Information für ESF-Akteur*innen zum
Bundesverfassungsgerichtsurteil zum
„dritten Geschlecht“, dem umsetzenden Gesetz
und möglichen Implikationen für den
Europäischen Sozialfonds (ESF)
Berlin, Februar 2019 (ergänzt im Juni 2019)
Agentur für Querschnittsziele im ESF
1 HINTERGRUND ZUM BUNDESVERFASSUNGSGERICHTSURTEIL
ZUM „DRITTEN GESCHLECHT“ UND UMSETZUNG
WAS SIND HINTERGRUND UND INHALT DES URTEILS?
Das Bundesverfassungsgericht (BVG) entschied im November 2017, dass es zukünftig in
Deutschland möglich sein muss, ein drittes Geschlecht im Personenstandsrecht einzutragen
(Bundesverfassungsgericht 2017). Dieses BVG-Urteil betrifft Personen, deren Geschlechtsentwicklung von einer Vereindeutigung als weiblich oder männlich abweicht.1 Bis zum Jahr
2012 war eine Zuordnung zu den Kategorien männlich / weiblich zwingend, seit 2013 konnte
die Angabe des Geschlechts im Geburtenregister freigelassen werden, wenn anhand von
körperlichen Geschlechtsmerkmalen eine Zuordnung zu den beiden Kategorien „männlich“
oder „weiblich“ nicht möglich ist. Gegen diese Regelung hat eine intergeschlechtliche Person
geklagt: Sie brachte vor, dass die Variation in der Geschlechtsentwicklung nicht bedeutet,
kein Geschlecht zu haben. Das Bundesverfassungsgericht gab der Klage statt. Aufgrund des
grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechts müsse es die Möglichkeit geben, die
geschlechtliche Identität „positiv“ eintragen zu lassen, und kein Mensch dürfe durch den
Staat gezwungen werden, sich einem Geschlecht zuzuordnen, das mit der eigenen Identität
nicht übereinstimmt.
Die bisherige Rechtslage verstieß zudem gegen das Diskriminierungsverbot: Durch den
Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes sind nicht nur Frauen und Männer vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geschützt, sondern auch Menschen, die sich diesen
beiden Kategorien nicht zuordnen lassen.
Rechtlichen Diskriminierungsschutz für inter- und transgeschlechtliche2 Personen bietet
zudem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Es schützt vor Diskriminierungen
aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Identität im Arbeitsmarktkontext sowie im
Alltag. Der Schutz vor Diskriminierung muss allerdings individuell eingeklagt werden, im
AGG sind im Wesentlichen Abwehrrechte begründet. Demgegenüber ging es bei dem
Bundesverfassungsgerichtsurteil um eine grundsätzliche Veränderung einer Gesetzesnorm.
WIE WURDE DAS URTEIL UMGESETZT?
In dem am 13.12.2018 vom Bundestag verabschiedeten Gesetz „zur Änderung der in das
Geburtenregister einzutragenden Angaben“ ist festgelegt, dass bei der Beurkundung der
Geburt eines Neugeborenen künftig neben den Angaben „weiblich“ und „männlich“ zudem
die Bezeichnung „divers“ gewählt werden kann. Zudem besteht ein Anrecht darauf, diesen
Eintrag im Lebensverlauf zu ändern. Für eine Eintragung als divers und entsprechende
Änderungen muss eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt werden.3
1
In dem Urteil wird auf eine Definition zurückgegriffen, wonach bei intergeschlechtlichen Personen Hormone,
Keimdrüsen oder Chromosomen verschiedene und damit keine einheitliche Geschlechterzuordnungen erlauben.
Transgeschlechtliche Menschen haben der Definition nach eine eindeutige körperliche Geschlechtsausprägung,
leben aber als Angehörige des anderen Geschlechts bzw. wünschen sich, darin anerkannt zu werden. Diese
Varianzen werden im überarbeiteten WHO-Krankheitsklassifikationssystem ICD-11 nicht mehr als „psychische
und Verhaltensstörung“ bezeichnet. Hintergrund sind Studien und politische Auseinandersetzungen, in denen
hervorgehoben wird, dass es vor allem die soziale Ausgrenzung ist, die Transpersonen diskriminiert.
2
3
Zur Verwendung des Begriffs inter- und transgeschlechtlich siehe das Glossar https://queer-leben.de/glossar/.
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2018/kw41-de-geburtenregister/570762
1
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Das Urteil und das neue Gesetz gelten zunächst nur für das Personenstandsrecht. Allerdings
bedarf es aufgrund dieser Neuregelung zudem einer entsprechenden Anpassung von
behördlichen Vorgängen, in denen eine Pflicht zur Angabe des Geschlechts besteht.
2 GELTUNGS- UND ANWENDUNGSBEREICHE
GILT DAS URTEIL FÜR INTER- UND TRANS*-PERSONEN?
Im Urteil wurde offengelassen, ob die neue Gesetzgebung auch für transgeschlechtliche
Personen gelten sollte. In den Stellungnahmen der Verbände zum Gesetzgebungsverfahren
wurde mehrfach gefordert, dass das Selbstverständnis der jeweiligen Person ausschlaggebend sein müsse und nicht der medizinische Nachweis, der zudem insbesondere für jetzt
erwachsene langjährig geschlechtsdiverse Personen schwer zu erbringen sei. In einer
Stellungnahme weist das Bundesministerium für Familie, Senioren, Jugend und Frauen
(BMFSFJ) darauf hin, dass sich nicht alle transgeschlechtlichen Menschen einem Geschlecht zuordnen wollen oder können. Auch für sie bedeutet es eine Ausgrenzung ihrer
Lebensrealität, wenn nur das männliche und das weibliche Geschlecht in amtlichen Vorgängen vorgesehen sind (BMFSFJ 2017c, S. 25).
Mit dem am 13.12.2018 vom Bundestag verabschiedeten Gesetz wurde festgelegt, dass das
„dritte Geschlecht“ als Eintrag in das Geburtenregister nur für intersexuelle Personen gelten
soll und hierfür eine medizinische Nachweispflicht besteht. Die das Urteil begleitende gesellschaftliche und fachpolitische Debatte zu geschlechtlicher Vielfalt und Selbstbestimmung
weist aber (nach wie vor) über die gesetzliche Umsetzung hinaus und bezieht transgeschlechtliche Personen sowie das Kriterium der Selbstbestimmung geschlechtlicher
Identität mit ein. So befassen sich bspw. die im September 2014 von der Bundesregierung
eingerichtete interministerielle Arbeitsgruppe „Intersexualität/Transsexualität“, das Referat
des BMFSFJ „Gleichgeschlechtliche Lebensweisen, Geschlechtliche Vielfalt“, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der deutsche Ethikrat in fachlich wegweisenden Veröffentlichungen mit beiden Gruppen. Auch der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für
die 18. Legislaturperiode beinhaltet die Ankündigung:
„Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen […] von Menschen
aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden. Wir
verurteilen […] Transphobie und werden entschieden dagegen vorgehen. […] Die durch die
Änderung des Personenstandrechts für intersexuelle Menschen erzielten Verbesserungen
werden wir evaluieren und gegebenenfalls ausbauen und die besondere Situation von
trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus nehmen.“
Weitere rechtspolitische Entwicklungen und gesetzliche Regelungen im Themenfeld
geschlechtliche Vielfalt sind zu erwarten.4 So soll nach den Plänen der Bundesregierung
perspektivisch auch das Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1981 durch ein „Gesetz zur
Neuregelung der Änderung des Geschlechtseintrags“ abgelöst werden.5
4
Eine aktualisierte Nachrichtensammlung zu dieser Thematik findet sich hier:
https://www.queer.de/suche.php?suchbegriff=dritte+option.
5
Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde am 08.05.2019 von den Bundesministerien für Justiz und für Inneres
veröffentlicht, jedoch nach intensiven öffentlichen Debatten bislang (Stand Juni 2019) nicht dem Kabinett vorgelegt.
2
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WIE WIRD IN DER BEVÖLKERUNGSSTATISTIK MIT DER DRITTEN
GESCHLECHTSKATEGORIE UMGEGANGEN?
Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder haben ihr Erfassungs- und Aufbereitungsprogramm zunächst der Regelung von 2013 angepasst. Die Fälle ohne Angabe zum
Geschlecht können ab dem Berichtsjahr 2016 in den Ergebnissen der Geburtenstatistik
nachvollzogen werden (Deutscher Bundestag 2016). Dafür wurde zunächst keine neue
Kategorie eröffnet, sondern die Gesamtzahl umfasst Fälle mit „unbestimmtem Geschlecht“
und liegt damit über der Summe der Kinder, denen bei der Geburt das weibliche oder männliche Geschlecht zugewiesen wurde. In den Statistiken des Statistischen Bundesamtes ist
dieses Merkmal noch nicht verfügbar, weil es sich um Fortschreibungen des Zensus 2011
handelt.6 Die Statistiken müssen ebenfalls dem Bundesverfassungsgerichtsurteil angepasst
werden.
WELCHE FOLGEN HAT DAS URTEIL FÜR DIE ARBEITSWELT?
Das Urteil führt im Arbeitsmarktkontext voraussichtlich zu einer höheren Sensibilität und dürfte dazu beitragen, dass Betriebe zunehmend Vorsorge für einen diskriminierungsfreien Umgang mit Beschäftigten und sich bewerbenden Personen treffen. Daher werden z. B. Fragen
dazu relevanter, wie Beschäftigte in der betriebsinternen Kommunikation diskriminierungsfrei
angesprochen und wie Stellenanzeigen diskriminierungsfrei gestaltet werden können. Auch
stehen einmal mehr bestehende geschlechternormierte Kleiderordnungen und nur für Frauen
und Männer ausgewiesene Wasch- und Toilettenräume und Umkleiden auf dem Prüfstand.7
WIE KANN GESCHLECHTLICHE VIELFALT IN DER SPRACHE DEUTLICH
GEMACHT WERDEN?
Das BMFSFJ (2017c) schlägt vor, für die Sichtbarmachung von geschlechtlicher Vielfalt in
der Sprache den sogenannten Gender-Gap (_) oder den Gender-Stern (*) zu verwenden.
Dabei handelt es sich um eine Schreibweise, bei der zumeist zwischen dem Wortstamm und
der femininen Form ein Unterstrich oder ein Sternchen steht. Der Unterstrich bzw. das
Sternchen sollen symbolisieren, dass es außer „weiblich“ und „männlich“ weitere Geschlechter gibt, die durch „Miterwähnung“ nun auch sichtbar gemacht werden sollen. Wie auch bei
vorherigen Schreibweisen, z. B. der Binnen-I-Schreibung, handelt es sich dabei um Konventionen; so wird teilweise das Sternchen auch an anderen Stellen im Wort platziert, z. B. direkt
hinter den Wortstamm. Konkrete Anregungen für eine respektvolle Sprache und Ansprache
von trans- und intergeschlechtlichen Menschen sind in dem Gutachten zum Thema
Geschlechtliche Vielfalt im öffentlichen Dienst enthalten (Fuchs et al. 2017, S. 44).
Teilweise wird eingebracht, dass gendergerechte Sprache mit den Anforderungen an barrierefreie Dokumente kollidieren könne. Der Gender-Stern (*) wird in der Sprachausgabe von
Dokumenten mitgelesen (genauso wie der Unterstrich und der Schrägstrich), jedoch können
mit entsprechenden Programmen Einstellungen in der Sprachausgabe vorgenommen werden, um das Mitlesen dieser Zeichen zu vermeiden und das Hörverständnis zu erleichtern.
Beim großen Binnen-I wird in der Sprachausgabe von Dokumenten mit einer kurzen Unterbrechung nach dem Wortstamm das „innen“ gelesen. Damit kommt diese Schreibweise der
mit dem Unterstrich und dem Gender-Stern verfolgten Intention am nächsten.
6
https://wwwgenesis.destatis.de/genesis/online;jsessionid=F0EC4F768357953685AADD6BBAFFF809.tomcat_GO_2_2?operation=previous&lev
elindex=2&levelid=1523279382616&step=2
7
Konkrete Anregungen zu solchen Fragen gibt ein Gutachten zum Thema geschlechtliche Vielfalt im öffentlichen
Dienst (Fuchs et al. 2017, S. 44).
3
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3 WELCHE ABSEHBAREN UND WELCHE MÖGLICHEN FOLGEN
WERDEN URTEIL UND GESETZ FÜR DIE UMSETZUNG DES ESF
HABEN?
AUSWIRKUNGEN AUF MONITORING UND ZIELINDIKATORIK
Das Urteil und das Gesetz werden Auswirkungen auf das Monitoring in der nächsten
Strukturfondsförderperiode haben. So wird bei der Erfassung von Teilnehmenden gemäß
dem dann geltenden Gesetz zum Personenstandsrecht neben „weiblich“ und „männlich“
auch die Antwortoption „divers“ möglich sein. Inwieweit das dritte Geschlecht Eingang in die
Zielindikatorik findet und damit entsprechende Erfassungsmethodik erfordert, hängt davon
ab, ob und in welchem Umfang ESF-Programme Beiträge zur Überwindung von Diskriminierung Inter- und Trans*-Personen leisten.
Unabhängig davon bleibt es nach wie vor erforderlich, in Erhebungen, Monitoring- und
Controllingdaten, Ziel- und Ergebnisindikatorik und Budgeting binärgeschlechtlich nach
Frauen und Männern zu unterscheiden, um die entlang dieser Differenzlinie bestehenden
Ungleichheiten und Diskriminierungen im Geschlechterverhältnis analysieren und abbauen
zu können.
WELCHE ANREGUNGEN LASSEN SICH AUS DEM URTEIL UND SEINER
BEGRÜNDUNG FÜR DIE GESTALTUNG VON ESF-PROGRAMMEN UND
-PROJEKTEN ZIEHEN?
In ESF-Programmen und -Projekten können geschlechtsbezogene Diskriminierungserfahrungen von inter- und transgeschlechtlichen Personen im gesamten Programm- bzw.
Projektzyklus berücksichtigt werden. Hierfür sollte zunächst in den programmvorbereitenden
Situationsanalysen danach gefragt werden, in welchen Themenfeldern des ESF solche
Diskriminierungserfahrungen relevant werden können, um diese dann in der Gestaltung und
der Umsetzung der Programme und Projekte aktiv aufzugreifen und zu deren Überwindung
beizutragen.
Mit Blick auf die Umsetzung der Querschnittsziele Gleichstellung der Geschlechter und
Antidiskriminierung ist bspw. denkbar, im ESF-Kontext zukünftig inter- und transgeschlechtliche Personen als auf dem Arbeitsmarkt besonders diskriminierte Zielgruppen zu adressieren. Einzelne Projekte im ESF könnten, so z. B. die Empfehlungen der Kommission der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes an Politik und Gesetzgebung, der Arbeitsmarktausgrenzung der Personengruppen begegnen und gemeinsam mit Inter*- und Trans*Selbstorganisationen positive Maßnahmen zur arbeitsmarktpolitischen Gleichstellung der
Zielgruppe entwickeln. Ein ESF-externes Beispiel dafür ist das Projekt „Trans* in Arbeit“ in
der Senatsverwaltung von Berlin (Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und
Antidiskriminierung o. J.). Denkbar ist zudem, in strukturbezogenen Maßnahmen Ansätze zur
Überwindung der Diskriminierung dieser Personengruppen zu integrieren.
STEHT DIE FÖRDERUNG VON FRAUEN MIT SPEZIFISCHEN ESF-MAßNAHMEN
INFRAGE?
Der ESF ist ein Instrument durch das die Gleichstellung der Geschlechter gefördert und
Diskriminierungen überwunden werden sollen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde in
diesem Bereich bereits viel geleistet. Entsprechend ist es nach wie vor eine der wesentlichen
Aufgaben, mit dem ESF dazu beizutragen, geschlechtsbezogene Ungleichheiten zwischen
Frauen und Männern zu überwinden und zu kompensieren und zugleich die zugrundliegende
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Geschlechterhierarchie und daran geknüpfte zweigeschlechtliche Geschlechternormen zu
hinterfragen.
Welche Diskriminierungsrisiken mit spezifischen Maßnahmen aufgegriffen werden, muss
sich an den bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen orientieren; solange die
strukturelle Benachteiligung von Frauen im Bereich Arbeitsmarkt, Bildung und Soziales wie
gegenwärtig bestehen bleibt, ist auch die spezifische Förderung von Frauen zum Ausgleich
von gesellschaftlichen Nachteilen erforderlich.
Inwieweit im Zuge der zukünftigen statistischen Erfassung strukturelle Benachteiligungen
von inter- und transgeschlechtlichen Personen am Arbeitsmarkt und im Bereich Bildung
belegbar sein werden und entsprechend positive Maßnahmen zur Förderung erforderlich
machen, ist derzeit noch nicht absehbar.
4 DAS URTEIL IM WEITEREN GESCHLECHTERPOLITISCHEN
KONTEXT VON GLEICHSTELLUNG UND ANTIDISKRIMINIERUNG
Die Auffassung, dass alle Menschen geschlechtlich eindeutig in zwei Gruppen unterteilt
werden können und müssen und es sich dabei um eine Entweder-Oder-Situation handelt,
strukturiert unsere Gesellschaft als ein Grundprinzip und damit die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Einzelnen, die Arbeitswelt, den Alltag und die gesellschaftlichen Institutionen.
Menschen, die sich keiner Geschlechterkategorie zuordnen können oder wollen, „stören“
dieses Prinzip, weil sie gesellschaftliche Normen und Erwartungen vieler Mitmenschen nicht
erfüllen. Trans- und Interpersonen erfahren wie auch andere Menschen, deren Identität und
Lebensweise gesellschaftlich dominanten Geschlechternormen nicht entsprechen, oftmals
Ignoranz, Abwehr, Ablehnung und häufig auch Hass und Gewalt. Gesellschaftliche Diskriminierung bedeutet, dass Trans- und Interpersonen als ganze Gruppe abgewertet und/oder
ignoriert werden. Ihre Existenz und Identität wurden auch in administrativen Verfahren
bislang nicht berücksichtigt. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird sehr genau
dargelegt, welche Zumutungen der Zwang bedeuten kann, sich einer individuell nicht
passenden geschlechtsbezogenen Kategorie zuordnen zu müssen. Und das – so der Kern
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts – ist nicht länger zulässig. Die Richter*innen
sprechen sich also für die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt aus und stärken damit die
Rechte von Inter- und Transpersonen.
Die Kategorie Geschlecht hat nicht nur eine identitätsstiftende, sondern zugleich eine wichtige gesellschaftliche „Platzanweiserfunktion“. Das bestehende Geschlechterverhältnis basiert
zentral darauf, dass Frauen und Männern unterschiedliche Rollen zugewiesen werden, die
mit einer strukturell ungleichen Verteilung von Macht und Ressourcen verknüpft sind. Die
Grundlage für die gesellschaftliche Ungleichheit der Geschlechter ist die Zuordnung von
Menschen zu zwei eindeutig – entweder männlich oder weiblich – abgrenzbaren Gruppen,
die zugleich in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt sind bzw. ein solches begründen. Insofern kann die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt auch eine Irritation für das
Geschlechterverhältnis zwischen Frauen und Männern darstellen.
In diesem Sinne bieten die juristischen Auseinandersetzungen sowie die daraus resultierende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen erneuten Anlass, die langjährige
Kritik an Geschlechterstrukturen und -normen zu aktualisieren. Denn die Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt und Zuordnungszwängen einerseits und die Kritik an
geschlechtsbezogenen gesellschaftlichen Ungleichheits- und Machtstrukturen gehören
zusammen.
5
Agentur für Querschnittsziele im ESF
5 LITERATUR / QUELLEN:
Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Gleiche Rechte – gegen Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts. Bericht der unabhängigen Expert_innenkommission der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Kapitel 2: Diskriminierungsfreier Umgang mit geschlechtlicher
Vielfalt, insbesondere Trans* und Inter*, S. 21-38. Berlin 2015
https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/Literatur_Themenjahr_Geschlecht/Hand
lungsempfehlungen_Kommission_Geschlecht.pdf?__blob=publicationFile&v=1
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg): Situation von
trans- und intersexuellen Menschen im Fokus. Sachstandsinformation des BMFSFJ.
Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität, Band 5.
Berlin 2016 https://www.bmfsfj.de/blob/112092/f199e9c4b77f89d0a5aa825228384e08/imag-band-5situation-von-trans-und-intersexuellen-menschen-data.pdf
BMFSFJ (Hg): Gutachten. Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche
Menschen; Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität,
Band 7. Berlin 2017a https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/gutachten--regelungs--undreformbedarf-fuer-transgeschlechtliche-menschen/114070
BMFSFJ (Hg): Gutachten. Geschlechtervielfalt im Recht. Status quo und Entwicklung von
Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt. Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität, Band 8. Berlin
2017b https://www.bmfsfj.de/blob/114066/7830f689ccdfead8bbc30439a0ba32b9/geschlechtervielfalt-imrecht---band-8-data.pdf
BMFSFJ (Hg): Zusammenfassung. Forschungsergebnisse und Erkenntnisse des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus der Begleitarbeit zu der
Interministeriellen Arbeitsgruppe „Inter- und Transsexualität“ (IMAG), Band 12. Berlin
2017c https://www.bmfsfj.de/blob/120644/e2068b3d513b7f772760becf8bd4c70a/imag-band-12zusammenfassung-der-forschungsergebnisse-data.pdf
Bundesverfassungsgericht (Hg): Personenstandsrecht muss weiteren positiven
Geschlechtseintrag zulassen. 2017
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916
.html;jsessionid=933BB6E33E896D8995A6F489318AD58D.2_cid383
Deutscher Bundestag (Hg): Intergeschlechtliche Menschen in Deutschland. Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck
(Köln), Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN. BTDrucks 18/7310, 2016 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/073/1807310.pdf
Deutscher Ethikrat: Stellungnahme Intersexualität. Berlin 2012
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DER_StnIntersex_Deu_Online.pdf
Fuchs, Wiebke et al. / Bundesvereinigung Trans* e. V. (Hg): Gutachten: Geschlechtliche
Vielfalt im öffentlichen Dienst. Empfehlungen zum Umgang mit Angleichung und Anerkennung des Geschlechts im öffentlichen Dienst. Begleitmaterial zur Interministeriellen
Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität, Band 10. Berlin 2017
https://www.bmfsfj.de/blob/116512/a6ba369ebb6df06acdf04547d61dedbc/imag-band-10-geschlechtlichevielfalt-im-oeffentlichen-dienst-data.pdf
Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung (Hg): Trans* in
Arbeit. Maßnahmen zur Verbesserung der Situation transgeschlechtlicher Menschen im
Bereich Arbeit und Beruf. Berlin o. J. https://www.berlin.de/sen/lads/schwerpunkte/lsbti/trans-in-arbeit/
6
Agentur für Querschnittsziele im ESF
IMPRESSUM
Agentur für Querschnittsziele im ESF
im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
Autorinnen: Sandra Kotlenga und Barbara Nägele
Berlin, Februar 2019 (ergänzt im Juni 2019)
Agentur für Querschnittsziele im ESF
Fehrbelliner Str. 85
D-10119 Berlin
+49 30 2205 1379
E-Mail: kontakt@esf-querschnittsziele.de
www.esf-querschnittsziele.de
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