Path:

Full text: Wehrhafte Räume oder defensive Architektur? / Tenz, Eric M. (Rights reserved)

Nummer 49 vhw werkSTADT Dezember 2020 Wehrhafte Räume oder defensive Architektur? Politische Erzählungen über Ordnungs- und Sicherheitsarchitekturen in öffentlichen Räumen im Kontext von Wohnungslosigkeit Eric M. Tenz 1. Einleitung Sicherheit und Ordnung in öffentlichen Räumen sind Themen, die in Politik und Gesellschaft oft diskutiert werden. Sie werden in unterschiedlichen Kontexten verhandelt: Sei es mit Blick auf Anschläge, die – wie am Berliner Breitscheidtplatz leidvoll erfahren – oft mit zahlreichen Toten und Verletzten einhergehen; sei es – wie am Berliner Alexanderplatz – mit Bezug zu Kriminalität wie z. B. Gewalttaten oder Drogendelikten; sei es im Kontext von Armut und sozialer Not wie sie z. B. in Form von Wohnungslosigkeit zum Ausdruck kommt; oder sei es mit Blick auf Sub- und Jugendkulturen, die durch unangepasstes Verhalten scheinbar die öffentliche Ordnung stören. Die baulich-physische Gestaltung öffentlicher Räume – v. a. der Einsatz von Elementen der Architektur – spielt in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Der Anschlag in Berlin oder auch die vom 11. September 2001 in den USA führten dazu, dass zahlreiche öffentliche Straßen und Plätze z. B. durch Poller oder Betonquader befestigt wurden (s. Abb. 1). Gebäude werden mitunter als (temporäre) Sicherheitsarchitektur gegen kriminelles Handeln errichtet (s. Abb. 2); Steine, flächig aufgebrachte Metallstifte, Zäune oder in einzelne Sitze unterteilte Bänke hindern häufig wohnungslose Personen daran, sich an öffentlichen Orten länger aufzuhalten oder zu schlafen (Andreou 2015; Atkinson/While 2015) (s. Abb. 3). Designelemente aus Metall oder Abb. 1: Betonquader am Weihnachtsmarkt, Potsdamer Platz, Berlin; Abb. 2: Temporäres Polizeigebäude im öffentlichen Raum, Alexanderplatz, Berlin; Abb. 3: Steine in einer Nische, Kinzigstraße, Berlin; Abb. 4: Kantenschutz an Bänken und Einfriedungen, Pariser Platz, Stuttgart; Quelle: Fotos des Autors 1 vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Hartgummi, der sogenannte Skaterschutz, richten sich an vielen Plätzen gegen die Jugendkultur der Skateboarder und hindern sie daran, in öffentlichen Räumen zu skaten (s. Abb. 4).1 Im Kontext von Wohnungslosigkeit lassen sich seit einigen Jahren in Deutschland und im internationalen Kontext zwei wirkmächtige Erzählungen über Ordnung und Sicherheit und die Rolle von Architektur in öffentlichen Räumen beobachten: 1. Die Erzählung der bedrohten, wehrhaft zu machenden öffentlichen Räume. 2. Das Narrativ der feindseligen, von defensiver Architektur geprägten öffentlichen Räume. In der Erzählung der bedrohten öffentlichen Räume werden Ordnung und Sicherheit als gefährdet angesehen – es gilt, sie wehrhaft zu machen und die Kontrolle (wieder) zu erlangen. Öffentliche Räume würden dieser Erzählung nach in zweierlei Hinsicht verwahrlosen: In sozialer Hinsicht, weil sogenannte Randgruppen (wie z. B. Obdachlose) öffentlich übermäßig präsent seien und deviantes oder sogar kriminelles Verhalten zeigen würden; in baulicher Hinsicht, weil Straßen, Plätze und Gebäude nicht instandgehalten und gepflegt und daher verfallen und verkommen würden. Abnehmende Sicherheit und Ordnung in öffentlichen Räumen würden diesem Narrativ nach dazu führen, dass sich „many citizens, particularly women“ (Saville/Atlas 2016: 7) unsicher fühlen und öffentliche Räume meiden würden und daher keine soziale Kontrolle ausüben könnten; eine Abwärtsspirale würde drohen, in der Ordnung und Sicherheit weiter abnähmen. Dieser u. a. auf Konzepten wie defensible space oder broken windows (Jeffrey 1971; Newman 1972) beruhenden Erzählung nach könnten eine die Sicherheit und Ordnung im öffentliche Raum fördernde Architektur und Formen städtebaulicher Kriminalprävention dem Niedergang entgegenwirken (Saville/Atlas 2016; ProPK 2019a). Die zweite Erzählung, das Narrativ der defensiven Architektur, kritisiert solche Ordnungs- und Sicherheitsarchitekturen in öffentlichen Räumen (vgl. Andreou 2015; Atkinson/While 2015; Petty 2016; Smith/Walters 2017). Defensive Architektur grenze Marginalisierte aus, bloß weil sie Verhaltensweisen zeigten, die von den herrschenden sozialen Normen abwichen; bestimmte unerwünschte (harmlose, wenn auch mitunter unangenehme) Verhaltensweisen (wie z. B. Betteln) würden in Diskurs und Praxis kriminalisiert (Belina 2010). Defensive Architektur böte Menschen in Not keine Hilfe an, sondern würde sie an andere Orte vertreiben und Armut aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verdrängen. Sie stünde für neoliberale Formen der Stadtentwicklung und die Kriminalisierung des öffentlichen Raums (vgl. Smith/Walters 2017; Belina 2010). Die beiden oben beschriebenen Narrative konstruieren unterschiedliche Bilder der Realität (Viehöver 2014) und können als Erzählung und Gegenerzählung verstanden werden. Sie sind Bestandteil einer scharf geführten politischen Kontroverse, die in Wissenschaft, Fachöffentlichkeit und Zivilgesellschaft ausgiebig rezipiert und fortge- 1 Vgl. die Webseiten der Hersteller GÖDDE BETON (https://www.goedde-beton.de/leistungen/kantenschutz/1) und Tradesign (https://www.betonbank.de/skaterschutz/). 2 vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 schrieben wird; Medien schenken vor allem dem Narrativ der defensiven Architektur Beachtung.2 Dass im Kontext von Wohnungslosigkeit unterschiedliche Narrative über Ordnung und Sicherheit und die Rolle von Architektur im öffentlichen Raum kommuniziert werden, überrascht nicht: Die Wohnungslosigkeit hat in Deutschland ein solches Ausmaß erreicht, dass sie in öffentlichen Räumen unübersehbar geworden ist.3 Zudem sind öffentliche Räume als konkrete Orte des sozialen Miteinanders sowie als abstrakte Projektionsflächen für unterschiedlichste Vorstellungen von Stadt und Gesellschaft immer Politische Erzählungen als Forschungsansatz In öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten über Politik lässt sich beobachten, dass das Interesse an Erzählungen wächst. Erzählungen bzw. Narrative werden verstärkt als Medium genutzt, mit dem Menschen „Sinn und Bedeutung“ konstituieren und Realitäten konstruieren (Viehöver 2014: 70). Erzählungen beschreiben gesellschaftliche Entwicklungen, die auf realen Begebenheiten beruhen. Sie vermitteln normative Bilder und geben in verdichteter Form Antworten darauf, wie Gesellschaften verfasst sind. Damit sind sie wesentlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Kommunikation und gesellschaftlicher Interaktion (Gadinger et al. 2014). Indem sie einen „Zeitgeist“ formulieren, tragen sie dazu bei, Vergangenheit, Gegenwart und die (zu gestaltende) Zukunft zu verstehen und politische Orientierung zu bieten (Siller 2019). Der Begriff der Erzählungen bezieht sich sowohl auf den Gegenstand des Erzählten als auch den Prozess des Erzählens (Viehöver 2014). Das Politische am Erzählen hat verschiedene Facetten. Gadinger et al. (2014: 10-15) heben Legitimität, Macht und Polyphonie als zentrale Dimensionen einer politischen Erzählung hervor (vgl. Viehöver 2014: 72). Das Politische entsteht, wenn durch Erzählungen „Legitimitätsansprüche“ erhoben und verhandelt werden (Gadinger et al. 2014: 10). Politische Legitimität wird in gesellschaftlichen Debatten erzeugt oder entzogen. Erzählungen, die Sinn vermitteln, besitzen Legitimität, und ein etabliertes Narrativ gilt als eine legitime Geschichte (vgl. Siller 2019). Das Politische drückt sich, zweitens, in den „Machtansprüchen“ aus, die Erzählungen innewohnen. Narrative versuchen, in kommunikativen Prozessen Macht zu produzieren, indem sie eine in sich stimmige Rationalität entwickeln und mittels überzeugender Sprache situativ wirkmächtige Bilder entwickeln (Gadinger 2014: 11). Narrative streben an, Deutungshoheit über gesellschaftliche Fragen zu erlangen (Viehöver 2014: 72). Drittens macht sich das Politische in Erzählungen darin bemerkbar, dass sie polyphon und (teilweise) imaginiert sind. Das macht sie nicht nur in viele Richtungen anschlussfähig; das unscharfe und in gewissem Maße interpretationsoffene (polyphone) Wesen einer Erzählung scheint sogar das „Stimmvolumen einer Erzählung“ (Koschorke, zitiert in: Gadinger et al. 2014: 13) und damit ihre politische Wirkung zu erweitern. Auch in Gegenerzählungen, die mit anderen Narrativen um Deutungshoheit konkurrieren, drückt sich das Politische aus (Viehöver 2014). Das Thema Defensive Architektur wurde in den letzten Jahren u.a. aufgegriffen durch die Süddeutsche Zeitung (Beitzer 2018), das Radio SRF 2 Kultur (Gabathuler 2018), das Hamburger Abendblatt (Clamann 2016) und den Stern (2015). Die britische Zeitung The Guardian schenkt dem Thema seit Jahren kontinuierlich Beachtung (u.a. Schreiner 2018, Andreou 2015, Omidi 2014). 2 3 3 Die Bundesarbeitsgemeinschaft BAG Wohnungslosenhilfe e.V. schätzt, dass im Jahr 2018 678.000 Menschen in Deutschland wohnungslos waren. Pressemitteilung vom 11.11.2019, https://www.bagw.de/ media/doc/PRM_2019_11_11_Schaetzung_Zahl_der_Woh nungslosen.pdf [Zugriff am 4.2.2020]. vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 umstritten. Beispiele zeigen, dass solche Kontroversen hochaktuell sind.4 Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Ausschnitte der Realität diese Narrative tatsächlich abbilden: Beide Narrative beziehen sich eher auf Metaerzählungen (broken windows bzw. neoliberale Stadtentwicklung) als auf empirische Studien und die einzelnen Fallbeispiele werden selten in konkrete wohnungspolitische Kontexte eingebettet. Die Arbeitshypothese dieses Textes ist es daher, dass es in konkreten Fällen neben den großen, medial zugespitzten Narrativen auch andere, womöglich differenzierte und vermittelndere Stimmen und Erzählungen gibt, die weniger sicht- und hörbar sind. Ziel dieses Beitrags ist es, die beiden Erzählungen über wehrhafte Räume und defensive Architekturen in öffentlichen Räumen im Kontext von Wohnungslosigkeit zu rekonstruieren, zu vergleichen und daraus erste Schlussfolgerungen für Wissenschaft und Praxis abzuleiten.5 Methodisch greift die Arbeit einerseits auf Informationen zurück, die wissenschaftlichen als auch nicht-wissenschaftlichen Quellen (u. a. Zeitung, Radio, Webseiten) entstammen; andererseits speist sich der Text aus Materialien, die der Autor im Rahmen von Ortsbegehungen in Berlin und Gelsenkirchen (insb. Fotos, Feldnotizen) sowie 4 So hat z.B. die Stadt Düsseldorf im September 2019 – nach eigener Aussage aus Sicherheitsgründen – unter der Rheinkniebrücke schwere, kantige Steine verlegen lassen. An dieser Stelle lebten seit einiger Zeit wohnungslose Menschen; das weitere Campieren wurde durch die Steine unmöglich gemacht. Gleichzeitig wurde nach Aussage der Stadt eine neue Notschlafstelle eingerichtet. Öffentliche Proteste von Vertretern der Wohnungslosenhilfe, einiger wohnungsloser Menschen und anderer führten dazu, dass die Stadt Düsseldorf die Steine innerhalb kurzer Zeit wieder entfernte. Der Konflikt ist derzeit ungelöst, der Raum unter 4 Fachveranstaltungen und -gesprächen gewonnen hat. 2. Das Narrativ der bedrohten, wehrhaft zu machenden Räume Die politische Erzählung der bedrohten, wehrhaft zu machenden Räume hat ihren Ursprung in den 1970er Jahren in den USA. Die Themen Sicherheit und Kriminalitätsprävention in öffentlichen Räumen mittels Architektur und Design hielten über Argumentationsfiguren wie defensible space (Jeffrey 1971; Newman 1972/1996) oder broken windows (Kelling/Wilson 1982) Eingang in die gesellschaftspolitische Debatte. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die Wahrnehmung, dass in vielen Städten bzw. Stadtvierteln soziale Unordnung herrschen, baulicher Verfall grassieren, die Kriminalitätsrate steigen und das Gefühl der Unsicherheit wachsen würde. Der Kriminologe C. Ray Jeffrey setzte sich unter dem Label Crime Prevention through Enviromental Design (CPTED) für neue, moderne Formen der Kriminalprävention und -kontrolle ein. Er argumentierte, dass ein interdisziplinärer Ansatz – der Elemente von Architektur und Design, Stadtplanung, Biologie, Neurowissenschaften und Kriminologie vereint – Kriminalität reduzieren und Sicherheit und Ordnung erhöhen könne (1971, zit. in: Van Soomeren 2015: 3). der Brücke soll mit anderen Mitteln gesichert werden (Westdeutsche Zeitung 2019a/2019b). 5 Die vorliegende werkSTADT knüpft an bestehende Arbeiten des vhw - Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. in den Forschungsfeldern Lokale Demokratie, Urbaner Wandel & gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie Quartier und Nachbarschaft an. Mit dem Beitrag wird Städten, Gemeinden und anderen Interessierten überblicksartig Orientierungswissen zur Verfügung gestellt, das es erleichtert, lokale Diskurse zu reflektieren. vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Der Architekt Oscar Newman (1972/1996: 9) verfolgte das Ziel, Kriminalität zu reduzieren, Kriminelle zu vertreiben und es communities zu ermöglichen, ihren Lebensstil zu verwirklichen. Um das zu erreichen, sollten Programme im Sinne des defensible space das bauliche Design öffentlicher, aber auch halböffentlicher und privater Räume so verändern, dass Anwohner sie kontrollieren und damit Sicherheit und Ordnung gewährleisten können. Architektur und Design bildeten einen zentralen Pfeiler von defensible space-Programmen, denn Newman konstruierte einen Zusammenhang zwischen baulicher Situation und Verhalten. Newman (1972, zit. in: Van Soomeren 2015: 3) zufolge könnten Zäune oder Stacheldraht, aber auch subtile Maßnahmen wie beispielsweise Pflasterungen, niedrige Hecken oder Steine, die Grenzen markieren, Ordnung und Sicherheit vermitteln. Auch Bürgerengagement war ein wichtiger Pfeiler in dem Konstrukt, da Newman die Programme vorrangig als Selbsthilfeansätze verstand (1996: 9). Broken windows stand hingegen für eine von den Sozialwissenschaftlern George L. Kelling und James Q. Wilson (1982) entwickelte Argumentationsfigur, in der Kriminalität Ergebnis einer längeren Kette von Ereignissen sei, an deren Anfang soziale und bauliche Unordnung stehe. Soziale Desintegration und bauliche Unordnung in öffentlichen Räumen würden in der Gesellschaft ein Gefühl der Unsicherheit erzeugen. Sie vermittelten den Eindruck, als kümmere sich niemand. Öffentliche Räume würden infolgedessen nach und nach gemieden und die soziale Kontrolle nähme ab. Damit setze sich eine Abwärtsspirale in Gang, die zu noch stärkerer sozialer Desorganisation und weiterem baulichen Niedergang führe – und schließlich in Kriminalität münden und Kriminelle an- 5 ziehen würde. Die Polizei- bzw. Kriminalstrategie sollte daher sein, soziale und bauliche Ordnung wiederherzustellen bzw. zu bewahren. Statt lediglich Straftaten aufzuklären sollten präventiv abweichendes Verhalten und baulicher Verfall adressiert werden, um zu verhindern, dass Straftaten entstehen (Kelling/Wilson 1982: 10-11). Kelling und Wilson identifizierten disorderly people als eine zentrale Ursache für Angst und Unbehagen im öffentlichen Räumen (1982: 3): „[D]isorderly people. Not violent people, nor, necessarily, criminals, but disreputable or obstreperous or unpredictable people: panhandlers, drunks, addicts, rowdy teenagers, prostitutes, loiterers, the mentally disturbed.” Diese Idee bedrohter öffentlicher Räume und abwehrenden Designs wurde in den 1990er Jahren in New York City populär und Teil der Handlungsrichtschnur der Polizei; sie wurde in den letzten Jahrzehnten auch in anderen Kontexten fortgeschrieben. So haben Vereinigungen wie die International CPTED Association dazu beitragen, dass die politische Erzählung des wehrhaften Raums auf internationaler Ebene an Relevanz gewinnt. Ziel des Ansatzes Crime Prevention through Environmental Design (CPTED) ist es, „to design crime out“ (Levald et al. 2015: 6). Erste Maßnahmen basierten auf den Prinzipien „der Zugangskontrolle, […] der nicht-technischen Überwachung, des Wehrhaft-Machens, der Imagebildung und der Instandsetzung“ bestimmter Räume (Saville/Atlas 2016: 8, eigene Übersetzung). Diese Maßnahmen wurden explizit „Homeless Reduction Technologies“ genannt (Saville/Atlas 2016: 2, 9). Da einige dieser Ansätze selbst von ihren Befürwortern als problematisch, unwirksam oder sogar gesetzeswidrig anerkannt wurden, wurde später damit begonnen, auch moderne, soziale Konzepte und vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit zu propagieren (Saville/Atlas 2016: 10-12). In der Bundesrepublik wurde diese Perspektive in den 2000er Jahren von der Polizei aufgegriffen und seither fortgeschrieben: So informieren und beraten Einrichtungen wie z. B. die Polizeiliche Kriminalprävention des Bundes und der Länder und das Landeskriminalamt Hamburg Kommunen und Wohnungsunternehmen, wie die beschriebenen Probleme im öffentlichen Raum bewältigt werden können (ProPK 2019a; ProPK 2019b; Landeskriminalamt Hamburg 2019, 2014a, 2014b). Die Präventionsarbeit der Polizeibehörden erfolgt u. a. in Form von Schulungen, Beratungen und Broschüren und ist unter dem Namen Städtebauliche Kriminalprävention bekannt. Das Landeskriminalamt Hamburg gibt konkrete Hinweise, wie sich die Grundsätze der Städtebaulichen Kriminalprävention in die Gestaltung öffentlicher Räume übersetzen lassen (2014a: 3-8):  Orientierung bieten o klare Abgrenzungen zwischen öffentlichen und privaten Räumen schaffen o Gebäude und Freiflächen übersichtlich gestalten o Wege gradlinig führen  Sichtbarkeit erhöhen und Sichtbarrieren abbauen o Wege oberirdisch führen o verwinkelte Ecken sprünge vermeiden und Mauervor- o Unterführungen ausreichend belichten und übersichtlich gestalten  Mobilitätsbarrieren verringern und Fluchtwege schaffen o Niveauunterschiede abbauen o Zäune oder Hecken an Wegen vermeiden  Öffentliche und private Räume instandhalten und pflegen Abb. 5 und 6: Gruppe aus einzelnstehenden Metallsitzen am Heinrich-König-Platz, Gelsenkirchen; Bänke mit Trennelementen, Wilmersdorfer Straße, Berlin Quelle: Fotos des Autors 6 vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 o Müllcontainer verschlossen halten o Fahrradboxen/-räume statt offene Fahrradstellplätze schaffen o Antigraffitibeschichtung gegen Graffiti an Wänden einsetzen 3. Das Narrativ der feindseligen, durch defensive Architektur geprägte Räume Städtebauliche Kriminalprävention wird dem Narrativ zufolge erst durch die institutionalisierte Zusammenarbeit von Polizei, Stadtplanung und Wohnungsunternehmen wirksam, und Sicherheitsaspekte sollen „integrale[r] Bestandteil eines interdisziplinären Planungs- und Gestaltungsprozesses“ werden (Schubert et al. 2007: 32; 34). Die Rede von feindseligen, von defensiver Architektur geprägten Räume stellt eine Gegenerzählung zum Narrativ der wehrhaften Räume dar. Die Begriffe defensive architecture, aber auch hostile architecture bzw. disciplinary architecture werden von Vertretern der kritischen Wissenschaften6, Teilen der Medien und der Zivilgesellschaft (einschl. der Wohnungslosenverbände und wohnungsloser Menschen selbst) genutzt, um auf den dieser Lesart nach ausgrenzenden, disziplinierenden und inhumanen Charakter bestimmter Architektur- und Designelemente im öffentlichen Raum hinzuweisen (vgl. Smith/Walters 2017; Petty 2016; Andreou 2015; Atkinson/While 2015). Der Zweck defensiver Architektur sei es, „[to] guide, cajole or remove people who are unwanted in [public] spaces“ (Atkinson/While 2015: 2), und es wird abgelehnt, Gestaltungselemente einzusetzen, die „by virtue of their design“ (Petty 2016: 68) bestimmte Personen bzw. Gruppen und bestimmte Verhaltensweisen in öffentlichen Räumen abwehren. Defensive architecture würde Marginalisierten gelten, weil sie Verhaltensweisen zeigten (wie z. B. auf der Straße leben, betteln oder Drogen konsumieren), die von der vorherrschenden sozialen Norm abwichen (Atkinson/While 2015; Petty 2016; Andreou 2015). Beispiele von defensive architecture lassen sich v. a. seit den 2000er Jahren in Deutschland finden, sind aber auch in zahlreichen anderen europäischen Staaten, den Der Begriff Kritische Wissenschaften wird von Vertreterinnen und Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen (bspw. Soziologie, Politologie und Geographie) verwendet, die sich in Forschung und politischer Praxis auf kapitalismuskritische und emanzipatorische Theoriekonzepte beziehen. Kritik steht im Sinne der Kritischen Theorie als Gesellschaftskritik und dient als Basis für die normative Bewertung gesellschaftlicher Verhältnisse. Städtebauliche Kriminalprävention setzt nicht nur auf Maßnahmen der Architektur und des Designs im öffentlichen Räumen. Sie ist vielmehr Teil einer kriminalpräventiven Gesamtstrategie, die auch nicht-bauliche Anlagen und Maßnahmen (wie z. B. Notrufeinrichtungen, Videoüberwachung, Hinweisschilder, Servicepersonal) einschließt, um Kontrolle herzustellen und Sicherheit zu vermitteln (LKA Hamburg 2014a). Einzelne Bundesländer treiben das Narrativ bedrohter Räume besonders voran. Hervorzuheben sind die Länder Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein (Schubert et al. 2007: 35-36). Auch Kommunen greifen dies auf und übersetzen es in die konkrete bauliche Praxis, wie das zu Beginn erwähnte Beispiel aus Düsseldorf und die oben dargestellten Beispiele aus Gelsenkirchen und Berlin zeigen (Abb. 5 und 6). 6 7 vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 USA und China präsent (vgl. Schreiner 2018; Andreou 2015; Omidi 2014). Die Begriffe defensive bzw. hostile architecture stehen für “various structures that are attached to or installed in spaces of public use in order to render them unusable in certain ways or by certain groups” (Petty 2016: 68). Typische Formen dieser Art von Architektur seien in den Boden oder auf anderen Flächen aufgebrachte Metallstifte oder Noppen, aber auch bewusst uneben gestaltete (z. B. mit Steinen bedeckte) Flächen, die es Menschen verwehrten, dort zu sitzen, zu liegen oder zu schlafen. Weiterhin zählten Zäune oder andere Sperren dazu, die verhinderten, dass Personen auf dahinterliegende Flächen (ungenutzte Areale unter Brücken, etc.) gelangen. Auch Bänke, Sitze und andere Stadtmöbel stellten eine Form von defensive architecture dar, wenn sie so gestaltet seien, dass sie ein längeres Sitzen bzw. einen längeren Aufenthalt erschwerten oder es verhinderten, sich hinzulegen (Atkinson/While 2015; Andreou 2015; Petty 2016). Eine Sammlung von Bildern des Fotografen Nils Norman zeigt, wie vielfältig die Formen sind, die defensive Architekturen annehmen können.7 Zu den typischen Orten, an denen defensive Architektur eingesetzt wird, würden die Innenstädte als Zentren des Konsums, Bahnhofsvorplätze/-bereiche, aber auch „neo-liberal spaces of disinvestment“ (Kinder 2014) gehören. Defensive Architektur wird üblicherweise in den Kontext akademischer und politischer Debatten gestellt, in denen Ausgrenzung und Disziplinierung kritisiert werden. Dazu gehören u. a. Diskussionen um die neoliberale Restrukturierung der Städte (Smith/Walters 2017; Petty 2016; Atkinson/While 2015; Belina 2010) sowie die Kriminalisierung der Räume (Rolfes 2015; Belina 2010/2006) bzw. securitised urban landscapes (Atkinson/While 2015) und urban securitisation (Petty 2016). Als Bestandteil einer neoliberalen Stadtentwicklung würde defensive architecture dazu beitragen, öffentliche Räume zu kommerzialisieren, zu kommodifizieren und zu privatisieren. Politik richte sich in erster Linie an den Interessen gewinnorientierter Unternehmen sowie zahlungskräftiger Bewohnerinnen oder Besucher aus. Als Bestandteil der Strategie der securitised urban landscapes und der Kriminalisierung öffentlicher Räume würde defensive Architektur dazu beitragen, Räume zu schaffen, in der unbekanntes, unerwünschtes oder gar irritierendes Verhalten keinen Platz mehr fände (Klose 2012). Sie würde die von der (kritischen) Sicherheits- und Kriminalitätsforschung beobachtete Tendenz verstärken, öffentliche Räume zunehmend zu überwachen, abweichendes Verhalten zu disziplinieren und Marginalisierte zu verdrängen (vgl. Rolfes 2015; Belina 2010/2006). Im Zusammenspiel mit Videoüberwachung, Kontrollen durch Polizei bzw. private Ordnungsdienste oder neue rechtliche Disziplinierungsmöglichkeiten (z. B. Aufenthalts- und Trinkverbote) würde defensive Architektur zunehmend dazu führen, „Gestalt und Bedeutung der Städte durch Sicherheit“ zu prägen (Belina 2010: 53) und Räume zu kriminalisieren statt soziale Probleme konstruktiv zu lösen. Verurteilt wird zudem, dass abwehrendes Design die ohnehin schwierigen Lebensbedingungen von Menschen in Not noch viel schwieriger machen und eine Form von „spatialized violence“ (Petty 2016: 78) repräsentieren würde. 7 Vgl. http://www.dismalgarden.com/archives/defensive_architect ure#1 [Zugriff am 22.2.2019]. 8 vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Defensive Architekturen bildeten eine “cheap alternative to investing in more appropriate and humane responses to homelessness, such as shelters, social services and police action” (Atkinson/While 2015: 2). Das Fehlen von Schlafplätzen, kostenfreien Toiletten, Waschmöglichkeiten und Schließfächern seien nicht zuletzt deshalb problematisch, weil es wohnungslosen Menschen an Privatsphäre fehlt und sie daher im öffentlichen Raum Dinge verrichteten (wie z. B. Toilettengänge, Körperpflege), für die andere Menschen die eigene Wohnung und das eigene Bad aufsuchten (Busch-Geertsema/ Henke 2020). Auch würde abwehrendes Design dazu beitragen, Mittellosigkeit und soziale Not im öffentlichen Raum unsichtbar zu machen, da die Designfeatures selbst von vielen Menschen unbemerkt blieben (Atkinson/While 2015: 2-3). Alex Andreou (2015), der selbst eine Zeit lang auf der Straße gelebt hat, berichtet von der Erfahrung, dass er sich nicht nur in Not, sondern auch ausgegrenzt und unwillkommen fühlte und der psychologische Effekt defensiver Architektur für ihn verheerend gewesen sei. Kritisch hervorgehoben wird zudem, dass defensive Architektur einen Verlust an Lebensqualität für alle Menschen zur Folge haben würde (Smith/Walters 2018: 2984; Andreou 2015; Omidi 2014). So fänden beispielsweise ältere Menschen, Gehbehinderte und andere Personenkreise, die Sitzgelegenheiten benötigten, weniger Möglichkeiten vor, sich für eine längere Zeit komfortabel zu setzen und auszuruhen. Der öffentlicher Raum würde auf diese Weise weniger einladend für alle. 9 4. Vergleichende Analyse der beiden Narrative Die Narrative weisen neben wenigen Gemeinsamkeiten zahlreiche Unterschiede auf. Bereits der Ausgangspunkt – wer erzählt die jeweilige Geschichte – unterscheidet sich erheblich voneinander: Die erste Erzählung wird v. a. von Kreisen getragen, die eine architektonischstädtebauliche Perspektive bzw. eine polizeiund ordnungsrechtliche oder sicherheitspolitische Sicht auf Stadt und Gesellschaft einnehmen. Die Beiträge zu diesem Diskurs stammen vorrangig von Akteurinnen und Akteuren, die sich in der beruflichen Praxis mit Architektur und Städtebau bzw. Kriminalprävention befassen. Wissenschaftliche Beiträge sind nur in geringem Umfang enthalten. Die zweite Erzählung besteht hingegen v. a. aus Beiträgen, die eine kapitalismuskritische bzw. gesellschaftsund wohnungspolitisch eher progressive Perspektive einnehmen. Der wissenschaftliche Anteil des Diskurses ist höher, und ein nennenswerter Anteil der Beiträge entstammt einer journalistischen und zivilgesellschaftlichen politischen Praxis. Beide Varianten sind empirisch wenig belegt. Dementsprechend haben die beiden Erzählungen unterschiedliche Verständnisse davon, was den zentralen Konflikt ausmacht. Dreht es sich einmal darum, dass als Randgruppen bezeichnete Personen und (vermeintlich oder tatsächlich) Kriminelle die öffentliche Sicherheit beeinträchtigten und es den ‘normalen’ Bürgerinnen und Bürgern (d. h. der Mehrheitsgesellschaft) erschwerten, ihren Lebensentwurf zu leben, handelt es ein andermal davon, dass die mit Macht ausgestatteten, privilegierten Gruppen der Gesellschaft Menschen in Not mittels defensiver Architektur aus öffentlichen Räumen ausgrenzten. Beide Geschichten sind politisch vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 in dem Sinne, dass sie eine klare Agenda verfolgen. Erkennbar wird, dass beide Diskurse auf unterschiedliche sprachliche Begrifflichkeiten rekurrieren. Wird in dem ersten Narrativ in der Sprache der Kriminologie negativ konnotiert von „Randgruppen“ und „Kriminellen“ gesprochen, greift der zweite Diskurs auf das Vokabular von Disziplinen wie sozialer Arbeit oder Sozialwissenschaft zurück, die (empathisch) von „Außenseitern und Auffälligen, den Outlaws, Grenzgängern und Exoten“ (Klose 2012: o.S.) sprechen. Der soziale Konflikt wird im ersten Fall sprachlich mit Formulierungen wie Störung der öffentlichen Ordnung entpersonalisiert und verdinglicht. Unterschiedliche Ausgangspunkte bestehen auch hinsichtlich der Realitätswahrnehmungen und der zugrundeliegenden Werte. Das erste Narrativ nimmt eine Perspektive der Angst, des Verlusts und des Niedergangs ein. Es formuliert die Idee einer Öffentlichkeit, die auf das „Wohlbefinden der Mehrheit“ (Belina 2010: 56) abzielt, einen Machtanspruch der Privilegierten und eine repressive Antwort des Staates, der Polizei, aber auch der Zivilgesellschaft auf eine wahrgenommene Bedrohung. Diese angstbetonte Perspektive erklärt zu einem Teil, dass abweichendes, ungewohntes Verhalten durch Randgruppen – selbst legales – als ein Sicherheitsproblem und damit als „schädlich“ gilt (Belina 2010: 56) und die Grenzen zwischen legalen und illegalen Handlungen verwischen. Der (selbstgesetzte) Anspruch, dass öffentliche Räume allen zur Verfügung stehen sollen (ProPK 2019b), wird nicht auf marginalisierte Gruppen ausgedehnt. Das Narrativ der defensiven Architektur ist hingegen eine Erzählung des Protests und des Widerstands gegen eine herrschende Ordnung, 10 die ausgrenzt und soziale Nöte verschärft. Es ist ein emanzipatorisches und kämpferisches Narrativ, das auf Inklusion, die Kraft des Aushandelns und des Aushaltens von Differenz setzt, trotz der Schwierigkeiten und Zumutungen, die es mit sich bringt. Werte wie Fairness, Würde und Vielfalt erfahren eine hohe Gewichtung. Das Narrativ postuliert ein Recht auf Stadt für alle. Es fordert dazu auf, gesellschaftliche Konflikte auf humanere Weise zu lösen als durch Verdrängung und Kontrolle. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Position ergreifen Partei für Marginalisierte und formulieren für sie bzw. mit ihnen einen Machtanspruch. Als fragwürdig kann die in der ersten Erzählfigur verwendete Argumentation gelten, dass Gefahr und Kriminalität in öffentlichen Räumen allgegenwärtig sind. Diese Position lässt sich zumindest mit Blick auf die polizeiliche Kriminalitätsstatistik der letzten Jahre nicht belegen: Die Zahl der erfassten Straftaten insgesamt ist in Deutschland seit vielen Jahren rückläufig, sie lag im Jahr 2018 um über eine Million Fälle niedriger als im Jahr 2004 (BMI 2019: 26). Darüber hinaus müsste die berechtigte Forderung nach Sicherheit die Mehrheitsgesellschaft und wohnungslose bzw. ausgegrenzte Menschen umfassen, denn diese sind selbst sehr häufig Opfer von Kriminalität und Gewalttaten (BAGW 2020). Objektiver Maßstab sollte nicht das subjektive Gefühl von Unsicherheit und Unbehagen sein, sondern das für alle Menschen geltende Recht auf körperliche und psychische Unversehrtheit. Unklar bleibt, welche Räume marginalisierten Personen zur Verfügung stehen und auf welche Orte das Konstrukt der bedrohten Räume (nicht) anzuwenden sei. Studien zeigen, dass neue Aufenthaltsorte für auf der Straße lebende Menschen oft an für die betreffenden vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Personen unpassenden und inakzeptablen Orten eingerichtet werden (Busch-Geertsema 2019). Es ist zu fragen, ob es aus Sicht der Befürworter des Konstrukts bedrohter Räume überhaupt Orte geben kann, an denen wohnungslose Menschen willkommen sind. Blinde Flecken weisen beide Diskurse in Bezug auf konkrete Lösungsansätze für die Herausforderungen von Wohnungslosigkeit und Armut in öffentlichen Räumen auf. So findet sich beispielsweise in der Erzählung der defensiven Architektur kaum eine Erwähnung der Frage, wie sich Konflikte um mangelnde Hygiene bei stark verwahrlosten Personen lösen lassen. Einige Menschen sind in einem solchen Maße gesundheitlich und hygienisch vernachlässigt, dass sie einerseits selbst gesundheitlich gefährdet sind und andererseits bei anderen Menschen Fluchtreflexe, ablehnende Reaktionen (wie z. B. Ausgrenzung), Scham oder Ekel auslösen können. Hier böten sich Lösungsansätze an, die innovativ, niedrigschwellig, aufsuchend und nicht paternalistisch sind, wie z. B. das Duschmobil für obdachlose Frauen in Berlin; der in Australien entwickelte, mit Waschmaschinen und Trocknern ausgestattete Bus; die vom Little Home Köln e. V. entwickelten mobilen Tiny Houses, die eine sichere Unterkunft bieten und von einem Ort zum anderen gezogen werden können; die Schließfächer für Wohnungslose der Möhler-Stiftung, in der obdachlose Menschen ihre Habseligkeiten verwahren und sich so freier bewegen können8; sowie natürlich eine niedrigschwellige, zugängliche gesundheitliche Versorgung. Befürwortern repressiver Ansätze fällt es hingegen offensichtlich grundsätzlich schwer, anzuerkennen, dass die derzeitigen 8 https://duschmobil.de/; https://little-home.eu/; http://www.moehler-stiftung-stuttgart.de/hintergruende- 11 Strukturen und Angebote der Wohnungslosenhilfe oft unzureichend sind (Saville/Atlas 2016: 12). Mit Blick auf die Erzähltechniken lässt sich feststellen, dass v. a. das Narrativ der defensiven Architektur auf die Macht starker Bilder setzt. Konkrete Beispiele werden regelmäßig fotografiert und veröffentlicht, und die Fotos transportieren die Empörung, die mit der abwehrenden Architektur verbunden wird. Nahezu alle Presseberichte sind mit Fotografien unterlegt, und es bestehen ganze fotografische Sammlungen, die sich kritisch mit dem Thema auseinandersetzen (Schreiner 2018). Das Narrativ bedrohter Räume nutzt hingegen v. a. das Bild des städtischen Niedergangs, um figurativ den Ausgangspunkt der Geschichte zu skizzieren. 5. Fazit und Ausblick Die Narrative der bedrohten Räume und der defensiven Architektur sind zwei etablierte politische Erzählungen über Ordnungs- und Sicherheitsarchitekturen in öffentlichen Räumen im Kontext der Wohnungslosigkeit. Als Erzählung bzw. Gegenerzählung sind sie Teil einer politischen Kontroverse und ringen um die Deutungshoheit über öffentliche Räume. Beide Erzählungen formulieren Machtansprüche und beanspruchen Legitimität. Sie basieren auf unterschiedlichen normativen Vorstellungen von Stadt und Gesellschaft und werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen getragen. Ein in der architektonisch-städtebaulichen und kriminalpolizeilichen Praxis verwurzelter Diskurs steht einem eher in der zivilgesellschaftlich-politischen Praxis eingebetteten Diskurs gegenüber. zum-projekt.html; https://www.theguardian.com/world/2018/nov/06/cleaning-up-mobile-laundryfor-the-homeless-goes-international. vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Gleichwohl überrascht das hohe Maß, in dem sich die Narrative auf Metadiskurse beziehen und der geringe Umfang, in dem in den Erzählungen empirisch gewonnene Forschungsergebnisse herangezogen werden. Jedes Narrativ kommt argumentativ stark daher. Grautöne und vermittelnde Stimmen erhalten wenig Raum, auch werden beide Narrative jenseits der Metadiskurse nahezu nicht in wohnungs-, drogen-, armuts- oder stadtpolitische Kontexte eingebettet. Daher wirken die Erzählungen mitunter überspitzt. Es ist anzunehmen, dass es neben diesen Narrativen auch vermittelndere Stimmen oder weitere Narrative gibt, die diese Dimensionen berücksichtigen. Da Vorstellungen über öffentliche Räume, über gesellschaftliches Miteinander und über (gesellschaftliche) Vielfalt situativ immer wieder neu verhandelt werden, wird – wie das erwähnte Beispiel aus Düsseldorf zeigt – immer wieder neu um Deutungshoheit gerungen. Auch die Frage, inwieweit Erzählungen in sich abgeschlossen sind oder zu „Brückenschlägen“ (Gadinger et al. 2014: 33) beitragen können, wird nur am konkreten Beispiel zu erfahren sein. Um zu differenzierten Diskursen und Handlungskonzepten zu gelangen, wäre in diesem stadtund gesellschaftspolitischen Themenfeld also mehr empirische Forschung notwendig und wünschenswert. Auch wenn man im Sinne einer differenzierteren Perspektive ordnungs- und sicherheitspolitische Aspekte angemessen berücksichtigt, bleibt eines klar: Wenn es uns darum geht, Vielfalt, Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, eignet sich weder das Narrativ der wehrhaften Räume noch dessen bauliche und gestalterische Umsetzung, um den Herausforderungen der 12 Wohnungslosigkeit (und damit Wohnungslosen) in öffentlichen Räumen zu begegnen. Literatur Andreou, Alex (2015): Anti-homeless spikes: ‚Sleeping rough opened my eyes to the city’s barbed cruelty‘. In. The Guardian vom 18. Februar 2015. https://www.theguardian.com/society/2015/feb/18/defensive-architecture-keeps-poverty-undeen-and-makes-us-morehostile [10.1.2019]. Atkinson, Rowland; While, Aidan (2015): Defensive Architecture: Designing the Home-less Out of Cities. The Conversation, Dec 30 2015, 1-3. https://theconversation.com/defensive-architecture-designingthe-homeless-out-of-cities-52399 [10.1.2019]. BAGW (2020): Gewalt gegen wohnungslose Menschen – Ein Themenschwerpunkt. Zeitschrift wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. 2/2020. Beitzer, Hannah (2018): Obdachlose in Berlin. Worte statt stacheln. In: Süddeutsche Zeitung vom 24.4.2018. https://www.sueddeutsche.de/leben/obdachlose-in-berlin-worte-statt-stacheln1.3956148 [24.4.2019]. Belina, Bernd (2010): Stadt regieren mittels Raumproduktionen im Namen der Sicherheit. In: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Nr. 40/41 – Understanding Stadtforschung – 10 Jahre dérive, S. 53-58. Belina, Bernd (2006): Raum, Überwachung, Kontrolle: Vom staatlichen Zugriff auf städtische Bevölkerung, Münster. BMI (2019): Polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2018. Ausgewählte Zahlen im Überblick. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI), Berlin Busch-Geertsema, Volker (2020): Hilfen in Wohnungsnotfällen: Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten der Städte und Gemeinden bei Vermeidung und Behebung von Wohnungslosigkeit. Skript zur vhw-Fortbildung vom 13.1.2020 in Stuttgart [unveröffentlichtes Manuskript]. Busch-Geertsema, Volker; Henke, Jutta (2020): Systemsprenger in Hilfesystemen für Wohnungslose und psychisch Kranke: Herausforderungen und Lösungsansätze. Skript zur vhw-Fortbildung vom 13.7.2020 in München [unveröffentlichtes Manuskript]. vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Clamann, Aaron (2016): Diesen Aufwand betreiben Städte, um Obdachlose loszuwerden. In: Hamburger Abendblatt vom 27.1.2016. https://www.abendblatt.de/vermischtes/article206976355/Diesen-Aufwand-betreiben-Staedte-um-Obdachlose-loszuwerden.html [24.4.2019]. Gabathuler, Mirja (2018): 100 Sekunden Wissen. Defensive Architektur. Feature von Radio SRF 2 Kultur (SRF Schweizer Radio und Fernsehen) vom 17.1.2018. https://www.srf.ch/sendungen/100-sekunden-wissen/defensive-architektur [4.1.2020]. Gadinger, Frank; Jarzebski, Sebastian; Taylan, Yildiz (2014): Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie. F. Gadinger, S. Jarzebski, T. Yildiz (Hrsg., 2014): Politische Narrative. Konzepte - Analysen – Forschungspraxis. Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 3-38. Jeffery, C. Ray (1971): CPTED – Crime Prevention through Environmental Design. SAGE Publications. Kinder, Kimberley (2014): Guerrilla-style Defensive Architecture in Detroit: A Self-provisioned Security Strategy in a Neoliberal Space of Disinvestment. International Journal of Urban and Regional Research. Vol. 38.5, September 2014, 1767-1784. Kelling, George L.; Wilson, James Q. (1982): Broken Windows. The police and neighborhood safety. The Atlantic, March 1982. https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1982/03/brokenwindows/304465/ [18.4.2019]. Klose, Andreas (2012): Treffpunkt Straße? Öffentlicher Raum zwischen Verdrängung und Rückgewinnung. Einige geschichtliche und aktuelle Entwicklungen. In: Sozialraum.de (4) Ausgabe 2/2012. https://www.sozialraum.de/treffpunkt-strasse.php [24.4.2019]. Kramper, Gernot (2015): Der unbarmherzige Kreuzzug gegen die Obdachlosen. In: Stern vom 31.1.2015. https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/so-vertreiben-die-staedte-die-armen-aus-derstadt-3969428.html [24.4.2019]. Landeskriminalamt Hamburg (2019): Städtebauliche Kriminalprävention. Hamburg. https://www.polizei.hamburg/staedtebauliche-kriminalpraevention/ [3.1.2019]. 13 Landeskriminalamt Hamburg (2014a): Städtebauliche Kriminalprävention. Hinweise zur praktischen Umsetzung. Kriminalpolizeiliche Beratungsstelle der Hansestadt Hamburg. 05/2014. Hamburg. Landeskriminalamt Hamburg (2014b): Städtebauliche Kriminalprävention. Impulse für eine sichere Stadtgestaltung. Informationsflyer der Polizei Hamburg 03/2014. Hamburg. Levald, Andreas et al. (2015): CPTED – Manual for Police Officers. Crime prevention through environmental design (CPTED). https://eucpn.org/sites/default/files/content/download/files/cpted_manual_for_police_officers.pdf [12.4.2019]. Newman, Oscar (1972): Defensible Space: Crime Prevention through Urban Design. New York, Macmillan. Newman, Oscar (1996): Creating Defensible Space. Im Auftrag des U.S. Department of Housing and Urban Development – Office of Policy Development Research, April 1996. Washington. Omidi, Maryam (2014): Anti-homeless spikes are just the lates in ‚defensive urban architecture‘. In: The Guardian vom 12. Juni 2014. https://www.theguardian.com/cities/2014/jun/12/anti-homelessspikes-latest-defensive-urban-architecture [10.1.2019]. Petty, James (2016): The London Spikes Controversy: Homelessness, urban securitisation and the question of ‚hostile architecture‘. International Journal for Crime, Justice and Social Democracy 5(1): 6781. ProPK – Polizeiliche Kriminalprävention des Bundes und der Länder (2019a): Stand der Wissenschaft. https://www.polizei-beratung.de/themen-undtipps/staedtebau/hintergrundinformationen/standder-wissenschaft/ [7.3.2019]. ProPK – Polizeiliche Kriminalprävention des Bundes und der Länder (2019b): Beratungsgrundlagen der Polizei. https://www.polizei-beratung.de/themenund-tipps/staedtebau/hintergrundinformationen/beratungsgrundlagen-der-polizei/#panel-32926 [7.3.2019). Rolfes, Manfred (2015): Kriminalität, Sicherheit und Raum. Humangeographische Perspektiven der Sicherheits- und Kriminalitätsforschung. Sozialgeographie kompakt, Band 3, herausgegeben von Werner Gamerith, Franz Steiner Verlag, Stuttgart. vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020 Saville, Gregory; Atlas, Randall I. (2016): White Paper on Homelessness and CPTED for the International CPTED Association. 8 April 2016. http://www.cpted.net/resources/Documents/ICA%20Resources/White%20Papers/White%20Paper_%202016_Homelessness%20and%20CPTED.pdf [12.4.2019). Schreiner, Julius-Christian (2018): Hostile Architecture: An uncomfortable urban art – in pictures. In: The Guardian vom 21.8.2018. https://www.theguardian.com/cities/gallery/2018/aug/21/hostile-architecture-an-uncomfortable-urban-art-in-pictures [24.4.2019]. Schubert, Herbert; Spieckermann, Holger; Veil, Katja (2007): Sicherheit durch präventive Stadtgestaltung. In: Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb, Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte - APuZ, 12/2007, S. 32-38. Siller, Peter (2019): Politische Orientierung in der Zeit. Zum Verständnis einer politischen Erzählung. Böll.brief Demokratie & Gesellschaft #14, Juni 2019, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin. Smith, Naomi; Walters, Peter (2018): Desire lines and defensive architecture in modern urban environments. Urban Studies, 2018, Vol. 55(13), S. 2980-2995. Van Soomeren, Paul (2015): General CPTED Principles. In: Levald, Andreas et al. (2015): CPTED – Manual for Police Officers, S. 3-12. https://eucpn.org/sites/default/files/content/download/files/cpted_manual_for_police_officers.pdf [12.4.2019]. Viehöver, Willy (2014): Erzählungen im Feld der Politik. Politik durch Erzählungen. Überlegungen zur Rolle der Narrationen im Feld der politischen Wissenschaften. In: F. Gadinger, S. Jarzebski, T. Yildiz (Hrsg., 2014): Politische Narrative. Konzepte - Analysen – Forschungspraxis. Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 67-91. Westdeutsche Zeitung (2019a): Gesellschaft. Stadt geht mit Steinen gegen Obdachlose vor. Westdeutsche Zeitung vom 25.9.2019. https://www.wz.de/nrw/stadt-duesseldorf-gehtmit-steinen-gegen-obdachlose-vor_aid-46083435 [30.9.2019]. Westdeutsche Zeitung (2019b): Welle der Empörung. Obdachlosenlager am Rhein. Protestaktion vor dem Rathaus. Westdeutsche Zeitung vom 26.9.2019. https://www.wz.de/nrw/duesseldorf/obdachlosenlager-in-duesseldorf-protest-vor-dem-rathaus_aid-46098765 [30.9.2019]. Impressum vhw werkSTADT Autor ISSN 2367-0819 Dr. Eric M. Tenz, Fortbildungsreferent und Herausgeber Wissenschaftler, vhw e. V. vhw-Bundesverband für Wohnen und Grundlayout Stadtentwicklung e. V. DCM Druck Center Meckenheim GmbH Vorstand: Prof. Dr. Jürgen Aring www.druckcenter.de Fritschestraße 27/28 10585 Berlin Telefon: +49 30 390473-230 Erscheinungsweise unregelmäßig Telefax: +49 30 390473-190 Bezug werkstadt@vhw.de Alle Ausgaben der vhw werkSTADT sind unter: www.vhw.de http://www.vhw.de/publikationen/ kostenfrei herunter zu laden. Titelbildquelle: © Dr. Eric M. Tenz 14 vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.