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Vorerinnerung. Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung

Full text: Briefwechsel / Schiller, Friedrich (Public Domain)

Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung. 31 
größesten Dichtergenies theilte, so gesellte sich dazu noch in ihm, 
daß er schon in die Idee selbst die Forderung absoluter Freiheit 
des sich idealisch bildenden Sinnenstoffs legte. 
Das bloß Rührende, Schmelzende, einfach Beschreibende, 
kurz die ganze unmittelbar aus der Anschauung und dem Gefühle 
genommene Gattung der Dichtung findet sich bei Schiller in 
unzähligen einzelnen Stellen und in ganzen Gedichten. Ich 
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den Jüngling am Bach, Thekla, eine Geisterstimme, 
an Emma, die Erwartung, u. a. m. zu erinnern, die nur 
den empfangenen Eindruck wiederzugeben scheinen, und in denen 
man Schiller's intellectuelle Eigenthümlichkeit nur wie in einem 
sanften Wiederscheine erkennt. Die wundervollste Beglaubigung 
vollendeten Dichtergenies aber enthält das Lied von der 
Glocke, das in wechselnden Sylbenmaßen, in Schilderungen 
der höchsten Lebendigkeit, wo kurz angedeutete Züge das ganze 
Bild hinstellen, alle Vorfälle des menschlichen und gesellschaft— 
lichen Lebens durchläuft, die aus jedem entspringenden Gefühle 
ausdrückt, und dies alles symbolisch immer an die Töne der 
Glocke heftet, deren fortlaufende Arbeit die Dichtung in ihren 
verschiednen Momenten begleitet. In keiner Sprache ist mir 
ein Gedicht bekannt, das in einem so kleinen Umfang einen so 
weiten poetischen Kreis eröffnet, die Tonleiter aller tiefsten 
menschlichen Empfindungen durchgeht, und auf ganz lyrische 
Weise das Leben mit seinen wichtigsten Ereignissen und Epochen, 
wie ein durch natürliche Gränzen umschlossenes Epos zeigt. 
Die dichterische Anschaulichkeit wird aber noch dadurch vermehrt, 
daß jenen der Phantasie von fern vorgehaltnen Erscheinungen 
ein als unmittelbar wirklich geschilderter Gegenstand entspricht, 
und die beiden sich dadurch bildenden Reihen zu gleichem Ende 
parallel neben einander fortlaufen. 
Wenn man sich vergegenwärtigt, was ich hier über Schiller's 
rastlose Geistesthätigkeit und die enge Verbindung seines dichte⸗ 
rischen Genies mit der mächtigen Kraft gesagt habe, die in ihm 
Alles in das Gebiet ihres Denkens zog, so wird man jetzt besser 
die Epoche verstehen, in welche der nachfolgende Briefwechsel 
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