—350 Anmerkungen zu den Briefen.
„Auf Humboldt habt ihr mich neugierig gemacht,“ schreibt er den
Schwestern Lengeéfeld wenige Tage, ehe er jenen persönlich sah (Briefe
2, 415), „aber ich kann mich noch nicht recht in ihn finden; an seiner
Kalte ist noch das beste, wenn er sie behält;* Humboldts dialektische
Schürfe, die sich in der Zergliederung auch der eigenen Empfin-
dungen nie genugtun kKonnte, wird in dem weiblichen Portrait be-
sonders betont gewesen sein. Nachdem dann Schiller unmittelbar
nach den Weihnaohtsfeiertagen nach Jena zurückgekehrt war, folgte
ihm Humboldt nach wenigen Tagen dahin nach und auf mannig-
fachen Streifrzügen durch Jenas Bergwelt tauschten beide Gedanken
and Empfindungen aus, erfuhr Humboldt den ersten starken Ein-
druck der Gewalt und Herrlichkeit schillerscher Rede, wie er sie
uns in der Voréerinnerung (oben 8, 11) so begeistert schildert.
Aus der Mitte des Januar 1790 stammen dann die eérsten aus-
führlichen Urteils beider Männer über einander, in denen der Reflex
jener kurzen jenaer Tage klar hervortritt. Am 10. schreibt Hum-
boldt an seinen damals intimssten Freund Forster (ungedruckt, im
tegeler Familienarchiv): „Mit Schiller wurd' ieh sehr vertraut; ich
brachte vier Tage bei ihm in seinem Hause zu; er ist von Geist und
Oharakter ein überaus interessanter Mensch und überall ist der Dichter
in ihm unverkennbar.“ Schon hier begegnen wir also der von Humboldt
spüter oft wiederholten scharfen Betonung der Tatsache, dass das dich-
texische Genie in Schillers geistiger Erscheéinung besonders deutlich sich
bemerkbar machte; die Notiz ist darum um so wichtiger, weil sie
aus einer Zeit stammt, wo der jenaer Professor fast ganz in histori-
zchen und philosophischen Studien aufging. Nicht ganz so bedingungs-
los z2ustimmend lautet Schillers Urteil Uber Humboldt, das er am
5. Januar den Schwestern Lengefeld gegenüber ausspricht (Briefe 3, 2):
„Wilhelm ist mir zu flüchtig, zu sehr aus sich herausgeérissen, zu weit
verbreitet; ich traue ihm viel Flüche und wenig Tiefe zu. Sein
Geist ist durch Kenntnisse reich und geschäftig, sein Herz ist edel,
aber ich vermisse in ihm die Ruhe und (vie soll ich sagenꝰ) die
Stille der Seele, die ihren Gegenstand mit Liebe pflegt und mit An-
hänglichkeit an ihrom Lieblingsgeschöpf verweilt.“ Humboldt war
in jenen Tagen des Zusammenseins, wie man leicht denken kann,
mehr der Empfangende als der Gebende, ging wohl auch in dem
Streben den andern 2u beobachten und zum Gegenstand des Stu-
diums 20 machen weniger aus sich heraus; nach genauerer Bekannt-
schaft hat Schiller selbst dies Urteil nicht mehr aufrechterbalten. An
Huber, den Humboldt in Mainz- im forsterschen Hause kennen gelernt
hatte, schrieb Schiller am 13. Januar (Briefe 8, 19): „Aumboldt ...
war mir vorläufig schon sehr genau aus Beschreibungen bekannt, die
mir méine Schwägerin von ihm gemacht hatto. Er ist beides, éin