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Adeline Gräfin Schimmelmann.
liebenswürdigen Art, daß sie allen Widerstand brach. Bei einer
Gelegenheit hatte sich jemand einer Lüge schuldig gemacht. Die
Kaiserin ließ die Person bitten, sie auf ihrem Morgenspaziergang
zu begleiten, wo sie dann anfing, im allgemeinen ernst über die
Sünde der Lüge zu sprechen, so daß der Betreffende den Vorwurf
für seine Missethat schärfer empfunden haben muß, als die Ehre
des Spaziergangs. Ich erinnere mich aber auch einer andern
Gelegenheit, bei der sie mit einem ungezogenen Jungen in so
mütterlicher Weise sprach, indem sie die Hand auf seine Schulter
legte, daß er in Thränen ausbrach und Besserung gelobte. —
Ihre edle, reine Seele haßte jeglichen schlechten Ton und
schlüpfrige Moral und nur sehr wenige sind imstande, die Macht
ihres Einflusses zu ermessen, den sie nach dieser Richtung hin, so
lange sie konnte, auf den deutschen Hof ausübte. Ich war noch
ein Kind, als ich zu ihr kam, und sie behütete mich eifersüchtig
vor allem, was mich verderben konnte. Ich durfte ohne ihre Er—
laubnis weder ein Buch lesen, noch ins Theater gehen, und es
wurde mir streng verboten, mit verschiedenen Damen, die wegen
ihrer Leichtfertigkeit bekannt waren, zu sprechen, oder gar ihren
Besuch zu erwidern. Zufällig stand ich einmal neben einer dieser
Damen, als die Kaiserin sich plötzlich umwandte und zu mir sagte,
so daß alle Anwesenden es hören konnten: „Mein Kind, sprechen
sie nicht ein Wort mit dieser Dame. Ich kann nicht die Ver—
antwortung tragen, daß ihr unschuldiges Gemüt durch das leicht⸗
fertige Gespräch dieser Dame verdorben wird.“ Ich hielt es für
die größte Sünde, welche eine Frau begehen kann, kokett zu sein,
und die Kaiserin bestärkte mich hierin. Ich war tief entrüstet,
wenn ich dergleichen sah. Da es bekaunt war, daß es meine
Gewohnheit sei, der Kaiserin alles was geschah mitzuteilen, gerade
so, wie ich es meiner Mutter gegenüber that, so wagte niemand
frivol oder unpassend in meiner Anwesenheit zu reden. Dies
war auch der Grund, daß die Kaiserin einmal zu einer anderen
Dame von mir sagte: „Obgleich Adeline noch so jung ist, kann
ich sie nicht in Berlin an meinem Hofe entbehren, denn unter
ihren reinen Augen wagt niemand schlechten Ton zu haben.“
Emanzipierte Frauen waren der Kaiserin ein Schrecken, und
es kam vor, daß sie ihre Oberhofmeisterin mit dem Ersuchen zu