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18. Dezember 1795.
beschäftigt, schon oft selbst geurtheilt hat, so gewinnt Ihre Ab—
handlung dadurch ein unglaublich großes Interesse. In mehrern
einzelnen Dingen sind wir uns ganz erstaunlich begegnet. So
z. B. in dem Urtheil über Voltaire, dem ich von jeher keinen
zigentlichen Geschmack abgewinnen konnte, über Ardinghello,s
über den ich mich schon in Göttingen mit Schlegel oft leb—
haft stritt, u. s. w. Von eigentlichen Ideen ist mir hierin der
Unterschied zwischen musikalischer und plastischer Poesie am
meisten aufgefallen. Ich kam in den letzten Wochen auf einem
zignen Wege auf diese Materie. Es fiel mir bei Gelegenheit 10
zines Briefs an Sie ein, daß ich keine bedeutende Tragödie
einer Frau kenne (in Rücksicht der Griechen hat Schlegel eben—
dieß in seiner Diotima bemerkt), ebenso wenig eine Epopee,
und wenn ich, was mir von weiblicher Dichtung bekannt ist,
durchgehe, so finde ich, daß jeder Stoff immer von Frauen 18
lyrisch behandelt wird. Ich dachte daneben auch an einige
Männer, die sich in ähnlicher Lage zu befinden scheinen, z. B.
Herder, und Ihre Unterscheidung zwischen musikalischer und
plastischer Poesie hat mich nun über diese Verschiedenheit theils
befestigt, theils bestimmt. Dadurch, daß ich den Gegensatz 20
vorher zwischen dem lyrischen und Epischen machte, kam viel
schwankendes, zufälliges und sogar unrichtiges in meine Vor—
stellungsart. Jetzt will ich die Spur weiter verfolgen, und die
Eigenthümlichkeiten des musikalischen und des plastischen Dichter—
zeistes näher aufsuchen. Dieser Gegenstand liegt mir um so »2s
näher, als die Griechen, dünkt mich, bei weitem mehr plastisch
waren, und diese Eigenthümlichkeit mir ihrer lyrischen Poesie,
die ihrer Natur nach doch eine musikalische Behandlung erfodert,
ein ganz eignes Gepräge aufzudrücken s53 Vis auf einen
zewissen Grad ist es unstreitig leige? musikalischen szo
Poesie zu gelingen, aber die hö“ vorzubringen,
dürfte doch auch guned Lier seyn. . ..