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sich vor allem, ihm einen tieferen Sinn zu geben. Hauptmann ist
ein Naturalist (übrigens: ist er es noch?), und der Naturalismus
strebt nach Wahrheit. Da aber die Wahrheit oft genug flach ist,
so braucht man einen alten Märchenstoff vielleicht nur zu ver⸗
flachen, damit er wahr werde.
So ist denn Zweck und Witz des ganzen Dramas, daß
Schluck sich wirklich als Frau verkleidet. Keine Idee, kein Symbol!
Es soll nur spaßhaft sein, ungemein spaßhaft. Und kann man sich
etwas Komischeres denken, als daß Frauen einen rührenden alten
Bettler in weibliche Kleidung stecken, um ihn den Scherzen einer
rohen Jagdgesellschaft preiszugeben? ...
Der vierte Akt beginnt, und man ist bitter enttäuscht von
diesem vierten Akt, weil man nun endlich das Stück erwartet und
weil man sieht, daß das Ganze auf eine alberne und geschmack⸗
lose Farce hinausläuft. Im grünen Jagdsaal des Schlosses wird
das Trinkgelage abgehalten. Jau als Fürst präsidiert. Es wird
viel geredet in einer gewaltsam zur Derbheit heraufgeschraubten
Ausdrucksweise, die belustigend sein soll und über die man doch
nicht lachen kann. In diesem Akt soll sich die heitere Wirkung
des Possenspieles konzentrieren, und in diesem Akt merkt man
deutlich nur das eine, daß der Autor dieses Possenspieles die
Gabe nicht besitzt, heitere Wirkungen hervorzubringen. Drunten
im Saal also trinken die Männer. Oben auf der Galerie sitzt
Sidselill mit ihren Frauen, singt ein Lied und spielt gar süß die
Harfe. Jetzt soll der Hauptspaß folgen. Man bittet Jau, den
Fürsten, daß er geruhen möge, die Fürstin zu empfangen. Die
Tür tut sich auf, und Schluck tänzelt herein in kurzen Frauen—
kleidern. Der Bühneneffekt ist bekannt aus „Charleys Tante“.
Jau weicht entsetzt zurück bis ans andere Ende des Saales und
schreit, man solle das Weib wegschaffen, sonst werde er fortlaufen.
Hauptmann hat sich diese Scene komisch vorgestellt. In Wahrheit
wirkt sie peinlich. Und es regt sich ein Gefühl der Erbitterung
gegen die Herren von der fürstlichen Tafelrunde, welche sich nicht
anders beim Weine zu unterhalten wissen, als indem sie einen
Menschen quälen.
Der Fürst ist der einzige aus der ganzen Gesellschaft, der
guten Geschmack beweist. Er spürt, daß der Scherz zu weit geht.
„Genug!“ ruft er und befiehlt, man solle dem Jau den Schlaf⸗
trunk geben. Jau schläft ein, während oben Sidselills Harfe klingt.
Zu den sanften Harfentönen murmelt er Worte wie „Blutwurst“
oder „Branntwein“. Wird man noch sagen können, daß es einem
Autor an komischer Verve mangelt, der den Einfall gehabt hat,
die Worte „Blutwurst“ oder „Branntwein“ von Harfenklang be—
gleiten zu lassen?
Man wird es sagen können und sogar sagen müssen. Haupt⸗
mann hat ein „Possenspiel“ schreiben wollen, aber der Versuch,
Possen zu treiben, ist ihm völlig mißlungen. Es ist ein Werk ohne