalen Kapitalismus moderner Gesellschaften
sei Raum darüber hinaus zwangsläufig urbaner Raum.
Zeitgenössische künstlerische Raumaneignungsstrategien umfassen legale sowie illegale Handlungen, temporäre
Aktionen wie langfristige Planungen, große Setzungen aber
auch poetische, ephemere Situationen, und arbeiten mit Innen- und Außenräume. Gemein ist ihnen, dass sie in das
wechselseitige Verhältnis von Raumaneignung und Raumproduktion eingreifen. Während künstlerische Praktiken
Prozesse initiieren, sind die daraus entstehenden Räume
temporär und etwaige langfristige Effekte stets Ergebnisse
von Aushandlungsprozessen, die nur bedingt künstlerisch
formbar sind. Laut Lefebvre tragen sie jedoch das revolutionäre Potential in sich, die vorherrschende kapitalistische
Raumproduktion in Frage zu stellen. So weist er der Kunst
gar eine utopische Rolle zu: „On the horizon, then, at the
furthest edge of the possible, it is a matter of producing the
space of the human species—the collective (generic) work
of the species—on the model of what used to be called ‘art’
[…].“ (Lefebvre 1993, 422).
62
Raumaneignung
Friederike Schäfer ist Kunstwissenschaftlerin (F U Berlin; UoW ,
Seattle; Bard Graduate Center, NYC ; HU Berlin; HfG Karlsruhe;
COOP Design Research, Dessau) und forscht als Postdoc am
EXC „Temporal Communities“ (F U Berlin) zu Ausstellungen
zum Thema Anthropozän. Ihre Dissertation „Claiming Space(s).
L ocating Suzanne Harris’ Dance Practice and Ephemeral Installations within New York City in the 1970s“ (HU Berlin) erscheint
2022 bei De Gruyter. Sie realisiert interdisziplinäre Projekte
(u. a. nGbK Berlin; Bauhaus Dessau; Badischer Kunstverein KA ;
Kunstverein Harburger Bahnhof, HH ) und ist Mitbegründerin
von CoCooN Berlin.
63
Reproduktiver
Urbanismus
Urbane Reproduktion
Reproduktiver Urbanismus
[Reproductive Urbanism]
Die historische Entstehung der Moderne nahm in Form
der Urbanisierung materielle Gestalt an. Die auf den Ideologien des Rassenkapitalismus, des kolonialen Heteropatriarchats und des menschlichen Exzeptionalismus basierende
Moderne drückte sich in den sozio-ökologischen Beziehungen aus, die durch die Steuerung der Städteplanung
definiert und die Ökonomie des Bauens umgesetzt wurden. Dazu gehörte die Organisation von Arbeit, Wohnen,
Mobilität, Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen sowie die räumliche Gestaltung des öffentlichen Lebens und der Freizeit.
Die baulichen, materiellen und räumlichen Prozesse der
modernen Urbanisierung basierten auf den Paradigmen von
Produktion, Wachstum, Innovation und Fortschritt. Folglich sind diese Paradigmen zu einer Selbstverständlichkeit
für das geworden, was als wichtig für Städte und die u rbane
Transformation gilt: Städte müssen wachsen, produktiv,
innovativ und fortschrittlich sein.
64
65
Reproduktiver Urbanismus
Seit den Anfängen der Moderne lenken feministisches
politisches Denken und Aktivismus die Aufmerksamkeit
darauf, dass die für das Leben und Überleben wesentliche
spezifische Arbeit durch die herrschenden wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und politischen Strukturen prekär gemacht wurde. Durch diese Strukturen wurden die lebensgestaltenden Praktiken abgewertet und diejenigen, die diese
Arbeit verrichteten, unfrei und abhängig gemacht, ausgebeutet und von der vollständigen Teilhabe am politischen,
sozialen und kulturellen Leben ausgeschlossen. In Anlehnung an das Marx’sche Denken ist diese Arbeit eine reproduktive Arbeit.
Das Überleben der Städte als Ganzes hängt von der urbanen reproduktiven Arbeit ab, kurz gesagt, von der urbanen
Reproduktion. Diese Arbeit ist heute weltweit abhängig von
Klasse, Geschlecht, Rasse und Sexualität. In sämtlichen Städten erhält die sozio-ökologische Reproduktion Leben, Umwelt sowie physische, technologische oder digitale Infrastrukturen aufrecht. Urbane Reproduktion ist auf allen Ebenen
und zu allen Zeiten erforderlich, um das Leben der Stadtbewohner_innen zu erhalten und die Infrastruktur der Städte
am Laufen zu halten. Der gegenwärtige und künftige wirtschaftliche und politische Wandel muss daher von der Interdependenz der Reproduktion ausgehen. Nur wenn der Wert
der urbanen Reproduktion politisch und ökonomisch in den
Mittelpunkt gestellt wird, können sich die Bedingungen für
diejenigen verändern, die die urbane Reproduktion leisten.
Reproduktiver Urbanismus
Die Urbane Praxis kann durch Forschung zu dieser
Umkehr beitragen, indem sie die materiellen, ökologischen
und immateriellen Dimensionen der Orte als reproduziert
versteht. Die historische und zeitgemäße Erforschung der
materiellen, ökologischen, infrastrukturellen und immateriellen urbanen Reproduktion von Orten kann dazu beitragen, Städte aus dem Blickwinkel der Reproduktion zu
verstehen. Einige Standorte werden besser gepflegt, andere
sind durch strukturelle Nachlässigkeit und mangelnde Investitionen in die urbane Reproduktion zu prekären Orten
geworden. Und die Urbane Praxis kann dazu beitragen, die
urbane Reproduktion zu verändern, indem sie diese wichtige Arbeit auf eine andere Art und Weise mit all jenen
leistet, die Teil der Orte sind, an denen die Urbane Praxis
sichtbar wird und stattfindet.
Dr. Elke Krasny ist Professorin für Kunst und Pädagogik und
Leiterin der Abteilung für Kunstpädagogik an der Akademie der
bildenden Künste Wien. Die Ausstellung und der Sammelband
„Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet“,
2019 kuratiert und herausgegeben zusammen mit Angelika Fitz,
führt eine Care-Perspektive in der Architektur ein, die sich
mit den anthropozänen Bedingungen der globalen Gegenwart
auseinandersetzt.
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[Social Work]
Diejenigen von uns, die per Status in einem Sozialstaat
leben, in dem der Grundgedanke ist, allen Menschen bei
Bedarf Hilfeleistungen zur Verfügung zu stellen, können
sich glücklich schätzen. Finden wir uns in diesem System
nicht zurecht oder sind exkludiert von diesem, gibt es Strukturen der Sozialarbeit, die uns dabei helfen sollen. Man
wird als hilfsbedürftig angesehen, gesellschaftlich eine sehr
passive Position.
Urbane Praxis schafft Identifikationsorte aktiven Handelns. Ein physischer Ort, der gemeinsam gestaltet und an
dem gemeinsam eine Kommunikationsform gefunden werden muss. Dies baut soziale Beziehungen auf und macht
Menschen zu Entscheider_innen. Sie werden trotz ihrer
„Hilfebedürftigkeit“ mündige Gestalter_innen ihrer Stadt.
Die Soziale Arbeit als Urbane Praxis bedeutet darin, Anwältin sein zu können zwischen beispielsweise Ämtern und Einzelpersonen, aber vor allem Anwältin zu sein für eine Gesellschaft, die sich aus sich heraus berät und gestaltet.
Vera Fritsche ist Projektleiterin des Pilot Stadtwerk mrzn sowie
Programmkoordinatorin und Pädagogische Leitung der S27–
Kunst und Bildung. Sie arbeitet seit 10 Jahren im Kontext von
partizipativen Projektprozessen im öffentlichen Raum.
67
Soziale Arbeit
Soziale Arbeit
STRESS + STRASSE
[ STRESS + STREET ]
STRESS + STRASSE
Als ich vor vierzehn Jahren in meine Wohnung zog, war ich
sicher, sie würde eine Zwischenstation sein. Vielleicht lag
es an den Niedrigdecken, dem dottergelben Wandanstrich
oder den sparsamen, quadratischen Fenstern; jedenfalls
fühlte sie sich ungewohnt an. Nach Rückschritt oder einem
viel grundlegenderen Umzug, als ich ihn vorgehabt hatte.
Doch ich mochte die Bedingungen der Wohnung. Die
großen Zimmer lagen nach Südost, die Fenster zeigten
nichts als Licht und freien Himmel.
Dann wechselten die Blätter die Farbe, die Häuser die
Besitzer, die Wohnungen die Preise und ich, ich strich die
Wände in sanfteren Tönen.
Das war, als der Wohnungsmarkt einfror und der lange
Winter der Spekulation begann.
Heute kitzeln meinen Aussichtshimmel hochgewachsene Baumkronen. Darunter liegt eine veränderte Stadt.
Doch verlasse ich meine Wohnung und spaziere in der
Stunde der einsetzenden Dämmerung über die Kottbusser
Brücke, dann werde ich immer noch oft von Aufregung erfasst. Eine Erregung, die Geschehnisse und Anwesende zusammennimmt und mit der gebauten Umgebung verwebt.
Zwischen aufflammenden Lichtern, eiligen Passant_innen,
68
69
STRESS + STRASSE
aufgeschreckten Taubenschwärmen und blinkendem Feierabendverkehr entspinnt sich eine Welt der Möglichkeit, die
kaum zur Mittagszeit aufscheint. Es ist die Stunde der unverhofften Begegnung, der mischenden Sphären, die Stunde
des Unfalls und des Zusammenstoßes, der Kakophonie und
der sehnsüchtigen Unruhe – es ist die vielleicht städtischste
Stunde von allen.
Nur wenige Schritte bis zum Dreh- und Angelpunkt
meines Lebens, es hat sich über die Jahre im 5 Minuten-
Radius des Kottbusser Tors gehalten. Meine vorherige
Wohnung lag gleich direkt dahinter, neben einer für ihren
Uringeruch berüchtigten Gasse. Für einige Jahre war sie
zum Mekka internationaler Street Art aufgestiegen, junge
Menschen und Art-Directors pilgerten hierhin, M
odels
p osierten vor grindigen Betonmauern und codierten
Schriftzügen. Heute scheint das niemals passiert zu sein,
eine Adelung flüchtiger als der Sonnenuntergang.
Vom Balkon des Wettbüros lässt sich der Platz gut
überschauen. Während sich unten eilende Angestellte und
Wohnungslose, Ausgegrenzte und Nachtschwärmer_innen,
Geflüchtete und Expats, Urberliner_innen und Tourist_innen, Kulturelite und Proletarier_innen, Queers und gläubige Muslim_innen, Dealer und Polizei zum Kollektiv der
Straße mischen, türmen sich über diesem Ort und denen,
die ihn ausmachen, soziale Widersprüche, soziale Debatten
und nochmal darüber – noch etwas zugreifender, noch etwas
drohender – allgegenwärtige Kapitalinteressen.
STRESS + STRASSE
Ein letztes Mal leuchtet nun der Himmel auf, taucht den
trotzigen Fleck in ein fremdes, überwältigendes Licht. Es
mag aus Damaskus, Addis, Moskau herüberscheinen oder
von dort hinten, der vergessenen Passage. Jedenfalls von
dort, wo die Stadt auch Wohnraum ist und das geteilte Leben nicht ganz aus ihr verbannt.
Was aus dem Stress der Straße leuchtet, ist das Licht der
Möglichkeit.
Mitten im Winter, eine Ahnung von Frühling.
Die 1979 in Khartum / Sudan geborene Autorin Elisa Aseva
lebt und arbeitet in Berlin. Seit Jahren veröffentlicht sie poetische
und politische Betrachtungen auf Facebook und anderen digitalen Medien. Asevas autofiktionale Kurztexte bedienen sich
auch essayistischer und lyrischer Formen und finden in diesem
Nebeneinander zu kaleidoskopischer Ordnung. 2021 erschien
ein S ammelband mit ihren Arbeiten unter dem Titel
„ ÜBER S TUNDEN “ im Weissbooks Verlag.
70
[Terrain Vague]
Die Planung und Nicht-Planung in ihrer Aufgeräumtheit und
Unaufgeräumtheit:
Die architektonische und städtische Planung beginnt oft
mit dem technischen Aufmaß des Bestehenden und versucht in Folge, über die räumlichen Maße Urbanität und die
größtmögliche Nutzungsbandbreite sicherzustellen.
Bei geplanten Orten wird der Zugang meist durch die
soziale und gesellschaftliche Stellung kontrolliert. Geplante
Orte haben oft Regeln und Vorschriften – manchmal sogar
sehr genaue Verhaltensvorschriften – oder sie sind direkt für
bestimmte gesellschaftliche Klassen geplant.
Ungeplantes versucht den Ort erst einmal so zu belassen,
wie er ist, um dadurch einen größtmöglichen Zugang und
eine sich immer wieder verändernde Nutzungsvielfalt zuzulassen. Ungeplante Orte werden von ihren Benutzer_innen
immer wieder neu ausgehandelt.
Dies ist wichtig festzuhalten, da die ungeplanten – und
manchmal auch die verplanten – Orte Ansatzpunkte bieten für eine künstlerische Urbane Praxis, die sich direkt
mit der Geschichte, den aktuellen Bewohnern_innen und
deren Wünschen auseinandersetzt. Vielleicht könnte man
sogar sagen, dass die „Nicht-Planung“ einer Urbanen Praxis
71
Terrain Vague
Terrain Vague
Terrain Vague
immer dann angewandt wird, wenn alle klassische Planung
versagt hat.
Es gibt viele Bezeichnungen für ungeplante Orte, wertend im Deutschen: „Brachfläche“ und noch negativer im
Englischen: „Wasteland “. Es wäre ratsam, das französische
Terrain Vague für ein vages und unbestimmtes Gelände zu
nutzen. Der Gärtner und Landschaftsplaner Gilles Clément
hat dafür auch den Begriff der Dritten Landschaft geprägt,
für dessen Existenz und Erhaltung man sich in Ergänzung
zur klassischen Raumplanung einsetzen sollte. Er erklärt so
die Flächen, die nicht vom Menschen beplant, beackert und
bebaut werden – also unbenutzte und verlassene Gelände
(neben dem ökologischen Primärsystem und dem menschgemachten Nutzraum) – zur Dritten Landschaft. Hierbei
stellt er fest, dass diese Zonen große Diversität und Artenvielfalt aufweisen. In seinen Thesen spricht er sich dafür aus,
Unproduktivität als Politik zu verstehen und „die Mentalität des Nicht-Eingreifens ebenso (zu) schulen, wie die des
Eingreifens“. Dies entspricht einer künstlerischen Praxis, die
versucht, das Nötigste mit und für einen Ort zu entwickeln.
Dessen „Besetzung“ ist so angelegt, dass sie nach einer vorher
festgelegten Zeitspanne wieder neu verhandelt wird. Oder
man entscheidet sich für Refugien, die sich selbst überlassen
sind und gleichzeitig in ihrer Unzugänglichkeit den größtmöglichen menschlichen Imaginationsraum bieten.
Die Dritte Landschaft und die poetische Zustandsbeschreibung eines Terrain Vague sind wichtige Bereiche, in
72
Erik Göngrich ist forschender Künstler, politischer Architekt,
produzierender Kurator, diskursiver Zeichner, gemeinwohlorientierter Koch und performativer Verleger. Seine Arbeit thematisiert
die Nutzung und Veränderung des städtischen Raumes, welchen
er aktiv skulptural mitgestaltet. Mit der von ihm initiierten
M ITKUNSTZENTRALE und deren SATELLIT betreibt er seit
2019 eine Werkstatt / einen Ausstellungsraum zu den Themen
Materialkreisläufe und Kunst in Zeiten des Klimanotstandes.
73
Terrain Vague
der die Urbane Praxis modellhaft wirksam wird. Sie befinden sich im Zentrum und an den Rändern einer Stadt. Sie
stellen immer wieder die Fragen: Wie kann man in einer
durchgeplanten modernen Stadt, die eine gewisse (klein-)
bürgerliche Aufgeräumtheit repräsentiert, und die zum Teil
aus unterforderten Außenräumen und Abstandsflächen besteht, ergänzende alternative Lebensmodelle denken, zulassen, umsetzen und leben? Wie lassen sich Gebautes, Grün,
Natur, Tier und Mensch zusammenbringen, in Austausch
bringen und verdichten? Wieviel Aufgeräumtheit braucht
man für die eigene Arbeit? Und für welche Räume lohnt es
sich zu kämpfen?
Verlust
Verlust
[Loss]
Es mutet sicherlich traurig an, Verlust als Bestandteil eines
Glossars zu Urbaner Praxis auszuwählen. Doch viele der
Orte, an denen ich in städtisches Handeln involviert war,
existieren nicht mehr.
Die Mission, ein 1997 in Hamburg gegründeter, von
Wohnungslosen mit Künstler_innen selbstverwalteter Ort,
musste bis zur Erschöpfung umziehen, weil die benachbarten Ladenbetreiber sich belästigt fühlten. Der Kaispeicher A,
in dem wir 2002 mit ready2capture einen Sommer lang ein
alternatives Informationszentrum zur Hamburger HafenCity betrieben, beherbergt heute die Elbphilharmonie. Die
Brachflächen des temporären Skulpturenparks Berlin_Zen
trum auf dem ehemaligen Mauerstreifen in Berlin Kreuzberg
wurden ab 2012 u. a. mit den Fellini Residencies versiegelt.
Der Berliner Schlossplatz ist wieder ein Schlossplatz, nachdem er vieles andere war und hätte werden können.
Verluste zeigten sich in vielen der Projekte, an denen ich
beteiligt war, aber auch in den Biografien der Teilnehmenden. Verlust der Wohnung, Verlust der Arbeit, damit einhergehend Verlust an gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. Verlust von identitätsstiftenden Fixpunkten als Folge
von Transformationsprozessen oder Migration.
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Jelka Plate studierte bildende Kunst und Bühnenbild an der HfbK
Hamburg. Ihre Arbeiten basieren auf lnterviews und Recherchen. So
entstand „A very merry unarchitecture to you“ im Skulpturenpark Berlin_Zentrum mit Anwohner_innen und Beteiligten einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Für „Rekonstruktion des Berliner Schlossplatzes
nach Plänen von 5000 Jahren vor unserer Zeit“ sprach sie mit einem
Vegetationshistoriker und Passant_innen an der Schlossbaustelle.
75
Verlust
Urbane Praxis, wie ich sie verstehe, zielt u. a. auf die gemeinsame Gestaltung von Orten oder Aktionen ab, an
denen viele dieser Verluste einerseits als Ergebnis kapitalistischer Praxis lesbar werden, gleichzeitig aber im gemeinsamen Tun alternative Handlungsmöglichkeiten zumindest
temporär praktiziert werden können. Das unterscheidet
mein Verständnis von „Verlust“ von einer reaktionären Verwendung des Begriffes, wenn z. B. der Wiederaufbau eines
Schlosses mit dem „Schließen einer Wunde im Stadtbild“
gerechtfertigt wird und damit ein vermeintlicher Status
Quo von Stadt bzw. Gemeinschaft reinstalliert werden soll.
Ich möchte den Begriff des Verlustes in dieses Glossar
einbringen, weil ich denke, dass er klar macht, mit welchen
Belastungen zu rechnen ist, wenn man sich auf Urbane Praxis einlässt und weil ich noch viel mehr klarstellen möchte,
dass ich es für einen der größten Verdienste von gelungener
Urbaner Praxis halte, Kooperationen und Orte zu schaffen,
an denen man mit Verlusten nicht alleine bleibt, was mir in
einer von Siegermentalitäten und -ästhetiken bestimmten
Öffentlichkeit unverzichtbar scheint.
Versammlung
Versammlung
[Assembly]
Die öffentliche Versammlung gilt als eine Bedingung für
die kollektive politische Auseinandersetzung in und mit der
Stadt. In den unterschiedlichen Ausformungen von der historischen Pariser Kommune vor 150 Jahren über den Gezi
Park in Istanbul, die Besetzung des Syntagma Platzes in
Athen oder die Asambleas in spanischen Städten, von der
weltweiten Occupy-Bewegung bis zum Refugee Camp auf
dem Kreuzberger Oranienplatz werden in Versammlungen
Fragen nach Teilhabe an Stadt und Gesellschaft verhandelt.
Durch die Aneignung der Straßen und Plätze, das Besetzen oder Bewohnen und die Bewegung der Körper im
urbanen Raum, die spezifischen Sets von Alltagspraktiken
und temporären Architekturen werden gleichermaßen die
Normen der politischen wie der urbanen Landschaft in
Frage gestellt, unterwandert und suspendiert. Versammlungen lassen sich als infrastrukturelle Materialität, als Archiv
politischer Positionen und als Methode der sozialen Organisation beschreiben.
Versammlungen im öffentlichen Raum transformieren
die Straßen und Plätze zu einer für alle sichtbaren Bühne für
Forderungen und „verwandeln sie in temporäre Orte städtischer Bürgerschaft“ (Lanz 2015). Eine Versammlung stellt
76
Kathrin Wildner forscht als Stadtethnologin zu Theorien des
öffentlichen Raumes, ethnographischen Methoden und transnationalen Aspekten von Urbanismus. Von 2012 – 2021 war sie Professorin im Fachbereich Kultur der Metropole an der HafenCity
Universität Hamburg, hier u. a. im Leitungsteam des Graduierten
kollegs Performing Citizenship. Sie ist Gründungsmitglied der
Gruppe metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten und
Ko-Kuratorin der Ausstellung „Mapping Along. Ränder des
Widerstreits aufzeigen“ (Berlin 2021).
77
Versammlung
einen temporären Raum dar, in dem das Recht zu sprechen
und gehört zu werden verhandelt wird. In Anlehnung an Engin Isins lassen sich diese alltäglichen, performativen Handlungen und kollektiven Aneignungen von öffentlichen städtischen Räumen als einen „act of citizenship“ beschreiben.
Fragen nach urbaner Praxis verknüpfen sich mit den
Debatten der Versammlung: Was sind die Voraussetzungen
für Versammlungen, was sind die Orte, Regeln und Wirkungen? Was sind kulturelle und körperliche Praktiken der
Versammlung? Wer ist dort sichtbar und hörbar, wer eher
nicht? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie manifestiert sich Politik? Wer repräsentiert wen? Wie lassen sich
Versammlungen gestalten und inszenieren? Und schließlich
auch: Welche Rolle spielen städtische Institutionen, unter
welchen Bedingungen und in welchen Formen entwickeln
sich Versammlungen im öffentlichen Raum zu politischen
Akten, die die Stadt verändern?
Von Sinnen
Von Sinnen
[Without Sense(s)]
Warum wird ein alltäglicher Besuch der Großsiedlungen
und speziell der „die Platte“ genannten DDR -Variante als
wenig reizvoll erachtet? Sind die von industriell gefertigten
Wohngebäuden geprägten Stadtareale wirklich ohne Reiz?
Was wäre, wenn sich die Nervenzellen langweilen?
Sensorische Deprivation gehört zu den Foltermethoden,
die keine offensichtlichen Spuren an den Opfern verursachen. Dies wird durch eine größtmögliche Abschirmung
der Sinnesorgane perfektioniert. Nicht benutzte Nervenzellen drohen zu verkümmern und benötigen ständige
Stimulation – sonst fangen sie an, sich mit sich selbst zu
beschäftigen und irreale Sinneseindrücke zu produzieren.
Die inneren Bilder, die sich als Halluzinationen bemerkbar
machen, bemerken wir normalerweise nicht, da wir ständig
mit anderen Dingen beschäftigt sind. Länger andauernde
sensorische Deprivation als Entzug von Sinneseindrücken
kann zu Persönlichkeitsveränderungen, psychischen Schäden oder Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Menschen führen.
Die Beraubung der Sinne ist der Zustand der Reizverarmung. Laut dem Arbeitsblatt ‚Deprivationsprophylaxe‘
ist eine Person „depriviert, wenn ihre objektiven (sozio78
79
Von Sinnen
ökonomischer Status, soziale Eingebundenheit, Gesundheitszustand) und subjektiven Lebensumstände (physischer
bzw. psychischer Zustand, zwischenmenschliche Beziehungen, Berufszufriedenheit, Freizeitgestaltung) schlecht sind“.
Als Maßnahme zur Deprivationsprophylaxe gälte es also,
„eine möglichst reizvolle Umgebung zu schaffen. Abwechslung schafft Reize“.
Der Reiz ist weniger eine Frage der Ästhetik denn der
Sinnlichkeit. Die vermeintliche „Hässlichkeit“ von Großsiedlungen – so zeigt ja die kultische Begeisterung für das
„Plattenbauquartett“ oder die neuerliche Euphorie für den
„Brutalismus“ genannten Baustil vor allem der 1970er Jahren – ist wandelnden Konjunkturen des Geschmacks und
der Bewertungen unterworfen. Doch die Sinnlichkeit, die
Komplexität und die Ausstrahlungskraft eines Gebiets
hängt von vielen Faktoren ab.
Ohne gesellschaftliche Fragen auf ein Krankheitsbild reduzieren zu wollen, scheint das Einzugsgebiet von P
egida,
AfD oder NSU zumindest der sensorischen Gesundheit
nicht förderlich zu sein. So zumindest legte es die Ausstellung ‚Winzerla – Kunst als Spurensuche im Schatten
des NSU ‘ des Künstlers Sebastian Jung nahe. Der in Jena
lebende Künstler wuchs in der gleichen Vororts-Großsiedlung wie die NSU-Kader Mundlos, Böhnhardt und Z
schäpe
auf und begegnete bis zu dessen Gerichtsverhandlung
2012 dem inzwischen verurteilten NSU -Unterstützer Ralf
Wohlleben im Alltag.
Von Sinnen
Sebastian Jung beschreibt den alltäglichen Terror normativer Reduktionen wie folgt: „Da unsere Wohnung im
Erdgeschoss lag, konnten meine Eltern vor dem Balkon
viele Gewächse anpflanzen. Darunter ein ansehnlicher Flieder. Als wir eines Tages nach Hause kamen, war er abgesägt. ‚Wenn ich auf dem Balkon mein Honigbrötchen esse,
möchte ich nicht von irgendwelchen Bienen gestört werden.‘ So der Nachbar, der ihn absägte.“ Über den homogenisierenden Schulunterricht heißt es: „In der ersten Klasse
kam die Mathelehrerin zu mir und sagte vorsichtig, während ich das Heft mit Zahlen versah: ‚Das ist ja sehr schön,
aber willst Du nicht vielleicht versuchen, die Zahlen in die
Kästchen zu schreiben?‘ Diese Überlegung war für mich in
der Tat neu.“ In seinen einfach gehaltenen, kindlich wirkenden Zeichnungen und beiläufigen Schnappschüssen von
Kindheitserinnerungen an Winzerla brechen die alltäglichen Zumutungen in einer Kombination aus baulichen und
sozialen Mustern wieder hervor.
Jochen Becker (Berlin) arbeitet als Autor, Kurator und Dozent
und ist Mitbegründer von metroZones | Center for Urban Affairs
und der station urbaner kulturen / nGbK. Zuletzt kuratierte er
Chinafrika. under construction und entwickelte am Düsseldorfer
Theaters FF T das Projekt Stadt als Fabrik und Place Internationale
(2017-21) sowie die metroZones-Ausstellung Mapping Along
(Kunstraum Kreuzberg / Bethanien, Berlin, 2021). Er ist aktiv
in der Initiative Urbane Praxis und bereitet hierfür den zweiten
Kongress SITUATION BERLIN vor.
80
Wirkungsorientierung
Veränderung zu bewirken behaupten viele. Auch die U
rbane
Praxis hat veränderte Perspektiven, Planungspraktiken und
urbane Gestaltungsformen zum Ziel: Mit künstlerischen,
erprobenden Ansätzen, die niedrigschwellig ein breites
Spektrum Interessierter miteinbeziehen, greift Urbane
Praxis in die Anschauung und das Erleben von Stadt und
Stadtmachen ein.
Die Relevanz dieser Veränderung liegt auf der Hand – so,
wie viele Städte gerade geregelt sind, scheinen sie nicht
(mehr) für alle Menschen gleich gut und fair zu funktionieren. Wie wichtig es ist, diese Veränderungen – die Aus-Wirkungen der Praxis – gut zu beobachten, festzuhalten woher
sie kommen, sie zu analysieren, zu vermitteln und als Navigation zu nutzen, scheint weniger auf der Hand zu liegen.
Wirkungsorientierung heißt, sich frühzeitig bewusst zu
machen, was eine Unternehmung bewirken soll – was am
Ende anders sein soll – und wie das im Laufe des (noch unbekannten) Prozesses beobachtet und festgehalten werden
kann. Warum passiert etwas, in welcher Güte und mit welchen Konsequenzen (Wirkungen)?
Wirkungsorientierung erfasst Kriterien und Anhaltspunkte, an denen das Gelingen und die Wirksamkeit der
81
Wirkungsorientierung
[Impact Orientation]
Wirkungsorientierung
eigenen Arbeit abgelesen werden kann. Diese Anhaltspunkte pro-aktiv vorzuschlagen und nicht herkömmlichen Bewertungsskalen (die Verwaltungen und Förderern vorliegen)
zu folgen, fördert das Ernstgenommen-Werden der Praxis
und den konstruktiven Austausch mit Verwaltungen und
Fördergeber_innen über die reale Wirkmacht der Urbanen
Praxis aus der Praxis heraus.
Jennifer Aksu arbeitet seit über 10 Jahren an der Schnittstelle von
Kunst, Stadtraum und Transformation. Sie hat an der Humboldt
Universität gelehrt, Spiele mit Schülern in Südamerika entwickelt
und Raumstrategien zur Vernetzung für das Wirtschaftsministerium gebaut. Kunst nutzt sie als Mittel für Veränderungen und
findet, dass diese Veränderungen Sinn machen und eine Funktion
haben, die man betrachten kann. Und betrachten sollte, vor allem,
wenn sie öffentlich gefördert sind.
82
[Temporality]
… ist eine Haltung der Urbanen Praxis. „Auf Zeit“ versteht sie es, sich einzunisten; sie nutzt die Lücke, findet die
Nische, lädt ein zu „Pioniernutzungen“, aus denen wohlmöglich sogar eine regelrechte „Realitätsumnutzung“ wird.
Für einen Moment, für eine Weile, aber eben nicht
„für immer“ findet sie darin gleichsam „immer wieder aufs
Neue“ ihre Mitstreiter_innen als Ausdruck einer Freiheit,
die sie in die Lage versetzt, wirklich zu improvisieren, eine
Kreativität zu entfalten, die eigene Fragen stellt und Vorschläge entwickelt.
Michel de Certeau nennt solche Vorgehensweisen in seiner Kunst des Handelns von 1980 „… vielgestaltig, resistent,
listig und hartnäckig, die der Disziplin entkommen, ohne ihren Einflußbereich zu verlassen.“ Und weiter heißt es dazu in
dem Kapitel ‚Vom Konzept der Stadt zu urbanen Praktiken‘:
„Indem die funktionalistische Organisation den Fortschritt
(die Zeit) privilegiert, läßt sie sogar ihre Entstehungsbedingung in Vergessenheit geraten, nämlich den Raum selber, der
zum Unbedachten, zum blinden Fleck einer wissenschaftlichen und politischen Technologie wird.“
Dieser „Umgang mit dem Raum“, der „tatsächlich die determinierenden Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens
83
Zeitlichkeit
Zeitlichkeit
Zeitlichkeit
bestimmt“, ist Gegenstand unseres Interesses und ein „Material“ der Urbanen Praxis, zu dessen Bearbeitung nicht nur
ein spezieller „Werkzeugkasten“notwendig ist, sondern mitunter auch eine „Komplizenschaft“ mit Verwaltung, Eigentum und Politik.
Urbane Praxis braucht einen „langen Atem“, denn die
Stadt kennt keinen Stillstand; eine „Pause“ müssen wir (gemeinsam) selbst gestalten.
ftts / Todosch Schlopsnies: Seit 2015 arbeiten die Architektin und
Grafikerin Federica Teti und der Bildhauer und Performer Todosch
Schlopsnies in partizipativen Strukturen mit Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen (mit und ohne Fluchthintergrund). In Workshops unterschiedlicher Formate wird gebaut, gegärtnert, erfunden
und gespielt. Im Vordergrund steht, neben der unmittelbaren
Erfahrung kultureller Teilhabe über alle Herkunfts- und Sprachgrenzen hinweg, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, was man
alleine nie hinkriegen würde und außerdem großen Spaß macht.
Seit 2020 künstlerische Leitung von Pilot Stadtwerk mrzn (S27).
84
Zwischennutzungen
Die Aktivierung von Leerständen als Experimentierfläche
für Ideen und Projekte hat inzwischen einen langen Vorlauf.
Zwischennutzungen waren schon seit je ein Ort, an dem
sich (sub)kulturelle und soziale Initiativen formieren konnten und die als kreative Orte erst Nutzer_innen und später
auch Besucher_innen anzogen.
Fand dies im Wesentlichen informell und eher unter
Duldung der öffentlichen Hand statt, ist das Thema spätestens seit Beginn der 2000er Jahre zunehmend institutionalisiert und in formellen Rahmen organisiert. Dennoch wurde der Bereich eher als Nische wahrgenommen, in dem sich
Initiativen und die wenigen geförderten öffentlichen Zwischennutzungsagenturen mit viel Idealismus an den Widerständen bei Eigentümer_innen und in der Verwaltung abarbeiten. Dies änderte sich mit den wenig überraschenden,
wachsenden Leerständen in den Einzelhandelslagen deutscher Innenstädte. Nach dem die lange bewährten Instrumente von Festivalisierung und Inszenierung des Konsums
nicht mehr greifen und die lange aufrechterhaltene Fassade
einzustürzen droht, entdecken Wirtschaftsförderungen und
Einzelhandelsverbände plötzlich das geschmähte Thema
85
Zwischennutzungen
[Interim Uses]
Zwischennutzungen
Zwischennutzung, um den Einzelhandelslagen neues Leben einzuhauchen.
Doch was verstehen wir unter Zwischennutzungen?
Zwischennutzungen sind eine Möglichkeit, um vielen
Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zu Räumen zu
eröffnen, an denen sie (erstmalig) die Möglichkeit haben,
an ihren Ideen zu arbeiten, sich mit anderen Menschen zu
treffen, Angebote für ihre Nachbarschaft zu schaffen und
ohne finanziellen Druck arbeiten zu können. Natürlich
mit den Einschränkungen, die diese Leerstände haben und
der Möglichkeit, dass diese in eine reguläre Nutzung überführt werden.
Unser Ziel ist es, sowohl für die Nutzer_innen als
auch für die Räume die Möglichkeiten aufzuzeigen, die
in ihnen liegen und zu helfen, diese zum Vorschein zu
bringen. Dafür unterstützen wir die Akteur_innen in der
Umsetzung ihrer Projekte, stellen Kontakte zwischen Nutzer_innen und Eigentümer_innen her, helfen in der Zusammenarbeit mit der Verwaltung und tragen Initiativen
und ihre Ideen in die lokale Politik und Gesellschaft. Dies
reicht von der eher abstrakten Erstellung von Genehmigungsunterlagen für Nutzungsänderungsanträgen über
die Unterstützung mit konkreten Sachmitteln bis hin zum
Anpacken in der praktischen Umsetzung der einzelnen
Zwischennutzungen.
Die Instrumentalisierung von Zwischennutzungen,
von Kunst und Kultur, um öffentliche Plätze auf Zeit zu
86
Zwischennutzungen
bespaßen und zu bespielen, um den Status Quo zu konservieren, ohne die Bewohner_innen an der zukünftigen
Entwicklung ihrer Städte teilhaben zu lassen, lehnen wir
entschieden ab.
Das AAA – Autonome Architektur Atelier arbeitet seit 2006 in
der Entdeckung, der Inszenierung und der Nutzung von Stadträumen. Die Zwischennutzung von Leerständen und Brachen ist
dabei eins seiner Hauptarbeitsfelder.
87
» Haben und Brauchen
fassen zusammen:
Das wesentliche Kapital
Berlins formiert sich entlang
einer kollektiven und
egalitären Raumproduktion
und -nutzung. Sollen diese
Potenziale ‚vom Tisch‘ in die
Stadt, dann braucht es zeitgemäße K
onzepte, Strategien
und A
kteure zu ihrer
Artikulation, Re-Aktivierung
und Q ualifizierung
für das 21. Jahrhundert.
»
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