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Vorerinnerung. Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung

Full text: Briefwechsel / Schiller, Friedrich (Public Domain)

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27. Juni 1798. 
zulänglichkeit der Theorie einräumen, aber ich dehne meinen 
Unglauben auch auf das Beurtheilen aus, und möchte be— 
haupten, daß es kein Gefäß giebt, die Werke der Einbildungskraft 
zu fassen, als eben diese Einbildungskraft selbst, und daß auch 
Ihnen die Abstraction und die Sprache Ihr eigenes Anschauen ⸗ 
und Empfinden nur unvollkommen hat ausmessen und ausdrücken 
önnen. 
Es ist hier nur von demjenigen Theil Ihres Werks die 
Rede, der die Begriffe sucht und aufstellt nach denen geurtheilt 
wird, und auch bei diesem habe ich es keineswegs mit Ihrer Aus- 10 
führung, nur mit Ihrer Unternehmung zu thun. Denn es ist 
zum Erstaunen, wie genau, wie vielseitig, wie erschöpfend Sie 
alles behandelt haben, so daß ich überzeugt bin, was auch künftig— 
hin über den Prozeß des Künstlers und Poeten, über die Natur 
der Poesie und ihrer Gattungen noch mag gesagt werden, es 15 
wird Ihren Behauptungen nicht widersprechen, sondern diese 
nur erläutern, und es wird sich in Ihrem Werke gewiß der Ort 
nachweisen lassen, in den es gehört und der es implicite schon 
enthält. In allen wesentlichen Punkten ist zwischen dem, was 
Sie sagen, und dem was Göthe und ich diesen Winter über ꝛd 
Epopee und Tragödie festzustellen gesucht haben, eine merkwür— 
dige Uebereinstimmung dem Wesen nach, obgleich Ihre Formeln 
metaphysischer gefaßt sind und die unsrigen mehr für den Haus— 
gebrauch taugen. Vielleicht ist Ihre Analysis zu scharf, und 
die aufgestellte Charakteristik zu streng und zu unbeweglich. Die ⸗ 
Einbildungskraft hat wirklich schon bewiesen, daß sie ohne Ge— 
fahr über diese Grenzen gehen kann, und Ihnen selbst wird es 
schwer den reinen Begriff z. B. der Epopee zwischen den vor— 
handenen Epopeen wirklich fest zu halten. Es würde Ihnen 
unfehlbar auch mit andern Arten so ergehen, und namentlich z30 
mit der Tragödie Schakespears und der alten. 
Göthe und ich haben uns Epische und Dramatische Poesie 
auf eine einfachere Art unterschieden, als Ihr Weg Ihnen er— 
laubte, und diesen Unterschied überhaupt nicht so groß gefunden. 
So können wir die Tragödie sich nicht so sehr in das lyrische 38 
verlieren lassen, sie ist absolut plastisch wie das Epos: Göthe
	        
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