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Full text: Erfahrungen diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung in vier Jugendämtern (Rights reserved)

Erfahrungen diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung in vier Jugendämtern Wege zur diskriminierungssensiblen Organisation Bildungsteam Berlin-Brandenburg e.V. Impressum Herausgeber: Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. V. i. S. d. P.: Kerem Atasever Cuvrystr. 20 A 10997 Berlin Tel.: + 49 (0) 30 61076544 interkoe@bildungsteam.de www.bildungsteam.de Redaktionsschluss: Juni 2020 Redaktion und Text: Salka Wetzig Lektorat: Dr. Julia Roßhart Gestaltung: gegenfeuer.net Herstellung: Pinguin Druck GmbH Diese Publikation ist entstanden im Rahmen des Projektes „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“, 2018–2020. Dieses Projekt wird aus Mitteln des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds kofinanziert. Grußworte Grußwort von Dr. Doris Lemmermeier Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg Bereits seit 2015 begleitet das Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. zwei Brandenburger Ämter auf ihrem Weg der Interkulturellen Öffnung. Das Jugendamt Märkisch-Oderland und das Amt für Familien und SozialesOstprignitz-Ruppin haben sich mit viel Engagement dem Ziel verschrieben, allen ihren Nutzerinnen und Nutzern die gleichberechtigte Teilhabe an den Angeboten der Jugendhilfe zu gewährleisten und bestehende Barrieren abzubauen. Im Rahmen des AMIF-Projektes „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ (2015–2018) wurde viel Sensibilisierungsarbeit geleistet, um die nötigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, strukturelle Veränderungen anzugehen (AMIF: Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU). Mit dem Folgeprojekt „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ (2018–2020) konnte darauf aufbauend auf eine Verstetigung und strukturelle wie personelle Verankerung der Öffnungsprozesse hingewirkt werden. Beide AMIF-Projekte konnten vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz sowie vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport kofinanziert werden. Unser Ziel ist es, das gleichberechtigte Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger im Land Brandenburg zu ermöglichen und die Interkulturelle Öffnung der Verwaltung zu befördern. Ich freue mich sehr, dass mit dieser Handreichung die in dem Projekt gesammelten Erfahrungen nun auch einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden, und hoffe, dass die Beispiele zur Initiierung weiterer Öffnungsprozesse anregen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine inspirierende Lektüre. Dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. danke ich sehr herzlich – für das beständige Engagement und die kompetente Gestaltung und Begleitung der Prozesse Interkultureller Öffnung. Danken möchte ich auch den engagierten Mitarbeitenden sowie den Führungskräften des Jugendamtes Märkisch-Oderland und des Amtes für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin. Sehr freuen würde ich mich, wenn der begonnene Prozess vor Ort nachhaltig fortgesetzt werden kann. Allen Beteiligten wünsche ich dafür das notwendige Engagement und die erforderliche Beharrlichkeit. Dr. Doris Lemmermeier Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg Grußworte Grußwort von Katarina Niewiedzial Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration Juan, Alisa, Ayse oder Hami – das sind Beispiele von Kindernamen, die man in Berlin immer häufiger hört. Die Berliner Bevölkerung wird zunehmend diverser. Mehr als ein Drittel aller in Berlin lebenden Menschen hat eine eigene Migrations-, eine Einwanderungsgeschichte, bei Kindern und Jugendlichen ist es inzwischen beinahe die Hälfte. Leider spiegelt sich diese Vielfalt nur unzureichend in unseren staatlichen Institutionen wider – mit fatalen gesellschaftspolitischen Folgen. Umso wichtiger ist es, Initiativen und Ansätze zu unterstützen, die sich mit dem Thema einer diversitätsbewussten Öffnung von Regelinstitutionen beschäftigen. Dazu gehört das Projekt des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V. zur Interkulturellen Öffnung der Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) in Deutschland ist essenziell. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen werden stets weiterentwickelt und neuen Gegebenheiten angepasst. Um aber wirklich allen Kindern und Jugendlichen und allen Familien eine gleichberechtigte Teilhabe und einen Zugang zu den Leistungen der KJH zu ermöglichen, müssen die Strukturen diversitätsorientierter und interkulturell durchlässiger werden. Als Berliner Integrationsbeauftragte freue ich mich, dass ich die Arbeit des Bildungsteams Berlin-Brandenburg mit den vier Berliner und Brandenburger Jugendämtern im Rahmen der Kofinanzierung finanziell unterstützen konnte. Das Bildungsteam Berlin-Brandenburg hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren auf die Arbeit mit den Schlüsselakteuren in den vier teilnehmenden Jugendämtern konzentriert. Leitungs- und Führungskräfte wurden sensibilisiert und qualifiziert. Am Ende der Projektlaufzeit gibt es in den vier Jugendämtern nun insgesamt 20 Ankerpersonen, die die Öffnungsprozesse weiterführen. Der Prozess der Interkulturellen Öffnung ist in der verwaltungsinternen Organisationsstruktur inzwischen verankert. Die Inhalte und Ergebnisse des Projektes werden auf andere Jugendämter und andere Bereiche der Verwaltung abstrahlen. Die entstandene Handreichung soll zur Veranschaulichung der konkreten Praxis dienen und Mut machen, sich ebenfalls mit organisatorischen Veränderungsprozessen zu beschäftigen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Leiterinnen und Leitern der beteiligten Jugendämter für ihre Bereitschaft, den Veränderungsprozess einzuleiten. Den Mitarbeitenden bin ich dankbar, sich auf den Prozess eingelassen zu haben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie viel Zeit, Kraft und Energie dies kostet. Auch deshalb sichere ich Ihnen meine weitere Unterstützung zu! Katarina Niewiedzial Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration Inhaltsverzeichnis Einleitung.............................................................................................6 Das Projekt „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“.............................................................................. 6 Zum Begriff der Interkulturellen Öffnung............................................................................ 7 Die Handreichung................................................................................................................... 8 Kurzbeschreibung der Prozesse diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung in den vier Ämtern....................................................................... 9 1 Diversity-Sensibilisierung......................................................... 14 Diversity-Sensibilisierung als Voraussetzung für Öffnungsprozesse ............................ 14 Jugendamt Pankow Unterstützung mobilisieren ............................................................................................. 16 Diversity in den Anforderungsprofilen: Sensibilisierung und konkrete Maßnahmen koppeln .................................................. 17 Jugendamt Märkisch-Oderland Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung: Fortbildungskonzept entwickeln und erproben ............................................................ 18 Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst: Reflexionsprozesse anregen �������20 Diversity in den Einarbeitungsplänen: Ein geteiltes Verständnis entwickeln und verankern ....................................................22 2 Führungsverantwortung............................................................23 Jugendamt Pankow Diversity als Führungsthema............................................................................................23 Führungskräfte einbinden................................................................................................24 Luft nach oben: Die Bezirks- und Landesebene.............................................................24 Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Engagierte Führung und Mut zur Beteiligung................................................................25 Mechanismen für eine kontinuierliche Auseinandersetzung einbauen........................................................................................27 3 Bedarfsorientierung ...................................................................28 Jugendamt Pankow Diversitätsorientierung in der Personalstrategie: Der Generationenwechsel steht an ................................................................................28 Diversity in den Anforderungsprofilen: Änderungen strukturell verankern..................................................................................30 Inhaltsverzeichnis Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Mehrwerte und Bedarfe analysieren...............................................................................32 Diversity-Schwerpunkte mit Entwicklungszielen des Amtes verknüpfen...................33 Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin An gesellschaftliche Entwicklungen anknüpfen.............................................................34 Leitbildentwicklung: Wofür wollen wir stehen?..............................................................34 Jugendamt Märkisch-Oderland Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst: Fortbildungsbedarfe aufgreifen und kanalisieren.........................................................35 Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung: Strukturveränderungen nutzen.......................................................................................36 4 Beteiligungsorientierung..........................................................38 Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Eine breit angelegte interne Beteiligungsstrategie........................................................38 Großveranstaltung Jugendamtstag: Die Belegschaft informieren und motivieren.................................................................38 Fokusgruppen: Mitarbeitende am Planungsprozess beteiligen..............................................................................................39 Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin Auf dem Weg zu einem gelebten Leitbild: Alle Mitarbeitenden beteiligen ........................................................................................40 Temporäre Arbeitsgruppen: Gestaltungsund Vernetzungsmöglichkeiten für engagierte Mitarbeitende schaffen....................42 Dilemma der Prozessbegleitung: Wie viel Diversitätsorientierung steckt im Leitbild?.....................................................................43 Jugendamt Pankow Arbeitsgruppe Außenauftritt: Externe Beteiligung ermöglichen und migrantische Perspektiven einholen ......................................................................44 Vernetzung mit Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) stärken..............................45 5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedback........................... 46 Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Feedback einholen.............................................................................................................46 Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin Räume für Reflexion und Austausch schaffen...............................................................47 Den Leitbildprozess zum Anlass für eine neue Feedbackkultur nehmen..................48 Ausblick.............................................................................................. 50 Einleitung Einleitung Unter Stichworten wie Interkulturelle Öffnung (IKÖ), Diversity Management oder Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung haben sich heute viele Verwaltungen auf den Weg gemacht, ihre Dienstleistungen besser an den Bedarfen der Bürger*innen auszurichten. Damit einher geht die Anerkennung der gesellschaftlichen Tatsache, dass die Lebenslagen der Bürger*innen vielfältig geprägt sind. Um den gesetzlich gesicherten Anspruch auf Teilhabegerechtigkeit einzulösen, sind Verwaltungen gefragt, bestehende (Zugangs‑)Barrieren abzubauen und für einen professionellen Umgang mit Diversität zu sorgen. Für die Jugendhilfe bedeutet das unter anderem, dass alle Kinder und Familien den gleichen Zugang zu Angeboten und Leistungen haben und diese auch in derselben Qualität erhalten müssen. Insbesondere im Bereich der präventiven Hilfen sind jedoch beispielsweise Familien mit Migrationsgeschichte deutlich unterrepräsentiert, ebenso wie Personen mit Migrationsgeschichte auch in den Belegschaften kaum repräsentiert sind. Nicht zuletzt im Kontext des allgemeinen Fachkräftemangels entwickeln die Institutionen zunehmend ein Eigeninteresse daran, sich zu öffnen. Inzwischen liegt eine Vielzahl an handlungsleitenden Studien und Leitfäden vor, sodass niemand das Rad neu erfinden muss. Trotzdem stellen sich für die Praxis viele Fragen: Welches Vorgehen wählen, wo inhaltlich ansetzen, welche Akteur*innengruppen gezielt ansprechen und vor allem wie? Hierauf sind die Antworten so vielfältig wie die Organisationskulturen und jeweiligen Rahmenbedingungen, die die einzelnen Institutionen prägen. Mit dieser Handreichung möchten wir Erfahrungen zugänglich machen, die im Rahmen des Projektes „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ gemacht wurden. Wir werfen ein Schlaglicht auf vier Prozesse der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung, die in vier Jugendämtern in Berlin und Brandenburg in den Jahren 2018 bis 2020 stattgefunden haben. Diese Praxisbeispiele veranschaulichen die Antworten, die die beteiligten Ämter für sich gefunden haben, und möchten andere dazu inspirieren, sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung ist ein fortdauernder Prozess und wird auch im Rahmen einer Projektlaufzeit nicht abgeschlossen sein. Insbesondere in der Verwaltung brauchen diese ohnehin langwierigen Veränderungsprozesse viel Zeit. Aber die Impulse, die mit dem beginnenden Öffnungsprozess gesetzt werden, haben das Potenzial, sowohl innerhalb der Organisation als auch nach außen für einen spürbar besseren Umgang miteinander zu sorgen und dazu beizutragen, Diskriminierungen abzubauen. Das Projekt „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ 6 Das Projekt „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ war ein Projekt des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V., gefördert durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union, das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Landes Brandenburg, das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg, die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales des Landes Berlin, den Paritätischen Landesverband Berlin und die Stiftung Pfefferwerk. Kooperationspartner waren die Jugendämter Charlottenburg-Wilmersdorf und Pankow in Berlin sowie in Brandenburg das Jugendamt Märkisch-Oderland und das Amt für Familien und Soziales OstprignitzRuppin. Als Netzwerkpartner stand der Migrationsrat Berlin unterstützend zur Seite. Einleitung Ziel des Projektes war es, das Thema Interkulturelle Öffnung in den beteiligten Ämtern nachhaltig zu verankern und deren Entwicklung hin zu diversitätsbewussten Organisationen zu befördern. Hierzu wurden im Rahmen von Organisationsentwicklungs­prozessen Strukturen geschaffen, ausgewählte Schlüsselprozesse bearbeitet und Schlüsselakteur*innen qualifiziert. Jedes Amt wurde dabei von zwei Prozessbegleiter*innen des Bildungsteams Berlin-Brandenburg begleitet, die sowohl Prozesswissen als auch Diversity-Expertise mitbrachten. In einer jugendamtsübergreifenden Qualifizieru­ngsreihe für Ankerpersonen aus den vier Ämtern wurden engagierte Fachkräfte gezielt gefördert und ihr Erfahrungsaustausch ermöglicht. Drei der teilnehmenden Ämter waren bereits im Vorläuferprojekt „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ von 2015 bis 2018 beteiligt, lediglich das Jugendamt Pankow kam neu hinzu. Im aktuellen Projekt konnte an die bereits angestoßenen Prozesse angeknüpft werden. Zum Begriff der Interkulturellen Öffnung Der in unserem Projekttitel verwendete Begriff Interkulturelle Öffnung hat sich inzwischen in der öffentlichen Verwaltung etabliert; unter anderem findet er im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung und in Gesetzen wie dem Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz (PartIntG) Verwendung. Er bezeichnet einen Organisations­ entwicklungsprozess und verweist darauf, dass die Institutionen selbst gefragt sind, sich gegenüber bislang benachteiligten Bürger*innen, insbesondere Menschen mit Migrations­geschichte, zu öffnen und Barrieren abzubauen. Unter anderem die Erfahrung der Prozessbegleiter*innen im Projekt zeigt aber auch, dass der Begriff der Interkulturellen Öffnung häufig eine problematische Erwartungshaltung weckt, nämlich: Verhaltensweisen zum Umgang mit Menschen „anderer Kulturen“ zu erlernen, die dabei als klar voneinander abgegrenzte Gruppen gedacht werden. Gerade im Kontext einer angestrebten Öffnung erscheint es paradox, die sehr große und heterogene Gruppe von Menschen mit Migrationsgeschichte auf diese Weise zunächst zu „Anderen“ zu machen, insbesondere da auch viele Drittstaatsangehörige in Deutschland sozialisiert sind. Interkulturelle Kompetenzen, oder besser: Diversity-Kompetenzen, müssen selbstreflexiv ausgerichtet sein, intersektional gedacht werden und anerkennen, dass neben familialer Migrationsgeschichte auch andere Vielfaltsdimensionen individuelle Lebensrealitäten prägen. Dieses Verständnis liegt der Arbeit des Bildungsteams Berlin-Brandenburg zugrunde. Um diesen Ansatz kenntlich zu machen, hat es sich in der Praxis als zielführend erwiesen, den Begriff der Interkulturellen Öffnung um den Diversity-Begriff zu erweitern oder ihn damit zu ersetzen. Der Fokus in diesem Projekt liegt dabei weiter­hin auf Menschen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte; jedoch werden Menschen auf explizite Weise in ihrer Vielfalt anerkannt und nicht auf die Dimension (zugeschriebener) Herkunft reduziert. Mit der Diversitätsorientierung werden auch andere Vielfaltsdimensionen in den Blick genommen, womit der Mehrdimensionalität von Diskrimi­nierung und Vielfalt Rechnung getragen wird. Begriffe können bestimmte Erwartungshaltungen wecken, Unterstützung mobili­ sieren oder Widerstände hervorrufen. Insofern war es wichtig, dass die Jugendämter den für ihre jeweiligen Zielsetzungen und Gegebenheiten passenden begrifflichen frame selbst wählten; auch diese selbstgewählten Bezeichnungen finden in dieser Hand­ reichung Verwendung. 7 Einleitung Die Handreichung 8 Die Handreichung gliedert sich in fünf Kapitel, deren Themen unserer Erfahrung nach als zentrale Elemente von Prozessen diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung gelten können. Diversity-Sensibilisierung ist ein zentraler Baustein diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung, um innerhalb der Belegschaft überhaupt die Relevanz des Themas zu vermitteln, das Bewusstsein für bestehende Diskriminierungen zu schärfen und Haltungsveränderungen auf individueller Ebene anzuregen. So wichtig sie als Grundlage sind, Fortbildungen alleine machen noch keinen Öffnungsprozess. Eine gemeinsame Planung und Auswertung der Fortbildungen trägt dazu bei, die Inhalte in die Organisation zu tragen. Auch sollte vorab bestimmt werden, in welcher Form Ergebnisse strukturell verankert werden. Wirkungsvoll ist es, wenn ein direkter Anwendungsbezug hergestellt wird, indem die Sensibilisierungen an reale, konkrete Maßnahmen gekoppelt werden (siehe Kapitel Diversity-Sensibilisierung). Wie jeder Veränderungsprozess ist die diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung eine Führungsaufgabe: Sie braucht eine für das Thema engagierte und möglichst auch in der Prozesskoordination aktive Leitung. Eine Steuerrunde empfiehlt sich, um koordinatorische Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen, den Prozess und das Amt in seiner Gesamtheit im Blick zu haben und Unterstützung unter den Führungskräften zu mobilisieren (siehe Kapitel Führungsverantwortung). Um eine Chance auf nachhaltige Umsetzung zu haben, müssen alle beteiligten Akteur*innengruppen ihre Interessen vertreten wissen und einen Mehrwert in den vorgeschlagenen Maßnahmen sehen. Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung sollte daher an den individuellen wie organisationalen Bedarfen ansetzen, diese zunächst erfassen und Schwerpunkte daran ausrichten. Sie wird dann als Bereicherung und nicht als Belastung empfunden, wenn Maßnahmen mit den Entwicklungszielen der Organisation verknüpft sind und eine Diversity-Perspektive in ohnehin anstehende Prozesse einfließt (siehe Kapitel Bedarfsorientierung). Eine gelebte diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung basiert auf dem Engagement und der Motivation der Mitarbeitenden; diese werden Veränderungen eher mittragen, wenn sie sie selbst mitgestalten können. Deshalb sollten verschiedene Akteur*innen an Planungsprozessen beteiligt sein – auch um möglichst vielfältige Erfahrungen und Perspektiven einzubeziehen. Dies setzt eine transparente und umfassende Kommunikation in alle Richtungen voraus. Gerade zu Prozessbeginn braucht es viele Abstimmungsschleifen, um ausfindig zu machen, wo der potenzielle Mehrwert für die einzelnen Akteur*innen liegt und wie dieser gut kommuniziert werden kann. Auf dieser Basis kann ein von allen getragener Fahrplan entwickelt werden (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung). Im laufenden Prozess sind konstante Rückkopplungs- und Austauschprozesse zentrale Qualitäten gelingender Kommunikation. Eine wesentliche Rolle insbesondere in beteiligungsorientierten Prozessen spielt Feedback; wir behandeln es daher als Schwerpunkt im Bereich Kommunikation und widmen ihm ein eigenes Kapitel. Eine ernst gemeinte Beteiligung zeigt sich darin, dass Mitarbeitende und andere Akteur*innen über Feedbackschleifen und die Rückkopplung von Ergebnissen in die weitere Planung und Umsetzung eingebunden werden. Darüber hinaus erfordern auch die Inhalte der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung eine besondere Qualität der Kommunikation: Eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen und Haltungen muss Räume für Reflexion und Austausch eröffnen (siehe Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt Feedback). In den Kapiteln finden Sie beispielhafte Erfahrungen aus einzelnen Jugendämtern zu den jeweiligen Themen. Die thematischen Kapitel können eigenständig für sich gelesen werden, Querverweise machen auf weitere Ausführungen an anderer Stelle aufmerksam. Als Orientierungshilfe ist jedes Jugendamt mit einem eigenen Symbol am Rand bzw. in der Kopfzeile versehen. Einer Gesamtübersicht dienen die Kurzbeschreibungen am Ende Einleitung dieses Kapitels; die Öffnungsprozesse der vier Ämter werden dort skizziert und visualisiert.1 Die Handreichung erhebt nicht den Anspruch, mit den ausgeführten Praxisbeispielen alle relevanten Aspekte des jeweiligen Themas abzudecken. Die Auswahl speist sich aus den Erfahrungen, die im Rahmen des Projektes gemacht wurden und über die hier folglich berichtet werden kann. Die Datengrundlage für diese Handreichung bilden Beobachtungen aus den Fortbildungen des Projektes, die Auswertung projektinterner Dokumente sowie 17 qualitative Interviews. Zur weiteren Lektüre möchten wir auf unsere 2018 erschienene Praxishandreichung „Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung in Jugendämtern“ 2 verweisen. Dort finden Sie Ausführungen zu theoretischen und konzeptionellen Grundlagen, praxisbasierte Handlungsempfehlungen und umfangreiche methodische Anregungen. Diese geben unter anderem darüber Aufschluss, welche Erwägungen bei der Auswahl einer Prozessbegleitung, bei der Zusammensetzung einer Steuerrunde oder der Gestaltung des Prozessauftaktes sinnvoll sind und welche Methoden etwa zur Diversity-Sensibilisierung, Bedarfserhebung oder Maßnahmenplanung zum Einsatz kommen können. Kurzbeschreibung der Prozesse diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung in den vier Ämtern Die Ausgangslagen in den vier Ämtern waren sehr verschieden, entsprechend unterschiedlich gestalteten sich die Prozesse diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung. Mit zwei Berliner und zwei Brandenburger Ämtern waren eine großstädtische und eine ländliche Perspektive vertreten; in Berlin waren Jugendämter aus einem ehemaligen Westbezirk und einem ehemaligen Ostbezirk beteiligt. Während die Berliner Ämter mit Unterbesetzung und hoher Personalfluktuation zu tun hatten, wiesen die brandenburgischen Ämter einen besseren Personalschlüssel auf; Personalfluktuation war aber auch hier ein Thema. In einigen Ämtern hatte die Belegschaft einen hohen Altersdurchschnitt, in anderen war der Generationenwechsel bereits in vollem Gange. Während im städtischen Raum eine diverse gesellschaftliche Zusammensetzung und diesbezügliche Diskurse die Ämter in Zugzwang brachten, war die Bevölkerung in der Peripherie und im ländlichen Raum sehr viel weniger (sichtbar) divers aufgestellt. Für Prozesse, die darauf abzielten, die Diversität in der Belegschaft zu erhöhen, war Letzteres eine schwierigere Ausgangssituation. Auch die Organisationskulturen, die Vorerfahrungen der Mitarbeitenden – etwa aus anderen Veränderungsprozessen – und die Beteiligungsmöglichkeiten bedingten ganz wesentlich, wie lange die Phase des „Auftauens“ dauerte. Damit ist die in allen Change-Prozessen notwendige Vorbereitung und Einsicht in Notwendigkeiten gemeint, bevor überhaupt strukturelle Veränderungen vorgenommen werden können. Nicht zuletzt waren die Öffnungsprozesse ganz wesentlich davon geprägt, wie sehr die Führungskräfte hinter der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung standen und wie aktiv sie sich einbrachten, welche Schwerpunkte gesetzt wurden und ob die Leitungen eher einen Top-down-Ansatz verfolgten oder auf Beteiligung setzten. Diese Aufzählung von Einflussfaktoren ist keineswegs vollständig; mit ihr soll nur beispielhaft angerissen werden, wie viele Faktoren die diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung bestimmen, und das Spektrum an Erfahrungen verdeutlicht werden, das sich allein bei den vier beteiligten Ämtern zeigte. 1 Die durchgeführten Prozesse sind in Form von Prozessarchitekturen visualisiert. Von den zu Projektende geplanten Veranstaltungen und Maßnahmen konnten, bedingt durch die Pandemie-Schutzmaßnahmen, einige nicht durchgeführt werden; diese sind der Vollständigkeit halber hier aufgeführt. Es wurden verschiedene Darstellungsformen gewählt, um den gestalterischen Spielraum aufzuzeigen. Eine Prozessarchitektur ist ein hilfreiches Planungsinstrument, in dem Anpassungen fortlaufend (mit) festgehalten werden. Damit kann der Prozess möglichst vielen Akteur*innen transparent gemacht werden. 2 Schmidt, Elisa; Saadi, Iven; Wetzig, Salka (2018): Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung in Jugendämtern. Handlungsimpulse für eine Organisationsentwicklung. Berlin: Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. 9 Einleitung Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf: Der Öffnungsprozess im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf wurde unter dem Titel Managing Diversity von einer bereits bestehenden Steuerrunde aus Führungskräften einschließlich des Jugendamtsdirektors koordiniert; der Prozess war auf eine starke Beteiligung der Belegschaft ausgerichtet. Ausgehend von den Entwicklungszielen des Amtes wurden anstehende Veränderungen aus einer diversitätsorientierten Perspektive geplant. Die Steuerrunde setzte die Bereiche Bundesteilhabegesetz, Personal und Familienservicebüro als Schwerpunkte. Einen weiteren Schwerpunktbereich – Moderne Verwaltung – wählten Mitarbeitende bei einer Auftaktveranstaltung selbst. Die jeweiligen Ziele und Maßnahmen wurden in vier freiwillig zusammengesetzten Fokusgruppen entwickelt; die Teilnehmenden hatten zuvor bei einer Diversity-Sensibilisierung mitgemacht. Auf diesen Ergebnissen aufbauend, erarbeite die Steuerrunde eine Zeit-Maßnahmen-Planung. Die Planung wurde in verschiedenen Feedbackschleifen rückgekoppelt und schließlich an die jeweils Zuständigen zur Umsetzung übergeben. Bilanztagung Information Motivation Fokusgruppenfortbildungsphase Sensibilisierung Beteiligung Fokusgruppenplanungsphase Verantwortung Planung Übernahme Steuerungsrunde Zuständigkeiten Feinplanung Rückkopplung Fokusgruppen Engagement echte Beteiligung Umsetzung Meilensteine 10 Monitoring Einleitung Jugendamt Pankow: Der Prozess diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung im Jugend­amt Pankow war top-down konzipiert, koordiniert durch eine dreiköpfige Steuerrunde einschließlich der Jugendamtsdirektorin. Entsprechend den drängenden Verän­ derungsbedarfen im Amt lag der Schwerpunkt auf der Personalgewinnung und -entwicklung. Diversity-Sensibilisierungen zielten darauf ab, zunächst die Führungskräfte für die Thematik zu gewinnen. Sodann wurden zwei hierarchieübergreifende Arbeitsgruppen gebildet: Die Arbeitsgruppe Außenauftritt befasste sich damit, den Internetauftritt diversitätssensibler zu gestalten; die Arbeitsgruppe Anforderungsprofile formulierte Textbausteine zu Diversity- und interkulturellen Kompetenzen, die verbindlich im Jugendamt eingeführt wurden. Fortbildungen sowie Coachings begleiteten die Einführung der veränderten Anforderungsprofile (APs) durch die Führungskräfte. Steuerungsgruppe Ankerpersonen Führungskräfte AGs Mitarbeiter* innen Gruppenleiter* innen 2018 Training Tag 1 2019 Training Tag 2 Training Tag 3 2020 Abschlussveranstaltung Diversity-Training AG Außenauftritt AG Anforderungsprofile AG Planung Diversity-Training Training wg. Corona ausgefallen Diversitytraining/ Qualifizierung zur Anwendung der neuen APs 11 Einleitung Jugendamt Märkisch-Oderland: Zu Projektbeginn identifizierte die Leiterin des Jugendamtes Märkisch-Oderland gemeinsam mit den Fachbereichsleiter*innen zwei Schwerpunktbereiche. Erstens sollte die Diversitätsorientierung in der Kita-Fachberatung (der Erziehungs- und Familienberatung angegliedert) vorangebracht werden. Zweitens sollte der bereits im Vorläuferprojekt angestoßene Prozess mit den Fachkräften des Bereichs Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) fortgesetzt und nun auf den gesamten Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) ausgeweitet werden. Die inhaltliche Ausgestaltung und Koordination der Prozesse oblag den Verantwortlichen der jeweiligen Schwerpunkt­ bereiche: den beiden Kita-Fachberaterinnen sowie der Fachbereichsleiterin des ASD, die mit ihren Teamleitungen eine IKÖ-Steuerrunde gründete. In beiden Schwerpunkt­ bereichen wurde der Fokus auf Diversity-Sensibilisierung gelegt. Daran schlossen sich jeweils Maßnahmen zur Verankerung der Inhalte an; Diversity wurde in der Konzeption der Kita-Fachberatung sowie in den Einarbeitungsplänen des ASD festgeschrieben. Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) FoBi Ankerperson 2018 – 2020 FoBi FoBi FoBi AG Einarbeitungspläne AG Einarbeitungspläne AG Einarbeitungspläne AG Einarbeitungspläne Abschlussveranstaltung ASD 12 Steuergruppe Kita-Fachberatung Steuerungsgruppe ASD Gesamtsteuergruppe Auftaktveranstaltung ASD Kita-Fachberatung KiezKita-Fachkräfte Feldanalyse Sensibilisierung Entwicklung/ Fortbildungen Kita-Leitungen und MA*innen 150 Kita- und Hortleitungen in 7 AKs Einarbeitung von Diversity in Konzeption für Kita-Fachberatung Erprobung Sensibilisierung Fortbildungen/ Vielfalt leben Information und FoBi durch die Kita-Fachberaterinnen Einleitung Führungskräfte Steuerungsgruppe Alle Mitarbeiter* innen AG Vorbereitung VA AG Leitbild 3. Q 2018 Auftragsklärung, Rahmen setzen, VereinThemenfindung, barung abschließen Zielvereinbarung, Plan des Prozesses stricken Ankerpersonen Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin: Im Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin sollte das Projekt einer grundlegenden Auseinandersetzung damit dienen, wofür das Amt stehen will. In einem beteiligungsorientierten Leitbildprozess formulierten die Mitarbeitenden ihre Anliegen; Diversity wurde dabei begleitend als Querschnittsthema berücksichtigt. Eine Steuerrunde aus den Sachgebietsleitungen koordinierte den Prozess. In zwei Workshop-Phasen waren alle Mitarbeitenden eingeladen, Visionen und Maßnahmen zu entwickeln, was die interne Zusammenarbeit sowie das Verhältnis zwischen Amt und Bürger*innen betraf. Eine freiwillige Arbeitsgruppe wertete die Ergebnisse aus, die dann von allen Mitarbeitenden im Rahmen einer Großveranstaltung diskutiert und weiterentwickelt wurden. Eine weitere freiwillige Arbeitsgruppe wurde damit betraut, auf dieser Grundlage einen Leitbild-Entwurf zu formulieren; dieser enthielt detaillierte Umsetzungsschritte. In den regulären Dienstberatungen wurde er zur Diskussion gestellt, bevor das finale Leitbild verabschiedet wurde. 4. Q 2018 2. Q 2019 2. Leitbildrunde in je 8 Gruppen (Amt-Bürger*innen) 3. Q 2019 Auswertung 2. Leitbildrunde, Vorbereitung Großveranstaltung Präsentation der Ergebnisse der 2 Runden Großveranstaltung 25.9.2019 Auswertung Großveranstaltung 4. Q 2019 Dokumentation der Ergebnisse der VA Vorbereitung Großveranstaltung Mitgestaltung der Großveranstaltung Reflexion der Großveranstaltung Leitbildentwurf erarbeiten 1. Q 2020 Feedback zum Leitbildentwurf/ Erarbeitung von Umsetzungsschritten Vorstellung des Leitbildentwurfs in den Dienstberatungen (DB) 2. Q 2020 Leitbildpräsentation (eigentlich 27.5.2020) Qualifizierung von Ankerpersonen, Ziel: Verstetigung im Amt nach 06/2020 1. Q 2019 Auswertung 1. Leitbildrunde, Planung 2. Runde Mitvorstellung des Entwurfs in den DB Einarbeitung des Feedbacks aus den DB 13 1 Diversity-Sensibilisierung 1 Diversity-Sensibilisierung Alle Ämter Diversity-Sensibilisierung als Voraussetzung für Öffnungsprozesse In allen vier am Projekt beteiligten Ämtern war Diversity-Sensibilisierung eine zentrale Komponente der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung. Die Sensibilisierungsfortbildungen wurden mehrheitlich von den jeweils zuständigen Prozessbegleiter*innen des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V. durchgeführt; in einigen Fällen wurden externe Referent*innen damit betraut. Sie alle teilten grundlegende methodische und inhaltliche Ansätze, was Diversity-Sensibilisierung ausmacht und wofür es sie braucht. Wichtig für den Öffnungsprozess ist die Sensibilisierung für eigene Positionierungen, Privilegien und Sprachgebrauch im Kontext von Machtstrukturen; der Auseinandersetzung mit eigenen Bildern und Vorurteilen; der Erarbeitung eines kritischen Kulturbegriffs; der Aneignung von Wissen über verschiedene Formen von Diskriminierungen und deren strukturelle Dimension. Dies betrifft zunächst einmal die individuelle Ebene. Mitarbeitende werden zur Selbstreflexion angeregt und dazu, eigene Haltungen zu überprüfen. Die Fortbildungen zur Diversity-Sensibilisierung waren darauf ausgerichtet, Mitarbeitende dazu anzuregen, eigene Haltungen gegenüber marginalisierten (vermeintlichen) Gruppen zu überdenken. Eine Mitarbeiterin gab dazu folgendes Feedback: „Seit der Diversity-Fortbildung übe ich für mich in Beratungsgesprächen. Ich versuche bei Erstkontakten bewusster wahrzunehmen, wie ich die Person ‚auf den ersten Blick‘ einschätze. Nach dem Gespräch nehme ich mir dann die Zeit zur Reflexion: Wo hat sich möglicherweise ein ‚Schubladendenken‘ eingeschlichen, und was hat sich im Beratungsgespräch tatsächlich ergeben?“ Catrin Großmann, Mitarbeiterin im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst 14 Ziel war ein diskriminierungssensiblerer Umgang mit Nutzer*innen und dadurch verbesserte Dienstleistungen. Die Fortbildungen waren aber auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass der Prozess intern mitgetragen wurde. Denn die meisten in den Belegschaften waren entweder nicht von Diskriminierung betroffen oder hatten noch keine Selbstwahrnehmung für ihre Betroffenheit entwickelt; ihnen erschien das Thema daher zunächst wenig relevant: 1 Diversity-Sensibilisierung „Wie es so ist, wenn man zu dieser Mehrheitsgesellschaft gehört – dann hat man wenig Berührungspunkte damit und muss sich wenig mit Diskriminierung auseinandersetzen, weil einen das selbst alles gar nicht betrifft. Aber nur weil man es selbst nicht wahrnimmt, weil man zur Mehrheitsgesellschaft gehört, heißt das noch lange nicht, dass keine Diskriminierung stattfindet. Da gab es vorher wenig Auseinandersetzung mit, da sehe ich den Prozess als eine große Bereicherung.“ Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung Die Sensibilisierung für Diskriminierungen war folglich ein wichtiges Instrument, um Problembewusstsein zu erzeugen und die Veränderungsnotwendigkeit deutlich zu machen. Der Diversity-Ansatz erwies sich methodisch als hilfreich, weil Teilnehmende sich durch die Reflexion eigener Erfahrungen, wie beispielsweise von Unterprivilegiertheit, potenziell besser in andere Formen von Diskriminierungserfahrung hineinversetzen konnten. So wurde etwa darüber gesprochen, dass sich Kommunikation für eine Frau anders anfühlen kann als für einen Mann; danach fiel es an manchen Stellen leichter, auch beim Thema Interkulturalität zu einem gemeinsamen Verständnis zu finden. Die Arbeit mit Fach- und Führungskräften der Allgemeinen/Regionalen Sozialpädagogischen Dienste stellte die Prozessbegleiter*innen vor besondere Herausforderungen. Anders als im Verwaltungsbereich brachten die meisten inhaltliche Vorerfahrungen aus ihrem Studium mit und verstanden die Gleichbehandlung von Nutzer*innen als integralen Bestandteil ihrer Arbeit. Aus diesem Selbstverständnis heraus waren die Widerstände dagegen, Diskriminierung im eigenen Denken und Handelns zu erkennen und anzuerkennen, hier besonders ausgeprägt. Nicht nur kratzte deren Anerkennung am eigenen Selbstbild und Berufsethos; zudem schlug sie in die Kerbe, als jene, die gesellschaftlich relevante Arbeit leisten, häufig in der öffentlichen Kritik zu stehen. Zur Entlastung der Mitarbeitenden, aber auch um zum eigentlichen Kern diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung zu kommen, hoben die Prozessbegleiter*innen auf die institutionelle Dimension von Diskriminierung ab. Denn ungeachtet der Einstellungen der einzelnen Mitarbeitenden sind in den Strukturen und Dienstleistungen der Ämter Barrieren und Benachteiligungen angelegt. Diese gilt es mit den Mitteln der diversitätsorientierten Organisationsentwicklung zu erkennen und abzubauen: „Es ist interessant, dass man immer auf diese Widerstände trifft, wenn es um institutionelle Diskriminierung geht, die bisher definitiv noch in jedem Jugendamt in Deutschland besteht. So wie die Strukturen im Moment gemacht sind, wie die Architektur dieser Dienstleistungsbehörde ist, ist die Dienstleistung nicht in derselben Qualität zu empfangen, wenn ich Öztürk heiße oder Schneider. Da ist kein persönlicher Vorwurf immanent – das ist eine nüchterne Feststellung. Die Frage ist vom Anspruch her: Wie kann eine Behörde ohne institutionellen Rassismus arbeiten? Das ist nur über Organisationsentwicklung möglich. Dafür ist es wichtig, die Mitarbeitenden, die Personen von der Verantwortung für die Institution zu entlasten. Rassistische Wissensbestände wirken, auch wenn einzelne Menschen keine Rassisten sind.“ Martin Gerlach, Prozessbegleiter 15 1 Diversity-Sensibilisierung Diversity-Sensibilisierung war also eine Voraussetzung dafür, dass Mitarbeitende und Führungskräfte die Strukturen und Angebote ihrer Ämter aus einer diversitäts- und diskriminierungssensiblen Perspektive analysieren konnten. Daraus folgt: Um diversitätsorientierte Maßnahmen zu entwickeln, bedurfte es entsprechender Fortbildungen. Der praktische Anwendungsbezug der Fortbildungen unterstützte dabei, deren Inhalte zu verinnerlichen. An konkreten Beispielen wurde immer wieder die Frage aufgeworfen: Welche weiteren Perspektiven müssen mitgedacht werden? In den Ämtern war es bereits ein großer Schritt, dass im Rahmen der Öffnungsprozesse verschiedene Hierarchieebenen und Bereiche gemeinschaftlich an der Planung der Maßnahmen beteiligt waren. Ebenso unüblich war die Einbindung von Nutzer*innen, auch um Perspektiven von Menschen mit Diskriminierungserfahrung einzuholen; während der Projektlaufzeit hat nur ein Amt gezielt migrantische Perspektiven von außen eingeholt, da diese intern nicht vertreten waren. Die bisherige Abwesenheit einer diversitätsorientierten Perspektive in Planungs- und Leitungsprozessen war der Grund dafür, dass eine diversitätsorientierte Organisationsentwicklung angestrengt werden musste. Eine entsprechende Perspektive und Expertise von außen einzuholen, war folglich unabdingbar. Die Prozessbegleiter*innen nahmen dabei eine Doppelrolle als Organisationsentwickler*innen und Diversity-Expert*innen ein. Jugendamt Pankow Unterstützung mobilisieren Während der zweijährigen Projektlaufzeit wurden im Jugendamt Pankow DiversitySensibilisierungen für drei verschiedene Zielgruppen umgesetzt. Dabei wurden mehrere Ziele verfolgt und verschiedene Strategien kombiniert. Das Jugendamt wählte einen Top-down-Ansatz. Zunächst wurden die Führungskräfte der ersten und zweiten Ebene eingebunden. Ziel dieser anfänglichen Fortbildungsreihe für Führungspersonen war es, ihre Unterstützung für den Prozess zu mobilisieren, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, weshalb Veränderungen erforderlich sind, und inhaltliche Grundlagen für die weitere Arbeit zu legen. Die drei eintägigen Workshops waren als grundlegende Diversity-Sensibilisierungen angelegt, mit einem starken selbstreflexiven Anteil rund um die Themen Kulturverständnisse, Interkulturelle Öffnung, Diversity und Antidiskriminierung. Damit verknüpft war eine amtsinterne Verständigung darüber, was unter dem Öffnungsprozess verstanden wurde, und über die Sichtweisen der beteiligten Führungspersonen auf die damit verbundenen Themen. In der dritten Veranstaltung wurde gemeinsam erarbeitet, in welchen Bereichen des Jugendamtes langfristig Maßnahmen zur Implementierung von Diversity getroffen werden müssten. Gleichzeitig wurde der Blick auf kurzfristige Planungen gerichtet; dabei stellte sich heraus, dass die Führungspersonen, ebenso wie die Steuerrunde, den dringendsten Veränderungsbedarf im Bereich Personal sahen (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Pankow). Im weiteren Verlauf wurden zwei zweitägige Fortbildungen angeboten, ausgeschrieben als freiwilliges Angebot für alle Mitarbeitenden. Dabei folgten die Prozessbegleiterinnen dem Gedanken des sogenannten Viral Change Managements: 16 1 Diversity-Sensibilisierung „Interessant für uns war: Wer meldet sich darauf, wer sind die early adopters, die auf dieses Thema aufspringen wollen – einfach weil es sie interessiert? In der Regel sind das Leute, die schon ein bisschen Vorerfahrung mitbringen. Sie zu schulen, bedeutet auch, dass man sie zusammenbringt. Vielleicht entsteht eine Vernetzung und ein bestimmter Impuls daraus, dass Leute in der Mitte der Organisation für dieses Thema stehen, positiv gestimmt sind und am selben Strang ziehen.“ Tanja Michalczyk, Prozessbegleiterin Diversity in den Anforderungsprofilen: Sensibilisierung und konkrete Maßnahmen koppeln Für das letzte Quartal des Projektes wurden Diversity-Sensibilisierungen für eine weitere Zielgruppe konzipiert: die Gruppenleiter*innen. Diese hatten als Führungskräfte der dritten Ebene zunächst nicht an den Führungskräfte-Fortbildungen partizipiert. Da sie auch nicht an den Leitungsrunden teilnahmen, waren sie zunächst nur schriftlich, im internen Newsletter, über den Prozess informiert worden. Als direkte Vorgesetzte aller Mitarbeitenden würden sie aber ganz wesentlich daran mitwirken, ob Diversitätsorientierung im Amt tatsächlich gelebt werden würde oder nicht. Sie sind sowohl als Bewerter*innen unmittelbar an Einstellungsprozessen beteiligt als auch zuständig für Mitarbeitendengespräche und die Beurteilungen des Stammpersonals. Als Bewertungsgrundlage der Bewerbungs- und Mitarbeitendengespräche dienen Anforderungsprofile (APs). Im Rahmen des Prozesses waren zwei Bausteine zu Diversityund interkulturellen Kompetenzen entwickelt und in die Anforderungsprofile aufgenommen worden (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow). Nun ging es darum, diese in die tatsächlichen Gespräche einfließen zu lassen: „Wenn Diversity-Kompetenzen in den Anforderungsprofilen festgeschrieben sind, dann ist das Ganze Vorschrift und auch Gegenstand von Beurteilungsgesprächen und von Mitarbeiter*innengesprächen. Insofern ist die Herausforderung jetzt, dass man die Leute, die diese Gespräche führen, wirklich mit ins Boot holt. Die Führungspersonen müssen einen Blick für Diversity-Kompetenzen haben. Wenn nicht, wird die Veränderung des Anforderungsprofils nur auf dem Papier stehen, nicht aber in die Praxis übergehen. Das heißt, die Führungskräfte sind jetzt ein wichtiges Scharnier. Sie stehen dafür, das auf den unteren Ebenen zu verankern. Von diesen Gesprächen führen alle Mitarbeiter*innen eins pro Jahr; da müsste dann geguckt werden, ob Diversity-Kompetenzen vorhanden sind oder ob sie nachgeschult werden müssen.“ Renate Pulz, Prozessbegleiterin Eine tiefergreifende inhaltliche Diskussion zu Diversity hatte zunächst nur innerhalb der Arbeitsgruppe stattgefunden, die damit betraut worden war, die Anforderungsprofile zu überarbeiten (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow). In diesem Erarbeitungsprozess hatte sich gezeigt, wie voraussetzungsvoll das Thema ist: Eine Anordnung von oben würde nicht ausreichen, damit die zuständigen Führungskräfte die neu eingeführten Kompetenzen gut erfragen und beurteilen konnten. 17 1 Diversity-Sensibilisierung Für diese Personengruppe wurde daher eine zweitägige Fortbildung konzipiert und als Pflichtveranstaltung angesetzt; allerdings mussten zunächst zwei von drei Terminen aufgrund der Schutzmaßnamen zur Pandemie abgesagt werden. Thema war die Anwendung der neuen Anforderungsprofile. Die Fortbildung sensibilisierte die Führungskräfte für Diversity; außerdem informierten die Prozessbegleiterinnen über die internen Neuerungen und Anforderungen durch den Senat, um den Teilnehmenden mehr Handlungssicherheit bei der Anwendung der neuen Beurteilungskriterien zu vermitteln. Die Diversity-Sensibilisierung wurde an die Umsetzung einer konkreten Maßnahme des Öffnungsprozesses – die Einführung der neuen Anforderungsprofile – gekoppelt. Dadurch hatten die Teilnehmenden einen konkreten Anwendungsbezug und erfuhren Unterstützung bei der Aneignung der neuen Anforderungen. Die Sensibilisierung der Führungskräfte dürfte maßgeblich dazu beitragen, dass Diversity fortan in den Mitarbeitenden- und Beurteilungsgesprächen einen zentralen Stellenwert einnehmen wird – wie in den neuen Anforderungsprofilen vorgesehen. Damit verbunden ist die Hoffnung, auf diesem Wege ein wirkungsvolles und nachhaltiges Instrument im Jugendamt zu verankern, das dem Thema Diversity dauerhaft Präsenz verleiht. Jugendamt Märkisch-Oderland Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung: Fortbildungskonzept entwickeln und erproben Im Jugendamt Märkisch-Oderland bildete die Kita-Fachberatung einen Schwerpunkt­ bereich des Öffnungsprozesses. Im Zuge der Neuaufstellung der Kita-Fachberatung (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Märkisch-Oderland) wurden für verschiedene pädagogische Fachkräfte Diversity-Sensibilisierungen entwickelt, erprobt und durchgeführt. Hiermit wollte das Jugendamt ein unterstützendes Fortbildungsangebot für Kita-Personal in den Einrichtungen des Landkreises schaffen. Wichtig war der Jugendamtsleiterin, den Teilnehmenden der Fortbildungen keine defizitäre Perspektive zu vermitteln. Als Bestandteil der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung des Jugendamtes sollten die Fortbildungen von dem Selbstverständnis zeugen, dass alle Bereiche gefragt sind, sich weiterzuentwickeln und Räume für Reflexion jenseits des Alltagsgeschehens zu eröffnen. Nachdem die Prozessbegleiterinnen den groben Rahmen mit der Jugendamtsleiterin und dem Fachbereichsleiter abgestimmt hatten, lag die Umsetzung in den Händen der Fachberaterinnen. Denn vertrauend auf Empathie, Wertschätzung und Analysefähigkeit des neu aufgestellten Teams, sah die Leiterin in dem Öffnungsprozess auch die Chance, ihren Mitarbeitenden neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen zu können. „Die Verwaltung ist nun einmal sehr hierarchisch: Viele Dinge sind entschieden und müssen umgesetzt werden. Als Leitung schaue ich auch nach Möglichkeiten, wo Mitarbeitende sich entfalten können, wo sie kreativer tätig werden können und was Bereiche sind, in denen sich Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen lassen. Die Interkulturelle Öffnung ist so ein Bereich, in dem ich als Leitung gar nicht stark reglementieren und Vorgaben machen möchte. Man kann nicht von Interkultureller Öffnung, Reflexionsprozessen, Haltung und Bewusstseinsbildung sprechen, wenn man sie dann strikt vorgibt. Man kann auch Toleranz nicht verordnen. Ich denke, diese 18 1 Diversity-Sensibilisierung Prozesse müssen sich frei entwickeln, damit dann, in dieser Atmosphäre, etwas entstehen kann. Ich weiß, dass da verantwortungsbewusste Mitarbeitende dabei sind, die an der Sache interessiert sind und denen ich vertraue.“ Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin Die beiden Kita-Fachberaterinnen waren erst seit Kurzem im Jugendamt tätig, brachten viel Erfahrung aus der Erwachsenenbildung mit und waren mit interkulturellen Themen vertraut. Wissend um bestehende Problemlagen und Diskriminierungen in den Einrichtungen brachten sie eine starke eigene Motivation mit, Veränderungen anzustoßen. Zwischen ihnen und den Prozessbegleiterinnen entwickelte sich eine enge und ver­ trauensvolle Zusammenarbeit, aus der heraus das Vorhaben schnell Fahrt aufnahm. Auf Vorschlag der Fachberaterinnen sollten mit einer ersten dreitägigen Fortbildungsreihe gezielt die sogenannten Kiezkitahelfer*innen angesprochen werden. Brandenburg­ weit erhielten mehr als 100 Kindertagesstätten personelle Unterstützung in Form von Kiezkitahelfer*innen, zusätzlich zum Personalschlüssel. Die Kiezkitahelfer*innen waren für besondere Problemlagen, Elternarbeit, die Integration von Kindern mit Förder­bedarf oder Fluchthintergrund zuständig. Mit der Idee, sie für Diversity-Themen einzunehmen, war die Hoffnung verbunden, sie als diesbezügliche Multiplikator*innen in den Einrichtungen zu gewinnen; zugleich war zu vermuten, dass sie einen guten Einblick in aktuell drängende Probleme hatten – Wissen, das in die Konzeption weiterer Fortbildungen einfließen konnte. Ein bewusster Umgang mit Diskriminierung und eine Reflexion über Vorurteile und Machtverhältnisse waren für die Aufgaben der Kiezkitahelfer*innen ganz entscheidend. Allerdings zeigte sich, dass die neun Kiezkitahelferinnen aus Märkisch­Oderland wenig Vorerfahrung und Wissen hierzu mitbrachten. Insbesondere mit interkulturellen Themen hatten die meisten bislang wenig Berührung. An zwei Terminen bot eine Prozessbegleiterin der engagierten Teilnehmerinnengruppe eine grundlegende Diversity-Sensibilisierung an, dies im Beisein der Kita-Fachberaterinnen. Um das Bewusstsein für Diskriminierungspraktiken zu schärfen und Handlungsstrategien zu entwickeln, diente ein dritter Termin der vertiefenden Falldiskussion. Die Prozessbegleiter­innen werteten die Fortbildungen gemeinsam mit den Kita-Fachberaterinnen aus. Mit dem Feedback der Teilnehmerinnen ließ sich nun besser bestimmen, welche Methoden für diese Zielgruppe besonders geeignet waren und wie viel theoretischen Input es brauchte. Außerdem ließen sich Anschauungsbeispiele für die Herausforderungen, vor denen Kitas in der Region stehen, mitnehmen; davon profitierten die weiteren Fortbildungen. Auf Grundlage der mit den Kiezkkitahelfer*innen gesammelten Erfahrung, ent­ wickelten die Fachberaterinnen gemeinsam mit den Prozessbegleiterinnen ein Konzept für eine Basis-Fortbildung für Kita-Fachkräfte. Unter dem Titel „Diversity im Arbeits­alltag“ wurden zwei Fortbildungstermine angeboten, einmal an einem ländlichen Standort (Seelow), einmal im Berliner Umland (Strausberg). Es zeigte sich, dass sich die beiden Gruppen hinsichtlich ihres Vorwissens stark unterschieden: In Strausberg waren etliche schon mit den Themen vertraut, in Seelow hingegen waren die Inhalte für die meisten neu. Letztere begegneten dem Thema aber mit Offenheit und hoben die neuen Impulse gedanklich schnell auf die Handlungsebene. Als Produkt des bisherigen Entwicklungsprozesses lag dem Jugendamt mit der Diversity-Basis-Fortbildung für Kita-Personal nun ein erprobtes Fortbildungsangebot vor. Mit den zwei Kita-Fachberaterinnen, die das Konzept mitentwickelt und an allen Fortbildungen hospitiert hatten, verfügte das Amt eigentlich auch über zwei qualifizierte Fortbildnerinnen; allerdings hatten diese nicht die zeitlichen Ressourcen, selbst Fortbildungen anzubieten, weshalb sie nach anderen Mitteln und Wegen suchten, die Ergebnisse in die Kitas zu tragen. 19 1 Diversity-Sensibilisierung Angesichts der durchweg positiven Resonanz auf die bisherigen Fortbildungen konnte von einem gewissen Multiplikationseffekt ausgegangen werden, und einige der Fortbildungs­angebote waren bereits bekannt. Dennoch brauchte es persönliche Empfehlungen und eine bessere Vernetzung, damit sie auch wahrgenommen wurden – eine langfristige Aufgabe der beiden Kita-Fachberaterinnen. Wichtig war nun vor allem, die Kita-Leitungen zu informieren und von der Notwendigkeit der Diversity-Sensibilisierung zu überzeugen. Eine geeignete Plattform schienen die regelmäßigen Arbeitskreise der Kita-Leitungen mit den Fachberaterinnen zu sein. Geplant war, dass die Prozessbegleiterinnen als externe Referentinnen zu mehreren Terminen eingeladen würden, um den Leitungen eine kurze Einführung in die Thematik und ihre Relevanz zu geben. Dabei sollten sie nicht nur die Basis-Fortbildung, sondern auch Möglichkeiten für Aufbau-Fortbildungen vorstellen, die noch stärker auf die pädagogische Umsetzung fokussierten. Zu den geplanten Inputs der Prozessbegleiterinnen kam es nicht mehr aufgrund der Kontaktsperren, die als Gegenmaßnahme zur Corona-Pandemie verhängt wurden. Stattdessen wurde im Projekt nach anderen Möglichkeiten gesucht, die Informationen aufzubereiten und weiterzuverbreiten: In der Broschüre "Diversity-Sensibilisierung in Kitas" wurden Angebote verschiedener Institutionen zusammengestellt, bezüglich relevanter Fortbildungen sowie diskriminierungssensibler Materialien und Bücher für Kitas1. Damit verfügten die Kita-Fachberaterinnen über begleitendes Infomaterial, auf das sie künftig in ihren Beratungen zurückgreifen können. Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst: Reflexionsprozesse anregen Mit dem Schwerpunkt Diversity-Sensibilisierung beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) sah die Jugendamtsleiterin ein ganz grundsätzliches Thema berührt: Als öffentliche Verwaltung leiste das Amt einen Spagat zwischen seinem Auftrag als Exekutive, gesetzliche Vorgaben umzusetzen, und dem als Dienstleister, Leistungen an die Bürger*innen zu bringen, diese in ihren Lebenswelten zu erreichen und der damit verbundenen Komplexität gerecht zu werden. Der staatliche Auftrag bleibe dabei immer derselbe, unabhängig davon, ob nun die Mitarbeitenden im Jugendamt Märkisch-Oderland weniger mit Menschen mit Migrationsgeschichte zu tun haben als in Berlin. Für die von Sicherheit und Stabilität geprägte Verwaltung sei es dabei mitunter eine Herausforderung, auf die sich verändernde und vielfältiger werdende Bürger*innenschaft zu reagieren. Der Prozess der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung liefere eine Ressource, um Mitarbeitende dabei zu unterstützen, im Umgang mit verschiedenen Lebensrealitäten handlungssicherer zu werden. „Ich glaube, es ist wichtig, Reflexionsprozesse in Gang zu setzen, sodass Mitarbeitende handlungssicherer werden. Sie bringen ja selbst eine gewisse Wertehaltung und eine Kulturalität mit, die sie auch nicht gänzlich ablegen können im Kontakt mit den Familien und jungen Menschen, mit denen sie zu tun haben. Man kann nicht alles über Bord werfen, weil jemand etwas anderes fordert. Auf der anderen Seite muss man es respektieren, dass Menschen andere Entscheidungen treffen und andere Wege gehen. Ich glaube, es ist ganz allgemein eine große Herausforderung, sich von verschiedenen Lebenskonzepten nicht angegriffen zu fühlen, sondern deren Berechtigung zu akzeptieren. Und meine Mitarbeitenden müssen 1 20 Online abrufbar unter bildungsteam.de 1 Diversity-Sensibilisierung das nicht nur akzeptieren können, sie müssen mit Menschen arbeiten, die in verschiedenen Welten leben. Da muss man mit einer gewissen Haltungspluralität zurechtkommen, ohne daran zu verzweifeln oder sich selbst infrage zu stellen. Mir geht es darum, nicht zu sagen, was richtig oder falsch ist, das ist nicht der Ansatz – sondern die Mitarbeitenden zu befähigen, sich in ihrer eigenen Position ebenso zurechtzufinden wie in der Auseinandersetzung mit den Familien.“ Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin Die Auseinandersetzung mit persönlichen Haltungen diente in den Sensibilisierungs­ fortbildungen als Ausgangspunkt des Öffnungsprozesses. Gleichzeitig wirkten die Prozessbegleiter*innen darauf hin, dass nachhaltige Instrumente in den Strukturen verankert wurden; Ergebnisse aus den Fortbildungen sollten in den Einarbeitungsplänen festgeschrieben werden. „Unser Ziel war es, alle Mitarbeitenden des ASD auf das gleiche Niveau zu bringen, was Diversity und insbesondere die Haltungsfragen anbelangt, und dann zu schauen, dass sich aus dieser Gruppe ein paar Freiwillige melden, die diese Ideen wichtig finden und etwas bewegen wollen. Der Ansatzpunkt war dabei, neue Mitarbeiter*innen von Anfang an mitzunehmen, Haltungen, die sie mitbringen, und Wissensbestände aus dem Studium zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie mit dem Thema früh in Berührung kommen.“ Ewa Niedbała, Prozessbegleiterin Die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Diversity-Fortbildungen wurden jeweils in einer Steuerrunde, an der die ASD-Teamleitungen, die Fachbereichsleitung und die Prozessbegleiterinnen beteiligt waren, abgestimmt und im Nachgang gemeinsam ausgewertet. Dadurch wurden die Führungskräfte in die Planung eingebunden und konnten ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Betrachtungen einfließen lassen. Einige befürworteten eine Öffnung des Fachbereichs, andere aber sahen wenig Notwendigkeit, sich mit dem Thema Diversity zu beschäftigen, und standen dem Prozess kritisch gegenüber. Letzteres zeigte sich unter anderem in der Auswertungsrunde zum ersten Fortbildungstag, der dem Thema „Diskriminierung und Sprache“ gewidmet war: Einige äußerten, dass sie es als übertrieben empfänden, auf so vieles zu achten, oder dass Toleranz ohnehin selbstverständlich sei. Konstatiert wurde aber auch, dass die Impulse der Veranstaltung durchaus fortwirkten: „Ich denke, dass es ein Nachdenken darüber gab, welche Sprache angewendet wird, was Sprache macht, wie dem Bürger entgegengetreten wird, welche Möglichkeiten überhaupt eingeräumt werden. Solche Sachen haben weitergewirkt. Aus meiner Sicht hat sich der Blick erweitert, verändert. Und es gab darüber hinaus noch viele Diskussionen, kleine Bemerkungen am Rande, und manchmal ertappen wir uns und lachen über uns selbst. Da findet jetzt mehr Reflexion statt und eine andere Betrachtung dessen, was die Haltung im Inneren ausmacht. Und die Haltung bestimmt dann den Umgang.“ Jana Goldstein, Leiterin Allgemeiner Sozialer Dienst 21 1 Diversity-Sensibilisierung Die Sensibilisierungsfortbildungen wurden als Pflichtveranstaltungen eingeführt. Dennoch konnte keine Kontinuität der Teilnahme erreicht werden – angesichts aufeinander aufbauender Inhalte eine zusätzliche Herausforderung für die Prozessbegleiterinnen. Offenbar sprachen viele Mitarbeitende dem Thema noch nicht allzu viel Relevanz zu und konnten keine persönlichen Bezüge darin ausmachen. Aber auch strukturelle Pro­ bleme spielten eine Rolle bei der Partizipation: Die Mitarbeitenden im ASD standen unter einer hohen Arbeitsbelastung, häufig wurden Teilnahmen verhindert, weil aktuellen Kinder­schutzfällen Vorrang gegeben werden musste. Auch lange Anfahrtswege dürften in einem Flächenland wie Märkisch-Oderland eine Erschwernis dargestellt haben. Trotz allem ließen sich durch die Fortbildungen engagierte Mitarbeitende in ausreichender Zahl gewinnen, die die Verantwortung für die weitere Gestaltung des Öffnungsprozesses übernahmen. Diversity in den Einarbeitungsplänen: Ein geteiltes Verständnis entwickeln und verankern Im Anschluss an die Fortbildungen wurden drei Arbeitstreffen angesetzt, die sich den Einarbeitungsplänen für neue Mitarbeitende widmen sollten. Die Treffen waren darauf ausgelegt, die Ergebnisse der Fortbildungen zusammenzufassen und strukturell zu verankern; Ziel war es, sich auf eine gemeinsame Haltung zu Diversity zu verständigen und diese zu verschriftlichen, um sie zukünftig neuen Mitarbeitenden als Bestandteil der Willkommenskultur mitgeben zu können. Da die Teilnahme an der Arbeitsgruppe freiwillig war, kamen darin Personen zusammen, die motiviert waren, in dem Bereich Veränderungen anzustoßen. Zum ersten Treffen kamen elf Teamleitungen. Nicht alle hatten an den Fortbildungen teilgenommen; die ausgedruckten ausführlichen Foto-Dokumentationen bildeten jedoch eine gute Arbeitsgrundlage für den Austausch in Kleingruppen. Die Arbeitsgruppe trug zunächst die Punkte zusammen, die sie für die Implementierung von Diversity im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) als relevant erachtete. Danach tauschten sich die Teilnehmenden darüber aus, welche Aspekte in den Einarbeitungsplänen festgehalten werden sollten, und erarbeiteten einen Diversity-Baustein, der die darin enthaltenen Themen ergänzen sollte. Die Arbeitsgruppe bot auch Raum für methodische Überlegungen dazu, welche Rolle Diversity während der sechsmonatigen Einarbeitungszeit spielen sollte und wie das Thema verankert werden konnte. Ein Ansatzpunkt waren die etablierten regelmäßigen „Stammtische“; sie boten Neuen die Möglichkeit, sich während ihrer Einarbeitung mit erfahrenen Mitarbeitenden über festgelegte Themen auszutauschen und Fragen zu stellen. Einig war sich die Arbeitsgruppe darin, Diversity als Querschnittsthema in die verschiedenen, bereits bestehenden Stammtischformate zu integrieren. Da neue Mitarbeitende jeweils von einer Teamleitung und einem*einer Pat*in begleitet wurden, wurde als entscheidend ausgemacht, dass diese gut informiert und der Thematik gegenüber aufgeschlossen sind. Eine geplante Abschlussveranstaltung mit dem gesamten ASD wurde als diesbezügliche Chance gesehen sowie generell als Möglichkeit, weitere Befürworter*innen zu gewinnen. Denn schließlich waren auch aus dem Kreis der Arbeitsgruppe einige zunächst skeptisch zu den Treffen gegangen – und hatten sie am Ende mit dem Gefühl verlassen, an einem wichtigen Thema dran zu sein und positive Veränderung mit auf den Weg zu bringen. Aufgrund der im Zuge der Corona-Pandemie verhängten Maßnahmen, konnten nicht mehr alle Veranstaltungen und Treffen während der Projektlaufzeit stattfinden. 22 2 Führungsverantwortung 2 Führungsverantwortung Jugendamt Pankow Diversity als Führungsthema „Ich denke, die Herausforderung wird sein, das nicht als eine zusätzliche Arbeit zu sehen, neben dem, was wir ohnehin zu tun haben – sondern es als Selbstverständnis zu betrachten: dass Diversity ein selbstverständliches Thema ist und nicht noch etwas obendrauf. Ich glaube, das ist wirklich noch ein längerer Weg.“ Anja Krause, Jugendamtsdirektorin Der Öffnungsprozess im Jugendamt Pankow hatte seinen Ausgangspunkt bei seiner Leiterin. Diese ging 2018 die Projektkooperation ein und integrierte Diversity – in Anbetracht der drängenden Personallage – in die Personalstrategie des Jugendamtes (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow). Eines ihrer Anliegen war, Diversity als Thema im Jugendamt präsent zu machen und eine kontinuierliche Auseinandersetzung damit anzustoßen. Die Mitarbeitenden sollten wissen, dass Vielfaltsorientierung grundsätzlich gewünscht ist. In einem internen Newsletter informierte sie die Mitarbeitenden über den initiierten Öffnungsprozess. In der Leitungsrunde berichtete sie über laufende Aktivitäten. Sie selbst war in der Steuerrunde und in einer der Arbeitsgruppen aktiv, womit sie ihr eigenes Commitment bekräftigte. Mit der Planung und Steuerung des Prozesses diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung im Jugendamt Pankow war eine dreiköpfige Steuerrunde betraut; sie bestand aus der Jugendamtsleiterin, der Leiterin Interne Dienste und dem Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung. Gemeinsam mit den beiden Prozessbegleiterinnen besprach die Steuerrunde zu Projektbeginn, welche Schritte angegangen werden sollten, und entwickelte einen Fahrplan für das Vorgehen. Vorbereitend hatte die Jugendamtsleiterin hierfür Schwerpunktbereiche, Zielsetzungen und konkrete Vorhaben skizziert. Im weiteren Verlauf fanden die Treffen der Steuerrunde mit den Prozessbegleiterinnen im zweimonatlichen Turnus statt; hier wurden die anstehenden Schritte kontinuierlich gemeinsam geplant und ausgewertet. Beim Öffnungsprozess des Jugendamtes Pankow handelte es sich um einen klaren Top-down-Prozess: Die Jugendamtsleitung gab den Rahmen des Prozesses vor und war auch an der inhaltlichen Ausgestaltung maßgeblich beteiligt. 23 2 Führungsverantwortung „Diversitätsorientierung ist kein Thema, bei dem ich als Mitarbeiter entscheiden kann, will ich das oder nicht – sondern ich habe als Leitung gesagt, wir wollen das. Ich glaube, es braucht diese klare Entscheidung von oben. Jetzt ist es wichtig, dass die Führungskräfte sich damit auseinandersetzen; durch die weitere Auseinandersetzung wird sich dann das eine oder andere setzen.“ Anja Krause, Jugendamtsdirektorin Führungskräfte einbinden In der Steuerrunde wurde als erstes Ziel vereinbart, die Führungskräfte einzubinden und nach Möglichkeit für das Thema zu gewinnen, um damit die für die Umsetzung notwendige Unterstützung von oben zu mobilisieren. Aus Sicht der Prozessbegleitung war diese frühe Einbindung der Führungskräfte sehr wichtig. Von Nachteil für die inhaltliche Auseinandersetzung in den drei aufeinander aufbauenden Fortbildungseinheiten (siehe Kapitel Diversity-Sensibilisierung, Jugendamt Pankow) erwies sich allerdings, dass aufgrund von Krankheitsfällen und Urlaubszeiten keine Kontinuität der Teilnahme erreicht werden konnte. In die selbstreflexiven Prozesse konnte daher nicht so tief eingestiegen werden wie vorgesehen. Für viele der Anwesenden, so der Eindruck der Prozessbegleiterinnen, waren die Problemlagen zunächst nicht ersichtlich. Es herrschte die Ansicht, dass sich ohnehin alle bemühten, den Hilfesuchenden neutral und nicht-diskriminierend entgegenzutreten. Aus Sicht der Steuerrunde fielen die Widerstände gleichwohl geringer aus als erwartet. Auch wenn vielfach Skepsis geäußert worden sei, seien die teilnehmenden Führungskräfte doch bereit gewesen, sich auf Diskussions- und Selbsterfahrungsprozesse einzulassen und in den Fortbildungen mitzuarbeiten. Ein Mitglied der Steuerrunde hielt rückblickend fest: Zwar seien nach einem Jahr wie zu erwarten noch keine großen Veränderungen festzustellen, es sei aber doch spürbar Bewegung in die Leitungsrunde gekommen. Nach wie vor werde Diversität häufig mit Interkulturalität gleichgesetzt, aber ein Verständnis dafür, dass auch andere Vielfaltsdimensionen mitgedacht werden müssen, sei nun prinzipiell da. Durch die breite Perspektive, die Diversity biete, falle es Einzelnen leichter, sich in andere Erfahrungen und Sichtweisen hineinzuversetzen. Vor allem sei nun die Akzeptanz für weitere Maßnahmen des Öffnungsprozesses größer. Vor den Fortbildungen hätten viele Führungskräfte Diversity-Kompetenzen wenig Relevanz beigemessen für ihre tägliche Arbeit. Als zu einem späteren Zeitpunkt in der Leitungsrunde darüber informiert worden sei, dass Diversity-Kompetenzen künftig mit höchster Gewichtung in den Anforderungsprofilen enthalten sein sollen (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow), habe dies bei den Führungskräften hingegen weitgehend Akzeptanz gefunden. Insgesamt, so das Mitglied der Steuerrunde, sei es bei vielen Themen nun leichter, ein gemeinsames Verständnis zu finden. Luft nach oben: Die Bezirks- und Landesebene Die diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung innerhalb des Jugendamtes Pankow war als Top-down-Prozess konzipiert. Wird die gesamte Verwaltung in den Blick genommen, ist das Jugendamt eines von vielen Fachämtern im Bezirk. Aus Sicht der Steue­rrunde gingen die Änderungen damit von relativ weit unten aus. 24 2 Führungsverantwortung Der Bezirk Pankow ist Unterzeichner der „Charta der Vielfalt“ und hat für sich den Slogan „Pankow – ein Ort der Vielfalt“ gewählt. Auf Initiative des amtierenden Bürgermeisters gründete sich kürzlich innerhalb des Bezirksamtes die Arbeitsgruppe Diskriminierungs­ freier Arbeitgeber. Die politischen Weichen sind also in Richtung Öffnung gestellt, und erste Schritte wurden bereits unternommen. Dennoch hatte neben dem Jugendamt bislang nur die Stadtbibliothek einen Öffnungsprozess eingeleitet. Die Mitglieder der Steuerrunde beschrieben die Veränderungsmöglichkeiten auf Amtsebene als relativ begrenzt; Ausführungsvorschriften würden beispielsweise durch das Land Berlin festgelegt. Nachhaltige strukturelle Veränderungen müssten daher optimaler­weise auf diesen Ebenen geregelt werden, auch um in der Breite zu wirken und nicht auf das Engagement einzelner Ämter beschränkt zu bleiben: „Eigentlich gehört das Thema Diversitätsorientierung ganz nach oben. Ich glaube, je höher der Prozess angegangen wird, desto nachhaltiger kann er wirken. Ein Fachamt kann bestimmte Dinge für sich regeln. Es stößt aber, wenn es um Veränderungen von Strukturen oder bestimmten Abläufen geht, auch schnell an seine Grenzen, weil die auf einer anderen Ebene festgelegt wurden. Wenn es darum geht, Strukturen zu schaffen, bestimmte Vorgaben zu ändern, sind das Bezirksamt und der Senat Institutionen, die viel verbindlicher und für mehr Bereiche Sachen vorgeben, festlegen und entwickeln können. Je mehr von dort vorgegeben wird oder in der Gesamtheit gemeinsam entwickelt wird, desto mehr geht es auch in die Breite. Im Gesamterleben einer Familie hilft es wenig, wenn sie in einem Bezirk auf ein diversitätsorientiertes Jugendamt trifft und im nächsten Bezirk auf eins, welches sich noch gar nicht damit beschäftigt hat.“ Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung Bereits sehr kleinteilige Entscheidungen können jenseits der Befugnisse der Fachämter liegen, wie folgendes Beispiel verdeutlicht. Im Zuge der diversitätssensiblen Überarbeitung des Internetauftritts hatte die Arbeitsgruppe Außendarstellung (siehe Kapitel Beteiligungs­ orientierung, Jugendamt Pankow) die Empfehlung erhalten, vielfältigeres und persönlicheres Bildmaterial zu verwenden. Diese wirkungsvolle Maßnahme schien auf den ersten Blick relativ leicht umsetzbar und entsprach auch den Wünschen der zuständigen Arbeitsgruppe. Jedoch war klar, dass sie kurzfristig nicht umfassend verwirklicht werden könnte. Alle Berliner Ämter müssen ihr Bildmaterial aus einem Pool an Fotos auswählen, an denen der Senat die Rechte erworben hat. Um für Diversity-Themen besser geeignetes Bildmaterial zu haben, müsste also zunächst der bisherige Bestand erweitert werden. Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Engagierte Führung und Mut zur Beteiligung Als das Projekt im Sommer 2018 startete, war der amtierende Jugendamtsleiter von Charlottenburg­-Wilmersdorf seit einem halben Jahr im Amt. Vorangegangen war eine längere Vakanz der Stelle, nachdem seine Vorgängerin in Ruhestand gegangen war. Unter ihrer Leitung war bereits im Vorläuferprojekt „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V. eine Steuerrunde zur Interkulturellen Öffnung etabliert worden. Seitdem kam eine Gruppe von circa sechs Fach- und Führungspersonen alle zwei Monate zusammen, 25 2 Führungsverantwortung um gemeinsam Ziele zu entwickeln und Schritte zu planen. Mit dem neuen Projekt nahm ihre Arbeit an Fahrt auf, was nicht zuletzt daran lag, dass der neue Jugendamtsleiter sich schnell als aktives Mitglied der Steuerrunde einbrachte. „Ich bin in der Steuerungsgruppe aktiv mit drin. Wir bemühen uns darum, dass wir in dieser Steuerungsrunde wirklich auf Augenhöhe diskutieren. Aus meiner Rolle heraus trage ich natürlich die Verantwortung dafür, dass die Prozesse laufen, und ich bestimme auch den Rahmen. An dieser Stelle wollen wir das aber alle gemeinschaftlich. Ich denke, wir haben auch einen sehr großen Konsens darin, dass der Prozess in die richtige Richtung geht.“ Dr. Manfred Thuns, Jugendamtsdirektor Mit ihrem Anliegen, ihn für den Öffnungsprozess einzunehmen und mit ins Boot zu holen, rannte die Steuerrunde bei dem neuen Leiter offene Türen ein. Diversitätsorientierung war für ihn als Thema gesetzt und eine Frage der Grundhaltung für eine zeitgemäße Verwaltung; der Öffnungsprozess war nicht nur willkommen, sondern bereits initiiert, mit bereits vorhandenen Koordinationsstrukturen. In der Vorbereitung der neuen Projektlaufzeit verständigte sich die Steuerrunde mit den neuen Prozess­begleiter*innen darauf, noch stärker in Richtung Diversity Management zu lenken. Außerdem war allen an der Planung Beteiligten daran gelegen, den Prozess als Organisationsentwicklungsprozess anzugehen und dabei auf eine breite Mitarbeitendenbeteiligung zu setzen. Für die beiden Prozessbegleiter*innen waren dies optimale Rahmenbedingungen, um in einen tief greifenden Prozess einzusteigen. Ein ganz wichtiges Kriterium der Diversitätsorientierung ist nämlich Partizipation: Maßnahmen werden nur dann ihre Wirksamkeit entfalten, wenn sich die Mitarbeitenden darin wiederfinden. Insofern war mit einer Leitung, die großen Wert auf Beteiligung legte, dies lebte und den Mitarbeitenden vermittelte, eine wichtige Voraussetzung erfüllt. „Wir befinden uns im Zeitalter der Vernetzung und der Kooperation und ich finde, Partizipation gehört zu einem zeitgemäßen Führungsstil. Dieser Prozess wird nicht im stillen Kämmerchen mit einer kleinen Gruppe von Fachleuten und Experten geplant, sondern wir holen die Expertise von Mitarbeiter*innen ein, die tagtäglich mit diesem Thema beschäftigt sind und die ein hohes Interesse daran haben, an diesem Thema mitzuwirken. Es ist also ein Führungsinstrument, und gleichzeitig lassen sich so Neuentwicklungen auch viel schneller in die Mitarbeiterschaft transportieren.“ Dr. Manfred Thuns, Jugendamtsdirektor Auch in der Steuerrunde machte sich dieser neue Führungsstil bemerkbar. Die Prozessbegleiter*innen beobachteten, dass die Mitglieder zunehmend mehr eigene Ideen einbrachten und dass sie von der Leitung ermutigt wurden, diese auch zu verfolgen. „Durch die Organisationsentwicklung werden für die leitenden Mitarbeitenden viele Anlässe dafür geschaffen, die Erfahrung zu machen, dass sie auch wirklich gestalten sollen. In den Prozessstrukturen werden sie dazu ermutigt, selbständig tätig zu werden, ihre Ideen einzubringen und zu verfolgen – darin wird die neue Führungskultur im Amt sichtbar.“ Martin Gerlach, Prozessbegleiter 26 2 Führungsverantwortung Mechanismen für eine kontinuierliche Auseinandersetzung einbauen Die Steuerrunde wurde sukzessive auf annähernd zehn Personen erweitert; neben Führungs­kräften waren nun auch thematisch engagierte Mitarbeitende verschiedener Bereiche und Hierarchieebenen an der Prozesssteuerung beteiligt. Parallel zum Prozess innerhalb des Jugendamts hatte das Bildungsteam Berlin-Brandenburg eine Qualifizierungsreihe für Ankerpersonen aller beteiligten Jugendämter angeboten. Aus Charlottenburg­-Wilmersdorf hatten einige Mitglieder der Steuerrunde, aber auch andere interessierte Mitarbeitende daran teilgenommen. Zum Ende der Qualifizierungsreihe waren diese Personen dazu eingeladen, der Steuerrunde beizutreten und ihr in der Fortbildungsreihe erworbenes Prozesswissen und ihre Diversity-Kenntnisse einzubringen. In Anbetracht des drängenden Tagesgeschäfts war es eine Frage der Disziplin und Priorisierung, sich immer wieder ausreichend Zeit für die regelmäßigen Treffen zu nehmen. Neben der unmittelbaren Planung weiterer Schritte, die es zu besprechen galt, wurden diese Runden für eine gewünschte vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung genutzt. Häufig wurde die angesetzte Sitzungszeit überschritten, weil so viel Gesprächsbedarf bestand. Für den Jugendamtsleiter war dies ein Zeichen der Bereitschaft der Mitarbeitenden, sich einzulassen auf den Öffnungsprozess und damit verbundene Fragen. Für die Motivation der Beteiligten war es wiederum ganz zentral, das Gefühl zu haben, dass sie wirklich etwas bewegen konnten und dass die Leitung dahinterstand. Den Wunsch nach Veränderung und das Interesse, daran mitzuwirken, belegt beispielhaft das Zitat einer Mitarbeiterin, die zu diesem Zeitpunkt seit Kurzem Mitglied der Steuerrunde war: „Als Institution gibt es viele Bereiche, in denen man diskriminieren kann, ich würde mir wünschen, da gemeinsam hinzuschauen. Wenn das halbherzig läuft, dann wird uns das nicht weiterbringen. Aber wenn die Motivation da ist, diesen Schwung, den es jetzt gibt, mitzunehmen und darauf aufzubauen, wäre es schön. Viel zu tun gäbe es. Es bräuchte eine ehrliche Innenschau: Wo stehen wir, wo können wir etwas verändern, wo nicht und woran liegt das dann? Wie können wir uns sensibilisieren, sei es uns als Steuerrunde, sei es die Mitarbeiter? Wie können wir bestimmte Vorgänge diskriminierungssensibler gestalten?“ Selver Temur-Erman, Mitarbeiterin Erziehungs- und Familienberatung Während der Projektlaufzeit begleiteten die beiden Prozessbegleiter*innen die Treffen der Steuerrunde. Für die strukturelle Verankerung der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung und eine nachhaltige Implementierung bedarf es jedoch dauerhaft einer internen Person, die Verantwortlichkeiten nachhalten, Arbeitspakete terminieren und Treffen organisieren kann, so die Überzeugung der Prozessbegleiter*innen. Der Koordi­nator der Arbeit mit Geflüchteten im Jugendamt war früh Mitglied der Steuerrunde geworden, er hatte die Kooperation mit dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg koordiniert und eng mit den Prozessbegleiter*innen zusammengearbeitet. Inzwischen war er im Amt als Ansprechperson für Diversity bekannt. Perspektivisch könnte er eine solche Rolle einnehmen. Angedacht wurde etwa, ihn als offiziellen Diversity-Beauftragten zu benennen – wobei noch zu klären war, ob dafür zeitliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können und welche Zuständigkeiten eine solche Stelle umfassen sollte. Unabhängig von der formalen Ausgestaltung braucht es für die Weiterführung des Prozesses eine Stelle, die die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Diversity-­Themen sicherstellen und immer wieder auf die Tagesordnung bringen kann. Aus Sicht der 27 3 Bedarfsorientierung Prozessbegleiter*innen sollte diese Person oder diese Gruppe ein Mandat haben, die eigenen Strukturen, das eigene Handeln als Amt immer wieder kritisch zu hinterfragen; sie sollte außerdem stetig evaluieren, wie es um die Öffnung des Amtes bestellt ist. Dazu müsste sie Raum und Zeit für Reflexion und Austausch schaffen, jenseits des drängenden Tagesgeschäfts. Optimalerweise sollten in regelmäßigen Abständen neue Themen bearbeitet und aus einer Diversity-Perspektive hinterfragt werden. „Das System muss sich immer wieder selbst fragen: Wo stehen wir, stellen wir uns die richtigen Fragen, haben wir die richtige Zielgruppe, wie treffen wir neue Entscheidungen, sind in neuen Planungen alle Perspektiven berücksichtigt? – Dafür müssen Mechanismen eingebaut werden.“ Martin Gerlach, Prozessbegleiter 3 Bedarfsorientierung Jugendamt Pankow Diversitätsorientierung in der Personalstrategie: Der Generationenwechsel steht an In den kommenden drei bis sechs Jahren steht im Jugendamt Pankow ein umfassender Generationenwechsel an, wenn ein Großteil der Belegschaft und fast alle Führungspersonen in den Ruhestand gehen. Aufgrund der schwierigen Haushaltssituation der vorangegangenen Jahre sind mittlere Jahrgänge im Amt kaum vertreten, erst seit Kurzem können neue Mitarbeitende eingestellt werden. Im Jugendamt Pankow, dem Berliner Bezirk mit den meisten Kindern und Jugendlichen, sind die Probleme besonders drängend. Bei der Bewerber*innenlage zeichnet sich inzwischen ab, dass Jugendämter sich generell verstärkt anstrengen müssen, um an das Personal zu kommen, das sie sich wünschen, sowohl was die Anzahl als auch was die Qualifizierung angeht – und in Hinblick auf die Vielfaltsmerkmale der Mitarbeitenden. Menschen mit Migrationsgeschichte sind kaum unter den Bewerber*innen und Mitarbeitenden zu finden – selbst dann nicht, wenn die Migrationserfahrung drei Generationen zurückliegt. Dies aktiv zu ändern, ist nicht nur eine Chance, um den Pool 28 3 Bedarfsorientierung potenzieller Bewerber*innen zu vergrößern – was in Anbetracht einer positiven Lage auf dem Arbeitsmarkt, in der es ohnehin mehr Arbeitsplätze als Bewerber*innen gibt, bereits aus wirtschaftlichen Gründen geboten ist. Im Wesentlichen ist es aber eine Frage der Repräsentanz der (post-)migrantischen Bevölkerung in der öffentlichen Verwaltung, wie sie u. a. im Partizipations- und Integrationsgesetz des Landes Berlin (PartIntG) gesetzlich eingefordert und auch im Jugendamt Pankow gewünscht wird. „Mir ist es wichtig, dass Verwaltung letztendlich ein Spiegel der Gesellschaft ist: So wie die Gesellschaft aussieht, müsste auch die Verwaltung aussehen. Und da hat die Berliner Verwaltung im Allgemeinen und Pankow im Besonderen noch Nachholbedarf. Es gibt sehr wenige Kolleg*innen, die die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. – Und wenn das die Verwaltung ist, dann erreicht man damit natürlich im Bezirk auch recht wenig Menschen, die außerhalb dieser weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft sind. Mir ist es ein Anliegen, daran mitzuwirken, dass sich das ändert, und ich sehe den Prozess als eine Möglichkeit, hier Denkprozesse anzustoßen.“ Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung Für die Jugendamtsleiterin hatte das Thema Personal oberste Priorität. Daher entschied sie, darauf auch im Prozess der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung den Schwerpunkt zu legen: „Wir wollen mehr Vielfalt in das Jugendamt bringen, auch in die Mitarbeiterschaft, und entsprechend haben wir uns überlegt, welchen Schwerpunkt wir im Projekt setzen wollen. Unser Fokus liegt im Bereich Personal, auf der Personalentwicklung und der Personalgewinnung.“ Anja Krause, Jugendamtsdirektorin Als Zielsetzungen benannte die Leitung zu Beginn: Die Mitarbeitendenschaft solle die Gesell­schaft widerspiegeln hinsichtlich Alter, Herkunft und anderer Vielfaltsdimen­sionen; es gelte mehr jüngeres und geeignetes Personal zu finden, das Diversity-Kompetenzen mitbringe; die Notwendigkeit für Veränderungen solle von den Mitarbeitenden mitgetragen werden. Damit war der Öffnungsprozess eingebettet in eine umfassende Personalstrategie, die in der Herausforderung des Generationenwechsels auch die Chance auf mehr Vielfalt erkannte. Für die externen Prozessbegleiterinnen ergab sich daraus der klare Auftrag, im Bereich Personalentwicklung, -gewinnung und -pflege tätig zu werden. Mit dem Fokus auf Personalfragen, den die oberste Leitungsebene gesetzt hatte, konnten genau die Schlüsselthemen angegangen werden, die aus Sicht der Prozess­begleiterinnen für einen Kulturwandel innerhalb der Organisation zentral waren. „Ich glaube, dass ein Top-down-Prozess gut geeignet ist, um wirklich nachhaltig etwas zu verändern. In meinen Augen wurden dann genau die wichtigsten Dinge in Angriff genommen: das Thema Personal und der Außenauftritt. Damit gelingt es dem Jugendamt hoffentlich, sich langfristig als Arbeitgeber gut aufzustellen, einen turnaround in der Organisationskultur herbeizuführen, so dass die Arbeit im Jugendamt für mehr Absolvent*innen attraktiv wird, auch für Zielgruppen, die bisher kaum erreicht werden, wie z. B. junge Menschen mit Migrationsgeschichte.“ Tanja Michalczyk, Prozessbegleiterin 29 3 Bedarfsorientierung Dieser notwendige turnaround in Sachen Amtskultur und Personal würde jedoch kein Selbstläufer sein: Ohne entsprechende Maßnahmen entsteht leicht eine Dynamik, in der die Jüngeren von den Älteren in das bestehende System „einsozialisiert“ werden und dadurch die bestehende Amtskultur weitergegeben wird; die Gefahr ist dann groß, dass zum Beispiel dringend benötigte „innovative Köpfe“ das Amt nach einigen Jahren wieder verlassen. Die Notwendigkeit, diesen Veränderungsprozess bewusst zu gestalten, wurde auch im Jugendamt so gesehen: „Ich habe große Hoffnung, dass ein Wechsel im Denken auch mit dem Generationswechsel stattfindet, aber das ist definitiv kein Automatismus. Die Strukturen, die wir im Zuge dieses Prozesses diversitätsorientierter Öffnung schaffen, sind dafür eine Grundlage – damit man eine Unternehmenskultur entwickeln kann, in der auch neue Leitungskräfte auf den unterschiedlichen Leitungsebenen sofort spüren: Ich stoße hier auf einen Nährboden, wo ich mit meinen Themen gut anknüpfen kann. Andere, die sich erst dorthin entwickeln, sagen vielleicht: Spannend, habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht, aber es fällt mir leicht, mich dahingehend zu öffnen. Ich glaube, das ist es, was wir hier erreichen können.“ Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung Diese Aussage stammt von einem wichtigen Befürworter des Öffnungsprozesses im Jugendamt, einem Mitglied der Steuerrunde, auf dessen Betreiben die Projektkooperation mit dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. maßgeblich zustande gekommen war. Er selbst war erst kurz vor Beginn des Öffnungsprozesses als sehr junge Führungsperson in die erste Leitungsebene aufgestiegen, inzwischen war er stellvertretender Jugendamtsleiter. Für die Prozessbegleiterinnen war diese altersbezogen ungewöhnliche Personalentscheidung eine zentrale Weichenstellung in Hinblick auf den angestrebten Kulturwandel: Jüngere Leute nach vorn zu holen, die Diversity-Kompetenzen mitbringen und/oder selbst von Marginalisierung betroffen sind, das kann ihrer Erfahrung nach viel verändern. Diversity in den Anforderungsprofilen: Änderungen strukturell verankern Auf welchem Weg die dringend notwendigen Veränderungen im Bereich Personal angegangen werden können, skizziert eine Prozessbegleiterin wie folgt: „Die Kultur des Amtes muss sich verändern, damit sie überhaupt das Personal bekommen, das sie suchen. Kurzfristig kann über veränderte Stellenausschreibungen auf eine schnelle Veränderung in der Zusammensetzung des Personals hingewirkt werden. Es müssen Leute ins System geholt werden, die bestimmte Kompetenzen schon mitbringen. Und mittelund langfristig braucht es eine Nachschulung von Stammpersonal.“ Renate Pulz, Prozessbegleiterin 30 Innerhalb der öffentlichen Verwaltung bilden Anforderungsprofile (APs) die Grundlage für die Einstellung neuen Personals, ebenso für die kontinuierliche Beurteilung bereits beschäftigter Mitarbeitender. Damit sind sie ein zentrales Instrument, um Vielfaltsorientierung strukturell zu verankern. In der dritten und letzten Fortbildung für Führungskräfte (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Pankow) wurde entschieden, eine Arbeits­gruppe zu gründen, die die Anforderungsprofile des Jugendamtes in Hinblick auf Diversity-Kompetenzen ergänzen oder verändern sollte. 3 Bedarfsorientierung „Wir haben das Thema Personalentwicklung und -gewinnung gewählt und geguckt, wie unsere Anforderungsprofile diesbezüglich aufgestellt sind, wie unsere Ausschreibungen ablaufen, wie unsere Kriterien bei der Auswahl lauten. Sind wir da überhaupt so offen? Oder sind wir vielleicht so eingeengt, dass wir manche Menschen gar nicht erreichen? Das wollen wir verändern, damit wir die Menschen erreichen.“ Anja Krause, Jugendamtsdirektorin Kurz zuvor hatte der Berliner Senat einen Musterkatalog herausgegeben, der als Vorlage dienen sollte, um in allen Berliner Verwaltungen interkulturelle und Diversity-­ Kompetenzen verpflichtend in den Anforderungsprofilen zu verankern. Das amtsinterne Vorhaben wurde damit von einer Vorgabe des Senats flankiert, was die Umsetzung erheblich erleichterte. Die neuen Anforderungsprofile sollten für alle Fachbereiche gleichermaßen gelten. Daher wurde eine bereichs- und hierarchieübergreifende Arbeitsgruppe zusammen­ gestellt, die Beteiligung daran war freiwillig. Die Leiterin Interne Dienste, als Mitglied der Steuerrunde auch an der Prozesskoordination beteiligt, leitete die Arbeitsgruppe. Neben der Jugendamtsleiterin und zwei Führungspersonen waren motivierte Mitarbeitende beteiligt. Die Prozessbegleiterinnen führten mit einem Input in die Theorieveränderung von Interkultureller Öffnung zu Diversity und reflexiven Ansätzen in der Migrationspädagogik ein, um eine Diskussionsgrundlage zu schaffen. Bei den ersten beiden Treffen wurden die Senatsvorgaben kritisch diskutiert, außerdem wurde eine gemeinsame Definition von Diversity- und interkulturellen Kompetenzen entwickelt und in Textbausteinen festgeschrieben, die für das ganze Jugendamt Gültigkeit haben sollte. Mit Unterstützung durch die Jugendamtsleiterin beschloss die Arbeitsgruppe, beiden Kompetenzen künftig die höchste Gewichtung zu geben; das heißt, sie gelten als „unabdingbar“ und müssen von den Bewerber*innen bereits mitgebracht werden. Für Stellenausschreibungen wurde eine verbindliche Schreibweise für eine gendersensible Sprache beschlossen. Zusammenfassend hält ein Mitglied der Steuerrunde fest: „Die AG Personal hatte nach drei Treffen in nicht einmal drei Monaten das Arbeitsergebnis vorliegen – das ist für eine Verwaltung schon sehr schnell. Im Rahmen dessen, was uns an Vorgaben gemacht wird, haben wir tatsächlich in sehr kurzer Zeit eine gute Variante gefunden, Diversität einen hohen Stellenwert zu geben: also Diversity-Kompetenzen überhaupt als Anforderung aufzunehmen und dem Thema im Verhältnis zu anderen fachlichen Schwerpunktthemen wirklich eine sehr hohe Gewichtung zu geben.“ Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung Beim dritten Treffen wurden Bewerbungsfragen, Rollenspielvariationen sowie Erwartungshaltungen zusammengetragen, mit denen die interkulturellen und Diversity-­ Kompetenzen in Bewerbungsgesprächen erfasst werden konnten. Dabei zeigte sich, dass sich die Anforderungen je nach Fachbereich unterscheiden; außerdem wurde festgestellt, dass der Gestaltungsspielraum aufgrund der Vorgaben des Bezirksamtes zu Zeit und formalem Ablauf von Bewerbungsgesprächen recht begrenzt ist. Als das Arbeitsergebnis vorlag, wurde ein Fahrplan zur weiteren Operationalisierung entwickelt. In anstehenden Bewerbungsgesprächen sollten die einzelnen Fachbereiche ihre Erfahrungen mit den neuen Anforderungsprofilen dokumentieren, die nun verpflichtend zum Einsatz kamen. Den Fachbereichen blieb es freigestellt, ob sie Rollenspiele um verschiedene Vielfaltsdimensionen ergänzten oder das diesbezügliche Wissen im Gespräch abfragten. 31 3 Bedarfsorientierung Zur weiteren Konzeptionierung boten die Prozessbegleiterinnen eine individuelle Bera­ tung an. Dabei ging es vor allem um spezifische Erwartungshaltungen, also darum, welche Interaktionen oder Antworten der Bewerber*innen erwünscht seien. Ein gemeinsamer Auswertungstermin sollte dann dazu dienen, die gemachten Erfahrungen zusammenzutragen und zwischen den Fachbereichen Ideen auszutauschen, was sich in der Praxis bewährt hatte und was nicht. Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Mehrwerte und Bedarfe analysieren Der Öffnungsprozess im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf war 2015 im Rahmen des Projektes „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ initiiert worden. Als 2018 die Kooperation in einem Folgeprojekt verlängert wurde, waren sowohl der Jugendamtsleiter als auch die beiden Prozess­begleiter*innen neu. Es galt, einen Einstieg in die gemeinsame Arbeit zu finden. Zu Beginn stand ein intensiver Kommunikationsprozess zwischen Prozessbegleitung, Jugendamtsleiter und Steuerrunde (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf). Weshalb sollte das Jugendamt diesen Prozess anstrengen? In welchen Bereichen sollte Diversitätsorientierung implementiert werden? Welche Vorteile könnten das Amt insgesamt und verschiedene beteiligte Akteur*innen davon haben? Verschiedene Perspektiven aus der Belegschaft wurden einbezogen, immer unter der zentralen Fragestellung, welchen möglichen Mehrwert die Akteur*innen in dem Öffnungsprozess sehen könnten. „Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man sich am Anfang selbst als Kommunikationsinstrument begreift und erst einmal ausfindig macht, wo der potenzielle Mehrwert für die einzelnen Stakeholder liegt und wie ich diesen Mehrwert kommuniziert kriege. Bevor nicht alle ein Eigeninteresse daran entwickelt haben, können diese Prozesse nicht laufen. Nur wenn dieser Mehrwert da ist, gibt es auch eine Chance auf nachhaltige Umsetzung. Das ist so in der Organisationsentwicklung. Wenn da nicht alle Seiten ihr Interesse erkennen, dann wird es keine nachhaltigen Veränderungen geben.“ Martin Gerlach, Prozessbegleiter Durch das Vorläuferprojekt gab es bereits Erfahrungswerte im Bereich Diversity-­ Sensibilisierung. Die Rückmeldungen zu den Fortbildungen wurden analysiert, ebenso die Leitungsklausuren und Planungsgespräche, die damals stattgefunden hatten. Die Auswertung fand in Diskussionen innerhalb der Steuerrunde statt. Ergänzend evaluierten die Prozessbegleiter*innen aus Dokumenten, die ihnen vorlagen, welche Themen im Amt zentral schienen; die identifizierten Entwicklungsbedarfe unterbreiteten sie der Steuerrunde. Gemeinsam mit den Prozessbegleiter*innen eruierte die Steuerrunde, welche Schwerpunkte sie setzen wollte. Richtungsweisend waren dabei folgende Fragen: Wohin will sich das Jugendamt insgesamt entwickeln? Welche drängenden Themen oder Veränderungsprozesse stehen ohnehin an? An diesen internen Bedarfen und Zielsetzungen setzte die Planung an. Die Prozessbegleiter*innen erarbeiteten Vorschläge für eine Gesamtstrategie und einen Fahrplan für das weitere Vorgehen; diese wurden in mehreren Rückkopplungsschleifen mit der Steuerrunde und noch einmal gesondert mit dem Jugendamtsleiter abgestimmt. 32 3 Bedarfsorientierung Am Ende stand ein Prozessdesign, in dem sich die beteiligten Akteur*innen mit ihren Zielen wiederfinden konnten. Vor allem, und das war zentral, hatten sie das Gefühl, dass Diversitätsorientierung nicht etwa als zusätzliches Thema zu bearbeiten sei, sondern als Querschnittsthema in anstehende Prozesse integriert werde. „Ich glaube, ein Schlüssel ist wirklich, das Thema Diversity mit unseren Themen im Jugendamt zu verknüpfen, also nicht das Gefühl zu vermitteln, das ist etwas on top – dann stöhnen alle. Jetzt ist der Ansatz, das mit unseren Themen zu verknüpfen. Dann hat man plötzlich nicht mehr das Gefühl, das zusätzlich machen zu müssen.“ Michael Süßkind, Koordinator der Arbeit mit Geflüchteten im Jugendamt Diversity-Schwerpunkte mit Entwicklungszielen des Amtes verknüpfen Von zunächst acht Themen kristallisierten sich in der Steuerrunde final drei Schwerpunktbereiche heraus: Personal, Bundesteilhabegesetz und Familienservicebüro. Diese Schwerpunkte wurden allen Mitarbeitenden bei einem internen Jugendamtstag (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) präsentiert. Dort wurden zudem temporäre Fokusgruppen gegründet und damit beauftragt, konkrete Ziele für die einzelnen Bereiche zu entwickeln. Unter dem Stichwort Personal wurde insbesondere der Frage nachgegangen, wie sich das Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf als attraktiver Arbeitgeber aufstellen kann. Aufgrund des anhaltenden Personalmangels bestand hier, ebenso wie in anderen Berliner Verwaltungen, großer Handlungsdruck in diesem Bereich. Entsprechend groß war das Eigeninteresse, hier Veränderungen anzustoßen, neue Wege zu beschreiten und diversitätsorientierte Lösungen zu finden. Mit den zwei anderen Schwerpunktbereichen wurden strukturelle Veränderungsprozesse aufgegriffen, deren Umsetzung ohnehin anstand. Im Januar 2020 trat das neue Bundesteilhabegesetz in Kraft, was das Jugendamt vor einige organisatorische und gesetzliche Herausforderungen stellte. Für die Ausgestaltung des neu einzurichtenden Teilhabefachdienstes war bereits eine Projektgruppe eingerichtet worden. Diese Projektgruppe sollte nun durch eine Fokusgruppe unterstützt werden – mit dem Ziel, Diversitätsorientierung stärker bei ihrer Planung zu berücksichtigen. Anders als andere Fokusgruppen löste sich diese nach Erfüllung ihres Auftrags nicht wie vorgesehen auf, sondern ging in der Projektgruppe auf. Die prozessspezifischen Strukturen verbanden sich in diesem Bereich also mit den regulären Planungsstrukturen, und Diversity blieb auch im weiteren Planungsprozess als Thema präsent. Die dritte Fokusgruppe befasste sich mit der Konzeptionierung des neuen Familienservicebüros; einer Einrichtung, die gemäß dem Koalitionsvertrag des Berliner Senats von 2016 in allen Berliner Bezirken eingerichtet werden sollte. Der Jugendamtsleiter hatte nach positiver Rückmeldung der Fachsteuerung und der beteiligten Fachdienste die Gründung eines solchen Beratungszentrums beschlossen, das alle Leistungen rund um die Familie bündeln sollte. Darin sah er einen guten Ansatz, Familienleistungen zu stärken. Bei der Planung des Familienservicebüros wurde darauf geachtet, dass dabei eine diversitätsorientierte Perspektive eingenommen wurde und diejenigen ihre Ideen einbrachten, die bereits beratend tätig waren. 33 3 Bedarfsorientierung Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin An gesellschaftliche Entwicklungen anknüpfen Das Jugendamt Ostprignitz-Ruppin war 2015 dem Projekt „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ beigetreten. Initiiert hatte die Kooperation mit dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. der damalige Jugendamts­leiter. Er war ein Jahr zuvor neu ins Amt gekommen. Ihm war aufgefallen, dass der Blickwinkel Diversity in den Entscheidungsvorlagen zur Hilfeplanung bislang fehlte; darauf wollte er nun einen neuen Fokus legen. Etwa zeitgleich zogen viele geflüchtete Menschen in den ansonsten einwanderungsarmen Landkreis. Viele der unbe­gleiteten minderjährigen Geflüchteten fielen in den Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes, neue Strukturen mussten aufgebaut und mehr Personal eingestellt werden. Plötzlich bestand intern eine große Notwendigkeit interkultureller Kompetenzen. Andere Dimensionen einer umfassenden Diversity-Perspektive traten zunächst in den Hintergrund. „Meine ursprüngliche Idee wurde ein bisschen weiterentwickelt und vom Leben überholt. Für mich war das gut, denn ich hatte dann die Ressourcen durch das Projekt, während bei uns die Probleme auftraten. Wir hatten neue Leute im ASD [Allgemeinen Sozialen Dienst], wir mussten uns mit anderen kulturellen Zusammenhängen auseinandersetzen, und dafür passte das Projekt sehr gut.“ (Andreas Liedtke, Amtsleiter) Der historische Zeitpunkt war einerseits günstig, da unter den Mitarbeitenden ein großer Bedarf an interkultureller Qualifizierung bestand, um die eigene Handlungssicherheit zu erhöhen; hieran konnte gut angeknüpft werden. Andererseits war die Belastung so hoch, dass wenig Kapazitäten in zusätzliche Prozesse fließen konnten. Zu Beginn des Folgeprojektes 2018 hatte sich die Ausgangslage konsolidiert. Neue Bereiche waren geschaffen worden, und die Belastung für die einzelnen Mitarbeitenden war durch einen erhöhten Personalschlüssel zurückgegangen. Auch war die Anzahl Geflüchteter im Landkreis gesunken. Nun zeigte sich allerdings, dass Diversity in der Wahrnehmung vieler Mitarbeitender auf die interkulturelle Dimension beschränkt geblieben war: Die Notwendigkeit eines Öffnungsprozesses erschien der Belegschaft nicht mehr so groß. „Wenn man sich die Entwicklung anguckt, damals, 2016, hatten wir 1650 Flüchtlinge bei uns, jetzt haben wir 650. Das heißt, der Problemdruck, den die Kollegen empfinden, wird weniger. – Und damit wird auch die Akzeptanz für Diversity-Maßnahmen geringer. Im täglichen Umgang haben die Mitarbeiter weniger mit Menschen mit Migrationshintergrund zu tun, aus der Logik heraus erübrigt sich der Diversity-Bereich. Dabei bezieht sich Diversity nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund. Das wird die Kunst sein: das dahingehend zu verankern.“ Andreas Liedtke, Amtsleiter Leitbildentwicklung: Wofür wollen wir stehen? Vonseiten der Leitung bestand nach wie vor der Wunsch, auf Diversitätsorientierung hinzuwirken und dies mit den allgemeinen Entwicklungslinien des Amtes in Einklang zu bringen. Bei der Planung des Folgeprojektes ging es nun darum, die Öffnungsprozesse 34 3 Bedarfsorientierung in einzelnen Bereichen, die bislang weitgehend unabhängig voneinander gelaufen waren, zusammenzuführen; außerdem galt es, die Ausrichtung des Amtes insgesamt zu konkre­tisieren. Angeregt durch die Beauftragte für Qualitätsmanagement im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) und den Amtsleiter – gemeinsam mit den Sachgebietsleiter*innen bildeten sie die Steuerrunde des Öffnungsprozesses –, wurde beschlossen, einen Leitbildprozess anzugehen. „Ohne große Not verändert sich im Amt leider nur in ganz kleinen Schritten etwas, und wenn man nicht weiß, welches Ziel das Boot ansteuert, woher soll man dann wissen, an welchen Stellschrauben, Segeln, Rudern man ansetzen soll? Das war meine Schwierigkeit im Amt als Qualitätsmanagerin. Was will das Amt? Wohin wollen wir uns entwickeln? Das sind Fragen, die mir der Amtsleiter oder Sachgebietsleiter so einfach nicht beantworten konnten. Ich wollte ein Leitbild haben, um eine Vision, einen Handlungsrahmen für eine gute Arbeit im Qualitätsmanagement zu erhalten: um mich daran auszurichten, meine Arbeit daran zu messen, abrechenbar zu gestalten und meine Arbeit auf ein großes Ziel auszurichten.“ Ramona Liessel, Qualitätsmanagerin im Allgemeinen Sozialen Dienst Das Jugendamt hatte erst kürzlich mit dem Sozialamt fusioniert und wurde nun unter Leitung des vormaligen Jugendamtsleiters als Amt für Familien und Soziales neu aufgestellt. Der Leitbildprozess sollte daher auch dazu beitragen, diese beiden Amtskulturen und die Mitarbeitenden zusammenzubringen und eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Deshalb war eine zentrale Zielsetzung, alle Mitarbeitenden an der Entwicklung des Leitbildes zu beteiligen (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin). In einem offenen Bottom-up-Prozess formulierten die Mitarbeitenden ihre Bedarfe und entwickelten gemeinsam Ziele und Maßnahmen zu deren Umsetzung. Diversity floss dabei als Querschnittsthema ein, indem die beiden Prozessbegleiterinnen als Diversity­ Expertinnen immer wieder Impulse dazu einbrachten. Im finalen Leitbild waren dann die Vorhaben des Amtes für die nächsten fünf Jahre festgeschrieben, einschließlich Entwicklungszielen und zu unternehmender Schritte. Jugendamt Märkisch-Oderland Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst: Fortbildungsbedarfe aufgreifen und kanalisieren Im Vorläuferprojekt „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ hatte es viele Fortbildungen für die Mitarbeitenden des Bereichs Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) und freier Träger gegeben. Der umA-Bereich war im Zuge der gestiegenen Geflüchtetenzahlen 2016 neu aufgebaut worden. Die Mitarbeitenden äußerten einen großen Bedarf an Hintergrundwissen über verschiedene Herkunftsländer. Mit den Ressourcen des Projektes konnten diese Bedarfe aufgegriffen und gleichzeitig kanalisiert werden. Durch den Einsatz selbstreflexiver Methoden wirkten die Prozessbegleiterinnen auf ein weniger kulturalisierendes Verständnis hin und vermittelten den Teilnehmenden mehr Handlungssicherheit in interkulturellen Kontexten. 35 3 Bedarfsorientierung Mit der Fortsetzung der Kooperation 2018 im Rahmen des Projektes „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ entschied die Leitungsrunde des Amtes, den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), einschließlich des Bereichs umA, als Schwerpunktbereich beizubehalten, um hier auf eine weitere Professionalisierung hinzuwirken. Bei einem ersten Treffen der Prozessbegleiterinnen mit der Fachbereichsleiterin machte diese deutlich, dass sie eine Ausweitung des Prozesses auf den gesamten ASD für sinnvoll erachte. Denn: Auch wenn einige Kolleg*innen in ihrem Arbeitsalltag vermeintlich wenig Kontakt mit Menschen nichtdeutscher Herkunft hätten, seien im Landkreis schon lange verschiedene migrantische Communitys vertreten. Sie stimmte mit den Prozessbegleiterinnen überein, dass ein breiter Diversity-Ansatz am besten geeignet sei, um die Mitarbeitenden für die vielfältigen Lebensrealitäten der Klient*innen zu sensibilisieren und auch um Widerstände zu vermeiden. „Wir befinden uns in ständigen Wandlungsprozessen. Auch die Welt des Landkreises Märkisch-Oderland hat sich verändert und nicht erst 2015 mit dem umA-Zugang, sondern tatsächlich auch schon Jahre zuvor, weil wir natürlich Familien verschiedener Nationalitäten in unserem Landkreis haben. Aber Diversity hat ja nicht nur mit der Frage zu tun, mit welchen Ethnien wir arbeiten, sondern wirklich mit allen Themen der Unterschiedlichkeit. Der ASD ist der am breitesten aufgestellte Dienst, und wir haben hier mit allen Dingen des Lebens zu tun, die das Leben tatsächlich prägen. Daher war mir das wichtig, nicht zu begrenzen, nicht nur auf das umA-Team zu schauen. Betroffen sind alle Kollegen davon. Dabei geht es darum zu fragen, welche Wahrnehmung, welchen Blick habe ich, wie gehe ich mit Dingen um? Das betrifft alle.” Jana Goldstein, Leiterin Allgemeiner Sozialer Dienst Vor allem hatte die ASD-Leiterin ein großes Interesse daran, Fortbildungen für die Mitarbeitenden des ASD und der Jugendgerichtshilfe anzubieten, da sie dort Qualifizierungsbedarf sah. Eine gemeinsam entwickelte Prozessarchitektur trug diesem Bedarf Rechnung, indem eine viertägige Fortbildungsreihe zum Thema „Vielfalt im Arbeitsalltag” konzipiert wurde. Die Prozessbegleiterinnen wirkten auf einen Prozess hin, der bleibende Ergebnisse schaffen wird. Die Sensibilisierungsfortbildungen waren daher darauf ausgerichtet, an Haltungen zu arbeiten und ein gemeinsames Verständnis von interkultureller Kompetenz und Diversity zu entwickeln. Die erarbeiteten Inhalte wurden dann von einer Arbeitsgruppe ausgewertet und in den Einarbeitungsplänen des Fachbereichs festgeschrieben. Außerdem war geplant, sie in bereits bestehende Einarbeitungsformate zu integrieren, etwa in die regelmäßigen „Stammtische“, bei denen sich neue und alte Mitarbeitende thematisch austauschten (siehe Kapitel Diversity-Sensibilisierung, Jugendamt Märkisch-Oderland). Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung: Strukturveränderungen nutzen „Der Bereich Kita, das war von Anfang an etwas, wo ich dachte, darauf sollten wir uns konzentrieren, denn da gehen die Kinder als Erstes hin, da werden sie auch geprägt.“ Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin 36 3 Bedarfsorientierung Der Kita-Bereich im Jugendamt Märkisch-Oderland war zu Projektbeginn 2018 gerade frisch umstrukturiert worden. Die Kita-Fachberatung war der Eltern- und Familienberatung (EFB) angegliedert und inhaltlich neu konzeptioniert worden. Sie war nun ausschließlich für die Beratung von Kitas zuständig und sollte in Konfliktfällen intervenieren. Anders als in anderen Bundesländern gibt es in Brandenburg keine gesetzlich festgeschriebenen Qualitätsstandards für Kindertagesstätten, und es obliegt dem Jugendamt, die Qualitätsentwicklung der Einrichtungen zu begleiten. Indem administrative Aufgaben wegfielen, konnte dieser Aufgabenbereich stärker ausgebaut werden. Im Kontext dieses Entwicklungsprozesses nahm die Leitung das Projekt als eine Ressource wahr, um den Aufbau der neuen Strukturen zu begleiten und Diversity darin als Thema zu verankern. Die Jugendamtsleiterin war als ehemalige Geschäftsführerin einer Kita in dem Feld erfahren und sah dort großen Handlungsbedarf. „Ich glaube, dass es allgemein sehr schwerfällt, bestimmte Prozesse zu reflektieren in diesem Kita-Alltag, da gibt es nicht viel Zeit. Es ist für Leitungen unglaublich schwer, Ruhe und Zeit zu finden, sich Gedanken zu machen. Deswegen hatten wir für uns gedacht, dass das ein Angebot sein könnte, das gern angenommen wird, weil es auch in den Kitas immer mehr Thema ist – natürlich durch die Flüchtlingsfamilien, verstärkt durch unterschiedliche Herkunftsländer, aber auch aufgrund von unterschiedlichen Lebenskonzepten: dass Eltern andere Jobs haben, zu anderen Zeiten arbeiten, andere Vorstellungen haben, andere Partner haben, dass es einfach auch da Kulturkonflikte gibt zwischen den Erziehern und den Eltern.“ Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin Diversity-Sensibilisierungen könnten langfristig dazu beitragen, Konflikte in den Kitas zu entschärfen und damit den Druck auf das Personal zu verringern, so die Vision der Leiterin. Perspektivisch solle die Kita-Fachberatung auf einen professionellen Umgang mit Themen wie Migration, Flucht, Regenbogenfamilien oder Inklusion hinwirken. Der Leiter der Erziehungs- und Familienberatungsstelle hatte bereits ein erstes internes Kitafachberatungskonzept erarbeitet, dieses enthielt aber keine konzeptionelle Herangehensweise für Diversity. Diese zu erarbeiten und Diversity als Querschnittsthema in allen Aufgabenbereichen zu verankern, war nun Aufgabe der Fachberaterinnen; unterstützt wurden sie dabei von den beiden Prozessbegleiterinnen. Parallel wurden im Rahmen des Öffnungsprozesses Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte und Kita-Leitungen entwickelt und angeboten, um Diversity-Sensibilisierung in den Kitas des Landkreises zu fördern (siehe Kapitel Diversity-Sensibilisierung, Jugendamt Märkisch-Oderland). „Durch die Aufnahme in die Konzeption ist schon ein Riesenschritt gemacht, um Diversity strukturell im Kitabereich zu verankern. Aber wie bringen wir das in die Kitas, wie können wir es schaffen, dass die Leitungen, die Mitarbeitenden auch danach handeln? Damit das keine leeren Floskeln bleiben, war die Idee, Fortbildungen zu dem Thema zu entwickeln, anzubieten – und somit diese Werte und Haltungen zu vermitteln.“ Tanja Michalczyk, Prozessbegleiterin 37 4 Beteiligungsorientierung 4 Beteiligungsorientierung Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Eine breit angelegte interne Beteiligungsstrategie Mit dem Projektstart 2018 war das klare Ziel verbunden, möglichst viele Mitarbeitende an dem Öffnungsprozess zu beteiligen und mitzunehmen. Für Jugendamtsleitung, Steuerrunde sowie Prozessbegleitung war Partizipation eine zentrale Voraussetzung für eine gelebte diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung: Die Mitarbeitenden sollten sich mit ihren Interessen und Wünschen in den verschiedenen Maßnahmen wiederfinden und Möglichkeiten bekommen, ihre Ideen und Expertise einzubringen und ihr Arbeitsumfeld mitzugestalten. Die Mitarbeit gründete auf Freiwilligkeit, insofern war es wichtig, die Motivation der Beteiligten anzuregen und aufrechtzuerhalten. Zu verschiedenen Anlässen hatte sich gezeigt, dass die Belegschaft eine entsprechende Beteiligung auch selbst wünschte. Beispielsweise hatten Teilnehmende einer Führungskräftefortbildung hinterfragt, wie die Schwerpunkte des Öffnungsprozesses gesetzt würden, und den Wunsch geäußert, dabei mitzuentscheiden. Großveranstaltung Jugendamtstag: Die Belegschaft informieren und motivieren Ein halbes Jahr nach Projektbeginn wurde ein Jugendamtstag angesetzt, zu dem alle Mitarbeitenden eingeladen waren. Unter der Überschrift „Vielfalt und Teilhabe im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf“ wurde Zwischenbilanz gezogen und gemeinsam ein Blick auf den weiteren Öffnungsprozess geworfen. Das Ziel war, alle Mitarbeitenden über die diversitätsorientierte Organisationsentwicklung zu informieren, Hintergründe, Rahmenbedingungen und Vorgehen zu erläutern und sie dafür zu motivieren, die angestrebten Veränderungen mitzutragen. Von den 200 Mitarbeitenden nahm die Hälfte an der Großveranstaltung teil, in Anbetracht der hohen Auslastung eine gute Quote, die vom Interesse an dem Thema zeugte. In der Vorbereitung der Veranstaltung hatte sich die Steuerrunde (siehe Führungsverantwortung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) darauf verständigt, das Thema „Mehrwert des Prozesses für die Arbeit im Jugendamt“ in den Mittelpunkt zu stellen. In den Diskussionen der Steuerrunde war dieser Aspekt zentral gewesen; nun sollten auch die Mitarbeitenden die Gelegenheit bekommen, zu formulieren, worin sie potenzielle 38 4 Beteiligungsorientierung Mehrwerte sahen. Zu diesem Zweck wurden beim Jugendamtstag sogenannte Fokusgruppen gegründet. Die Prozessbegleiter*innen stellten drei festgelegte Schwerpunktthemen (siehe Bedarfsorientierung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) für die Fokus­gruppen vor; ein viertes Thema – Moderne Verwaltung – wurde gemeinschaftlich gewählt. Die zweite Tageshälfte diente dem Einstieg in das gemeinsame Arbeiten in den Fokusgruppen. Die vier Themen wurden jeweils in einem Worldcafé präsentiert, die Mitarbeitenden durchliefen alle vier Stationen: An jedem der Tische trugen sie zunächst zusammen, welche potenziellen Mehrwerte sie bei dem jeweiligen Thema verorteten, was sie damit verbanden und was sie der Fokusgruppe für ihre Arbeit mitgeben wollten. Anschließend waren die Mitarbeitenden eingeladen, sich in Listen einzutragen, wenn sie Interesse an der Mitarbeit in einer der Fokusgruppen hatten. Die Resonanz auf den Tag fiel sehr positiv aus, die Stimmung war gut und es entspannen sich angeregte Diskussionen. Für alle Fokusgruppen fanden sich Mitarbeitende, die an den Themen weiterarbeiten wollten – zum Teil weil sie ein starkes Interesse an dem jeweiligen Thema mitbrachten, zum Teil weil sie darin eine Gelegenheit sahen, stärker planerisch mitzugestalten, als dies sonst in ihrem Arbeitsalltag möglich war. Aber auch die Steuerrunde nahm neuen Schwung mit und freute sich über mehr Perspektiven­ vielfalt und engagierte Mitstreitende. Fokusgruppen: Mitarbeitende am Planungsprozess beteiligen „Für die Fokusgruppen gilt, dass damit erst einmal überhaupt eine Beteiligung stattfindet und dadurch ein Ernster-Nehmen von Mitarbeitenden – auch an der Basis. Damit sind schon fünfzig Prozent gewonnen. Und die anderen fünfzig Prozent schaffen dann die Inhalte, die da besprochen werden. Wir lassen ja Diversity immer als Mainstreaming mitlaufen. Mit dem Aufruf zur Beteiligung haben wir das Signal gegeben: ‚Wir wollen auch eure Ideen!‘ Inhaltlich kommt man mit 15 Personen auf mehr Ideen, als wenn wir in einer Steuerrunde von fünf Personen nur mit Führungskräften zusammensitzen.“ Michael Süßkind, Koordinator der Arbeit mit Geflüchteten im Jugendamt Die Fokusgruppen setzten sich aus Jugendamtsmitarbeitenden ganz unterschiedlicher Berufsgruppen und verschiedener Hierarchieebenen zusammen. In moderierten Gruppendiskussionen hatten sie Zeit und Raum, in einen unvoreingenommenen und offenen Austausch zu treten. Eine solche Cross-over-Kommunikation fand im normalen Arbeitsalltag des Jugendamtes nicht statt. Sie eröffnete die Chance, viele interne Perspektiven abzubilden. Aufgabe der Fokusgruppen war es, Ideen zum jeweiligen Thema zu entwickeln und daraus Ziele zu formulieren, die als Grundlage für die weitere Maßnahmenplanung dienten. Über einen Zeitraum von circa einem halben Jahr kamen die Mitglieder bei mehreren Treffen zusammen und übermittelten ihr Arbeitsergebnis schließlich an die Steuerrunde. Als Einstieg in die Arbeit in den Fokusgruppen nahmen die Mitglieder an einer zweitägigen Diversity-Fortbildung teil. Sie diente der Diversity-Sensibilisierung und sollte die Beteiligten dazu anregen, eine diversitätsorientierte Perspektive einzubringen und Diversity als Querschnittsthema in ihre Planungen einzubeziehen. Die Teilnehmenden konnten die Impulse und neuen Wissensbestände direkt in ihre praktische Arbeit in den Fokusgruppen übersetzen. Dieser unmittelbare Anwendungsbezug wurde als große Bereicherung gesehen. 39 4 Beteiligungsorientierung Für die anschließende Planungsphase in den einzelnen Fokusgruppen war ein halb­ tägiger Planungsworkshop je Fokusgruppe angesetzt; in einigen Fällen wurde ein zweiter Termin vereinbart. Die am Jugendamtstag gesammelten Ideen sollten priorisiert und in Ziele übersetzt werden, zudem sollten dafür konkrete Indikatoren benannt werden. Die Prozessbegleiter*innen leiteten jeweils mit einem Input zum Thema Zielentwicklung ein, um die Mitglieder mit den verschiedenen Ebenen von Zielen vertraut zu machen und sie darin zu schulen, diese optimal zu formulieren. Um die Ziele des Jugendamtes mit den Bedürfnissen der Mitarbeitenden in Einklang zu bringen, waren zwei Fragestellungen handlungsleitend: Wie müssen die Strukturen beschaffen sein, um Chancengleichheit möglich zu machen? Wie kann für Entlastung der Mitarbeitenden gesorgt werden? Als Arbeitsergebnis übermittelten die vier Fokusgruppen eine tabellarische Übersicht mit Leit, Mittler- und Handlungszielen zu den bearbeiteten Themen (Personal, Bundesteilhabegesetz, Familienservicebüro und Moderne Verwaltung) an die Steuerrunde. In deren Zuständigkeitsbereich fiel es nun, anhand dieser Vorschläge Zeit-Maßnahmen-Pläne zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen eingeleitet werden, den beteiligten Akteur*innen transparent kommuniziert wird (siehe Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt Feedback, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf). Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin Auf dem Weg zu einem gelebten Leitbild: Alle Mitarbeitenden beteiligen Langjährige Mitarbeitende des Jugendamtes Ostprignitz-Ruppin (inzwischen zusammen mit dem ehemaligen Sozialamt: Amt für Familien und Soziales) berichteten, dass in den vergangenen Jahrzehnten mindestens drei Leitbilder im Amt erstellt worden und wieder in der Schublade verschwunden waren. Entsprechend skeptisch begegneten viele dem erneuten Anlauf, ein Leitbild für das Amt zu entwickeln (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin). Die Steuerrunde, zusammengesetzt aus dem Amtsleiter, den Sachgebietsleitungen und der Qualitätsbeauftragten des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), verband mit diesem Vorhaben den Anspruch, zu einem gelebten Leitbild zu gelangen und den Diversity-Schwerpunkt im Amt zu stärken. „Die Mitarbeiter so breit zu beteiligen, ist aus meiner Sicht von so zentraler Bedeutung, weil es [das Leitbild] diesmal nicht in der Schublade verschwinden soll. Alle zu beteiligen, heißt: Alle wissen davon, alle können nachfragen, jeder Einzelne kann etwas anschieben und verändern.“ Ramona Liessel, Qualitätsmanagerin im Allgemeinen Sozialen Dienst Die Steuerrunde betrachtete den Entwicklungsprozess als genauso wichtig wie das Ergebnis selbst. Alle Mitarbeitenden sollten an der Entwicklung des Leitbildes beteiligt sein und ihre Sicht darauf einbringen, woran es in den Strukturen und bei der Ausstattung des Amtes hakt, was in der internen Zusammenarbeit problematisch ist und wie diese Aspekte verbessert werden können. Basierend auf diesen Vorstellungen entwarfen die zwei Prozessbegleiterinnen die Prozessarchitektur: einen vorläufigen visualisierten inhaltlichen Ablaufplan. Dieser wurde in der Steuerrunde diskutiert, wo später auch die Auswertung der Veranstaltungen und weitere prozessorientierte Anpassungen erfolgten. 40 4 Beteiligungsorientierung Eingangs wurden zwei Workshop-Phasen angesetzt. Zwei eintägige Workshops wurden an jeweils acht Terminen angeboten, sodass alle Mitarbeitenden daran teilnehmen konnten. Die Teilnahme gründete auf Freiwilligkeit, war aber mit Freistellungen verbunden und vom Amtsleiter aktiv beworben worden. Dieser begrüßte die Teilnehmer*innen eines jeden Workshops, dann übernahmen die Prozessbegleiterinnen als neutrale externe Personen die Moderation. Der erste Workshop spannte einen Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft. Die Teilnehmer*innen waren aufgefordert, sich in ihre Anfangsphase im Amt zurück­ zudenken und positive wie negative Erfahrungen zu benennen. Danach formulierten und visualisierten sie ihre Visionen für das Amt in fünf Jahren. Aus der Auswertung dieser ersten Workshop-Phase ergaben sich zwei wichtige Konsequenzen für die Konzeption der zweiten. Erstens hatten beim Feedback einige Mitarbeitende rückgemeldet, dass das hierarchieübergreifende Format für sie ein Hemmnis dargestellt habe, insofern sie sich nicht getraut hätten, bestimmte Themen anzusprechen. Hier wurde nachgesteuert, indem für die zweite Workshop-Phase ein gesonderter Termin für die Führungskräfte angesetzt wurde. Inhaltlich, so stellten die beiden Prozessbegleiterinnen zweitens fest, hatten sich die Mitarbeitenden fast ausschließlich mit amtsinternen Angelegenheiten beschäftigt; der Blick nach außen, der für die Öffnung des Amtes ausschlaggebend ist, fehlte weitestgehend. Darum entschieden sie zusammen mit der Steuerrunde, im zweiten Workshop den Schwerpunkt auf das Verhältnis zwischen Amt und Bürger*innen zu setzen, auch um die Diversity-Perspektive zu stärken. Die zweite Workshop-Phase war von einer deutlich größeren Akzeptanz vonseiten der Belegschaft geprägt. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass die Veranstaltungen mit ihren abwechslungsreichen Methoden Spaß machten und dass die Mitarbeitenden dort tatsächlich ihre Ideen und Wünsche einbringen konnten. Die Teilnehmenden waren außerdem gespannt, ob die Ergebnisse der ersten Workshop-Phase tatsächlich für alle transparent gemacht würden. Dass dieses Versprechen eingehalten wurde, verstärkte die Bereitschaft zur Mitwirkung und gab den Teilnehmenden Hoffnung, dass der Prozess tatsächlich etwas bewirken würde. In der ersten Workshop-Phase war mitunter das Stichwort „Bürger*innennähe“ genannt worden; dieses diente nun als Rahmen für eine vertiefte Auseinandersetzung damit, welche Qualitäten „Bürger*innennähe“ kennzeichnen sollen. Im Sinne diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung ging es dabei darum, eine divers zusammengesetzte Gesellschaft im Blick zu haben, wozu die Prozessbegleiterinnen als fachliche Expertinnen in diesem Bereich Impulse setzten. In mehreren Rollenspielen gingen die Teilnehmenden der Außenwahrnehmung des Amtes nach. Daraus leiteten sie in Kleingruppen die Stärken und Schwächen des Amtes, was den Kontakt mit Bürger*innen betrifft, ab. Anschließend formulierten sie Entwicklungsbedarfe, erarbeiteten Vorschläge für einen Idealzustand sowie Maßnahmen, um ihn zu erreichen. Die Workshop-Ergebnisse sollten nun innerhalb der gesamten Belegschaft diskutiert werden. Hierzu wurde eine Großveranstaltung für alle Fach- und Führungskräfte aller Dienststellen angesetzt, um gemeinsam Fragen zu diskutieren sowie Ziele und Strategien zu erarbeiten. Bei der Veranstaltung wurden sieben Workshops zu als zentral identifizierten Themen angeboten: Eingangsservice, Haltungen, Wertschätzung, Teamstärkung, Transparente Kommunikation als Partizipationsprozess, Öffentlichkeitsarbeit sowie Leistungsorientierte Bezahlung (LOB). Die Anwesenden konnten jeweils zwei auswählen. Die Teilnehmenden diskutierten anhand verschiedener Leitfragen, welchen Soll-Zustand sie erreichen wollten und welche Maßnahmen für den Weg dorthin geeignet sind. Abschließend formulierten sie hierzu Visionssätze, als Vorschläge für das finale Leitbild. Der Tag schloss mit einem Ausblick auf den weiteren Prozess; die Prozessbegleiterinnen informierten darüber, dass eine Freiwilligengruppe einen Leitbild-Entwurf erstellen würde und alle herzlich zur Mitarbeit eingeladen seien. 41 4 Beteiligungsorientierung In mehreren Treffen entwarfen die Freiwilligen nun aus den Ergebnissen der Workshop-Phasen und der Großveranstaltung einen Entwurf für ein Leitbild. Dieser Entwurf nahm noch eine Partizipationsschleife (siehe Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt Feedback, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin): In den Dienstberatungen wurde er allen Mitarbeitenden vorgestellt, damit deren Feedback in die finale Version aufgenommen werden konnte. Geplant war eine zweite, festliche Großveranstaltung, bei der die finale Version präsentiert werden sollte. Die Veranstaltung konnte jedoch nicht wie geplant vor Projektende stattfinden, da dies in die Zeit der mit der einsetzenden Corona-Pandemie verhängten Kontaktsperre fiel. Im Laufe des umfangreichen Prozesses hatten die Mitarbeitenden viele Veränderungs­ potenziale benannt. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass es ein arbeits­intensives Unter­fangen wird, diese aufzugreifen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen. In der Planung der zeitlichen Ressourcen musste also nicht nur der Prozess selbst bedacht werden, sondern insbesondere auch die Umsetzung der Ergebnisse: Es bedurfte spürbarer Veränderungen für die Mitarbeitenden, damit diese das gerade aufgebaute Vertrauen in ihre Institution nicht wieder verloren. Entsprechend lag der Fokus mehrerer dazu einberufener Leitungsrunden auf schnell realisierbaren und wirksamen Umsetzungsschritten. Temporäre Arbeitsgruppen: Gestaltungsund Vernetzungsmöglichkeiten für engagierte Mitarbeitende schaffen Neben dem Bestreben, möglichst alle Mitarbeitenden zu erreichen, bestand eine weitere Beteiligungsstrategie darin, diejenigen noch aktiver in den Prozess einzubinden, die von sich aus motiviert waren, daran mitzuwirken. Um eine Arbeitsgrundlage für die erwähnte Großveranstaltung (s. o.) zu haben, musste zunächst das umfangreiche Material aus den Workshop-Dokumentationen gesichtet, sortiert und aufbereitet werden. Mit dieser inhaltlichen Vorbereitung wurde eine temporäre Arbeitsgruppe betraut. Bei zwei halbtägigen Treffen arbeitete sie mit Unterstützung der Prozessbegleitung die zentralen Themen heraus, formulierte Leitfragen für die geplanten Workshops und erstellte ein Programm für die Veranstaltung. Auf Wunsch der Gruppe wohnte der Amtsleiter einem Treffen bei – in einer Zuhörer-Rolle, um wahrzunehmen, welche Themen und Probleme die Mitarbeitenden umtrieben. Zehn Mitarbeiterinnen hatten sich auf eine allgemeine Einladung hin freiwillig für die Arbeitsgruppe gemeldet. Viele von ihnen waren noch recht neu im Amt und hatten Lust, dort etwas zu bewegen. Sie sahen in dem Leitbildprozess eine Möglichkeit, ihr Arbeitsumfeld mitzugestalten. Im Rahmen des Prozesses entstanden so Gestaltungsräume für innovative Mitarbeitende (sogenannte early adopters), womit das Amt auch an Attraktivität als Arbeitgeber für diese Gruppe gewann. Sie konnten sich mit Gleichgesinnten vernetzen und dadurch ihren Schwung ins Jugendamt hineintragen. „Wenn man die Kolleginnen, die bei der Vorbereitung für den Klausurtag mit dabei sind, trifft, spürt man wirklich ein inniges Verhältnis. Da ist etwas passiert – diese intensive Auseinandersetzung und vielleicht auch die Haltung, etwas bewegen zu wollen. Das merkt man sofort – ah, das sind Gleichgesinnte. Da ist eine Solidarität entstanden: Ich bin hier nicht allein und will etwas bewegen, sondern da sind andere, die das mit mir tragen.“ Stefanie Landeck, Mitarbeiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst 42 4 Beteiligungsorientierung Bei der Großveranstaltung übernahmen einige der Mitglieder der Arbeitsgruppe die Moderation eines Workshops. Die meisten entschieden sich, auch in der nächsten Phase aktiv zu bleiben, nämlich in der Leitbild-Gruppe. Diese hatte den Auftrag, aus den Ergebnissen der Großveranstaltung den Leitbild-Entwurf zu erstellen und anschließend das Mitarbeitenden-Feedback in die finale Version einzuarbeiten (siehe Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt Feedback, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin). Dilemma der Prozessbegleitung: Wie viel Diversitätsorientierung steckt im Leitbild? Mit Blick auf die Diversitätsorientierung ist die Beteiligung von Mitarbeitenden, wie sie im Rahmen des Leitbildprozesses erfolgte, ein ganz zentrales Element. Wenn intern keine Partizipation gelebt wird, kann auch die Strategie zur Bürger*innenbeteiligung kaum von Erfolg gekrönt sein. Im vormaligen Jugendamt wie im Sozialamt hatte offenbar viel Frustration unter den Mitarbeitenden geherrscht – aus dem Gefühl heraus, ohnehin nichts an ihren Arbeitsbedingungen ändern zu können. Die Erfahrungen, die die Mitarbeitenden nun machten, waren neu und weckten die Zuversicht, dass sich doch etwas ändern kann. Würden einige der von ihnen gewünschten und angestrebten Maßnahmen erfolgreich umgesetzt, dann wachse auch die Bereitschaft, sich weiterhin in Veränderungsprozessen zu engagieren, so die Hoffnung und Einschätzung der Prozessbegleiterinnen. In dieser Hinsicht hat der bisherige Prozess den Boden bereitet und die Voraussetzungen für einen weiteren Öffnungsprozess geschaffen. Ein ergebnisoffener Prozess, der darauf ausgerichtet war, die Perspektiven und Bedarfe der Belegschaft einzuholen und im Leitbild abzubilden, bedeutete auch, dass Diversity nicht als Thema von oben gesetzt werden konnte, ohne damit auf Abwehr zu stoßen. Durch die thematisch offene Herangehensweise konnte eine breite Akzeptanz geschaffen werden, weil Mitarbeitende die Themen einbringen konnten, die ihnen am Herzen lagen. Als Expertinnen für Diversity brachten die beiden Prozessbegleiterinnen immer wieder Impulse ein, regten dazu an, verschiedene Perspektiven mitzudenken und bei Veränderungsmaßnahmen Diversity als Querschnittsthema zu platzieren. Dabei erlebten sie allerdings regelmäßig, dass für die Mitarbeitenden andere Probleme aus ihrem Arbeitsalltag obenauf lagen. „Ich glaube, die Einschätzung der Leitbild-Gruppe ist richtig, dass viele Diversity-Themen an den Mitarbeiter*innen vorbeigehen würden, weil es gerade nicht deren Interesse ist. Mein Eindruck ist, dass man einen richtig langen Atem braucht in diesen ländlichen Gegenden, wo kaum Migrantinnen und Migranten sind, wo es fast noch kein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Diversity-Öffnung gibt. Wenn sich die Gesellschaft dort verändert und diverser wird, hoffe ich, dass dann auch diese Prozesse mehr fruchten. Ich glaube trotzdem, dass diese Prozesse jetzt sinnvoll sind und langfristig auch den Kund*innen nützen.“ Renate Pulz, Prozessbegleiterin Trotz dieser Herausforderungen gelang es, die Diversitätsorientierung des Amtes im gemeinsam entwickelten Leitbild zu verankern und entsprechende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Im Leitbild-Entwurf kristallisierten sich drei Säulen heraus: erstens die Arbeit an Haltungen (alle neuen Mitarbeitenden sollen fortan Diversity-Fortbildungen durchlaufen; Diversitätsorientierung soll außerdem in den Einarbeitungsplänen festgeschrieben werden); zweitens die Verbesserung der Bürger*innenfreundlichkeit (zunächst soll ein Eingangsservice geschaffen werden, der möglichst umfassend verschiedene 43 4 Beteiligungsorientierung Kund*innenbedarfe berücksichtigt); drittens die Verbesserung der Arbeitsbedingungen (durch Pausenräume, Teamstärkung, Kommunikation, Wertschätzung und Einarbeitung). Jugendamt Pankow Arbeitsgruppe Außenauftritt: Externe Beteiligung ermöglichen und migrantische Perspektiven einholen Ein Ergebnis der zu Projektbeginn durchgeführten Führungskräfte-Workshops im Jugendamt Pankow (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Pankow) war die Gründung der Arbeitsgruppe Außenauftritt. Der verschwindend geringe Beschäftigungsanteil von Menschen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte im Jugendamt ließ auf einen schlechten Ruf bei dieser Zielgruppe schließen. Als Teil der neuen Personal­ gewinnungsstrategie sollte ein inklusiveres Bild nach außen vermittelt werden, um künftig auch Menschen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte anzusprechen. Ziel war es, als attraktiver Arbeitgeber aufzutreten, als Amt, in dem Diversität geschätzt und gewollt ist. „Bei dem Punkt Außendarstellung des Jugendamtes ging es tatsächlich darum, diesen Satz zu überprüfen: ‚Wir sind doch offen für alle!‘ – Wie offen stellen wir uns denn dar, wen sprechen wir eigentlich unbewusst und bewusst an?“ Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung Die Arbeitsgruppe sollte, als eine der ersten Maßnahmen des Öffnungsprozesses, den Internetauftritt und den Flyer des Jugendamtes kritisch überprüfen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Geleitet wurde die Arbeitsgruppe von einem Mitglied der Steuerrunde; zur Beteiligung war innerhalb der Mitarbeitendenschaft breit eingeladen worden. Neben dem Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit und der Koordinatorin für Flüchtlingsfragen (beide waren im Rahmen einer jugendamtsübergreifenden Fortbildungsreihe für Ankerpersonen bereits angebunden an das Projekt des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V.), meldeten sich zwei Mitarbeitende, die durch ihre Leitungen von der Arbeitsgruppe erfahren hatten. Ein weiterer Kollege hatte eigeninitiativ einen Leitfaden in Leichter Sprache zur Beantragung eines Kitagutscheins verfasst, auch er wollte sich beteiligen. Alle aus der fünfköpfigen Arbeitsgruppe brachten ein großes Interesse mit, an dem Thema zu arbeiten. Die Gründung der Gruppe war eine gute Gelegenheit, interne Ressourcen zu nutzen sowie engagierte Vorreiter*innen zu vernetzen. In Anbetracht des Arbeitsauftrags hätte sich der Leiter der Arbeitsgruppe eine diversere Zusammensetzung gewünscht, unter den gegebenen Umständen sei dies jedoch nicht realisierbar gewesen. 44 „Prinzipiell ist der Haken, dass in diesen AGs auch wieder die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft sitzt – aber wir werden das gar nicht anders lösen können, denn das ist noch der große Teil der Belegschaft im Jugendamt. Woher bekommen wir also eine diversere Zusammensetzung dieser AG? Auch schwierig finde ich, die wenigen Personen, die hier im Jugendamt nicht zur weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft gehören, nur deswegen in jede AG zu holen, die zu dem Thema tagt. Deshalb gab es eine Abfrage – und wer möchte, beteiligt sich –, und ansonsten gucke ich, wie ich die anderen Perspektiven weiter einhole.“ Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung 4 Beteiligungsorientierung Beim ersten Treffen der Arbeitsgruppe wurde das bestehende Öffentlichkeitsarbeitsmaterial zunächst gesichtet. In einem zweiten Schritt sollten Nutzer*innenperspektiven eingeholt werden, insbesondere aus migrantischen Communitys. Zu diesem Zweck wurde der Öffnungsprozess des Jugendamtes vor dem Integrationsbeirat des Bezirks vorgestellt; in diesem sind verschiedene Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) vertreten. Aus dieser Runde wurde eine temporäre Arbeitsgruppe gebildet und damit betraut, sich die Homepage des Jugendamtes unter diversitätssensiblen Gesichtspunkten anzuschauen und dazu eine Rückmeldung zu geben. Das detaillierte Feedback sollte zu einem späteren Zeitpunkt als Arbeitsgrundlage für eine umfassende Überarbeitung des Interne­tauftritts dienen. Gleichzeitig bot die Einbindung von Nutzer*innen mit Migrations­geschichte eine gute Argumentationshilfe, um die Notwendigkeit für Veränderungen intern zu kommunizieren. Zentral für eine fortdauernde vertrauensvolle Zusammenarbeit war die persönliche Rückmeldung an den Integrationsbeirat und die beteiligten Akteur*innen. Sie wurden darüber informiert, welche der vorgeschlagenen Veränderungen umgesetzt würden und welche vonseiten des Amtes (vorerst) nicht realisierbar seien und weshalb. Beispielsweise die Empfehlung, die Website des Amtes in Leichte Sprache zu übertragen, erschien dem Leiter der Arbeitsgruppe für viele Nutzer*innengruppen von Vorteil und mit überschaubarem, einmaligem Aufwand umsetzbar. Was mehrsprachige Angebote betrifft, wurde hingegen zunächst befunden, dass die Folgekosten nicht getragen werden könnten. Diese entstünden dadurch, dass fortlaufend Änderungen in allen Sprachen eingepflegt werden müssten. Geplant ist, die Ergebnisse aus dem inhaltlichen Austausch innerhalb der Arbeitsgruppe Außenauftritt und mit den Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) zu verschriftlichen. Mit diesem internen Leitfaden zu diversitätssensibler Öffentlichkeitsarbeit im Jugendamt sollen neue Standards nachhaltig und personenunabhängig verankert werden. Vernetzung mit Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) stärken Auch unabhängig von der Arbeitsgruppe Außenauftritt wurden im Jugendamt Maßnahmen ergriffen, um die Vernetzung mit Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) zu verbessern. In der Vergangenheit hatten sich die MSO mit ihren Anliegen an die jeweils zuständigen Fachdienste wenden können; in der Praxis waren solche Anfragen jedoch oft im Sande verlaufen. Deshalb wurde die Koordinatorin für Flüchtlingsfragen als feste Ansprechpartnerin benannt. Ihre Aufgabe ist es, Anliegen aus den verschiedenen Communitys aufzunehmen – etwa Themen betreffend, bei denen MSO Beratungsbedarf sehen, um ihre Communitys gut beraten zu können – und in der Leitungsrunde darüber zu informieren. Die Anliegen werden dann an die zuständigen Fachdienste weitergeleitet, wobei die Koordinatorin für Flüchtlingsfragen die Kommunikation mit den MSO mitverfolgt. Die Koordinatorin für Flüchtlingsfragen nahm zudem regelmäßig an den Treffen des Integrationsbüros des Bezirkes teil, wodurch anstehende Themen schneller ins Jugendamt hinein- und hinausgetragen werden konnten. Die feste Zuständigkeit einer fachdienstübergreifenden Stelle führte zu einer neuen, besseren Qualität des Austauschs. Dass die Zuständigkeit für die Belange der MSO nun bei der Koordinatorin für Flüchtlingsfragen lag, wurde intern durchaus auch kritisch gesehen; schließlich ging es nicht allein um die Belange von Geflüchteten. Nicht nur in Pankow, auch in anderen Jugendämtern ist die Tendenz zu beobachten, dass die Themen Interkulturelle Öffnung und 45 5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack Diversity an die Verantwortlichen für Flüchtlingsfragen oder in den Bereich Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) delegiert werden, so die Beobachtung der Prozessbegleiterinnen. Die Kehrseite dieser Auslagerung ist, dass sie den Blick darauf verstelle, dass Vielfaltsthemen in allen Bereichen des Jugendamtes eine Rolle spielen. Im Jugendamt Pankow wurde diese Lösung als Übergangsbehelf gewählt, weil die Koordinatorin für Flüchtlingsfragen die einzige Stelle war, die sich bereits mit dem Thema Interkulturalität beschäftigt hatte. Eine diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung macht es erforderlich, auch andere Interessengruppen stärker einzubeziehen. Während dem Jugendamt Pankow einerseits an einer Öffnung für diverse Nutzer*innengruppen gelegen war, war andererseits immer abzuwägen, wie viel Kommunikation nach außen die vorhandenen Kapazitäten überhaupt erlaubten. 5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedback Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Feedback einholen Beteiligungsorientierte Prozesse sind in hohem Maße von einer gelingenden Kommunikation und funktionierenden Feedback-Strukturen abhängig. Mit dem Aufruf zur Beteiligung geht für die Leitung die Verantwortung einher, ihr Versprechen – „Wir hören euch“ – auch einzulösen. So gehört zu echter Beteiligung, dass die Wünsche, die von der Basis formuliert werden, auch tatsächlich in die weitere Planung einfließen. In welcher Form dies geschieht, muss den Mitarbeitenden transparent kommuniziert werden. Ansonsten verliert der partizipative Prozess seine Glaubwürdigkeit – und in Zukunft dürfte es (noch) schwerer werden, Mitarbeitende zu motivieren, sich einzubringen. Der Öffnungsprozess im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf sah verschiedene Feedbackschleifen vor. Die Ziele, die die sogenannten Fokusgruppen (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) erarbeitet hatten, wurden zunächst den Mitgliedern der Steuerrunde (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) übermittelt. Deren Aufgabe war es nun, diese Ziele zu priorisieren und zu diskutieren, welche Schritte demnächst umgesetzt werden sollen. Als Führungspersonen hatten sie auch einen Überblick darüber, welche Ziele eventuell bereits bearbeitet wurden oder nach derzeitigem Stand nicht umsetzbar waren. In beiden Fällen mussten sie dies an die Fokusgruppen rückmelden und begründen. Aufbauend 46 5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack auf der Arbeit der Fokusgruppen erstellte die Steuerrunde Zeit-Maßnahmen-Pläne, die erste Verantwortlichkeiten festlegten. Bevor die Pläne bekannt gemacht wurden, wurden sie mit den Fokusgruppen rückgekoppelt. Diese erhielten damit Gelegenheit, Feedback zu geben, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen den von ihnen formulierten Zielen entsprachen, und gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen, wenn Ziele nicht aufgenommen worden waren. „Es kann natürlich passieren, dass die Führungsebene sagt, diese Ziele wollen wir jetzt nicht verfolgen. Dann müssen sie dies aber auch an die Mitarbeiter*innen kommunizieren, die die Ziele formuliert haben. Das kann jetzt nicht mehr im Stillen passieren. Es muss transparent ausgetragen werden und dann muss begründet werden, warum nicht. Die Themen lassen sich jetzt nicht wieder einfangen. Sobald sie einmal über die Fokusgruppe in die Steuerungsrunde gespielt sind, sind sie im Jugendamt.“ Susanna Steinbach, Prozessbegleiterin Nach der Rückkopplung mit den Fokusgruppen wurde die Planung allen Führungskräften des Amtes vorgestellt; dies geschah im Rahmen eines Klausurtages. An der Präsentation waren auch Vertreter*innen der Fokusgruppen beteiligt. Bei diesem Treffen ging es darum, die Ziele der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung mit den anderen Entwicklungszielen des Amtes zu verbinden. Da in vielen Fällen die Regionalleiter*innen für die Umsetzung der Maßnahmen zuständig sein würden, war es ganz wesentlich, sie – so noch nicht geschehen – für den Öffnungsprozess einzunehmen und einzubinden. Kurz vor dem Ende der Projektlaufzeit war ein zweiter Jugendamtstag geplant, um das Engagement aller Beteiligten und die erzielten Erfolge zu würdigen. Inzwischen waren neue Instrumente eingeführt worden, die nachhaltig für eine größere Diversitätsorientierung im Amt sorgen würden. Alle Mitarbeitenden sollten über den Stand der Umsetzung informiert werden: Welche Maßnahmen wurden inzwischen angestoßen? Welche Vorschläge konnten nicht berücksichtigt werden und aus welchen Gründen? Der Jugendamtstag sollte auch als Ausblick dienen, wie es mit dem Öffnungsprozess nach Projektende weitergehen würde; die Veranstaltung musste aber coronabedingt verschoben werden. Um dennoch zeitnah das Engagement der Mitarbeitenden zu würdigen und alle mitzunehmen, erhielten alle Mitarbeitenden eine E-Mail. Darin informierte der Jugendamtsleiter auch über die unternommenen Schritte und den aktuellen Stand des Öffnungsprozesses. Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin Räume für Reflexion und Austausch schaffen Im Amt für Familien und Soziales, das kurz vor Projektbeginn aus den beiden Ämtern Jugendamt und Sozialamt gebildet worden war, herrschten nach wie vor sehr unterschiedliche Kommunikationskulturen. In beiden Settings barg das Thema Kommunikation viel Sprengstoff. Dies zeigte sich in den Workshops und Veranstaltungen, die im Rahmen des diversitätsorientierten Leitbildprozesses stattfanden (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin). Einzelne Mitarbeitende fühlten sich von ihren Vorgesetzten kontrolliert; andere meinten, private Gespräche seien nicht gern gesehen, zugleich gebe es zu wenig institutionalisierte Formen des Austauschs untereinander. Die Mitarbeitenden wünschten sich Räume, um miteinander, aber auch mit der Führungsebene in Fachaustausch treten zu können, Fragen und Probleme adressieren zu können und Resonanz zu erhalten. 47 5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack Durch den Leitbildprozess konnten diese Anliegen thematisiert werden, und es wurden neue Kommunikationsräume geschaffen – bei Workshops, in Arbeitsgruppen, bei Steuerrunden-Treffen und auf Großveranstaltungen. In Form vieler verschiedener Formate gab es nun Möglichkeiten für eine vertiefte Auseinandersetzung, für die im Arbeitsalltag die Strukturen weitestgehend fehlten. Zum Zwecke nachhaltiger Veränderungen wirkten die Prozessbegleiterinnen darauf hin, dass Zeit für Austausch, Problem­ besprechungen, Reflexionsrunden und Unterstützungsangebote perspektivisch in den regulären Besprechungs­strukturen verankert werden. „Ich habe das Gefühl, die Leute müssen in Kommunikation miteinander gebracht werden, immer wieder in verschiedensten Konstellationen Dinge miteinander besprechen. In diesen vielen Austauschrunden platzieren wir immer wieder, dass Kommunikation das A und O ist. Die Mitarbeitenden sollen ja zusammen Probleme lösen, das heißt, sie müssen miteinander kommunizieren. Diesen Samen zu säen, das ist die Voraussetzung, damit der Laden gut läuft.“ Ewa Niedbała, Prozessbegleiterin Erste Anzeichen für eine positive Entwicklung der Kommunikationskultur im Amt zeigten sich bereits während des laufenden Projektes. Die Durchmischung in den Workshops hatte dazu beigetragen, dass die Mitarbeitenden sich untereinander besser kannten und das Arbeitsumfeld als weniger anonym empfanden. Die Mitarbeitenden aus dem vormaligen Sozialamt bzw. Jugendamt hatten Einblicke gewonnen, vor welchen Herausforderungen die jeweils anderen standen; der Umgang miteinander gestaltete sich nun freundlicher. „Die Kooperationsbereitschaft ist gewachsen, weil man sich kennt, aufeinander zugeht, den anderen und seine Aufgaben besser kennt. Es haben sich einfach kleine Netzwerke gebildet, und das wird eingesetzt für die gute gemeinsame Leistung für den Bürger. Die Mitarbeiter sind offener. Ich habe noch nie so viele offene Türen auf dem Flur gesehen! Bürger werden auf dem Flur angesprochen und in die richtige Etage verwiesen, weil man sich jetzt auskennt, auch die Kollegen in den anderen Etagen und deren Arbeit kennt.“ Ramona Liessel, Qualitätsmanagerin im Allgemeinen Sozialen Dienst Den Leitbildprozess zum Anlass für eine neue Feedbackkultur nehmen Ganz entscheidend für die positive Resonanz war die Art und Weise, wie über den Leitbildprozess kommuniziert wurde. Die Mitarbeitenden waren vorab über Ablauf und Zielsetzungen informiert worden. Im Prozessverlauf dokumentierten die Prozessbegleiterinnen alle Zwischenergebnisse und stellten die ausführlichen Foto-Dokumentationen den Mitarbeitenden zur Verfügung. Sie stellten sicher, dass keine Inhalte verloren gingen, sondern zur weiteren Bearbeitung an die zuständigen Arbeitsgruppen übermittelt wurden. 48 5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack „Die Didaktik, das alles wirklich so dezidiert aufzuarbeiten und zu dokumentieren, fand ich beeindruckend und wertschätzend. So habe ich das Gefühl gekriegt, es geht nichts verloren, da werde ich und wird jeder gehört.“ Stefanie Landeck, Mitarbeiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst Zur Transparenz gehörte auch, dass der Amtsleiter offenlegte, wo die Grenzen der Mitgestaltungsspielräume für Mitarbeitende lagen und welche Entscheidungen auf der Führungsebene verblieben. Gleichzeitig sah er es als seine Verantwortung an, dafür zu sorgen, dass die Vorschläge der Mitarbeitenden auch tatsächlich aufgegriffen wurden. „Es ist sehr positiv aufgenommen worden, dass wir den Prozess völlig transparent gestalten. Das heißt, jeder kriegt alle Ergebnisse. Ich habe aber auch gesagt, dass wir nicht alles mit den Mitarbeitern diskutieren können. Das Thema Fallbelastungen ist zum Beispiel etwas, womit sich Leitung, Dezernentin und Sachgebietsleitungen beschäftigen werden – das fällt nicht unter den Tisch. Aber auch die Ergebnisse aus dieser Runde sind kein closed shop, sondern sollen rückgekoppelt werden. Ich glaube, es wird ganz viel davon abhängen, ob wir A die Prozesse transparent weitergehen und kommunizieren – das werden wir – und dass B Ideen auch aufgegriffen und umgesetzt werden; oder wenn etwas nicht umsetzbar ist, muss auch gesagt werden, warum. Wenn wir die Entwicklung so weitergehen, wie wir sie angestoßen haben, dann glaube ich, ist das ein vernünftiger Prozess.“ Andreas Liedtke, Amtsleiter Diese Transparenz in der Kommunikation von Führungsentscheidungen hatten viele Mitarbeitende bislang vermisst. Aber auch die Bottom-up-Kommunikation (also von unten nach oben) war von Mitarbeitenden kritisiert worden: In ihrem Arbeitsalltag hatten sie wenig Möglichkeiten, Feedback nach oben zu geben und sich zu ihren Arbeitsbedingungen zu äußern. Der Leitbildprozess bot einen Anlass, im Amt neue Formen des Feedback-Gebens zu praktizieren – etwa bei Workshops, die jeweils mit einer Feedbackrunde endeten, die wiederum dokumentiert und ausgewertet wurde. Aber auch insgesamt war der Prozess so konzipiert, dass Feedback ein zentrales Element bildete. Schauen wir uns dazu den Leitbildprozess noch einmal an. Eine dafür zuständige Arbeitsgruppe erstellte einen Leitbild-Entwurf; dieser basierte auf den Vorschlägen der Mitarbeitenden, die sie bei den Workshops der Großveranstaltung erarbeitet hatten. Um sicherzugehen, dass sich die Mitarbeitenden im Leitbild wiederfanden, wurde vor der Finalisierung eine Feedbackschleife angesetzt: Der Entwurf wurde allen Mitarbeitenden bei ihren jeweiligen Dienstberatungen vorgestellt, sie selbst hatten die Möglichkeit, Rückmeldungen dazu zu geben. Dieses Feedback wurde in die Arbeitsgruppe zurückgespielt, die daraufhin das finale Leitbild formulierte. Als gemeinsamer Abschluss und Ausblick, bei dem der Erfolg gewürdigt werden sollte, war die Präsentation des Leitbildes angesetzt. 49 Ausblick Ausblick So unterschiedlich die hier skizzierten Wege der vier am Projekt beteiligten Ämter waren, waren sie doch alle von denselben gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt, die sich während des Projektzeitraumes ereigneten. Als das Vorläuferprojekt im Sommer 2015 startete, standen die drei damals schon beteiligten Jugendämter vor der Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit eine große Anzahl geflüchteter unbegleiteter Minderjähriger sowie Familien in ihren Zuständigkeitsbereich aufzunehmen. Aufgrund jahrelanger Sparpolitik und dramatischer Unterbesetzungen war die personelle Ausgangslage in den Ämtern alles andere als günstig. Auch sahen sie sich fachlich vor neue Herausforderungen gestellt, etwa was den professionellen Umgang mit Kriegs- und Fluchttraumatisierten betrifft. Für das Projekt bedeutete diese Entwicklung: Alles „Interkulturelle“ gewann schlagartig an Brisanz, es gab einen enormen Bedarf an interkultureller Qualifizierung. Gleichzeitig agierten die Ämter unter einem enormen Druck und hatten kaum zeitliche Ressourcen für die beginnenden Öffnungsprozesse. Das Projektende im Sommer 2020 war von einer krisenhaften Situation geprägt: dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Auch hier zeigte sich, dass Jugendämter als systemrelevante Institutionen in schwierigen Zeiten besonders gefordert sind; Prozessaktivitäten mussten gegenüber den Kernaufgaben zurückstehen. Für das letzte Projekt-Quartal angesetzte Fortbildungen konnten aufgrund der geltenden Eindämmungsmaßnahmen nicht stattfinden. In allen Ämtern waren eigentlich Abschlussveranstaltungen geplant, um das Erreichte zu würdigen, aber auch um den Schwung mitzunehmen in die Zeit nach dem Projektende – schließlich gilt es die angestoßenen Öffnungsprozesse weiterzuführen. Alle vier Ämter sind durch ihre Projektbeteiligung in Bewegung gekommen und haben die Absicht, die begonnenen Prozesse fortzusetzen und sich zu diversitätsbewussten Organisationen weiterzuentwickeln. Bei zeitlich begrenzten Projekten stellt sich immer die Frage der Nachhaltigkeit: Was konnte angestoßen werden, was bleibt, wenn die Projektlaufzeit beendet ist und die zusätzlichen Ressourcen und die externe Begleitung nicht mehr da sind? Im Kontext diversitäts­orientierter Interkultureller Öffnung steht außer Frage, dass diese als fortlaufender Prozess zu verstehen ist: Die Organisationen müssen sich immer wieder selbstkritisch fragen, ob in Planungsprozessen alle Perspektiven berücksichtigt werden und wo sie Ausschlüsse produzieren, und sie müssen Räume schaffen, in denen die gemeinsame Arbeit reflektiert wird. Dafür braucht es auch langfristig die Unterstützung durch die Leitung, qualifizierte und engagierte Personen sowie intern zuständige Instanzen. Im Rahmen des Projektes wurden Steuerrunden gegründet, die perspektivisch die Prozesse in den Ämtern weiter koordinieren können. Durch die Zusammenarbeit mit den Prozessbegleiter*innen konnten deren Mitglieder Erfahrungen darin sammeln, in Planungs­prozessen eine diversitätsorientierte Perspektive einzunehmen. Darüber hinaus haben 20 Personen (zumeist Steuerrundenmitglieder) an der fünftägigen Qualifizierungs­fortbildung für Ankerpersonen teilgenommen, um sich grundlegendes Prozesswissen, gekoppelt mit Fachwissen zu Diversity, anzueignen. Mitarbeitende wie Führungskräfte machten in den verschiedenen Prozessgremien und -formaten neue Erfahrungen: Angeregt durch Impulse der Prozessbegleiter*innen hinterfragten viele ihre eigene Perspektive und erlebten eine andere Qualität des Austauschs mit Kolleg*innen. Es wurden Anlässe geschaffen, eigene Bedarfe zu formulieren und Feedback zu geben. Aus den Rückmeldungen, die die Prozessbegleiter*innen erhielten, wurde deutlich, wie viel Neues darin enthalten war: Die verwendeten Methoden, die Fragen, mit denen sich die Mitarbeitenden beschäftigten, und die Einladung zur Partizipation waren im 50 Ausblick Verwaltungskontext ungewohnt – und fielen auf fruchtbaren Boden. In den besonders beteiligungsorientierten Prozessen war deutlich zu spüren, dass Bewegung in die Ämter gekommen war: Die Kommunikation untereinander änderte sich, und viele Mitarbeitende waren motiviert, sich in Prozessaktivitäten einzubringen, insbesondere wenn die angestrebten Änderungen mit individuellen Mehrwerten verbunden waren. Eine grundsätzliche individuelle Veränderungsbereitschaft ist nicht zwangsläufig mit der Einsicht in die Veränderungsnotwendigkeit diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung gekoppelt. Die Erfahrungen lehrten, dass die Phase des „Auftauens“ für die Inhalte der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung lange dauern kann und mitunter erst einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen werden mussten, mit Diversity-­ Themen anknüpfen zu können. Grundsätzlich bildeten Diversity-Sensibilisierungen ein unverzichtbares Element, um auf individueller Ebene ein Problembewusstsein zu erzeugen, aber auch um aus einer diversitätsorientierten Perspektive heraus die Angebote und Strukturen des Amtes analysieren zu können. Entsprechend äußerten alle Ämter den dringenden Bedarf, regelmäßig Diversity-Fortbildungen anzubieten; zwei beschlossen, dies nach Projektende als fortdauernde Maßnahme zu implementieren. Eine nachhaltige Strategie bestand darin, Maßnahmen in Hinblick auf ihre strukturelle Verankerung zu planen. Insbesondere dort, wo es gelungen war, die Prozessmaßnahmen passgenau auf Bedarfe und Entwicklungsziele der Ämter abzustimmen, konnten bleibende Veränderungen bewirkt werden. Indem Diversity-Kompetenzen in die Einarbeitungspläne oder (mit höchster Gewichtung) in die Anforderungsprofile aufgenommen wurden, konnten zentrale Weichen für eine diversitätsorientierte Personalgewinnung gestellt werden. Ein Familienservicebüro und ein Teilhabefachdienst, die nach Diversity-­ Aspekten geplant wurden, versprechen eine bessere Nutzer*innenorientierung. Mit diesen und anderen Maßnahmen wurden in den Ämtern Instrumente für eine diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung implementiert, die nachhaltig wirken werden. Damit zählen die Ämter in ihren Bezirken oder Landkreisen zu den Vorreitern. Mitunter strahlten die im Rahmen des Projektes initiierten Prozesse auch in andere Bereiche der Verwaltung aus: So läutete auch der Landkreis Ostprignitz-Ruppin eine partizipative Leitbildentwicklung ein, inspiriert durch den Leitbildprozess im zugehörigen Amt für Familien und Soziales. Bisweilen fanden zudem zeitgleich ähnliche Entwicklungen in anderen Bereichen der Verwaltung statt, wodurch Möglichkeiten der Vernetzung und Synergieeffekte entstanden. In den beiden Berliner Bezirken waren die Themen Diversitäts­orientierung und Antidiskriminierung inzwischen auch auf Ebene der Bezirksämter angesiedelt. In Pankow hatte auf Initiative des Bezirksbürgermeisters die Arbeitsgruppe Diskriminierungsfreier Arbeitgeber, in der ein breites Spektrum an Fachämtern vertreten war, ihre Arbeit aufgenommen. In Charlottenburg-Wilmersdorf hatte das Bezirks­amt einen Fahrplan zur Interkulturellen Öffnung verabschiedet und drei Pilot­ projekte gestartet; begleitend war eine Stelle zur Interkulturellen Öffnung (angesiedelt im Integrationsbüro) geschaffen und eine Arbeitsgruppe mit der konkreten Bedarfserhebung und Zielentwicklung betraut worden. Diese und weitere Beispiele zeugen davon, dass auf politischer Ebene zunehmend anerkannt wird, dass die bisherige Verwaltungspraxis gravierende Ausschlüsse erzeugt und dass Maßnahmen getroffen werden müssen, um soziale Dienstleistungen für alle in der gleichen Qualität zugänglich zu machen. Öffentliche Verwaltungen haben als Arbeitgeber mit Vorbildfunktion dafür Sorge zu tragen, alle Bevölkerungsgruppen angemessen zu repräsentieren, um Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. 51 Ausblick Ergänzend zu den eingangs beschriebenen Ereignissen, die den Projektzeitraum prägten, soll abschließend eine dritte, schleichende Entwicklung benannt werden, die im Kontext diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung relevant ist: das Erstarken rassistischer Stimmen. Denn auch gesellschaftliche Diskurse sind Umfeldfaktoren, die Veränderungsprozesse prägen. Vor diesem Hintergrund stehen öffentliche Verwaltungen heute besonders in der Verantwortung, ein klares Signal für Teilhabegerechtigkeit zu setzen und Prozesse diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung mit der hierfür dringend erforderlichen Priorität anzugehen. „Ich finde es wichtig, zu schauen, wie der Trend allgemein in diesem Land ist. Was alles salonfähig wird, wie Politiker und auch andere Menschen reden, das finde ich gruselig. Da geht der Trend nicht in Richtung Vielfalt und Öffnung, sondern ‚nach hinten‘. Es ist wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, was für einen großen Einfluss das hat. Da reicht kein ambivalentes Signal, das letztlich suggeriert: ‚Es ist ja doch nicht so wichtig.‘ Es macht schon etwas, wenn man sagt, ‚wir sind immer noch kein Einwanderungsland‘ – oder wenn eben von oben gesagt wird: ‚Wir wollen diese Öffnung, wir wollen das als Gesellschaft und das ist uns wichtig‘ – und das nicht nur bezogen auf Migration. Das könnte einen Druck von oben schaffen, der bis in die kleinsten Zweige weiterwirkt.“ Selver Temur-Erman, Mitarbeiterin Erziehungs- und Familienberatung 52
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