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Full text: Die freie Arztwahl in Berlin / Mugdan, Otto (Public Domain)

Es kam hinzu, dass namentlich die, in den Arbeitervierteln 
der grossen Städte wohnenden Kassenärzte ungemein belastet waren; 
oft warteten in einer Sprechstunde 40-—50 Patienten. Da war es, 
erklärlich, dass ein Arzt, selbst bei eisernem Fleisse, äusserster 
Hingebung und strengstem Pflichtbewusstsein nicht alle Wünsche 
seiner Pfleglinge erfüllen konnte; er wurde ermüdet, abgespannt und 
vielleicht auch missmuthig, und die Patienten, die ihn gerade in 
Jieser Gemüthsverfassung trafen, verziehen ihm diese natürlichen 
Folgen übergrosser Anstrengung nicht, sondern hielten ihn für un- 
freundlich und herzlos, und sich für vernachlässigt und unzureichend 
versorgt, auch wenn sie ordnungsgemäss, nur vielleicht etwas hastig, 
abgefertizt worden waren. 
So wurden in jeder Versammlung einer Krankenkasse viele 
Stunden mit berechtigten und unberechtigten Klagen über die 
Kassenärzte ausgefüllt, und der Ruf nach Abschaffung dieses 
„Zwangsarztsystems“, wie man es nannte, erscholl aller Orten. 
Freie Wahl des Arztes unc IJnabhängigkeit desselben von dem 
Kassenvorstande, das waren dis Forderungen, die man stellte! 
Die gleichen Wünsche bewegten von Beginn der sozial- 
politischen Gesetzgebung an die deutsche Aerzteschaft. Auch sie 
empfand an sich selbst die Nachtheile des geschilderten Kassen- 
arztsystems, und alle Aerzteversamnılungen, die sich damit be- 
schäftigten, hatten dieselbe Meinung, dass durch dasselbe das ärzt- 
liche Anschen bedroht sel. 
Das Honorar, das die Kassen gaben, war oft recht unge- 
nügend, so dass die Einzelleistung des Arztes oft mit weniger als 
20 Pfg. (!) bezalılt wurde; trotzdem war der Andrang zu diesen 
Stellen, namentlich in den grossen Städten, ungeheuer. Denn da 
der grösste Theil derjenigen Bevölkerungsklasse, die bisher die 
Kundschaft des jungen Arztes bildete, einer kleinen Minderheit") 
der ärztlichen Behandlung üherwiesen war, so sah sich der junge 
Arzt ausser Stande, die Kenntnisse, die er sich auf der Universität 
in einem fünfjährigen, sehr kostspieligen Studium erworben hatte, 
praktisch zu verwerthen. Er war fast erwerbsunfähig, und erst 
ajne Kassenarztstelle gab ihm Beschäftigung und machte ihn 
seiner Umgebung bekannt. Daher entstand ein Unterbieten und 
\ Im Jahre 1891 behandelten in Berlin 161 Aerzte die 215000 Mit- 
ylieder des dortigen Gewerkskrankenvereins, einer Vereinigung fast aller 
Ortakrankenkassen.
	        
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