Nummer 49
vhw werkSTADT
Dezember 2020
Wehrhafte Räume oder
defensive Architektur?
Politische Erzählungen über Ordnungs- und Sicherheitsarchitekturen in öffentlichen Räumen im Kontext von
Wohnungslosigkeit
Eric M. Tenz
1. Einleitung
Sicherheit und Ordnung in öffentlichen Räumen sind Themen, die in Politik und Gesellschaft oft diskutiert werden. Sie werden in unterschiedlichen Kontexten verhandelt: Sei es
mit Blick auf Anschläge, die – wie am Berliner
Breitscheidtplatz leidvoll erfahren – oft mit zahlreichen Toten und Verletzten einhergehen; sei
es – wie am Berliner Alexanderplatz – mit Bezug
zu Kriminalität wie z. B. Gewalttaten oder Drogendelikten; sei es im Kontext von Armut und
sozialer Not wie sie z. B. in Form von Wohnungslosigkeit zum Ausdruck kommt; oder sei
es mit Blick auf Sub- und Jugendkulturen, die
durch unangepasstes Verhalten scheinbar die
öffentliche Ordnung stören.
Die baulich-physische Gestaltung öffentlicher
Räume – v. a. der Einsatz von Elementen der
Architektur – spielt in diesem Kontext eine
wichtige Rolle. Der Anschlag in Berlin oder auch
die vom 11. September 2001 in den USA führten dazu, dass zahlreiche öffentliche Straßen
und Plätze z. B. durch Poller oder Betonquader
befestigt wurden (s. Abb. 1). Gebäude werden
mitunter als (temporäre) Sicherheitsarchitektur
gegen kriminelles Handeln errichtet (s. Abb. 2);
Steine, flächig aufgebrachte Metallstifte, Zäune
oder in einzelne Sitze unterteilte Bänke hindern
häufig wohnungslose Personen daran, sich an
öffentlichen Orten länger aufzuhalten oder zu
schlafen (Andreou 2015; Atkinson/While 2015)
(s. Abb. 3). Designelemente aus Metall oder
Abb. 1: Betonquader am Weihnachtsmarkt, Potsdamer Platz, Berlin; Abb. 2: Temporäres Polizeigebäude im öffentlichen Raum, Alexanderplatz, Berlin; Abb. 3: Steine in einer Nische, Kinzigstraße, Berlin;
Abb. 4: Kantenschutz an Bänken und Einfriedungen, Pariser Platz, Stuttgart;
Quelle: Fotos des Autors
1
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Hartgummi, der sogenannte Skaterschutz, richten sich an vielen Plätzen gegen die Jugendkultur der Skateboarder und hindern sie daran, in
öffentlichen Räumen zu skaten (s. Abb. 4).1
Im Kontext von Wohnungslosigkeit lassen sich
seit einigen Jahren in Deutschland und im
internationalen Kontext zwei wirkmächtige
Erzählungen über Ordnung und Sicherheit und
die Rolle von Architektur in öffentlichen
Räumen beobachten:
1. Die Erzählung der bedrohten, wehrhaft zu
machenden öffentlichen Räume.
2. Das Narrativ der feindseligen, von defensiver
Architektur geprägten öffentlichen Räume.
In der Erzählung der bedrohten öffentlichen
Räume werden Ordnung und Sicherheit als
gefährdet angesehen – es gilt, sie wehrhaft zu
machen und die Kontrolle (wieder) zu erlangen.
Öffentliche Räume würden dieser Erzählung
nach in zweierlei Hinsicht verwahrlosen: In
sozialer Hinsicht, weil sogenannte Randgruppen (wie z. B. Obdachlose) öffentlich
übermäßig präsent seien und deviantes oder
sogar kriminelles Verhalten zeigen würden; in
baulicher Hinsicht, weil Straßen, Plätze und
Gebäude nicht instandgehalten und gepflegt
und daher verfallen und verkommen würden.
Abnehmende Sicherheit und Ordnung in
öffentlichen Räumen würden diesem Narrativ
nach dazu führen, dass sich „many citizens,
particularly women“ (Saville/Atlas 2016: 7)
unsicher fühlen und öffentliche Räume meiden
würden und daher keine soziale Kontrolle
ausüben könnten; eine Abwärtsspirale würde
drohen, in der Ordnung und Sicherheit weiter
abnähmen.
Dieser u. a. auf Konzepten wie defensible space
oder broken windows (Jeffrey 1971; Newman
1972) beruhenden Erzählung nach könnten
eine die Sicherheit und Ordnung im öffentliche
Raum fördernde Architektur und Formen städtebaulicher Kriminalprävention dem Niedergang
entgegenwirken (Saville/Atlas 2016;
ProPK 2019a).
Die zweite Erzählung, das Narrativ der
defensiven Architektur, kritisiert solche Ordnungs- und Sicherheitsarchitekturen in
öffentlichen Räumen (vgl. Andreou 2015;
Atkinson/While
2015;
Petty
2016;
Smith/Walters 2017).
Defensive Architektur grenze Marginalisierte
aus, bloß weil sie Verhaltensweisen zeigten, die
von den herrschenden sozialen Normen
abwichen; bestimmte unerwünschte (harmlose, wenn auch mitunter unangenehme)
Verhaltensweisen (wie z. B. Betteln) würden in
Diskurs und Praxis kriminalisiert (Belina 2010).
Defensive Architektur böte Menschen in Not
keine Hilfe an, sondern würde sie an andere
Orte vertreiben und Armut aus der
gesellschaftlichen Wahrnehmung verdrängen.
Sie stünde für neoliberale Formen der
Stadtentwicklung und die Kriminalisierung des
öffentlichen Raums (vgl. Smith/Walters 2017;
Belina 2010).
Die beiden oben beschriebenen Narrative
konstruieren unterschiedliche Bilder der
Realität (Viehöver 2014) und können als
Erzählung und Gegenerzählung verstanden
werden. Sie sind Bestandteil einer scharf
geführten politischen Kontroverse, die in
Wissenschaft, Fachöffentlichkeit und Zivilgesellschaft ausgiebig rezipiert und fortge-
1
Vgl. die Webseiten der Hersteller GÖDDE BETON
(https://www.goedde-beton.de/leistungen/kantenschutz/1)
und Tradesign (https://www.betonbank.de/skaterschutz/).
2
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schrieben wird; Medien schenken vor allem
dem Narrativ der defensiven Architektur
Beachtung.2 Dass im Kontext von Wohnungslosigkeit unterschiedliche Narrative über
Ordnung und Sicherheit und die Rolle von
Architektur im öffentlichen Raum kommuniziert werden, überrascht nicht: Die
Wohnungslosigkeit hat in Deutschland ein solches Ausmaß erreicht, dass sie in öffentlichen
Räumen unübersehbar geworden ist.3 Zudem
sind öffentliche Räume als konkrete Orte des
sozialen Miteinanders sowie als abstrakte
Projektionsflächen für unterschiedlichste Vorstellungen von Stadt und Gesellschaft immer
Politische Erzählungen als Forschungsansatz
In öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten über Politik lässt sich beobachten, dass das Interesse an
Erzählungen wächst. Erzählungen bzw. Narrative werden verstärkt als Medium genutzt, mit dem Menschen „Sinn und Bedeutung“ konstituieren und Realitäten konstruieren (Viehöver 2014: 70). Erzählungen
beschreiben gesellschaftliche Entwicklungen, die auf realen Begebenheiten beruhen. Sie vermitteln normative Bilder und geben in verdichteter Form Antworten darauf, wie Gesellschaften verfasst sind. Damit
sind sie wesentlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Kommunikation und gesellschaftlicher Interaktion
(Gadinger et al. 2014). Indem sie einen „Zeitgeist“ formulieren, tragen sie dazu bei, Vergangenheit, Gegenwart und die (zu gestaltende) Zukunft zu verstehen und politische Orientierung zu bieten (Siller 2019).
Der Begriff der Erzählungen bezieht sich sowohl auf den Gegenstand des Erzählten als auch den Prozess
des Erzählens (Viehöver 2014).
Das Politische am Erzählen hat verschiedene Facetten. Gadinger et al. (2014: 10-15) heben Legitimität,
Macht und Polyphonie als zentrale Dimensionen einer politischen Erzählung hervor (vgl. Viehöver 2014:
72). Das Politische entsteht, wenn durch Erzählungen „Legitimitätsansprüche“ erhoben und verhandelt
werden (Gadinger et al. 2014: 10). Politische Legitimität wird in gesellschaftlichen Debatten erzeugt oder
entzogen. Erzählungen, die Sinn vermitteln, besitzen Legitimität, und ein etabliertes Narrativ gilt als eine
legitime Geschichte (vgl. Siller 2019). Das Politische drückt sich, zweitens, in den „Machtansprüchen“
aus, die Erzählungen innewohnen. Narrative versuchen, in kommunikativen Prozessen Macht zu produzieren, indem sie eine in sich stimmige Rationalität entwickeln und mittels überzeugender Sprache situativ
wirkmächtige Bilder entwickeln (Gadinger 2014: 11). Narrative streben an, Deutungshoheit über gesellschaftliche Fragen zu erlangen (Viehöver 2014: 72). Drittens macht sich das Politische in Erzählungen
darin bemerkbar, dass sie polyphon und (teilweise) imaginiert sind. Das macht sie nicht nur in viele Richtungen anschlussfähig; das unscharfe und in gewissem Maße interpretationsoffene (polyphone) Wesen
einer Erzählung scheint sogar das „Stimmvolumen einer Erzählung“ (Koschorke, zitiert in: Gadinger et
al. 2014: 13) und damit ihre politische Wirkung zu erweitern. Auch in Gegenerzählungen, die mit anderen Narrativen um Deutungshoheit konkurrieren, drückt sich das Politische aus (Viehöver 2014).
Das Thema Defensive Architektur wurde in den letzten
Jahren u.a. aufgegriffen durch die Süddeutsche Zeitung
(Beitzer 2018), das Radio SRF 2 Kultur (Gabathuler 2018),
das Hamburger Abendblatt (Clamann 2016) und den Stern
(2015). Die britische Zeitung The Guardian schenkt dem
Thema seit Jahren kontinuierlich Beachtung (u.a. Schreiner
2018, Andreou 2015, Omidi 2014).
2
3
3
Die Bundesarbeitsgemeinschaft BAG Wohnungslosenhilfe
e.V. schätzt, dass im Jahr 2018 678.000 Menschen in
Deutschland wohnungslos waren. Pressemitteilung vom
11.11.2019, https://www.bagw.de/
media/doc/PRM_2019_11_11_Schaetzung_Zahl_der_Woh
nungslosen.pdf [Zugriff am 4.2.2020].
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umstritten. Beispiele zeigen, dass solche
Kontroversen hochaktuell sind.4 Gleichwohl
stellt sich die Frage, welche Ausschnitte der
Realität diese Narrative tatsächlich abbilden:
Beide Narrative beziehen sich eher auf
Metaerzählungen (broken windows bzw.
neoliberale
Stadtentwicklung)
als
auf
empirische Studien und die einzelnen
Fallbeispiele werden selten in konkrete
wohnungspolitische Kontexte eingebettet. Die
Arbeitshypothese dieses Textes ist es daher,
dass es in konkreten Fällen neben den großen,
medial zugespitzten Narrativen auch andere,
womöglich differenzierte und vermittelndere
Stimmen und Erzählungen gibt, die weniger
sicht- und hörbar sind.
Ziel dieses Beitrags ist es, die beiden
Erzählungen über wehrhafte Räume und
defensive Architekturen in öffentlichen
Räumen im Kontext von Wohnungslosigkeit zu
rekonstruieren, zu vergleichen und daraus erste
Schlussfolgerungen für Wissenschaft und Praxis
abzuleiten.5
Methodisch greift die Arbeit
einerseits auf Informationen zurück, die
wissenschaftlichen als auch nicht-wissenschaftlichen Quellen (u. a. Zeitung, Radio,
Webseiten) entstammen; andererseits speist
sich der Text aus Materialien, die der Autor im
Rahmen von Ortsbegehungen in Berlin und
Gelsenkirchen (insb. Fotos, Feldnotizen) sowie
4
So hat z.B. die Stadt Düsseldorf im September 2019 –
nach eigener Aussage aus Sicherheitsgründen – unter der
Rheinkniebrücke schwere, kantige Steine verlegen lassen.
An dieser Stelle lebten seit einiger Zeit wohnungslose
Menschen; das weitere Campieren wurde durch die Steine
unmöglich gemacht. Gleichzeitig wurde nach Aussage der
Stadt eine neue Notschlafstelle eingerichtet. Öffentliche
Proteste von Vertretern der Wohnungslosenhilfe, einiger
wohnungsloser Menschen und anderer führten dazu, dass
die Stadt Düsseldorf die Steine innerhalb kurzer Zeit wieder
entfernte. Der Konflikt ist derzeit ungelöst, der Raum unter
4
Fachveranstaltungen und -gesprächen gewonnen hat.
2. Das Narrativ der bedrohten,
wehrhaft zu machenden Räume
Die politische Erzählung der bedrohten, wehrhaft zu machenden Räume hat ihren Ursprung
in den 1970er Jahren in den USA. Die Themen
Sicherheit und Kriminalitätsprävention in öffentlichen Räumen mittels Architektur und Design hielten über Argumentationsfiguren wie
defensible space (Jeffrey 1971; Newman
1972/1996) oder broken windows (Kelling/Wilson 1982) Eingang in die gesellschaftspolitische
Debatte. Ausgangspunkt dieser Überlegungen
war die Wahrnehmung, dass in vielen Städten
bzw. Stadtvierteln soziale Unordnung herrschen, baulicher Verfall grassieren, die Kriminalitätsrate steigen und das Gefühl der Unsicherheit wachsen würde. Der Kriminologe C. Ray
Jeffrey setzte sich unter dem Label Crime Prevention through Enviromental Design (CPTED)
für neue, moderne Formen der Kriminalprävention und -kontrolle ein. Er argumentierte, dass
ein interdisziplinärer Ansatz – der Elemente von
Architektur und Design, Stadtplanung, Biologie, Neurowissenschaften und Kriminologie
vereint – Kriminalität reduzieren und Sicherheit
und Ordnung erhöhen könne (1971, zit. in: Van
Soomeren 2015: 3).
der Brücke soll mit anderen Mitteln gesichert werden
(Westdeutsche Zeitung 2019a/2019b).
5
Die vorliegende werkSTADT knüpft an bestehende Arbeiten des vhw - Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. in den Forschungsfeldern Lokale Demokratie,
Urbaner Wandel & gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie
Quartier und Nachbarschaft an. Mit dem Beitrag wird Städten, Gemeinden und anderen Interessierten überblicksartig
Orientierungswissen zur Verfügung gestellt, das es erleichtert, lokale Diskurse zu reflektieren.
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Der Architekt Oscar Newman (1972/1996: 9)
verfolgte das Ziel, Kriminalität zu reduzieren,
Kriminelle zu vertreiben und es communities zu
ermöglichen, ihren Lebensstil zu verwirklichen.
Um das zu erreichen, sollten Programme im
Sinne des defensible space das bauliche Design
öffentlicher, aber auch halböffentlicher und
privater Räume so verändern, dass Anwohner
sie kontrollieren und damit Sicherheit und Ordnung gewährleisten können. Architektur und
Design bildeten einen zentralen Pfeiler von defensible space-Programmen, denn Newman
konstruierte einen Zusammenhang zwischen
baulicher Situation und Verhalten. Newman
(1972, zit. in: Van Soomeren 2015: 3) zufolge
könnten Zäune oder Stacheldraht, aber auch
subtile Maßnahmen wie beispielsweise Pflasterungen, niedrige Hecken oder Steine, die Grenzen markieren, Ordnung und Sicherheit vermitteln. Auch Bürgerengagement war ein wichtiger Pfeiler in dem Konstrukt, da Newman die
Programme vorrangig als Selbsthilfeansätze
verstand (1996: 9).
Broken windows stand hingegen für eine von
den Sozialwissenschaftlern George L. Kelling
und James Q. Wilson (1982) entwickelte Argumentationsfigur, in der Kriminalität Ergebnis einer längeren Kette von Ereignissen sei, an deren Anfang soziale und bauliche Unordnung
stehe. Soziale Desintegration und bauliche Unordnung in öffentlichen Räumen würden in der
Gesellschaft ein Gefühl der Unsicherheit erzeugen. Sie vermittelten den Eindruck, als kümmere sich niemand. Öffentliche Räume würden
infolgedessen nach und nach gemieden und
die soziale Kontrolle nähme ab. Damit setze
sich eine Abwärtsspirale in Gang, die zu noch
stärkerer sozialer Desorganisation und weiterem baulichen Niedergang führe – und schließlich in Kriminalität münden und Kriminelle an-
5
ziehen würde. Die Polizei- bzw. Kriminalstrategie sollte daher sein, soziale und bauliche Ordnung wiederherzustellen bzw. zu bewahren.
Statt lediglich Straftaten aufzuklären sollten
präventiv abweichendes Verhalten und baulicher Verfall adressiert werden, um zu verhindern, dass Straftaten entstehen (Kelling/Wilson
1982: 10-11). Kelling und Wilson identifizierten
disorderly people als eine zentrale Ursache für
Angst und Unbehagen im öffentlichen Räumen
(1982: 3): „[D]isorderly people. Not violent people, nor, necessarily, criminals, but disreputable or obstreperous or unpredictable people:
panhandlers, drunks, addicts, rowdy teenagers,
prostitutes, loiterers, the mentally disturbed.”
Diese Idee bedrohter öffentlicher Räume und
abwehrenden Designs wurde in den 1990er
Jahren in New York City populär und Teil der
Handlungsrichtschnur der Polizei; sie wurde in
den letzten Jahrzehnten auch in anderen Kontexten fortgeschrieben. So haben Vereinigungen wie die International CPTED Association
dazu beitragen, dass die politische Erzählung
des wehrhaften Raums auf internationaler
Ebene an Relevanz gewinnt.
Ziel des Ansatzes Crime Prevention through Environmental Design (CPTED) ist es, „to design
crime out“ (Levald et al. 2015: 6). Erste Maßnahmen basierten auf den Prinzipien „der Zugangskontrolle, […] der nicht-technischen
Überwachung, des Wehrhaft-Machens, der
Imagebildung und der Instandsetzung“ bestimmter Räume (Saville/Atlas 2016: 8, eigene
Übersetzung). Diese Maßnahmen wurden explizit „Homeless Reduction Technologies“ genannt (Saville/Atlas 2016: 2, 9). Da einige dieser
Ansätze selbst von ihren Befürwortern als problematisch, unwirksam oder sogar gesetzeswidrig anerkannt wurden, wurde später damit begonnen, auch moderne, soziale Konzepte und
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Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit zu propagieren (Saville/Atlas 2016: 10-12).
In der Bundesrepublik wurde diese Perspektive
in den 2000er Jahren von der Polizei aufgegriffen und seither fortgeschrieben: So informieren
und beraten Einrichtungen wie z. B. die Polizeiliche Kriminalprävention des Bundes und der
Länder und das Landeskriminalamt Hamburg
Kommunen und Wohnungsunternehmen, wie
die beschriebenen Probleme im öffentlichen
Raum bewältigt werden können (ProPK 2019a;
ProPK 2019b; Landeskriminalamt Hamburg
2019, 2014a, 2014b). Die Präventionsarbeit
der Polizeibehörden erfolgt u. a. in Form von
Schulungen, Beratungen und Broschüren und
ist unter dem Namen Städtebauliche Kriminalprävention bekannt.
Das Landeskriminalamt Hamburg gibt konkrete
Hinweise, wie sich die Grundsätze der Städtebaulichen Kriminalprävention in die Gestaltung
öffentlicher Räume übersetzen lassen (2014a:
3-8):
Orientierung bieten
o klare Abgrenzungen zwischen öffentlichen und privaten Räumen schaffen
o Gebäude und Freiflächen übersichtlich
gestalten
o Wege gradlinig führen
Sichtbarkeit erhöhen und Sichtbarrieren
abbauen
o Wege oberirdisch führen
o verwinkelte Ecken
sprünge vermeiden
und
Mauervor-
o Unterführungen ausreichend belichten
und übersichtlich gestalten
Mobilitätsbarrieren verringern und Fluchtwege schaffen
o Niveauunterschiede abbauen
o Zäune oder Hecken an Wegen vermeiden
Öffentliche und private Räume instandhalten und pflegen
Abb. 5 und 6: Gruppe aus einzelnstehenden Metallsitzen am Heinrich-König-Platz,
Gelsenkirchen; Bänke mit Trennelementen, Wilmersdorfer Straße, Berlin
Quelle: Fotos des Autors
6
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o Müllcontainer verschlossen halten
o Fahrradboxen/-räume statt offene Fahrradstellplätze schaffen
o Antigraffitibeschichtung gegen Graffiti
an Wänden einsetzen
3. Das Narrativ der feindseligen,
durch defensive Architektur
geprägte Räume
Städtebauliche Kriminalprävention wird dem
Narrativ zufolge erst durch die institutionalisierte Zusammenarbeit von Polizei, Stadtplanung und Wohnungsunternehmen wirksam,
und Sicherheitsaspekte sollen „integrale[r] Bestandteil eines interdisziplinären Planungs- und
Gestaltungsprozesses“ werden (Schubert et al.
2007: 32; 34).
Die Rede von feindseligen, von defensiver Architektur geprägten Räume stellt eine Gegenerzählung zum Narrativ der wehrhaften Räume
dar. Die Begriffe defensive architecture, aber
auch hostile architecture bzw. disciplinary architecture werden von Vertretern der kritischen
Wissenschaften6, Teilen der Medien und der
Zivilgesellschaft (einschl. der Wohnungslosenverbände und wohnungsloser Menschen
selbst) genutzt, um auf den dieser Lesart nach
ausgrenzenden, disziplinierenden und inhumanen Charakter bestimmter Architektur- und
Designelemente im öffentlichen Raum hinzuweisen (vgl. Smith/Walters 2017; Petty 2016;
Andreou 2015; Atkinson/While 2015). Der
Zweck defensiver Architektur sei es, „[to]
guide, cajole or remove people who are unwanted in [public] spaces“ (Atkinson/While
2015: 2), und es wird abgelehnt, Gestaltungselemente einzusetzen, die „by virtue of their
design“ (Petty 2016: 68) bestimmte Personen
bzw. Gruppen und bestimmte Verhaltensweisen in öffentlichen Räumen abwehren. Defensive architecture würde Marginalisierten gelten,
weil sie Verhaltensweisen zeigten (wie z. B. auf
der Straße leben, betteln oder Drogen konsumieren), die von der vorherrschenden sozialen
Norm abwichen (Atkinson/While 2015; Petty
2016; Andreou 2015). Beispiele von defensive
architecture lassen sich v. a. seit den 2000er
Jahren in Deutschland finden, sind aber auch in
zahlreichen anderen europäischen Staaten, den
Der Begriff Kritische Wissenschaften wird von Vertreterinnen und Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen (bspw. Soziologie, Politologie und Geographie) verwendet, die sich in Forschung und politischer Praxis auf
kapitalismuskritische und emanzipatorische Theoriekonzepte
beziehen. Kritik steht im Sinne der Kritischen Theorie als
Gesellschaftskritik und dient als Basis für die normative
Bewertung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Städtebauliche Kriminalprävention setzt nicht
nur auf Maßnahmen der Architektur und des
Designs im öffentlichen Räumen. Sie ist vielmehr Teil einer kriminalpräventiven Gesamtstrategie, die auch nicht-bauliche Anlagen
und Maßnahmen (wie z. B. Notrufeinrichtungen, Videoüberwachung, Hinweisschilder, Servicepersonal) einschließt, um Kontrolle herzustellen und Sicherheit zu vermitteln (LKA Hamburg 2014a).
Einzelne Bundesländer treiben das Narrativ bedrohter Räume besonders voran. Hervorzuheben sind die Länder Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen,
Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein (Schubert et al. 2007: 35-36). Auch Kommunen greifen dies auf und übersetzen es in die konkrete
bauliche Praxis, wie das zu Beginn erwähnte
Beispiel aus Düsseldorf und die oben dargestellten Beispiele aus Gelsenkirchen und Berlin zeigen (Abb. 5 und 6).
6
7
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USA und China präsent (vgl. Schreiner 2018;
Andreou 2015; Omidi 2014).
Die Begriffe defensive bzw. hostile architecture
stehen für “various structures that are attached
to or installed in spaces of public use in order
to render them unusable in certain ways or by
certain groups” (Petty 2016: 68). Typische Formen dieser Art von Architektur seien in den Boden oder auf anderen Flächen aufgebrachte
Metallstifte oder Noppen, aber auch bewusst
uneben gestaltete (z. B. mit Steinen bedeckte)
Flächen, die es Menschen verwehrten, dort zu
sitzen, zu liegen oder zu schlafen. Weiterhin
zählten Zäune oder andere Sperren dazu, die
verhinderten, dass Personen auf dahinterliegende Flächen (ungenutzte Areale unter Brücken, etc.) gelangen. Auch Bänke, Sitze und andere Stadtmöbel stellten eine Form von defensive architecture dar, wenn sie so gestaltet
seien, dass sie ein längeres Sitzen bzw. einen
längeren Aufenthalt erschwerten oder es verhinderten, sich hinzulegen (Atkinson/While
2015; Andreou 2015; Petty 2016). Eine Sammlung von Bildern des Fotografen Nils Norman
zeigt, wie vielfältig die Formen sind, die defensive Architekturen annehmen können.7 Zu den
typischen Orten, an denen defensive Architektur eingesetzt wird, würden die Innenstädte als
Zentren des Konsums, Bahnhofsvorplätze/-bereiche, aber auch „neo-liberal spaces of disinvestment“ (Kinder 2014) gehören.
Defensive Architektur wird üblicherweise in
den Kontext akademischer und politischer Debatten gestellt, in denen Ausgrenzung und Disziplinierung kritisiert werden. Dazu gehören
u. a. Diskussionen um die neoliberale Restrukturierung der Städte (Smith/Walters 2017; Petty
2016; Atkinson/While 2015; Belina 2010) sowie die Kriminalisierung der Räume (Rolfes
2015; Belina 2010/2006) bzw. securitised urban landscapes (Atkinson/While 2015) und urban securitisation (Petty 2016). Als Bestandteil
einer neoliberalen Stadtentwicklung würde
defensive architecture dazu beitragen, öffentliche Räume zu kommerzialisieren, zu kommodifizieren und zu privatisieren. Politik richte sich
in erster Linie an den Interessen gewinnorientierter Unternehmen sowie zahlungskräftiger
Bewohnerinnen oder Besucher aus. Als Bestandteil der Strategie der securitised urban
landscapes und der Kriminalisierung öffentlicher Räume würde defensive Architektur dazu
beitragen, Räume zu schaffen, in der unbekanntes, unerwünschtes oder gar irritierendes
Verhalten keinen Platz mehr fände (Klose
2012). Sie würde die von der (kritischen) Sicherheits- und Kriminalitätsforschung beobachtete
Tendenz verstärken, öffentliche Räume zunehmend zu überwachen, abweichendes Verhalten zu disziplinieren und Marginalisierte zu verdrängen (vgl. Rolfes 2015; Belina 2010/2006).
Im Zusammenspiel mit Videoüberwachung,
Kontrollen durch Polizei bzw. private Ordnungsdienste oder neue rechtliche Disziplinierungsmöglichkeiten (z. B. Aufenthalts- und
Trinkverbote) würde defensive Architektur zunehmend dazu führen, „Gestalt und Bedeutung der Städte durch Sicherheit“ zu prägen
(Belina 2010: 53) und Räume zu kriminalisieren
statt soziale Probleme konstruktiv zu lösen.
Verurteilt wird zudem, dass abwehrendes Design die ohnehin schwierigen Lebensbedingungen von Menschen in Not noch viel schwieriger
machen und eine Form von „spatialized violence“ (Petty 2016: 78) repräsentieren würde.
7
Vgl.
http://www.dismalgarden.com/archives/defensive_architect
ure#1 [Zugriff am 22.2.2019].
8
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Defensive Architekturen bildeten eine “cheap
alternative to investing in more appropriate and
humane responses to homelessness, such as
shelters, social services and police action” (Atkinson/While 2015: 2). Das Fehlen von Schlafplätzen, kostenfreien Toiletten, Waschmöglichkeiten und Schließfächern seien nicht zuletzt
deshalb problematisch, weil es wohnungslosen
Menschen an Privatsphäre fehlt und sie daher
im öffentlichen Raum Dinge verrichteten (wie
z. B. Toilettengänge, Körperpflege), für die andere Menschen die eigene Wohnung und das
eigene Bad aufsuchten (Busch-Geertsema/
Henke 2020). Auch würde abwehrendes Design dazu beitragen, Mittellosigkeit und soziale
Not im öffentlichen Raum unsichtbar zu machen, da die Designfeatures selbst von vielen
Menschen unbemerkt blieben (Atkinson/While
2015: 2-3). Alex Andreou (2015), der selbst
eine Zeit lang auf der Straße gelebt hat, berichtet von der Erfahrung, dass er sich nicht nur in
Not, sondern auch ausgegrenzt und unwillkommen fühlte und der psychologische Effekt
defensiver Architektur für ihn verheerend gewesen sei.
Kritisch hervorgehoben wird zudem, dass defensive Architektur einen Verlust an Lebensqualität für alle Menschen zur Folge haben
würde (Smith/Walters 2018: 2984; Andreou
2015; Omidi 2014). So fänden beispielsweise
ältere Menschen, Gehbehinderte und andere
Personenkreise, die Sitzgelegenheiten benötigten, weniger Möglichkeiten vor, sich für eine
längere Zeit komfortabel zu setzen und auszuruhen. Der öffentlicher Raum würde auf diese
Weise weniger einladend für alle.
9
4. Vergleichende Analyse der beiden
Narrative
Die Narrative weisen neben wenigen Gemeinsamkeiten zahlreiche Unterschiede auf. Bereits
der Ausgangspunkt – wer erzählt die jeweilige
Geschichte – unterscheidet sich erheblich voneinander: Die erste Erzählung wird v. a. von
Kreisen getragen, die eine architektonischstädtebauliche Perspektive bzw. eine polizeiund ordnungsrechtliche oder sicherheitspolitische Sicht auf Stadt und Gesellschaft einnehmen. Die Beiträge zu diesem Diskurs stammen
vorrangig von Akteurinnen und Akteuren, die
sich in der beruflichen Praxis mit Architektur
und Städtebau bzw. Kriminalprävention befassen. Wissenschaftliche Beiträge sind nur in geringem Umfang enthalten. Die zweite Erzählung besteht hingegen v. a. aus Beiträgen, die
eine kapitalismuskritische bzw. gesellschaftsund wohnungspolitisch eher progressive Perspektive einnehmen. Der wissenschaftliche Anteil des Diskurses ist höher, und ein nennenswerter Anteil der Beiträge entstammt einer
journalistischen und zivilgesellschaftlichen politischen Praxis. Beide Varianten sind empirisch
wenig belegt.
Dementsprechend haben die beiden Erzählungen unterschiedliche Verständnisse davon, was
den zentralen Konflikt ausmacht. Dreht es sich
einmal darum, dass als Randgruppen bezeichnete Personen und (vermeintlich oder tatsächlich) Kriminelle die öffentliche Sicherheit beeinträchtigten und es den ‘normalen’ Bürgerinnen
und Bürgern (d. h. der Mehrheitsgesellschaft)
erschwerten, ihren Lebensentwurf zu leben,
handelt es ein andermal davon, dass die mit
Macht ausgestatteten, privilegierten Gruppen
der Gesellschaft Menschen in Not mittels defensiver Architektur aus öffentlichen Räumen
ausgrenzten. Beide Geschichten sind politisch
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in dem Sinne, dass sie eine klare Agenda verfolgen.
Erkennbar wird, dass beide Diskurse auf unterschiedliche sprachliche Begrifflichkeiten rekurrieren. Wird in dem ersten Narrativ in der Sprache der Kriminologie negativ konnotiert von
„Randgruppen“ und „Kriminellen“ gesprochen, greift der zweite Diskurs auf das Vokabular von Disziplinen wie sozialer Arbeit oder Sozialwissenschaft zurück, die (empathisch) von
„Außenseitern und Auffälligen, den Outlaws,
Grenzgängern und Exoten“ (Klose 2012: o.S.)
sprechen. Der soziale Konflikt wird im ersten
Fall sprachlich mit Formulierungen wie Störung
der öffentlichen Ordnung entpersonalisiert und
verdinglicht.
Unterschiedliche Ausgangspunkte bestehen
auch hinsichtlich der Realitätswahrnehmungen
und der zugrundeliegenden Werte. Das erste
Narrativ nimmt eine Perspektive der Angst, des
Verlusts und des Niedergangs ein. Es formuliert
die Idee einer Öffentlichkeit, die auf das „Wohlbefinden der Mehrheit“ (Belina 2010: 56) abzielt, einen Machtanspruch der Privilegierten
und eine repressive Antwort des Staates, der
Polizei, aber auch der Zivilgesellschaft auf eine
wahrgenommene Bedrohung. Diese angstbetonte Perspektive erklärt zu einem Teil, dass abweichendes, ungewohntes Verhalten durch
Randgruppen – selbst legales – als ein Sicherheitsproblem und damit als „schädlich“ gilt
(Belina 2010: 56) und die Grenzen zwischen legalen und illegalen Handlungen verwischen.
Der (selbstgesetzte) Anspruch, dass öffentliche
Räume allen zur Verfügung stehen sollen
(ProPK 2019b), wird nicht auf marginalisierte
Gruppen ausgedehnt.
Das Narrativ der defensiven Architektur ist hingegen eine Erzählung des Protests und des Widerstands gegen eine herrschende Ordnung,
10
die ausgrenzt und soziale Nöte verschärft. Es ist
ein emanzipatorisches und kämpferisches Narrativ, das auf Inklusion, die Kraft des Aushandelns und des Aushaltens von Differenz setzt,
trotz der Schwierigkeiten und Zumutungen, die
es mit sich bringt. Werte wie Fairness, Würde
und Vielfalt erfahren eine hohe Gewichtung.
Das Narrativ postuliert ein Recht auf Stadt für
alle. Es fordert dazu auf, gesellschaftliche Konflikte auf humanere Weise zu lösen als durch
Verdrängung und Kontrolle. Die Vertreterinnen
und Vertreter dieser Position ergreifen Partei für
Marginalisierte und formulieren für sie bzw. mit
ihnen einen Machtanspruch.
Als fragwürdig kann die in der ersten Erzählfigur verwendete Argumentation gelten, dass
Gefahr und Kriminalität in öffentlichen Räumen
allgegenwärtig sind. Diese Position lässt sich
zumindest mit Blick auf die polizeiliche Kriminalitätsstatistik der letzten Jahre nicht belegen:
Die Zahl der erfassten Straftaten insgesamt ist
in Deutschland seit vielen Jahren rückläufig, sie
lag im Jahr 2018 um über eine Million Fälle
niedriger als im Jahr 2004 (BMI 2019: 26). Darüber hinaus müsste die berechtigte Forderung
nach Sicherheit die Mehrheitsgesellschaft und
wohnungslose bzw. ausgegrenzte Menschen
umfassen, denn diese sind selbst sehr häufig
Opfer von Kriminalität und Gewalttaten
(BAGW 2020). Objektiver Maßstab sollte nicht
das subjektive Gefühl von Unsicherheit und Unbehagen sein, sondern das für alle Menschen
geltende Recht auf körperliche und psychische
Unversehrtheit.
Unklar bleibt, welche Räume marginalisierten
Personen zur Verfügung stehen und auf welche
Orte das Konstrukt der bedrohten Räume
(nicht) anzuwenden sei. Studien zeigen, dass
neue Aufenthaltsorte für auf der Straße lebende Menschen oft an für die betreffenden
vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020
Personen unpassenden und inakzeptablen Orten eingerichtet werden (Busch-Geertsema
2019). Es ist zu fragen, ob es aus Sicht der Befürworter des Konstrukts bedrohter Räume
überhaupt Orte geben kann, an denen wohnungslose Menschen willkommen sind.
Blinde Flecken weisen beide Diskurse in Bezug
auf konkrete Lösungsansätze für die Herausforderungen von Wohnungslosigkeit und Armut
in öffentlichen Räumen auf. So findet sich beispielsweise in der Erzählung der defensiven Architektur kaum eine Erwähnung der Frage, wie
sich Konflikte um mangelnde Hygiene bei stark
verwahrlosten Personen lösen lassen. Einige
Menschen sind in einem solchen Maße gesundheitlich und hygienisch vernachlässigt, dass sie
einerseits selbst gesundheitlich gefährdet sind
und andererseits bei anderen Menschen Fluchtreflexe, ablehnende Reaktionen (wie z. B. Ausgrenzung), Scham oder Ekel auslösen können.
Hier böten sich Lösungsansätze an, die innovativ, niedrigschwellig, aufsuchend und nicht paternalistisch sind, wie z. B. das Duschmobil für
obdachlose Frauen in Berlin; der in Australien
entwickelte, mit Waschmaschinen und Trocknern ausgestattete Bus; die vom Little Home
Köln e. V. entwickelten mobilen Tiny Houses,
die eine sichere Unterkunft bieten und von einem Ort zum anderen gezogen werden können; die Schließfächer für Wohnungslose der
Möhler-Stiftung, in der obdachlose Menschen
ihre Habseligkeiten verwahren und sich so
freier bewegen können8; sowie natürlich eine
niedrigschwellige, zugängliche gesundheitliche
Versorgung. Befürwortern repressiver Ansätze
fällt es hingegen offensichtlich grundsätzlich
schwer, anzuerkennen, dass die derzeitigen
8
https://duschmobil.de/; https://little-home.eu/;
http://www.moehler-stiftung-stuttgart.de/hintergruende-
11
Strukturen und Angebote der Wohnungslosenhilfe oft unzureichend sind (Saville/Atlas 2016:
12).
Mit Blick auf die Erzähltechniken lässt sich feststellen, dass v. a. das Narrativ der defensiven
Architektur auf die Macht starker Bilder setzt.
Konkrete Beispiele werden regelmäßig fotografiert und veröffentlicht, und die Fotos transportieren die Empörung, die mit der abwehrenden
Architektur verbunden wird. Nahezu alle Presseberichte sind mit Fotografien unterlegt, und
es bestehen ganze fotografische Sammlungen,
die sich kritisch mit dem Thema auseinandersetzen (Schreiner 2018). Das Narrativ bedrohter
Räume nutzt hingegen v. a. das Bild des städtischen Niedergangs, um figurativ den Ausgangspunkt der Geschichte zu skizzieren.
5. Fazit und Ausblick
Die Narrative der bedrohten Räume und der
defensiven Architektur sind zwei etablierte
politische Erzählungen über Ordnungs- und
Sicherheitsarchitekturen in öffentlichen Räumen im Kontext der Wohnungslosigkeit. Als
Erzählung bzw. Gegenerzählung sind sie Teil
einer politischen Kontroverse und ringen um
die Deutungshoheit über öffentliche Räume.
Beide Erzählungen formulieren Machtansprüche und beanspruchen Legitimität. Sie
basieren auf unterschiedlichen normativen
Vorstellungen von Stadt und Gesellschaft und
werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen getragen. Ein in der
architektonisch-städtebaulichen und kriminalpolizeilichen Praxis verwurzelter Diskurs steht
einem eher in der zivilgesellschaftlich-politischen Praxis eingebetteten Diskurs gegenüber.
zum-projekt.html; https://www.theguardian.com/world/2018/nov/06/cleaning-up-mobile-laundryfor-the-homeless-goes-international.
vhw werkSTADT, Nummer 49, Dezember 2020
Gleichwohl überrascht das hohe Maß, in dem
sich die Narrative auf Metadiskurse beziehen
und der geringe Umfang, in dem in den
Erzählungen empirisch gewonnene Forschungsergebnisse herangezogen werden.
Jedes Narrativ kommt argumentativ stark
daher. Grautöne und vermittelnde Stimmen
erhalten wenig Raum, auch werden beide
Narrative jenseits der Metadiskurse nahezu
nicht in wohnungs-, drogen-, armuts- oder
stadtpolitische Kontexte eingebettet. Daher
wirken die Erzählungen mitunter überspitzt. Es
ist anzunehmen, dass es neben diesen
Narrativen auch vermittelndere Stimmen oder
weitere Narrative gibt, die diese Dimensionen
berücksichtigen. Da Vorstellungen über
öffentliche Räume, über gesellschaftliches
Miteinander und über (gesellschaftliche)
Vielfalt situativ immer wieder neu verhandelt
werden, wird – wie das erwähnte Beispiel aus
Düsseldorf zeigt – immer wieder neu um
Deutungshoheit gerungen. Auch die Frage,
inwieweit Erzählungen in sich abgeschlossen
sind oder zu „Brückenschlägen“ (Gadinger et
al. 2014: 33) beitragen können, wird nur am
konkreten Beispiel zu erfahren sein. Um zu
differenzierten Diskursen und Handlungskonzepten zu gelangen, wäre in diesem stadtund gesellschaftspolitischen Themenfeld also
mehr empirische Forschung notwendig und
wünschenswert.
Auch
wenn
man
im
Sinne
einer
differenzierteren Perspektive ordnungs- und
sicherheitspolitische Aspekte angemessen
berücksichtigt, bleibt eines klar: Wenn es uns
darum geht, Vielfalt, Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, eignet sich
weder das Narrativ der wehrhaften Räume
noch dessen bauliche und gestalterische
Umsetzung, um den Herausforderungen der
12
Wohnungslosigkeit (und damit Wohnungslosen) in öffentlichen Räumen zu begegnen.
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