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27. Juni 1798.
62. 8chiller an Humboldt.
Jena 27. Junius 98.
Ihre Schrift, mein theurer Freund, war mir in der That
zine ganz überraschende Erscheinung und mußte es noch mehr
seyn, wenn ich mich erinnerte, wo und unter welchen heterogenen s
Umgebungen Sie dieses große, ja ungeheure Geschäft zu Stande
zebracht haben.
Der Gedanke, an Göthens Gedicht die Gesetze der epischen,
ja der ganzen Poesie überhaupt zu entwickeln, ist sehr glücklich,
und eben so gut gewählt war dieses Produkt, um Göthens in— 10
dividuelle Dichternatur daran zu zeigen. Denn wie Sie selbst
sagen, in keinem Gedichte erscheint die poetische Gattung und
die epische Art so rein und so vollständig als hier, und in
keinem hat sich Göthens Eigenthümlichkeit so vollkommen ab—
gedruckt.
Man erweißt Ihnen bloß Gerechtigkeit, wenn man sagt,
daß noch kein dichterisches Werk zugleich so liberal und so gründ—
lich, so vielseitig und so bestimmt, so kritisch und so aesthetisch
zugleich beurtheilt worden ist. Und das konnte auch gerade nur
durch eine Natur geschehen, wie die Ihrige, die zugleich so scharf eo
scheidet und so vielseitig verbindet. Ihre Idiosyncrasie im
Empfinden könnte Ihnen vielleicht in einzelnen Fällen den Kreis
verengen und dem Gegenstand Abbruch thun; in Ihrem Raison—
nement kann Ihnen das nie begegnen. Auch ist das Verdienst
dieser Arbeit im strengsten Sinne das Ihrige. Göthe kann ⸗8
Ihnen, als Poet, den Stoff zwar zubereitet haben, aber ich
habe Ihnen, als Kunstrichter und Theoretiker, nicht viel in die
Hand gearbeitet, ja ich muß gestehen, daß ich in dem einzigen
bedeutenden Fehler, den ich daran zu tadeln habe, meinen Ein—
fluß erkenne. Davon nachher.
Ihre Formel für die Kunst überhaupt und für die Poesie
ins besondere, Ihre Deduction der Dichtungsarten, die Merk—
mahle die Sie als die charakteristischen aufstellen, sind treffend
und entscheidend. Der Gesichtspunkt, den Sie genommen haben,
um dem geheimnißvollen Gegenstande, denn das ist doch jedes 35