Steuer- und Zollblatt für Berlin 8. Jahrgang. Nr.45 321. Juni 1958 675
Erheblich größeres Gewicht hat auch nach Auffassung Danach kommt der erkennende Senat zu dem Ergebnis,
des erkennenden Senats der Einwand des Bundesministers daß die Ärzte auch bei Betriebsprüfungen, die der Nach-
der Finanzen, daß sich die Vorschrift des 8 177 AO .in.dem prüfung der Erfüllung ihrer Steuerpflichten dienen, die
Unterabschnitt . befindet, der die Überschrift trägt: Einsichtnahme in die Patientenkarteien insoweit ver-
„Pflichten anderer Personen zu Auskunft, Einsichtge- weigern dürfen, als darin Angaben enthalten sind, auf
währung und Gutachten“. Nach Ansicht des erkennenden die sich ihr Recht zur Ausküunftsverweigerung erstreckt
Senats hat aber der Reichsfinanzhof mit zutreffender Be- (vgl. im Ergebnis übereinstimmend u. a. Hübschmann-
gründung dargelegt, daß aus dieser Stellung des 8177 Hepp-Spitaler, AO 8 201 Anm. 9, Berger, Neue Wirtschafts-
AO nicht geschlossen werden darf, daß der Rechtanwalt — briefe Fach 2 S. 564, Eberhard Schmidt, Juristenzeitung
im Streitfalle der Arzt — das Auskunftsverweigerungsrecht 1951 S.211f., 213, Bayer-Fähnrich „Die steuerliche Be-
nur in einem gegen einen Dritten gerichteten Steuerauf- triebsprüfung“ 1955 S.79 und neuerdings Woessner, Neue
sichts- und Steuerermittlungsverfahren hat. Beachtlich ist Juristische Wochenschrift 1957 S. 693).
in diesem Zusammenhang, daß nach allgemeiner Meinung . .
(vgl. auch das Gutachten des Reichsfinanzhofs) der 8 180 ; 4. Nach 8 177 Abs. 1 Ziff. 2 AO erstreckt sich das Aus-
AO unbeschadet seiner Stellung in dem gleichen Unter- Kkunftsverweigerungsrecht der Ärzte auf alles, was ihnen
abschnitt auch für Auskünfte gilt, die vom Steuer- bei Ausübung ihres Berufes anvertraut‘ ist. Das Begriffs-
pflichtigenselbst gefordert werden. Der Aufbau der Merkmal „anvertraut“ ist nach allgemeiner Meinung weit-
AO ist überdies nicht im einzelnen nicht so einheitlich, daß herzig auszulegen. (Vgl. für die weitgehende Auslegung der
aus der Stellung der Vorschrift zwingende Schlüsse geheimzuhaltenden ärztlichen Befunde u. a. auch das
gegen die Anwendung der Bestimmung des 8 177 AO in zitierte Urteil des Bundesgerichtshofs VI ZR 9/56 a.a.O.
einem Steueraufsichtsverfahren gegen den steuerpflichtigen S.81). Anvertraut ist nicht nur, was der Kranke gesagt
Arzt selbst gezogen werden könnten (vgl. dazu allgemein hat, sondern alles, was der Arzt bei Ausübung seiner
Enno Becker, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 7. Berufstätigkeit erfahren hat, insbesondere aber die ärzt-
Aufl, 1930, Vorbemerkung 6 vor 8 217 AO alter Fassung lichen Feststellungen, die bei der Untersuchung und Be-
am Schluß, S.673 f., ferner Gutachten des erkennenden handlung der Patienten getroffen sind. Nach der Ge-
Senats II D 1/54 S vom 21. Juli 1955, Slg. Bd:61 S.225, staltung der Patientenkartei im. Streitfall. würde die
Bundessteuerblatt — BStBl. — 1955 III S.284 ff.2) unter Einsichtnahme des Betriebsprüfers in die Patientenkartei,
VII, 3. Abs. am Schluß, wo — dort zugunsten der Ver- die u. a. die Krankengeschichte und die Diagnose enthält,
waltung — aus der Stellung des $ 173 AO keine entschei- zwangsläufig dazu führen, daß der Betriebsprüfer Kennt-
denden Folgerungen hergeleitet worden sind). nis von Dingen erhalten würde, auf die sich das Recht des
en 7 . * Ce Arztes zur Verweigerung der Auskunft und damit der Vor-
Der Bundesminister der Finanzen führt überdies — wenn lage erstreckt. Dabei ist es wegen des Zusammenhanges
auch in einem anderen Zusammenhang — in der schrift- ger Eintragungen unerheblich, daß die Karteikarten zum
lichen Stellungnahme vom 12. Juni 1957 selbst überzeugend Teil auch rechnerische Angaben enthalten.
aus, daß die Patientenkartei im allgemeinen keine Angaben e
enthält, die für die Ermittlung der Steuerpflicht eines Der vom Finanzgericht vorgesehene Ausweg, dem Arzt
Patienten von Bedeutung sein können. Dann würde aber aufzugeben, die Patientenkartei vorzulegen und dabei durch
die Beschränkung des Auskunftsverweigerungsrechts in „Verdecken“ einzelner Teile dem Betriebsprüfer geheim-
dem vom Finanzamt und Bundesminister der Finanzen be- haltungspflichtige Dinge vorzuenthalten, steht mit dem
gehrten Sinne nach Ansicht des erkennenden Senats dazu Gesetz nicht in Einklang. Denn nach 8 183 Satz 3 in Ver-
führen, daß der Vorschrift in der Praxis überhaupt keine bindung mit $ 171 Abs.1 Ziff.2 AO hat gerade der Arzt
in Betracht kommende Bedeutung zukäme. Ein solches Er- das uneingeschränkte Recht, die Vorlage der Patienten-
gebnis kann jedoch nicht gebilligt werden, so daß der Aus- Kartei insoweit zu verweigern, als sein ‚Auskunftsver-
legung des Großen Senats des Reichsfinanzhofs als einer Weigerungsrecht reicht. Außerdem würde ein solches Ver-
sinngemäßen Auslegung der Vorzug zu geben ist. fahren auch in der Praxis zwangsläufig bei der Durch-
führung Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten mit sich
3. Der Senat hat dabei auch noch folgendes erwogen: bringen. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob z. B. einem
Der Reichsfinanzhof hat im Jahre 1938 — also zu vielbeschäftigten Arzt eine Mitwirkungspflicht in einem so
einer Zeit, in der die Interessen des Einzelnen in sehr weit- weitgehenden Umfange überhaupt zugemutet werden
gehendem Maße gegenüber Belangeh des Staates zurück- könnte oder nicht. Hinzu kommt, daß es auch vom Stand-
gestellt wurden — gleichwohl dem ähnlich gearteten Recht punkt der Verwaltung als untragbar angesehen werden
des Rechtsanwalts zur Verweigerung der Vorlage muß, dem Betriebsprüfer zuzumuten, daß jeweils der be-
der Handakten im Rahmen des 8 177 Abs.1 Ziff. 3 AO den teiligte Arzt einzelne Teile der Patientenkartei „verdecken‘“
Vorrang vor dem Interesse der Verwaltung an restloser darf. Nach Ansicht des erkennenden Senats kann vielmehr
Ermittlung aller steuerpflichtigen Vorgänge eingeräumt. dem mit der ärztlichen Schweigepflicht (8 300 des Straf-
Um so mehr muß das hinsichtlich der von den Ärzten gesetzbuches — StGB —) im Zusammenhang stehenden
geführten Patientenkarteien im heutigen demokratischen Recht des Arztes zur Auskunftsverweigerung über ihm an-
Rechtsstaat gelten, in dem auf Grund der Art.1 und 2 des vertraute Dinge. (8 177, 183 AO) nur durch eine klare
Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) Entscheidung dahin Rechnung getragen werden, daß er die
das allgemeine Persönlichkeitsrecht als verfassungsmäßig Einsichtnahme in die Patientenkartei verweigern darf, so-
gewährleistetes Grundrecht anerkannt ist, das sich in einer weit sie — wie im Streitfall — Eintragungen enthält, auf
seiner Erscheinungsformen auch auf die Wahrung der per- die sich das Auskunftsverweigerungsrecht erstreckt.
sönlichen Geheimsphäre durch die Geheimhaltung ärztlicher n .
Zeugnisse über den Gesundheitszustand richtet (vgl. dazu 5. Das Recht des Arztes, die Vorlegung der Patienten-
Urteile des Bundesgerichtshofs I ZR 211/53 vom 25. Mai Kartei zu verweigern, kann im Rechtssinn auch nicht
1954, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivil- dadurch beeinträchtigt werden, daß der Betriebsprüfer
sachen Bd. 13 S. 334, und VI ZR 9/56 vom 2. April 1957, nach $ 22 AO die Pflicht zur Wahrung des Steuergeheim-
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Nnisses hat und daß die vorsätzliche Verletzung des Steuer-
Bd. 24 S. 72 ff.). geheimnisses durch einen Finanzbeamten. nach 8 412 AO
. “ strafbar ist. Gerade dadurch, daß der Gesetzgeber. un-
Dabei kann bei der Auslegung des 8 177 Abs.1 Ziff. 2 AO beschadet des 8 22 AO den im 8 177 AO genannten
durch den erkennenden Senat die Entscheidung der von Berufsträgern ein Auskunftsverweigerungsrecht eingeräumt
dem Rechtsvertreter des Bf. in der mündlichen Verhandlung hat, ist zum ‚Ausdruck gebracht, daß dieses Recht auch
vor dem Bundesfinanzhof in den Vordergrund gestellten gegenüber dem durch das Steuergeheimnis gebundenen
Frage dahingestellt bleiben, ob und inwieweit bei einer u. a. Finanzbeamten gilt.
auf die $8$ 171 Abs.2, 195 Satz 2 AO gestützten Einsicht- R - N
nahme in die Patientenkartei durch den Betriebsprüfer bei 6. Zu einer anderen rechtlichen Beurteilung kann auch
einer Betriebsprüfung eines Arztes eine unmittelbare Nicht der Einwand führen, durch die Versagung der Ein-
Verletzung eines durch die Art.1 und 2 GG geschützten Sichtnahme werde die Nachprüfung der Steuererklärungen
Persönlichkeitsrechtes der Patienten vorliegen würde und der steuerlichen Verhältnisse des beteiligten Arztes
oder nicht. wesentlich erschwert. Bei der Auslegung der im Interesse
des Vertrauensschutzes zwischen Arzt und
EN Patienten und damit im Interesse der Gesundheit
2) StZBIl. Bln. 1955 S. 1429. der Allgemeinheit erlassenen Bestimmung des