1856 Steuer- und Zollblatt für Berlin 15. Jahrgang Nr.77 30. Dezember 1965
Im Juni 1960 suchte der Prüfer den Prokuristen auf, irrtum befunden. Sie hätte jedoch die steuerliche Behand-
um einen Termin für eine Lohnsteuerprüfung zu verein- lung der Nachtzuschläge rechtzeitig mit dem Finanzamt
baren. Hierbei erklärte er, bei der Prüfung solle auch die klären können. Sie habe auch später den Lohnsteuerprüfern
Steuerfreiheit der Nachtzuschläge auf Veranlassung des nicht von sich aus die Tarifunterlagen vorgelegt, sondern
Sachgebietsleiters der Lohnsteuerstelle geprüft werden. wiederholt erklärt, die Zuschläge seien nach dem Tarif mit
Daraufhin wurde ihm die TO vorgelegt und die Steuerfrei- 50 v.H. zu zahlen. Weder die Prüfer noch das Finanzamt
heit der. Nachtzuschläge besprochen. Nach dieser Unter- hätten eine Auskunft erteilt; die Bfin, sei auch in ihrem
redung behielt die Bfin. vom 4. Juli 1960 ab auf 40 v.H. Rechtsirrtum nicht durch die Prüfer oder das Finanzamt
der Nachtarbeitszuschläge Lohnsteuer ein. Im September/ bestärkt worden. Ob die Prüfer ihre Sorgfaltspflicht ver-
Oktober 1960 führten die beiden Prüfer für die Zeit vom letzt hätten, sei nicht entscheidend. Es verstoße nicht gegen
1. September 1958 bis zum 31. August 1960 wiederum eine Recht und Billigkeit, wenn das Finanzamt hier anstatt
Prüfung- durch. Sie erklärten nunmehr die Zuschläge von dreißig verschiedene Arbeitnehmer einzeln in Anspruch zu
50 v. H. für voll lohnsteuerpflichtig; für die Zeit vor dem nehmen, die Bfin. als Arbeitgeberin haftbar gemacht habe.
1. September 1958 sollte aber die Bfin. nicht haftbar ge- Die Rb., mit der die Bfin. unrichtige Anwendung des
macht werden, weil ihr Verfahren bei der Lohnsteuerprü- bestehenden Rechts rügt, muß zur Aufhebung der Vor-
fung nicht beanstandet worden sei. entscheidungen führen.
Das Finanzamt erließ daraufhin einen Haftungsbescheid, Wenn das Finanzgericht die Nachtarbeitszuschläge nur
durch den es die Bfin. wegen der Lohnsteuer auf die strei- in Höhe von 10 v. H. für steuerfrei hält, so ist das rechtlich
tigen Nachtarbeitszuschläge in Anspruch nahm. Es han- Zutreffend. Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts
delte sich um 14 Arbeitnehmer im Jahre 1958, 32 Arbeit- entspricht aber die Inanspruchnahme der Bfin. als Arbeit-
nehmer im Jahre 1959 und 25 Arbeitnehmer im Jahre 1960. geberin nicht der Billigkeit.
Der Einspruch und die Berufung blieben ohne Erfolg. Das _ Die Bestimmung der TO, daß für Nachtarbeit Zuschläge
Finanzgericht, das den Textilarbeitgeberverband und die VON 50 v.H. zu zahlen sind, „bei regelmäßiger Schicht-
Textilgewerkschaft gehört, eine Reihe von Auskunfts- %rbeit‘“ jedoch nur 10 v.H., muß man mit dem Finanz-
personen vernommen und über die Sache mündlich ver- gericht dahin verstehen, daß Schichtarbeit zur Nachtzeit
handelt hat, begründete sein Urteil wie folgt: Die Begriffe Nicht Zuschläge von 50 v.H.; sondern nur 10 v.H. recht-
„Nachtarbeit“ und „Schichtarbeit zur Nachtzeit“ seien fertigt. Das Finanzgericht hat für die Abgrenzung von
nicht gesetzlich voneinander abgegrenzt; sie seien demnach SChichtarbeit und Nachtarbeit entsprechend den vom Bun-
in dem allgemeinen gebräuchlichen Sinne zu verstehen. desarbeitsgericht entwickelten Grundsätzen auf die Regel-
Nach der Rechtsprechung. des Bundesarbeitsgerichts, beson- Mäßigkeit und Vorausschbarkeit abgestellt. Wenn die Bfin,
ders in den Urteilen vom 15. November 1957 —- 1 AZR meint, Schichtarbeit setze nur voraus, daß für den Arbeiter
610/56, Der Betriebs-Berater (BB) 1958 S. 193, Der Betrieb °in turnusmäßiger Wechsel stattfinde, so ist dem nicht
(DB) 1958 S. 311, und vom 20. Mai 1959 _ 2 AZR 383/56, zuzustimmen, „Schichtarbeit“ besagt nur, daß in Schichten
BB 1959 S. 812), sei entscheidend, ob die Arbeit in den 8°Arbeitet wird. In Schichten arbeitet aber auch, wer immer
Nachtstunden eine regelmäßige Belastung des Arbeitneh- Wieder der gleichen Schicht angehört. Daß ein Arbeiter,
mers bedeute, die er bei Abschluß und Erfüllung des Ar- der ständig der Nachtschicht angehört, mehr belastet ‚Sei
beitsverhältnisses habe voraussehen können, oder ob der %ls ein Arbeiter, der nur abwechselnd nachts arbeitet, läßt
Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen Nachtarbeit nicht Sich nicht allgemein sagen. Man könnte vielleicht sogar
habe zu rechnen brauchen. Es sei für den Arbeitnehmer Umgekehrt die Wechselschicht als belastender ansehen,
erheblich, ob die Nachtarbeit in seinem Beschäftigungs- weil der Wechsel Umstellungsschwierigkeiten verursacht.
verhältnis eine voraussehbare sei, so daß er sich darauf _ Dem Finanzgericht ist auch darin beizutreten, daß die
einzurichten habe und sich mit den Arbeitskameraden sei- Vereinbarung vom 27. Dezember 1955 die Zuschläge nicht
ner Gruppe gleichmäßig darin teilen könne, oder ob die in voller Höhe steuerfrei macht. Die Regelung des 8 34a
Arbeit in den Nachtstunden unerwartet verlangt würde. EStG ist zwar, wie der Senat in dem Grundsatzurteil
Schichtarbeit sei darum eine Arbeit, die der Arbeitnehmer VI 50/61 S vom 22. Juni 1962 (BStBl. 1962 III S. 376, Sig.
in der festgesetzten regelmäßigen Arbeitszeit zu leisten Bd. 75 S. 302%) entschieden hat, nicht verfassungswidrig;
habe. Der unterschiedlichen Belastung des Arbeitnehmers Sie kann aber nach dem Urteil VI 162/62 S vom 25. Ok-
bei regelmäßiger Arbeit in der Nachtzeit — Schichtarbeit tober 1963 (BStBl. 1964 III S. 11, Slg. Bd. 78 S. 27”) nur
zur Nachtzeit — und bei unregelmäßiger Arbeit in der glei- auf „tarifvertragliche‘“ Zuschläge angewandt werden (vgl.
chen Zeit — Nachtarbeit — entspreche es, nur die Nacht- 2uUch das Urteil VI 78/61 vom 9. Februar 1962, Höchst-
arbeit mit dem erhöhten Zuschlag zu vergüten. Nach dieser Trichterliche Finanzrechtsprechung — HFR —. 1962 S. 263)
Rechtsprechung hätten die Arbeitnehmer ‘der Spinnerei Vereinbarungen zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeit-
zwar zur Nachtzeit, aber in Schichtarbeit gearbeitet. Da- Nnehmern oder mit der Betriebsvertretung der Arbeitnehmer
nach habe ihnen nach $ 3 Ziff.3 TO nur ein Zuschlag von Sind keine „tarifvertraglichen‘“ Vereinbarungen, auch wenn
10 v.H. zugestanden. Die Vereinbarung vom 27. Dezember Sie nach dem Tarifvertrag zulässig sind, weil sie die Arbeit-
1955, nach der die Bfin. einen Zuschlag von 50 v.H. zahle, nehmer günstiger stellen.
habe keine „tariflichen Zuschläge“ im Sinne des 8 34a Dem Finanzgericht ist jedoch nicht darin zu folgen, daß
EStG bzw. $ 32a LStDV geschaffen. Nach 8 4 Abs.3 des das Finanzamt durch die Inanspruchnahme der Bfin. sein
Tarifvertragsgesetzes. vom 9. April 1949 (TVG), der auch Ermessen richtig gehandhabt habe. Das Finanzgericht
auf die früheren Tarifordnungen anwendbar sei, sei zwar führt zwar zutreffend aus, daß der Arbeitgeber sich in
eine vom Tarifvertrag abweichende Änderung zugunsten Zweifelsfällen über seine Pflichten vergewissern müsse,
der Arbeitnehmer zulässig. Eine solche Abweichung für und daß hier Umstände dafür sprächen daß der Bfin.
einen einzelnen Betrieb schaffe aber keine allgemein ver- Zweifel hätten kommen müssen. Zutreffend ist auch, daß
bindliche Rechtsnorm, die die Tarifpartner binde. Nach ein Arbeitgeber, wenn sein Verfahren bei einer Prüfung
der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs seien aber nur nicht beanstandet wird, sich nicht ohne weiteres darauf
Zuschläge begünstigt, die auf Grund einer gesetzlichen „verlassen“ darf, daß sein Verfahren einwandfrei ist. An-
oder tarifvertraglichen Vorschrift gezahlt würden (z. B. ders liegt es nur, wenn die Zweifelsfrage in dem Bericht
Urteile VI 125/56 U vom 6. September 1957, BStBl. 1957 in einem bestimmten Sinn erörtert ist. Der Streitfall zeigt
IIT S. 387, Sig. Bd. 65 S. 403”; VI 20/58 U vom 28. Februar aber die Besonderheit, daß der Punkt, auf den es ankommt,
1958, BStBl. 1958 III S. 196, Slg. Bd. 66 S. 512%, und nicht bloß einmal gelegentlich einer Prüfung erörtert
VI 78/61 vom. 9. Februar 1962, Steuerrechtsprechung in Wworden, sondern ausdrücklich Gegenstand wiederholter Prü-
Karteiform — StRK -—-, Einkommensteuergesetz, $ 34a, fungen gewesen ist. Unter diesen Umständen durfte der
Rechtsspruch 13). Als Arbeitgeberin hafte die Bfin. auch Prüfer sich nicht nur auf die Angaben der Bfin. über die
für die zu Unrecht nicht einbehaltene Lohnsteuer. Die In- tarifvertragliche Regelung verlassen. Bei der Haftung des
anspruchnahme des Arbeitgebers sei eine in das Ermessen Arbeitgebers ist im Rahmen von Recht und Billigkeit ($ 2
des Finanzamts gestellte Entscheidung. Im Streitfall sei Abs.2, 8 7 Abs. 3 StAnpG) auch in Betracht zu ziehen, ob
aber eine Ermessensverletzung des Finanzamts nicht ge- das Finanzamt alles ihm Zumutbare getan hat, um die rich-
geben. Die Bfin. habe sich bei der Auslegung des $ 3 TO tige Einbehaltung der Lohnsteuer zu erreichen. Es ist aber
und der Beurteilung der steuerlichen Auswirkungen der nicht auszuschließen, daß die Bfin. durch die wiederholten
Vereinbarung vom 27. Dezember 1955 in einem Rechts- Prüfungen in ihrer unrichtigen Rechtsauslegung bestärkt
2) StZBl. Bln. 1958 S. 217 4) StZBl. Bin. 1962 S. 1691
3) StZBl, Bln. 1958 S. 771 5) StZBIl. Bln. 1964 .S. 222