25. Dezember 1795.
253
doch in concreto Menschen sind, so sind sie, jedes in seinem
vollkommensten Zustande betrachtet, zugleich formaliter und
matérialiter sich gleicher. Giebt man aber ihre specifischen
Unterschiede an, wie ich bei beiden Dichtungsarten thun wollte,
so wird man den Mann immer durch einen höhern Gehalt und
eine unvollkommenere Form, die Frau durch einen niedrigern
Gehalt aber eine vollkommenere Form unterscheiden.
Sie selbst sagen in einem Ihrer Aufsätze, „die Frau könne
„innerhalb ihres Geschlechts, der Mann nur mit Aufopferung
„seines Geschlechts wahrer Mensch werden.“ Dasselbe sage ich
auch in Rücksicht auf beyde Dichtungsarten. Die sentimentalische
Poesie ist zwar Conditio sine qua non von dem poctischen
Ideale, aber sie ist auch eine ewige Hinderniß desselben.
Die naive Poesie hingegen stellt die Gattung reiner obgleich
s auf einer niedrigern Stuffe dar.
Um endlich auch die Erfahrung zu befragen, so werden
Sie mir eingestehen, daß kein griechisches Trauerspiel dem Ge—
halt nach sich mit demjenigen messen kann, was in dieser
Rücksicht von Neuern geleistet werden kann. Eine gewisse Ar—
muth und Leerheit wird man immer daran zu tadeln finden,
wenigstens ist dieß mein, immer gleichförmig wiederkehrendes
Gefühl. Homers Werke haben zwar einen hohen subjectiven
Gehalt, (sie geben dem Geist eine reiche Beschäftigung), aber
keinen so hohen objectiven (sie erweitern den Geist ganz
» und gar nicht, sondern bewegen nur die Kräfte, wie sie wirklich
sind). Seine Dichtungen haben eine unendliche Fläche, aber
keine solche Tiefe. Was sie an Tiefe haben, das ist ein Effekt
des Ganzen, nicht des einzelnen; die Natur im Ganzen ist immer
unendlich und grundlos. Ich weiß nicht, ob wir hier von den
Antiken reden dürfen, welche freilich ideal aber sinnlich ideal
sind, welches ich sehr von dem absoluten Ideal unterscheide,
das in keiner Erfahrung kann gegeben werden, und nach welchem
der sentimentalische Dichter strebt. Die Poesie geht dem Ge—
halt nach unendlich weiter als die bildende Kunst. Auch möchte
ich die Ideale der letztern, in Vergleichung mit den Idealen
jener, mehr formale als materiale nennen. Das Unendliche in
20