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Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt

Full text: Briefwechsel / Schiller, Friedrich (Public Domain)

25. Dezember 1795. 
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doch in concreto Menschen sind, so sind sie, jedes in seinem 
vollkommensten Zustande betrachtet, zugleich formaliter und 
matérialiter sich gleicher. Giebt man aber ihre specifischen 
Unterschiede an, wie ich bei beiden Dichtungsarten thun wollte, 
so wird man den Mann immer durch einen höhern Gehalt und 
eine unvollkommenere Form, die Frau durch einen niedrigern 
Gehalt aber eine vollkommenere Form unterscheiden. 
Sie selbst sagen in einem Ihrer Aufsätze, „die Frau könne 
„innerhalb ihres Geschlechts, der Mann nur mit Aufopferung 
„seines Geschlechts wahrer Mensch werden.“ Dasselbe sage ich 
auch in Rücksicht auf beyde Dichtungsarten. Die sentimentalische 
Poesie ist zwar Conditio sine qua non von dem poctischen 
Ideale, aber sie ist auch eine ewige Hinderniß desselben. 
Die naive Poesie hingegen stellt die Gattung reiner obgleich 
s auf einer niedrigern Stuffe dar. 
Um endlich auch die Erfahrung zu befragen, so werden 
Sie mir eingestehen, daß kein griechisches Trauerspiel dem Ge— 
halt nach sich mit demjenigen messen kann, was in dieser 
Rücksicht von Neuern geleistet werden kann. Eine gewisse Ar— 
muth und Leerheit wird man immer daran zu tadeln finden, 
wenigstens ist dieß mein, immer gleichförmig wiederkehrendes 
Gefühl. Homers Werke haben zwar einen hohen subjectiven 
Gehalt, (sie geben dem Geist eine reiche Beschäftigung), aber 
keinen so hohen objectiven (sie erweitern den Geist ganz 
» und gar nicht, sondern bewegen nur die Kräfte, wie sie wirklich 
sind). Seine Dichtungen haben eine unendliche Fläche, aber 
keine solche Tiefe. Was sie an Tiefe haben, das ist ein Effekt 
des Ganzen, nicht des einzelnen; die Natur im Ganzen ist immer 
unendlich und grundlos. Ich weiß nicht, ob wir hier von den 
Antiken reden dürfen, welche freilich ideal aber sinnlich ideal 
sind, welches ich sehr von dem absoluten Ideal unterscheide, 
das in keiner Erfahrung kann gegeben werden, und nach welchem 
der sentimentalische Dichter strebt. Die Poesie geht dem Ge— 
halt nach unendlich weiter als die bildende Kunst. Auch möchte 
ich die Ideale der letztern, in Vergleichung mit den Idealen 
jener, mehr formale als materiale nennen. Das Unendliche in 
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