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Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt

Full text: Briefwechsel / Schiller, Friedrich (Public Domain)

18. Dezember 1795. 
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Dichter und seinem Werk (also von etwas Wirklichem) die Rede 
ist, kann ich zugeben, daß die naive Poesie der sentimen— 
talischen an die Seite gestellt werde, und daß man den Vorzug 
der einen mit dem der andern vergleichen wolle; sobald man 
aber von der Gattung spricht, kann ich die naive für nichts 
andres als für eine frühere Stufe und nur die sentimentalische 
für den Gipfel erkennen. Machen Sie es mit Ihrer Idylle 
auch in der ersten Rücksicht wahr. Ich bin überzeugt daß Sie 
es könnten, wenn Sie im weitesten Umfange des Worts der 
o höchsten und glücklichsten Freiheit genössen. Sollte man daher 
nicht vielmehr so sagen müssen: die naive und sentimentalische 
Poesie können und müssen eigentlich ein Unendliches der Form 
und der Materie darstellen. Die erstere aber trennt beide nicht, 
und stellt daher beide zugleich in dem einzigen der Form dar; 
is die sentimentalische verknüpft beide, nachdem sie sie vorher ab— 
gesondert hat? Dieser Zweifel, den ich Ihnen hier vorgetragen 
habe, ist mir vorzüglich entstanden, indem ich den Unterschied 
beider Poesien auf die Bildhauerkunst anwandte. Da er, wie 
Sie selbst sagen, doch, nur mit den nöthigen Abänderungen, 
»o durch das ganze Gebiet der Kunst gültig seyn muß, so schien 
mir diese Probe nicht übel um zu versuchen, inwiefern ich Ihre 
Ideen gefaßt hätte. Denn die Schwierigkeit der Anwendung 
muß nothwendig bei der am meisten plastischen unter allen 
Künsten am schwierigsten seyn, da im Ganzen doch so wie das 
Naive sich mehr zum plastischen und epischen, so das Senti— 
mentale mehr zum musikalischen und lyrischen hinneigt. 
Dieß, was ich eben erwähnte, abgerechnet, wüßte ich nichts, 
worin mir Ihr Raisonnement dunkel oder unvollständig ge— 
schienen hätte. Ueberall vielmehr haben Ihre Ideen, wie ich 
auch erst sagte, mir Licht und Aufklärung gegeben, und ich bin 
überzeugt, daß sie sehr fruchtbar in Anwendungen bei mir seyn 
werden. Jedem nicht vorher Eingenommenen muß es in die 
Augen springen, wie genievoll Sie Ihren Gegenstand umfaßt 
und behandelt haben, und da die Hauptidee so simpel ist, die 
Anwendungen gleich gebracht werden, und nur gerade Gegen⸗ 
stände betreffen, über die jeder, der sich irgend mit Literatur 
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