Erfahrungen
diversitätsorientierter
Interkultureller Öffnung
in vier Jugendämtern
Wege zur diskriminierungssensiblen Organisation
Bildungsteam Berlin-Brandenburg e.V.
Impressum
Herausgeber:
Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V.
V. i. S. d. P.: Kerem Atasever
Cuvrystr. 20 A
10997 Berlin
Tel.: + 49 (0) 30 61076544
interkoe@bildungsteam.de
www.bildungsteam.de
Redaktionsschluss: Juni 2020
Redaktion und Text: Salka Wetzig
Lektorat: Dr. Julia Roßhart
Gestaltung: gegenfeuer.net
Herstellung: Pinguin Druck GmbH
Diese Publikation ist entstanden im Rahmen des Projektes „Interkulturelle Öffnung
der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“, 2018–2020. Dieses Projekt
wird aus Mitteln des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds kofinanziert.
Grußworte
Grußwort von Dr. Doris Lemmermeier
Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg
Bereits seit 2015 begleitet das Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. zwei Brandenburger
Ämter auf ihrem Weg der Interkulturellen Öffnung. Das Jugendamt Märkisch-Oderland
und das Amt für Familien und SozialesOstprignitz-Ruppin haben sich mit viel Engagement dem Ziel verschrieben, allen ihren Nutzerinnen und Nutzern die gleichberechtigte
Teilhabe an den Angeboten der Jugendhilfe zu gewährleisten und bestehende Barrieren
abzubauen.
Im Rahmen des AMIF-Projektes „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der
Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ (2015–2018) wurde viel Sensibilisierungsarbeit
geleistet, um die nötigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, strukturelle Veränderungen
anzugehen (AMIF: Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU). Mit dem Folgeprojekt „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“
(2018–2020) konnte darauf aufbauend auf eine Verstetigung und strukturelle wie personelle Verankerung der Öffnungsprozesse hingewirkt werden.
Beide AMIF-Projekte konnten vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und
Verbraucherschutz sowie vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport kofinanziert
werden. Unser Ziel ist es, das gleichberechtigte Zusammenleben aller Bürgerinnen und
Bürger im Land Brandenburg zu ermöglichen und die Interkulturelle Öffnung der
Verwaltung zu befördern.
Ich freue mich sehr, dass mit dieser Handreichung die in dem Projekt gesammelten
Erfahrungen nun auch einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden,
und hoffe, dass die Beispiele zur Initiierung weiterer Öffnungsprozesse anregen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine inspirierende Lektüre.
Dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. danke ich sehr herzlich – für das beständige
Engagement und die kompetente Gestaltung und Begleitung der Prozesse Interkultureller Öffnung. Danken möchte ich auch den engagierten Mitarbeitenden sowie den
Führungskräften des Jugendamtes Märkisch-Oderland und des Amtes für Familien und
Soziales Ostprignitz-Ruppin.
Sehr freuen würde ich mich, wenn der begonnene Prozess vor Ort nachhaltig fortgesetzt
werden kann. Allen Beteiligten wünsche ich dafür das notwendige Engagement und die
erforderliche Beharrlichkeit.
Dr. Doris Lemmermeier
Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg
Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz
des Landes Brandenburg
Grußworte
Grußwort von Katarina Niewiedzial
Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration
Juan, Alisa, Ayse oder Hami – das sind Beispiele von Kindernamen, die man in Berlin
immer häufiger hört. Die Berliner Bevölkerung wird zunehmend diverser. Mehr als ein
Drittel aller in Berlin lebenden Menschen hat eine eigene Migrations-, eine Einwanderungsgeschichte, bei Kindern und Jugendlichen ist es inzwischen beinahe die Hälfte. Leider
spiegelt sich diese Vielfalt nur unzureichend in unseren staatlichen Institutionen wider
– mit fatalen gesellschaftspolitischen Folgen.
Umso wichtiger ist es, Initiativen und Ansätze zu unterstützen, die sich mit dem Thema
einer diversitätsbewussten Öffnung von Regelinstitutionen beschäftigen. Dazu gehört
das Projekt des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V. zur Interkulturellen Öffnung
der Jugendhilfe.
Die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) in Deutschland ist essenziell. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen werden stets weiterentwickelt und neuen Gegebenheiten angepasst. Um
aber wirklich allen Kindern und Jugendlichen und allen Familien eine gleichberechtigte
Teilhabe und einen Zugang zu den Leistungen der KJH zu ermöglichen, müssen die Strukturen diversitätsorientierter und interkulturell durchlässiger werden.
Als Berliner Integrationsbeauftragte freue ich mich, dass ich die Arbeit des Bildungsteams
Berlin-Brandenburg mit den vier Berliner und Brandenburger Jugendämtern im Rahmen
der Kofinanzierung finanziell unterstützen konnte.
Das Bildungsteam Berlin-Brandenburg hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren auf
die Arbeit mit den Schlüsselakteuren in den vier teilnehmenden Jugendämtern konzentriert. Leitungs- und Führungskräfte wurden sensibilisiert und qualifiziert. Am Ende der
Projektlaufzeit gibt es in den vier Jugendämtern nun insgesamt 20 Ankerpersonen, die
die Öffnungsprozesse weiterführen. Der Prozess der Interkulturellen Öffnung ist in der
verwaltungsinternen Organisationsstruktur inzwischen verankert.
Die Inhalte und Ergebnisse des Projektes werden auf andere Jugendämter und andere
Bereiche der Verwaltung abstrahlen. Die entstandene Handreichung soll zur Veranschaulichung der konkreten Praxis dienen und Mut machen, sich ebenfalls mit organisatorischen
Veränderungsprozessen zu beschäftigen.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Leiterinnen und Leitern der beteiligten Jugendämter für ihre Bereitschaft, den Veränderungsprozess einzuleiten. Den Mitarbeitenden
bin ich dankbar, sich auf den Prozess eingelassen zu haben. Aus eigener Erfahrung weiß
ich, wie viel Zeit, Kraft und Energie dies kostet. Auch deshalb sichere ich Ihnen meine
weitere Unterstützung zu!
Katarina Niewiedzial
Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.............................................................................................6
Das Projekt „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe –
Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“.............................................................................. 6
Zum Begriff der Interkulturellen Öffnung............................................................................ 7
Die Handreichung................................................................................................................... 8
Kurzbeschreibung der Prozesse diversitätsorientierter
Interkultureller Öffnung in den vier Ämtern....................................................................... 9
1 Diversity-Sensibilisierung......................................................... 14
Diversity-Sensibilisierung als Voraussetzung für Öffnungsprozesse ............................ 14
Jugendamt Pankow
Unterstützung mobilisieren ............................................................................................. 16
Diversity in den Anforderungsprofilen:
Sensibilisierung und konkrete Maßnahmen koppeln .................................................. 17
Jugendamt Märkisch-Oderland
Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung:
Fortbildungskonzept entwickeln und erproben ............................................................ 18
Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst: Reflexionsprozesse anregen �������20
Diversity in den Einarbeitungsplänen:
Ein geteiltes Verständnis entwickeln und verankern ....................................................22
2 Führungsverantwortung............................................................23
Jugendamt Pankow
Diversity als Führungsthema............................................................................................23
Führungskräfte einbinden................................................................................................24
Luft nach oben: Die Bezirks- und Landesebene.............................................................24
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Engagierte Führung und Mut zur Beteiligung................................................................25
Mechanismen für eine kontinuierliche
Auseinandersetzung einbauen........................................................................................27
3 Bedarfsorientierung ...................................................................28
Jugendamt Pankow
Diversitätsorientierung in der Personalstrategie:
Der Generationenwechsel steht an ................................................................................28
Diversity in den Anforderungsprofilen:
Änderungen strukturell verankern..................................................................................30
Inhaltsverzeichnis
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Mehrwerte und Bedarfe analysieren...............................................................................32
Diversity-Schwerpunkte mit Entwicklungszielen des Amtes verknüpfen...................33
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin
An gesellschaftliche Entwicklungen anknüpfen.............................................................34
Leitbildentwicklung: Wofür wollen wir stehen?..............................................................34
Jugendamt Märkisch-Oderland
Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst:
Fortbildungsbedarfe aufgreifen und kanalisieren.........................................................35
Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung:
Strukturveränderungen nutzen.......................................................................................36
4 Beteiligungsorientierung..........................................................38
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Eine breit angelegte interne Beteiligungsstrategie........................................................38
Großveranstaltung Jugendamtstag:
Die Belegschaft informieren und motivieren.................................................................38
Fokusgruppen: Mitarbeitende am
Planungsprozess beteiligen..............................................................................................39
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin
Auf dem Weg zu einem gelebten Leitbild:
Alle Mitarbeitenden beteiligen ........................................................................................40
Temporäre Arbeitsgruppen: Gestaltungsund Vernetzungsmöglichkeiten für engagierte Mitarbeitende schaffen....................42
Dilemma der Prozessbegleitung: Wie viel
Diversitätsorientierung steckt im Leitbild?.....................................................................43
Jugendamt Pankow
Arbeitsgruppe Außenauftritt: Externe Beteiligung ermöglichen
und migrantische Perspektiven einholen ......................................................................44
Vernetzung mit Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) stärken..............................45
5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedback........................... 46
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Feedback einholen.............................................................................................................46
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin
Räume für Reflexion und Austausch schaffen...............................................................47
Den Leitbildprozess zum Anlass für eine neue Feedbackkultur nehmen..................48
Ausblick.............................................................................................. 50
Einleitung
Einleitung
Unter Stichworten wie Interkulturelle Öffnung (IKÖ), Diversity Management oder
Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung haben sich heute viele Verwaltungen
auf den Weg gemacht, ihre Dienstleistungen besser an den Bedarfen der Bürger*innen
auszurichten. Damit einher geht die Anerkennung der gesellschaftlichen Tatsache,
dass die Lebenslagen der Bürger*innen vielfältig geprägt sind. Um den gesetzlich gesicherten Anspruch auf Teilhabegerechtigkeit einzulösen, sind Verwaltungen gefragt,
bestehende (Zugangs‑)Barrieren abzubauen und für einen professionellen Umgang mit
Diversität zu sorgen.
Für die Jugendhilfe bedeutet das unter anderem, dass alle Kinder und Familien den
gleichen Zugang zu Angeboten und Leistungen haben und diese auch in derselben Qualität erhalten müssen. Insbesondere im Bereich der präventiven Hilfen sind jedoch beispielsweise Familien mit Migrationsgeschichte deutlich unterrepräsentiert, ebenso wie
Personen mit Migrationsgeschichte auch in den Belegschaften kaum repräsentiert sind.
Nicht zuletzt im Kontext des allgemeinen Fachkräftemangels entwickeln die Institutionen
zunehmend ein Eigeninteresse daran, sich zu öffnen. Inzwischen liegt eine Vielzahl an
handlungsleitenden Studien und Leitfäden vor, sodass niemand das Rad neu erfinden
muss. Trotzdem stellen sich für die Praxis viele Fragen: Welches Vorgehen wählen, wo
inhaltlich ansetzen, welche Akteur*innengruppen gezielt ansprechen und vor allem wie?
Hierauf sind die Antworten so vielfältig wie die Organisationskulturen und jeweiligen
Rahmenbedingungen, die die einzelnen Institutionen prägen.
Mit dieser Handreichung möchten wir Erfahrungen zugänglich machen, die im
Rahmen des Projektes „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ gemacht wurden. Wir werfen ein Schlaglicht auf vier Prozesse der
diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung, die in vier Jugendämtern in Berlin und
Brandenburg in den Jahren 2018 bis 2020 stattgefunden haben. Diese Praxisbeispiele
veranschaulichen die Antworten, die die beteiligten Ämter für sich gefunden haben, und
möchten andere dazu inspirieren, sich ebenfalls auf den Weg zu machen.
Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung ist ein fortdauernder Prozess und wird
auch im Rahmen einer Projektlaufzeit nicht abgeschlossen sein. Insbesondere in der Verwaltung brauchen diese ohnehin langwierigen Veränderungsprozesse viel Zeit. Aber die
Impulse, die mit dem beginnenden Öffnungsprozess gesetzt werden, haben das Potenzial, sowohl innerhalb der Organisation als auch nach außen für einen spürbar besseren
Umgang miteinander zu sorgen und dazu beizutragen, Diskriminierungen abzubauen.
Das Projekt „Interkulturelle Öffnung der
Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe
ermöglichen“
6
Das Projekt „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ war ein Projekt des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V., gefördert
durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union,
das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Landes
Brandenburg, das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg, die
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales des Landes Berlin, den Paritätischen Landesverband Berlin und die Stiftung Pfefferwerk. Kooperationspartner waren die
Jugendämter Charlottenburg-Wilmersdorf und Pankow in Berlin sowie in Brandenburg
das Jugendamt Märkisch-Oderland und das Amt für Familien und Soziales OstprignitzRuppin. Als Netzwerkpartner stand der Migrationsrat Berlin unterstützend zur Seite.
Einleitung
Ziel des Projektes war es, das Thema Interkulturelle Öffnung in den beteiligten Ämtern
nachhaltig zu verankern und deren Entwicklung hin zu diversitätsbewussten Organisationen zu befördern. Hierzu wurden im Rahmen von Organisationsentwicklungsprozessen
Strukturen geschaffen, ausgewählte Schlüsselprozesse bearbeitet und Schlüsselakteur*innen qualifiziert. Jedes Amt wurde dabei von zwei Prozessbegleiter*innen
des Bildungsteams Berlin-Brandenburg begleitet, die sowohl Prozesswissen als auch
Diversity-Expertise mitbrachten. In einer jugendamtsübergreifenden Qualifizierungsreihe
für Ankerpersonen aus den vier Ämtern wurden engagierte Fachkräfte gezielt gefördert
und ihr Erfahrungsaustausch ermöglicht.
Drei der teilnehmenden Ämter waren bereits im Vorläuferprojekt „Unterstützung in
Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ von 2015
bis 2018 beteiligt, lediglich das Jugendamt Pankow kam neu hinzu. Im aktuellen Projekt
konnte an die bereits angestoßenen Prozesse angeknüpft werden.
Zum Begriff der Interkulturellen Öffnung
Der in unserem Projekttitel verwendete Begriff Interkulturelle Öffnung hat sich inzwischen in der öffentlichen Verwaltung etabliert; unter anderem findet er im Nationalen
Integrationsplan der Bundesregierung und in Gesetzen wie dem Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz (PartIntG) Verwendung. Er bezeichnet einen Organisations
entwicklungsprozess und verweist darauf, dass die Institutionen selbst gefragt sind,
sich gegenüber bislang benachteiligten Bürger*innen, insbesondere Menschen mit
Migrationsgeschichte, zu öffnen und Barrieren abzubauen. Unter anderem die Erfahrung der Prozessbegleiter*innen im Projekt zeigt aber auch, dass der Begriff der Interkulturellen Öffnung häufig eine problematische Erwartungshaltung weckt, nämlich: Verhaltensweisen zum Umgang mit Menschen „anderer Kulturen“ zu erlernen, die dabei
als klar voneinander abgegrenzte Gruppen gedacht werden. Gerade im Kontext einer
angestrebten Öffnung erscheint es paradox, die sehr große und heterogene Gruppe von
Menschen mit Migrationsgeschichte auf diese Weise zunächst zu „Anderen“ zu machen,
insbesondere da auch viele Drittstaatsangehörige in Deutschland sozialisiert sind.
Interkulturelle Kompetenzen, oder besser: Diversity-Kompetenzen, müssen selbstreflexiv ausgerichtet sein, intersektional gedacht werden und anerkennen, dass neben
familialer Migrationsgeschichte auch andere Vielfaltsdimensionen individuelle Lebensrealitäten prägen. Dieses Verständnis liegt der Arbeit des Bildungsteams Berlin-Brandenburg zugrunde. Um diesen Ansatz kenntlich zu machen, hat es sich in der Praxis
als zielführend erwiesen, den Begriff der Interkulturellen Öffnung um den Diversity-Begriff zu erweitern oder ihn damit zu ersetzen. Der Fokus in diesem Projekt liegt dabei
weiterhin auf Menschen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte; jedoch werden
Menschen auf explizite Weise in ihrer Vielfalt anerkannt und nicht auf die Dimension
(zugeschriebener) Herkunft reduziert. Mit der Diversitätsorientierung werden auch andere Vielfaltsdimensionen in den Blick genommen, womit der Mehrdimensionalität von
Diskriminierung und Vielfalt Rechnung getragen wird.
Begriffe können bestimmte Erwartungshaltungen wecken, Unterstützung mobili
sieren oder Widerstände hervorrufen. Insofern war es wichtig, dass die Jugendämter
den für ihre jeweiligen Zielsetzungen und Gegebenheiten passenden begrifflichen frame
selbst wählten; auch diese selbstgewählten Bezeichnungen finden in dieser Hand
reichung Verwendung.
7
Einleitung
Die Handreichung
8
Die Handreichung gliedert sich in fünf Kapitel, deren Themen unserer Erfahrung nach als zentrale Elemente von Prozessen diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung gelten können.
Diversity-Sensibilisierung ist ein zentraler Baustein diversitätsorientierter Interkultureller
Öffnung, um innerhalb der Belegschaft überhaupt die Relevanz des Themas zu vermitteln, das Bewusstsein für bestehende Diskriminierungen zu schärfen und Haltungsveränderungen auf individueller Ebene anzuregen. So wichtig sie als Grundlage sind,
Fortbildungen alleine machen noch keinen Öffnungsprozess. Eine gemeinsame Planung
und Auswertung der Fortbildungen trägt dazu bei, die Inhalte in die Organisation zu
tragen. Auch sollte vorab bestimmt werden, in welcher Form Ergebnisse strukturell verankert werden. Wirkungsvoll ist es, wenn ein direkter Anwendungsbezug hergestellt
wird, indem die Sensibilisierungen an reale, konkrete Maßnahmen gekoppelt werden
(siehe Kapitel Diversity-Sensibilisierung).
Wie jeder Veränderungsprozess ist die diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung
eine Führungsaufgabe: Sie braucht eine für das Thema engagierte und möglichst auch
in der Prozesskoordination aktive Leitung. Eine Steuerrunde empfiehlt sich, um koordinatorische Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen, den Prozess und das Amt in
seiner Gesamtheit im Blick zu haben und Unterstützung unter den Führungskräften zu
mobilisieren (siehe Kapitel Führungsverantwortung).
Um eine Chance auf nachhaltige Umsetzung zu haben, müssen alle beteiligten
Akteur*innengruppen ihre Interessen vertreten wissen und einen Mehrwert in den vorgeschlagenen Maßnahmen sehen. Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung sollte daher an den
individuellen wie organisationalen Bedarfen ansetzen, diese zunächst erfassen und Schwerpunkte daran ausrichten. Sie wird dann als Bereicherung und nicht als Belastung empfunden,
wenn Maßnahmen mit den Entwicklungszielen der Organisation verknüpft sind und eine Diversity-Perspektive in ohnehin anstehende Prozesse einfließt (siehe Kapitel Bedarfsorientierung).
Eine gelebte diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung basiert auf dem Engagement und der Motivation der Mitarbeitenden; diese werden Veränderungen eher
mittragen, wenn sie sie selbst mitgestalten können. Deshalb sollten verschiedene
Akteur*innen an Planungsprozessen beteiligt sein – auch um möglichst vielfältige
Erfahrungen und Perspektiven einzubeziehen. Dies setzt eine transparente und umfassende Kommunikation in alle Richtungen voraus. Gerade zu Prozessbeginn braucht
es viele Abstimmungsschleifen, um ausfindig zu machen, wo der potenzielle Mehrwert für die einzelnen Akteur*innen liegt und wie dieser gut kommuniziert werden
kann. Auf dieser Basis kann ein von allen getragener Fahrplan entwickelt werden
(siehe Kapitel Beteiligungsorientierung).
Im laufenden Prozess sind konstante Rückkopplungs- und Austauschprozesse
zentrale Qualitäten gelingender Kommunikation. Eine wesentliche Rolle insbesondere in beteiligungsorientierten Prozessen spielt Feedback; wir behandeln es daher
als Schwerpunkt im Bereich Kommunikation und widmen ihm ein eigenes Kapitel.
Eine ernst gemeinte Beteiligung zeigt sich darin, dass Mitarbeitende und andere
Akteur*innen über Feedbackschleifen und die Rückkopplung von Ergebnissen in die
weitere Planung und Umsetzung eingebunden werden. Darüber hinaus erfordern
auch die Inhalte der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung eine besondere
Qualität der Kommunikation: Eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen und Haltungen muss Räume für Reflexion und Austausch eröffnen
(siehe Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt Feedback).
In den Kapiteln finden Sie beispielhafte Erfahrungen aus einzelnen Jugendämtern zu den
jeweiligen Themen. Die thematischen Kapitel können eigenständig für sich gelesen werden, Querverweise machen auf weitere Ausführungen an anderer Stelle aufmerksam.
Als Orientierungshilfe ist jedes Jugendamt mit einem eigenen Symbol am Rand bzw. in
der Kopfzeile versehen. Einer Gesamtübersicht dienen die Kurzbeschreibungen am Ende
Einleitung
dieses Kapitels; die Öffnungsprozesse der vier Ämter werden dort skizziert und visualisiert.1
Die Handreichung erhebt nicht den Anspruch, mit den ausgeführten Praxisbeispielen alle relevanten Aspekte des jeweiligen Themas abzudecken. Die Auswahl speist
sich aus den Erfahrungen, die im Rahmen des Projektes gemacht wurden und über die
hier folglich berichtet werden kann. Die Datengrundlage für diese Handreichung bilden
Beobachtungen aus den Fortbildungen des Projektes, die Auswertung projektinterner
Dokumente sowie 17 qualitative Interviews. Zur weiteren Lektüre möchten wir auf unsere
2018 erschienene Praxishandreichung „Diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung
in Jugendämtern“ 2 verweisen. Dort finden Sie Ausführungen zu theoretischen und
konzeptionellen Grundlagen, praxisbasierte Handlungsempfehlungen und umfangreiche methodische Anregungen. Diese geben unter anderem darüber Aufschluss,
welche Erwägungen bei der Auswahl einer Prozessbegleitung, bei der Zusammensetzung einer Steuerrunde oder der Gestaltung des Prozessauftaktes sinnvoll sind
und welche Methoden etwa zur Diversity-Sensibilisierung, Bedarfserhebung oder
Maßnahmenplanung zum Einsatz kommen können.
Kurzbeschreibung der Prozesse diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung in den vier Ämtern
Die Ausgangslagen in den vier Ämtern waren sehr verschieden, entsprechend unterschiedlich gestalteten sich die Prozesse diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung. Mit zwei
Berliner und zwei Brandenburger Ämtern waren eine großstädtische und eine ländliche Perspektive vertreten; in Berlin waren Jugendämter aus einem ehemaligen Westbezirk und einem
ehemaligen Ostbezirk beteiligt. Während die Berliner Ämter mit Unterbesetzung und hoher
Personalfluktuation zu tun hatten, wiesen die brandenburgischen Ämter einen besseren
Personalschlüssel auf; Personalfluktuation war aber auch hier ein Thema. In einigen Ämtern
hatte die Belegschaft einen hohen Altersdurchschnitt, in anderen war der Generationenwechsel bereits in vollem Gange.
Während im städtischen Raum eine diverse gesellschaftliche Zusammensetzung und
diesbezügliche Diskurse die Ämter in Zugzwang brachten, war die Bevölkerung in der
Peripherie und im ländlichen Raum sehr viel weniger (sichtbar) divers aufgestellt. Für
Prozesse, die darauf abzielten, die Diversität in der Belegschaft zu erhöhen, war Letzteres
eine schwierigere Ausgangssituation. Auch die Organisationskulturen, die Vorerfahrungen der Mitarbeitenden – etwa aus anderen Veränderungsprozessen – und die Beteiligungsmöglichkeiten bedingten ganz wesentlich, wie lange die Phase des „Auftauens“
dauerte. Damit ist die in allen Change-Prozessen notwendige Vorbereitung und Einsicht
in Notwendigkeiten gemeint, bevor überhaupt strukturelle Veränderungen vorgenommen werden können. Nicht zuletzt waren die Öffnungsprozesse ganz wesentlich davon
geprägt, wie sehr die Führungskräfte hinter der diversitätsorientierten Interkulturellen
Öffnung standen und wie aktiv sie sich einbrachten, welche Schwerpunkte gesetzt wurden und ob die Leitungen eher einen Top-down-Ansatz verfolgten oder auf Beteiligung
setzten. Diese Aufzählung von Einflussfaktoren ist keineswegs vollständig; mit ihr soll
nur beispielhaft angerissen werden, wie viele Faktoren die diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung bestimmen, und das Spektrum an Erfahrungen verdeutlicht werden,
das sich allein bei den vier beteiligten Ämtern zeigte.
1 Die durchgeführten Prozesse sind in Form von Prozessarchitekturen visualisiert. Von den zu
Projektende geplanten Veranstaltungen und Maßnahmen konnten, bedingt durch die Pandemie-Schutzmaßnahmen, einige nicht durchgeführt werden; diese sind der Vollständigkeit halber
hier aufgeführt. Es wurden verschiedene Darstellungsformen gewählt, um den gestalterischen
Spielraum aufzuzeigen. Eine Prozessarchitektur ist ein hilfreiches Planungsinstrument, in dem
Anpassungen fortlaufend (mit) festgehalten werden. Damit kann der Prozess möglichst vielen
Akteur*innen transparent gemacht werden.
2 Schmidt, Elisa; Saadi, Iven; Wetzig, Salka (2018): Diversitätsorientierte Interkulturelle
Öffnung in Jugendämtern. Handlungsimpulse für eine Organisationsentwicklung.
Berlin: Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V.
9
Einleitung
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf: Der Öffnungsprozess im Jugendamt
Charlottenburg-Wilmersdorf wurde unter dem Titel Managing Diversity von einer bereits
bestehenden Steuerrunde aus Führungskräften einschließlich des Jugendamtsdirektors
koordiniert; der Prozess war auf eine starke Beteiligung der Belegschaft ausgerichtet.
Ausgehend von den Entwicklungszielen des Amtes wurden anstehende Veränderungen
aus einer diversitätsorientierten Perspektive geplant. Die Steuerrunde setzte die Bereiche Bundesteilhabegesetz, Personal und Familienservicebüro als Schwerpunkte. Einen
weiteren Schwerpunktbereich – Moderne Verwaltung – wählten Mitarbeitende bei einer
Auftaktveranstaltung selbst. Die jeweiligen Ziele und Maßnahmen wurden in vier freiwillig zusammengesetzten Fokusgruppen entwickelt; die Teilnehmenden hatten zuvor
bei einer Diversity-Sensibilisierung mitgemacht. Auf diesen Ergebnissen aufbauend, erarbeite die Steuerrunde eine Zeit-Maßnahmen-Planung. Die Planung wurde in verschiedenen Feedbackschleifen rückgekoppelt und schließlich an die jeweils Zuständigen zur
Umsetzung übergeben.
Bilanztagung
Information
Motivation
Fokusgruppenfortbildungsphase
Sensibilisierung
Beteiligung
Fokusgruppenplanungsphase
Verantwortung
Planung
Übernahme Steuerungsrunde
Zuständigkeiten
Feinplanung
Rückkopplung Fokusgruppen
Engagement
echte Beteiligung
Umsetzung
Meilensteine
10
Monitoring
Einleitung
Jugendamt Pankow: Der Prozess diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung im
Jugendamt Pankow war top-down konzipiert, koordiniert durch eine dreiköpfige Steuerrunde einschließlich der Jugendamtsdirektorin. Entsprechend den drängenden Verän
derungsbedarfen im Amt lag der Schwerpunkt auf der Personalgewinnung und -entwicklung. Diversity-Sensibilisierungen zielten darauf ab, zunächst die Führungskräfte für die
Thematik zu gewinnen. Sodann wurden zwei hierarchieübergreifende Arbeitsgruppen
gebildet: Die Arbeitsgruppe Außenauftritt befasste sich damit, den Internetauftritt diversitätssensibler zu gestalten; die Arbeitsgruppe Anforderungsprofile formulierte Textbausteine zu Diversity- und interkulturellen Kompetenzen, die verbindlich im Jugendamt
eingeführt wurden. Fortbildungen sowie Coachings begleiteten die Einführung der veränderten Anforderungsprofile (APs) durch die Führungskräfte.
Steuerungsgruppe
Ankerpersonen
Führungskräfte
AGs
Mitarbeiter*
innen
Gruppenleiter*
innen
2018
Training Tag 1
2019
Training Tag 2
Training Tag 3
2020
Abschlussveranstaltung
Diversity-Training
AG
Außenauftritt
AG
Anforderungsprofile
AG Planung
Diversity-Training
Training wg.
Corona
ausgefallen
Diversitytraining/
Qualifizierung zur
Anwendung der
neuen APs
11
Einleitung
Jugendamt Märkisch-Oderland: Zu Projektbeginn identifizierte die Leiterin des Jugendamtes Märkisch-Oderland gemeinsam mit den Fachbereichsleiter*innen zwei Schwerpunktbereiche. Erstens sollte die Diversitätsorientierung in der Kita-Fachberatung (der
Erziehungs- und Familienberatung angegliedert) vorangebracht werden. Zweitens sollte der
bereits im Vorläuferprojekt angestoßene Prozess mit den Fachkräften des Bereichs
Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) fortgesetzt und nun auf den gesamten
Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) ausgeweitet werden. Die inhaltliche Ausgestaltung und
Koordination der Prozesse oblag den Verantwortlichen der jeweiligen Schwerpunkt
bereiche: den beiden Kita-Fachberaterinnen sowie der Fachbereichsleiterin des ASD,
die mit ihren Teamleitungen eine IKÖ-Steuerrunde gründete. In beiden Schwerpunkt
bereichen wurde der Fokus auf Diversity-Sensibilisierung gelegt. Daran schlossen sich
jeweils Maßnahmen zur Verankerung der Inhalte an; Diversity wurde in der Konzeption
der Kita-Fachberatung sowie in den Einarbeitungsplänen des ASD festgeschrieben.
Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)
FoBi
Ankerperson
2018 – 2020
FoBi
FoBi
FoBi
AG Einarbeitungspläne
AG Einarbeitungspläne
AG Einarbeitungspläne
AG Einarbeitungspläne
Abschlussveranstaltung ASD
12
Steuergruppe Kita-Fachberatung
Steuerungsgruppe ASD
Gesamtsteuergruppe
Auftaktveranstaltung
ASD
Kita-Fachberatung
KiezKita-Fachkräfte
Feldanalyse
Sensibilisierung
Entwicklung/ Fortbildungen
Kita-Leitungen
und MA*innen
150 Kita- und
Hortleitungen
in 7 AKs
Einarbeitung
von Diversity in
Konzeption für
Kita-Fachberatung
Erprobung
Sensibilisierung
Fortbildungen/ Vielfalt leben
Information und
FoBi durch die
Kita-Fachberaterinnen
Einleitung
Führungskräfte
Steuerungsgruppe
Alle
Mitarbeiter*
innen
AG
Vorbereitung
VA
AG
Leitbild
3. Q 2018
Auftragsklärung, Rahmen setzen, VereinThemenfindung,
barung abschließen
Zielvereinbarung,
Plan des Prozesses
stricken
Ankerpersonen
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin: Im Amt für Familien und Soziales
Ostprignitz-Ruppin sollte das Projekt einer grundlegenden Auseinandersetzung damit
dienen, wofür das Amt stehen will. In einem beteiligungsorientierten Leitbildprozess
formulierten die Mitarbeitenden ihre Anliegen; Diversity wurde dabei begleitend als
Querschnittsthema berücksichtigt. Eine Steuerrunde aus den Sachgebietsleitungen
koordinierte den Prozess. In zwei Workshop-Phasen waren alle Mitarbeitenden eingeladen, Visionen und Maßnahmen zu entwickeln, was die interne Zusammenarbeit sowie
das Verhältnis zwischen Amt und Bürger*innen betraf. Eine freiwillige Arbeitsgruppe
wertete die Ergebnisse aus, die dann von allen Mitarbeitenden im Rahmen einer Großveranstaltung diskutiert und weiterentwickelt wurden. Eine weitere freiwillige Arbeitsgruppe wurde damit betraut, auf dieser Grundlage einen Leitbild-Entwurf zu formulieren; dieser enthielt detaillierte Umsetzungsschritte. In den regulären Dienstberatungen
wurde er zur Diskussion gestellt, bevor das finale Leitbild verabschiedet wurde.
4. Q 2018
2. Q 2019
2. Leitbildrunde
in je 8 Gruppen
(Amt-Bürger*innen)
3. Q 2019
Auswertung
2. Leitbildrunde,
Vorbereitung
Großveranstaltung
Präsentation der
Ergebnisse der
2 Runden
Großveranstaltung
25.9.2019
Auswertung
Großveranstaltung
4. Q 2019
Dokumentation der
Ergebnisse der VA
Vorbereitung
Großveranstaltung
Mitgestaltung der
Großveranstaltung
Reflexion der
Großveranstaltung
Leitbildentwurf
erarbeiten
1. Q 2020
Feedback zum Leitbildentwurf/
Erarbeitung von
Umsetzungsschritten
Vorstellung des Leitbildentwurfs in den
Dienstberatungen
(DB)
2. Q 2020
Leitbildpräsentation (eigentlich
27.5.2020)
Qualifizierung von Ankerpersonen, Ziel:
Verstetigung im Amt nach 06/2020
1. Q 2019
Auswertung
1. Leitbildrunde,
Planung 2.
Runde
Mitvorstellung
des Entwurfs in
den DB
Einarbeitung des
Feedbacks aus
den DB
13
1 Diversity-Sensibilisierung
1 Diversity-Sensibilisierung
Alle Ämter
Diversity-Sensibilisierung als Voraussetzung
für Öffnungsprozesse
In allen vier am Projekt beteiligten Ämtern war Diversity-Sensibilisierung eine zentrale
Komponente der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung. Die Sensibilisierungsfortbildungen wurden mehrheitlich von den jeweils zuständigen Prozessbegleiter*innen
des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V. durchgeführt; in einigen Fällen wurden
externe Referent*innen damit betraut. Sie alle teilten grundlegende methodische und
inhaltliche Ansätze, was Diversity-Sensibilisierung ausmacht und wofür es sie braucht.
Wichtig für den Öffnungsprozess ist die Sensibilisierung für eigene Positionierungen,
Privilegien und Sprachgebrauch im Kontext von Machtstrukturen; der Auseinandersetzung mit eigenen Bildern und Vorurteilen; der Erarbeitung eines kritischen Kulturbegriffs;
der Aneignung von Wissen über verschiedene Formen von Diskriminierungen und deren
strukturelle Dimension. Dies betrifft zunächst einmal die individuelle Ebene. Mitarbeitende
werden zur Selbstreflexion angeregt und dazu, eigene Haltungen zu überprüfen. Die
Fortbildungen zur Diversity-Sensibilisierung waren darauf ausgerichtet, Mitarbeitende
dazu anzuregen, eigene Haltungen gegenüber marginalisierten (vermeintlichen) Gruppen zu überdenken. Eine Mitarbeiterin gab dazu folgendes Feedback:
„Seit der Diversity-Fortbildung übe ich für mich in Beratungsgesprächen.
Ich versuche bei Erstkontakten bewusster wahrzunehmen, wie ich die
Person ‚auf den ersten Blick‘ einschätze. Nach dem Gespräch nehme ich
mir dann die Zeit zur Reflexion: Wo hat sich möglicherweise ein ‚Schubladendenken‘ eingeschlichen, und was hat sich im Beratungsgespräch
tatsächlich ergeben?“
Catrin Großmann, Mitarbeiterin im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst
14
Ziel war ein diskriminierungssensiblerer Umgang mit Nutzer*innen und dadurch verbesserte Dienstleistungen. Die Fortbildungen waren aber auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass der Prozess intern mitgetragen wurde. Denn die meisten in den
Belegschaften waren entweder nicht von Diskriminierung betroffen oder hatten noch
keine Selbstwahrnehmung für ihre Betroffenheit entwickelt; ihnen erschien das Thema
daher zunächst wenig relevant:
1 Diversity-Sensibilisierung
„Wie es so ist, wenn man zu dieser Mehrheitsgesellschaft gehört – dann
hat man wenig Berührungspunkte damit und muss sich wenig mit Diskriminierung auseinandersetzen, weil einen das selbst alles gar nicht betrifft.
Aber nur weil man es selbst nicht wahrnimmt, weil man zur Mehrheitsgesellschaft gehört, heißt das noch lange nicht, dass keine Diskriminierung
stattfindet. Da gab es vorher wenig Auseinandersetzung mit, da sehe ich
den Prozess als eine große Bereicherung.“
Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung
Die Sensibilisierung für Diskriminierungen war folglich ein wichtiges Instrument, um Problembewusstsein zu erzeugen und die Veränderungsnotwendigkeit deutlich zu machen. Der
Diversity-Ansatz erwies sich methodisch als hilfreich, weil Teilnehmende sich durch die
Reflexion eigener Erfahrungen, wie beispielsweise von Unterprivilegiertheit, potenziell
besser in andere Formen von Diskriminierungserfahrung hineinversetzen konnten. So
wurde etwa darüber gesprochen, dass sich Kommunikation für eine Frau anders anfühlen kann als für einen Mann; danach fiel es an manchen Stellen leichter, auch beim
Thema Interkulturalität zu einem gemeinsamen Verständnis zu finden.
Die Arbeit mit Fach- und Führungskräften der Allgemeinen/Regionalen Sozialpädagogischen Dienste stellte die Prozessbegleiter*innen vor besondere Herausforderungen.
Anders als im Verwaltungsbereich brachten die meisten inhaltliche Vorerfahrungen aus
ihrem Studium mit und verstanden die Gleichbehandlung von Nutzer*innen als integralen
Bestandteil ihrer Arbeit. Aus diesem Selbstverständnis heraus waren die Widerstände
dagegen, Diskriminierung im eigenen Denken und Handelns zu erkennen und anzuerkennen, hier besonders ausgeprägt. Nicht nur kratzte deren Anerkennung am eigenen
Selbstbild und Berufsethos; zudem schlug sie in die Kerbe, als jene, die gesellschaftlich
relevante Arbeit leisten, häufig in der öffentlichen Kritik zu stehen.
Zur Entlastung der Mitarbeitenden, aber auch um zum eigentlichen Kern diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung zu kommen, hoben die Prozessbegleiter*innen
auf die institutionelle Dimension von Diskriminierung ab. Denn ungeachtet der Einstellungen der einzelnen Mitarbeitenden sind in den Strukturen und Dienstleistungen
der Ämter Barrieren und Benachteiligungen angelegt. Diese gilt es mit den Mitteln der
diversitätsorientierten Organisationsentwicklung zu erkennen und abzubauen:
„Es ist interessant, dass man immer auf diese Widerstände trifft, wenn es
um institutionelle Diskriminierung geht, die bisher definitiv noch in jedem
Jugendamt in Deutschland besteht. So wie die Strukturen im Moment
gemacht sind, wie die Architektur dieser Dienstleistungsbehörde ist, ist
die Dienstleistung nicht in derselben Qualität zu empfangen, wenn ich
Öztürk heiße oder Schneider. Da ist kein persönlicher Vorwurf immanent
– das ist eine nüchterne Feststellung. Die Frage ist vom Anspruch her: Wie
kann eine Behörde ohne institutionellen Rassismus arbeiten? Das ist nur
über Organisationsentwicklung möglich. Dafür ist es wichtig, die Mitarbeitenden, die Personen von der Verantwortung für die Institution zu
entlasten. Rassistische Wissensbestände wirken, auch wenn einzelne
Menschen keine Rassisten sind.“
Martin Gerlach, Prozessbegleiter
15
1 Diversity-Sensibilisierung
Diversity-Sensibilisierung war also eine Voraussetzung dafür, dass Mitarbeitende und
Führungskräfte die Strukturen und Angebote ihrer Ämter aus einer diversitäts- und
diskriminierungssensiblen Perspektive analysieren konnten. Daraus folgt: Um diversitätsorientierte Maßnahmen zu entwickeln, bedurfte es entsprechender Fortbildungen. Der
praktische Anwendungsbezug der Fortbildungen unterstützte dabei, deren Inhalte zu
verinnerlichen. An konkreten Beispielen wurde immer wieder die Frage aufgeworfen:
Welche weiteren Perspektiven müssen mitgedacht werden?
In den Ämtern war es bereits ein großer Schritt, dass im Rahmen der Öffnungsprozesse verschiedene Hierarchieebenen und Bereiche gemeinschaftlich an der Planung
der Maßnahmen beteiligt waren. Ebenso unüblich war die Einbindung von Nutzer*innen,
auch um Perspektiven von Menschen mit Diskriminierungserfahrung einzuholen; während der Projektlaufzeit hat nur ein Amt gezielt migrantische Perspektiven von außen
eingeholt, da diese intern nicht vertreten waren.
Die bisherige Abwesenheit einer diversitätsorientierten Perspektive in Planungs- und
Leitungsprozessen war der Grund dafür, dass eine diversitätsorientierte Organisationsentwicklung angestrengt werden musste. Eine entsprechende Perspektive und Expertise
von außen einzuholen, war folglich unabdingbar. Die Prozessbegleiter*innen nahmen
dabei eine Doppelrolle als Organisationsentwickler*innen und Diversity-Expert*innen ein.
Jugendamt Pankow
Unterstützung mobilisieren
Während der zweijährigen Projektlaufzeit wurden im Jugendamt Pankow DiversitySensibilisierungen für drei verschiedene Zielgruppen umgesetzt. Dabei wurden mehrere
Ziele verfolgt und verschiedene Strategien kombiniert.
Das Jugendamt wählte einen Top-down-Ansatz. Zunächst wurden die Führungskräfte
der ersten und zweiten Ebene eingebunden. Ziel dieser anfänglichen Fortbildungsreihe
für Führungspersonen war es, ihre Unterstützung für den Prozess zu mobilisieren, ein
Bewusstsein dafür zu schaffen, weshalb Veränderungen erforderlich sind, und inhaltliche
Grundlagen für die weitere Arbeit zu legen. Die drei eintägigen Workshops waren als
grundlegende Diversity-Sensibilisierungen angelegt, mit einem starken selbstreflexiven
Anteil rund um die Themen Kulturverständnisse, Interkulturelle Öffnung, Diversity und
Antidiskriminierung. Damit verknüpft war eine amtsinterne Verständigung darüber, was
unter dem Öffnungsprozess verstanden wurde, und über die Sichtweisen der beteiligten
Führungspersonen auf die damit verbundenen Themen. In der dritten Veranstaltung wurde
gemeinsam erarbeitet, in welchen Bereichen des Jugendamtes langfristig Maßnahmen
zur Implementierung von Diversity getroffen werden müssten. Gleichzeitig wurde der
Blick auf kurzfristige Planungen gerichtet; dabei stellte sich heraus, dass die Führungspersonen, ebenso wie die Steuerrunde, den dringendsten Veränderungsbedarf im Bereich
Personal sahen (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Pankow).
Im weiteren Verlauf wurden zwei zweitägige Fortbildungen angeboten, ausgeschrieben
als freiwilliges Angebot für alle Mitarbeitenden. Dabei folgten die Prozessbegleiterinnen
dem Gedanken des sogenannten Viral Change Managements:
16
1 Diversity-Sensibilisierung
„Interessant für uns war: Wer meldet sich darauf, wer sind die early adopters,
die auf dieses Thema aufspringen wollen – einfach weil es sie interessiert?
In der Regel sind das Leute, die schon ein bisschen Vorerfahrung mitbringen.
Sie zu schulen, bedeutet auch, dass man sie zusammenbringt. Vielleicht
entsteht eine Vernetzung und ein bestimmter Impuls daraus, dass Leute in
der Mitte der Organisation für dieses Thema stehen, positiv gestimmt sind
und am selben Strang ziehen.“
Tanja Michalczyk, Prozessbegleiterin
Diversity in den Anforderungsprofilen:
Sensibilisierung und konkrete Maßnahmen
koppeln
Für das letzte Quartal des Projektes wurden Diversity-Sensibilisierungen für eine weitere
Zielgruppe konzipiert: die Gruppenleiter*innen. Diese hatten als Führungskräfte der dritten Ebene zunächst nicht an den Führungskräfte-Fortbildungen partizipiert. Da sie auch
nicht an den Leitungsrunden teilnahmen, waren sie zunächst nur schriftlich, im internen
Newsletter, über den Prozess informiert worden. Als direkte Vorgesetzte aller Mitarbeitenden würden sie aber ganz wesentlich daran mitwirken, ob Diversitätsorientierung im
Amt tatsächlich gelebt werden würde oder nicht. Sie sind sowohl als Bewerter*innen
unmittelbar an Einstellungsprozessen beteiligt als auch zuständig für Mitarbeitendengespräche und die Beurteilungen des Stammpersonals.
Als Bewertungsgrundlage der Bewerbungs- und Mitarbeitendengespräche dienen
Anforderungsprofile (APs). Im Rahmen des Prozesses waren zwei Bausteine zu Diversityund interkulturellen Kompetenzen entwickelt und in die Anforderungsprofile aufgenommen worden (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow). Nun ging es darum,
diese in die tatsächlichen Gespräche einfließen zu lassen:
„Wenn Diversity-Kompetenzen in den Anforderungsprofilen festgeschrieben
sind, dann ist das Ganze Vorschrift und auch Gegenstand von Beurteilungsgesprächen und von Mitarbeiter*innengesprächen. Insofern ist die
Herausforderung jetzt, dass man die Leute, die diese Gespräche führen,
wirklich mit ins Boot holt. Die Führungspersonen müssen einen Blick für
Diversity-Kompetenzen haben. Wenn nicht, wird die Veränderung des
Anforderungsprofils nur auf dem Papier stehen, nicht aber in die Praxis
übergehen. Das heißt, die Führungskräfte sind jetzt ein wichtiges Scharnier. Sie stehen dafür, das auf den unteren Ebenen zu verankern. Von
diesen Gesprächen führen alle Mitarbeiter*innen eins pro Jahr; da müsste
dann geguckt werden, ob Diversity-Kompetenzen vorhanden sind oder
ob sie nachgeschult werden müssen.“
Renate Pulz, Prozessbegleiterin
Eine tiefergreifende inhaltliche Diskussion zu Diversity hatte zunächst nur innerhalb der
Arbeitsgruppe stattgefunden, die damit betraut worden war, die Anforderungsprofile zu
überarbeiten (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow). In diesem Erarbeitungsprozess hatte sich gezeigt, wie voraussetzungsvoll das Thema ist: Eine Anordnung
von oben würde nicht ausreichen, damit die zuständigen Führungskräfte die neu eingeführten Kompetenzen gut erfragen und beurteilen konnten.
17
1 Diversity-Sensibilisierung
Für diese Personengruppe wurde daher eine zweitägige Fortbildung konzipiert und als
Pflichtveranstaltung angesetzt; allerdings mussten zunächst zwei von drei Terminen aufgrund der Schutzmaßnamen zur Pandemie abgesagt werden. Thema war die Anwendung
der neuen Anforderungsprofile. Die Fortbildung sensibilisierte die Führungskräfte für Diversity; außerdem informierten die Prozessbegleiterinnen über die internen Neuerungen
und Anforderungen durch den Senat, um den Teilnehmenden mehr Handlungssicherheit
bei der Anwendung der neuen Beurteilungskriterien zu vermitteln. Die Diversity-Sensibilisierung wurde an die Umsetzung einer konkreten Maßnahme des Öffnungsprozesses
– die Einführung der neuen Anforderungsprofile – gekoppelt. Dadurch hatten die Teilnehmenden einen konkreten Anwendungsbezug und erfuhren Unterstützung bei der
Aneignung der neuen Anforderungen.
Die Sensibilisierung der Führungskräfte dürfte maßgeblich dazu beitragen, dass
Diversity fortan in den Mitarbeitenden- und Beurteilungsgesprächen einen zentralen
Stellenwert einnehmen wird – wie in den neuen Anforderungsprofilen vorgesehen.
Damit verbunden ist die Hoffnung, auf diesem Wege ein wirkungsvolles und nachhaltiges
Instrument im Jugendamt zu verankern, das dem Thema Diversity dauerhaft Präsenz
verleiht.
Jugendamt Märkisch-Oderland
Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung:
Fortbildungskonzept entwickeln und erproben
Im Jugendamt Märkisch-Oderland bildete die Kita-Fachberatung einen Schwerpunkt
bereich des Öffnungsprozesses. Im Zuge der Neuaufstellung der Kita-Fachberatung (siehe
Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Märkisch-Oderland) wurden für verschiedene
pädagogische Fachkräfte Diversity-Sensibilisierungen entwickelt, erprobt und durchgeführt. Hiermit wollte das Jugendamt ein unterstützendes Fortbildungsangebot für
Kita-Personal in den Einrichtungen des Landkreises schaffen.
Wichtig war der Jugendamtsleiterin, den Teilnehmenden der Fortbildungen keine
defizitäre Perspektive zu vermitteln. Als Bestandteil der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung des Jugendamtes sollten die Fortbildungen von dem Selbstverständnis
zeugen, dass alle Bereiche gefragt sind, sich weiterzuentwickeln und Räume für Reflexion
jenseits des Alltagsgeschehens zu eröffnen.
Nachdem die Prozessbegleiterinnen den groben Rahmen mit der Jugendamtsleiterin
und dem Fachbereichsleiter abgestimmt hatten, lag die Umsetzung in den Händen der
Fachberaterinnen. Denn vertrauend auf Empathie, Wertschätzung und Analysefähigkeit
des neu aufgestellten Teams, sah die Leiterin in dem Öffnungsprozess auch die Chance,
ihren Mitarbeitenden neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen zu können.
„Die Verwaltung ist nun einmal sehr hierarchisch: Viele Dinge sind entschieden und müssen umgesetzt werden. Als Leitung schaue ich auch nach
Möglichkeiten, wo Mitarbeitende sich entfalten können, wo sie kreativer
tätig werden können und was Bereiche sind, in denen sich Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen lassen. Die Interkulturelle Öffnung ist so ein Bereich,
in dem ich als Leitung gar nicht stark reglementieren und Vorgaben machen möchte. Man kann nicht von Interkultureller Öffnung, Reflexionsprozessen, Haltung und Bewusstseinsbildung sprechen, wenn man sie dann
strikt vorgibt. Man kann auch Toleranz nicht verordnen. Ich denke, diese
18
1 Diversity-Sensibilisierung
Prozesse müssen sich frei entwickeln, damit dann, in dieser Atmosphäre,
etwas entstehen kann. Ich weiß, dass da verantwortungsbewusste Mitarbeitende dabei sind, die an der Sache interessiert sind und denen ich
vertraue.“
Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin
Die beiden Kita-Fachberaterinnen waren erst seit Kurzem im Jugendamt tätig, brachten
viel Erfahrung aus der Erwachsenenbildung mit und waren mit interkulturellen Themen
vertraut. Wissend um bestehende Problemlagen und Diskriminierungen in den Einrichtungen brachten sie eine starke eigene Motivation mit, Veränderungen anzustoßen.
Zwischen ihnen und den Prozessbegleiterinnen entwickelte sich eine enge und ver
trauensvolle Zusammenarbeit, aus der heraus das Vorhaben schnell Fahrt aufnahm.
Auf Vorschlag der Fachberaterinnen sollten mit einer ersten dreitägigen Fortbildungsreihe gezielt die sogenannten Kiezkitahelfer*innen angesprochen werden. Brandenburg
weit erhielten mehr als 100 Kindertagesstätten personelle Unterstützung in Form von
Kiezkitahelfer*innen, zusätzlich zum Personalschlüssel. Die Kiezkitahelfer*innen waren
für besondere Problemlagen, Elternarbeit, die Integration von Kindern mit Förderbedarf
oder Fluchthintergrund zuständig. Mit der Idee, sie für Diversity-Themen einzunehmen,
war die Hoffnung verbunden, sie als diesbezügliche Multiplikator*innen in den Einrichtungen zu gewinnen; zugleich war zu vermuten, dass sie einen guten Einblick in aktuell
drängende Probleme hatten – Wissen, das in die Konzeption weiterer Fortbildungen
einfließen konnte. Ein bewusster Umgang mit Diskriminierung und eine Reflexion über
Vorurteile und Machtverhältnisse waren für die Aufgaben der Kiezkitahelfer*innen ganz
entscheidend. Allerdings zeigte sich, dass die neun Kiezkitahelferinnen aus MärkischOderland wenig Vorerfahrung und Wissen hierzu mitbrachten. Insbesondere mit interkulturellen Themen hatten die meisten bislang wenig Berührung. An zwei Terminen bot
eine Prozessbegleiterin der engagierten Teilnehmerinnengruppe eine grundlegende
Diversity-Sensibilisierung an, dies im Beisein der Kita-Fachberaterinnen. Um das Bewusstsein für Diskriminierungspraktiken zu schärfen und Handlungsstrategien zu entwickeln,
diente ein dritter Termin der vertiefenden Falldiskussion. Die Prozessbegleiterinnen
werteten die Fortbildungen gemeinsam mit den Kita-Fachberaterinnen aus. Mit dem
Feedback der Teilnehmerinnen ließ sich nun besser bestimmen, welche Methoden für
diese Zielgruppe besonders geeignet waren und wie viel theoretischen Input es brauchte. Außerdem ließen sich Anschauungsbeispiele für die Herausforderungen, vor denen
Kitas in der Region stehen, mitnehmen; davon profitierten die weiteren Fortbildungen.
Auf Grundlage der mit den Kiezkkitahelfer*innen gesammelten Erfahrung, ent
wickelten die Fachberaterinnen gemeinsam mit den Prozessbegleiterinnen ein Konzept
für eine Basis-Fortbildung für Kita-Fachkräfte. Unter dem Titel „Diversity im Arbeitsalltag“
wurden zwei Fortbildungstermine angeboten, einmal an einem ländlichen Standort
(Seelow), einmal im Berliner Umland (Strausberg). Es zeigte sich, dass sich die beiden
Gruppen hinsichtlich ihres Vorwissens stark unterschieden: In Strausberg waren etliche
schon mit den Themen vertraut, in Seelow hingegen waren die Inhalte für die meisten
neu. Letztere begegneten dem Thema aber mit Offenheit und hoben die neuen Impulse
gedanklich schnell auf die Handlungsebene.
Als Produkt des bisherigen Entwicklungsprozesses lag dem Jugendamt mit der
Diversity-Basis-Fortbildung für Kita-Personal nun ein erprobtes Fortbildungsangebot vor. Mit
den zwei Kita-Fachberaterinnen, die das Konzept mitentwickelt und an allen Fortbildungen
hospitiert hatten, verfügte das Amt eigentlich auch über zwei qualifizierte Fortbildnerinnen;
allerdings hatten diese nicht die zeitlichen Ressourcen, selbst Fortbildungen anzubieten,
weshalb sie nach anderen Mitteln und Wegen suchten, die Ergebnisse in die Kitas zu tragen.
19
1 Diversity-Sensibilisierung
Angesichts der durchweg positiven Resonanz auf die bisherigen Fortbildungen konnte von einem gewissen Multiplikationseffekt ausgegangen werden, und einige der
Fortbildungsangebote waren bereits bekannt. Dennoch brauchte es persönliche Empfehlungen und eine bessere Vernetzung, damit sie auch wahrgenommen wurden – eine
langfristige Aufgabe der beiden Kita-Fachberaterinnen. Wichtig war nun vor allem, die
Kita-Leitungen zu informieren und von der Notwendigkeit der Diversity-Sensibilisierung
zu überzeugen. Eine geeignete Plattform schienen die regelmäßigen Arbeitskreise der
Kita-Leitungen mit den Fachberaterinnen zu sein. Geplant war, dass die Prozessbegleiterinnen als externe Referentinnen zu mehreren Terminen eingeladen würden, um den
Leitungen eine kurze Einführung in die Thematik und ihre Relevanz zu geben. Dabei
sollten sie nicht nur die Basis-Fortbildung, sondern auch Möglichkeiten für Aufbau-Fortbildungen vorstellen, die noch stärker auf die pädagogische Umsetzung fokussierten.
Zu den geplanten Inputs der Prozessbegleiterinnen kam es nicht mehr aufgrund der
Kontaktsperren, die als Gegenmaßnahme zur Corona-Pandemie verhängt wurden. Stattdessen wurde im Projekt nach anderen Möglichkeiten gesucht, die Informationen aufzubereiten und weiterzuverbreiten: In der Broschüre "Diversity-Sensibilisierung in Kitas"
wurden Angebote verschiedener Institutionen zusammengestellt, bezüglich relevanter
Fortbildungen sowie diskriminierungssensibler Materialien und Bücher für Kitas1. Damit
verfügten die Kita-Fachberaterinnen über begleitendes Infomaterial, auf das sie künftig
in ihren Beratungen zurückgreifen können.
Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst:
Reflexionsprozesse anregen
Mit dem Schwerpunkt Diversity-Sensibilisierung beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD)
sah die Jugendamtsleiterin ein ganz grundsätzliches Thema berührt: Als öffentliche Verwaltung leiste das Amt einen Spagat zwischen seinem Auftrag als Exekutive, gesetzliche
Vorgaben umzusetzen, und dem als Dienstleister, Leistungen an die Bürger*innen zu
bringen, diese in ihren Lebenswelten zu erreichen und der damit verbundenen Komplexität gerecht zu werden. Der staatliche Auftrag bleibe dabei immer derselbe, unabhängig davon, ob nun die Mitarbeitenden im Jugendamt Märkisch-Oderland weniger
mit Menschen mit Migrationsgeschichte zu tun haben als in Berlin. Für die von Sicherheit und Stabilität geprägte Verwaltung sei es dabei mitunter eine Herausforderung, auf
die sich verändernde und vielfältiger werdende Bürger*innenschaft zu reagieren. Der
Prozess der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung liefere eine Ressource, um
Mitarbeitende dabei zu unterstützen, im Umgang mit verschiedenen Lebensrealitäten
handlungssicherer zu werden.
„Ich glaube, es ist wichtig, Reflexionsprozesse in Gang zu setzen, sodass
Mitarbeitende handlungssicherer werden. Sie bringen ja selbst eine gewisse Wertehaltung und eine Kulturalität mit, die sie auch nicht gänzlich
ablegen können im Kontakt mit den Familien und jungen Menschen, mit
denen sie zu tun haben. Man kann nicht alles über Bord werfen, weil
jemand etwas anderes fordert. Auf der anderen Seite muss man es respektieren, dass Menschen andere Entscheidungen treffen und andere Wege
gehen. Ich glaube, es ist ganz allgemein eine große Herausforderung, sich
von verschiedenen Lebenskonzepten nicht angegriffen zu fühlen, sondern
deren Berechtigung zu akzeptieren. Und meine Mitarbeitenden müssen
1
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Online abrufbar unter bildungsteam.de
1 Diversity-Sensibilisierung
das nicht nur akzeptieren können, sie müssen mit Menschen arbeiten, die
in verschiedenen Welten leben. Da muss man mit einer gewissen Haltungspluralität zurechtkommen, ohne daran zu verzweifeln oder sich selbst
infrage zu stellen. Mir geht es darum, nicht zu sagen, was richtig oder
falsch ist, das ist nicht der Ansatz – sondern die Mitarbeitenden zu
befähigen, sich in ihrer eigenen Position ebenso zurechtzufinden wie in
der Auseinandersetzung mit den Familien.“
Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin
Die Auseinandersetzung mit persönlichen Haltungen diente in den Sensibilisierungs
fortbildungen als Ausgangspunkt des Öffnungsprozesses. Gleichzeitig wirkten die
Prozessbegleiter*innen darauf hin, dass nachhaltige Instrumente in den Strukturen verankert wurden; Ergebnisse aus den Fortbildungen sollten in den Einarbeitungsplänen
festgeschrieben werden.
„Unser Ziel war es, alle Mitarbeitenden des ASD auf das gleiche Niveau zu
bringen, was Diversity und insbesondere die Haltungsfragen anbelangt,
und dann zu schauen, dass sich aus dieser Gruppe ein paar Freiwillige
melden, die diese Ideen wichtig finden und etwas bewegen wollen. Der
Ansatzpunkt war dabei, neue Mitarbeiter*innen von Anfang an mitzunehmen, Haltungen, die sie mitbringen, und Wissensbestände aus dem Studium zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie mit dem Thema früh in
Berührung kommen.“
Ewa Niedbała, Prozessbegleiterin
Die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Diversity-Fortbildungen wurden jeweils
in einer Steuerrunde, an der die ASD-Teamleitungen, die Fachbereichsleitung und die
Prozessbegleiterinnen beteiligt waren, abgestimmt und im Nachgang gemeinsam ausgewertet. Dadurch wurden die Führungskräfte in die Planung eingebunden und konnten
ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Betrachtungen einfließen lassen. Einige befürworteten eine Öffnung des Fachbereichs, andere aber sahen wenig Notwendigkeit, sich
mit dem Thema Diversity zu beschäftigen, und standen dem Prozess kritisch gegenüber.
Letzteres zeigte sich unter anderem in der Auswertungsrunde zum ersten Fortbildungstag, der dem Thema „Diskriminierung und Sprache“ gewidmet war: Einige äußerten, dass
sie es als übertrieben empfänden, auf so vieles zu achten, oder dass Toleranz ohnehin
selbstverständlich sei. Konstatiert wurde aber auch, dass die Impulse der Veranstaltung
durchaus fortwirkten:
„Ich denke, dass es ein Nachdenken darüber gab, welche Sprache angewendet wird, was Sprache macht, wie dem Bürger entgegengetreten wird,
welche Möglichkeiten überhaupt eingeräumt werden. Solche Sachen haben
weitergewirkt. Aus meiner Sicht hat sich der Blick erweitert, verändert.
Und es gab darüber hinaus noch viele Diskussionen, kleine Bemerkungen
am Rande, und manchmal ertappen wir uns und lachen über uns selbst.
Da findet jetzt mehr Reflexion statt und eine andere Betrachtung dessen,
was die Haltung im Inneren ausmacht. Und die Haltung bestimmt dann
den Umgang.“
Jana Goldstein, Leiterin Allgemeiner Sozialer Dienst
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1 Diversity-Sensibilisierung
Die Sensibilisierungsfortbildungen wurden als Pflichtveranstaltungen eingeführt. Dennoch konnte keine Kontinuität der Teilnahme erreicht werden – angesichts aufeinander
aufbauender Inhalte eine zusätzliche Herausforderung für die Prozessbegleiterinnen.
Offenbar sprachen viele Mitarbeitende dem Thema noch nicht allzu viel Relevanz zu
und konnten keine persönlichen Bezüge darin ausmachen. Aber auch strukturelle Pro
bleme spielten eine Rolle bei der Partizipation: Die Mitarbeitenden im ASD standen unter
einer hohen Arbeitsbelastung, häufig wurden Teilnahmen verhindert, weil aktuellen
Kinderschutzfällen Vorrang gegeben werden musste. Auch lange Anfahrtswege dürften
in einem Flächenland wie Märkisch-Oderland eine Erschwernis dargestellt haben. Trotz
allem ließen sich durch die Fortbildungen engagierte Mitarbeitende in ausreichender
Zahl gewinnen, die die Verantwortung für die weitere Gestaltung des Öffnungsprozesses
übernahmen.
Diversity in den Einarbeitungsplänen: Ein
geteiltes Verständnis entwickeln und verankern
Im Anschluss an die Fortbildungen wurden drei Arbeitstreffen angesetzt, die sich den
Einarbeitungsplänen für neue Mitarbeitende widmen sollten. Die Treffen waren darauf ausgelegt, die Ergebnisse der Fortbildungen zusammenzufassen und strukturell zu
verankern; Ziel war es, sich auf eine gemeinsame Haltung zu Diversity zu verständigen
und diese zu verschriftlichen, um sie zukünftig neuen Mitarbeitenden als Bestandteil
der Willkommenskultur mitgeben zu können. Da die Teilnahme an der Arbeitsgruppe
freiwillig war, kamen darin Personen zusammen, die motiviert waren, in dem Bereich
Veränderungen anzustoßen.
Zum ersten Treffen kamen elf Teamleitungen. Nicht alle hatten an den Fortbildungen teilgenommen; die ausgedruckten ausführlichen Foto-Dokumentationen bildeten
jedoch eine gute Arbeitsgrundlage für den Austausch in Kleingruppen. Die Arbeitsgruppe
trug zunächst die Punkte zusammen, die sie für die Implementierung von Diversity im
Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) als relevant erachtete. Danach tauschten sich die Teilnehmenden darüber aus, welche Aspekte in den Einarbeitungsplänen festgehalten
werden sollten, und erarbeiteten einen Diversity-Baustein, der die darin enthaltenen
Themen ergänzen sollte.
Die Arbeitsgruppe bot auch Raum für methodische Überlegungen dazu, welche Rolle
Diversity während der sechsmonatigen Einarbeitungszeit spielen sollte und wie das
Thema verankert werden konnte. Ein Ansatzpunkt waren die etablierten regelmäßigen
„Stammtische“; sie boten Neuen die Möglichkeit, sich während ihrer Einarbeitung mit
erfahrenen Mitarbeitenden über festgelegte Themen auszutauschen und Fragen zu stellen. Einig war sich die Arbeitsgruppe darin, Diversity als Querschnittsthema in die verschiedenen, bereits bestehenden Stammtischformate zu integrieren. Da neue Mitarbeitende jeweils von einer Teamleitung und einem*einer Pat*in begleitet wurden, wurde
als entscheidend ausgemacht, dass diese gut informiert und der Thematik gegenüber
aufgeschlossen sind. Eine geplante Abschlussveranstaltung mit dem gesamten ASD wurde als diesbezügliche Chance gesehen sowie generell als Möglichkeit, weitere Befürworter*innen zu gewinnen. Denn schließlich waren auch aus dem Kreis der Arbeitsgruppe
einige zunächst skeptisch zu den Treffen gegangen – und hatten sie am Ende mit dem
Gefühl verlassen, an einem wichtigen Thema dran zu sein und positive Veränderung
mit auf den Weg zu bringen. Aufgrund der im Zuge der Corona-Pandemie verhängten
Maßnahmen, konnten nicht mehr alle Veranstaltungen und Treffen während der Projektlaufzeit stattfinden.
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2 Führungsverantwortung
2 Führungsverantwortung
Jugendamt Pankow
Diversity als Führungsthema
„Ich denke, die Herausforderung wird sein, das nicht als eine zusätzliche
Arbeit zu sehen, neben dem, was wir ohnehin zu tun haben – sondern
es als Selbstverständnis zu betrachten: dass Diversity ein selbstverständliches Thema ist und nicht noch etwas obendrauf. Ich glaube, das ist
wirklich noch ein längerer Weg.“
Anja Krause, Jugendamtsdirektorin
Der Öffnungsprozess im Jugendamt Pankow hatte seinen Ausgangspunkt bei seiner
Leiterin. Diese ging 2018 die Projektkooperation ein und integrierte Diversity – in Anbetracht der drängenden Personallage – in die Personalstrategie des Jugendamtes (siehe
Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow). Eines ihrer Anliegen war, Diversity als
Thema im Jugendamt präsent zu machen und eine kontinuierliche Auseinandersetzung
damit anzustoßen. Die Mitarbeitenden sollten wissen, dass Vielfaltsorientierung grundsätzlich gewünscht ist. In einem internen Newsletter informierte sie die Mitarbeitenden
über den initiierten Öffnungsprozess. In der Leitungsrunde berichtete sie über laufende
Aktivitäten. Sie selbst war in der Steuerrunde und in einer der Arbeitsgruppen aktiv,
womit sie ihr eigenes Commitment bekräftigte.
Mit der Planung und Steuerung des Prozesses diversitätsorientierter Interkultureller
Öffnung im Jugendamt Pankow war eine dreiköpfige Steuerrunde betraut; sie bestand
aus der Jugendamtsleiterin, der Leiterin Interne Dienste und dem Leiter des Fachdienstes
Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung. Gemeinsam mit den beiden Prozessbegleiterinnen besprach die Steuerrunde zu Projektbeginn, welche Schritte angegangen
werden sollten, und entwickelte einen Fahrplan für das Vorgehen. Vorbereitend hatte die
Jugendamtsleiterin hierfür Schwerpunktbereiche, Zielsetzungen und konkrete Vorhaben
skizziert. Im weiteren Verlauf fanden die Treffen der Steuerrunde mit den Prozessbegleiterinnen im zweimonatlichen Turnus statt; hier wurden die anstehenden Schritte
kontinuierlich gemeinsam geplant und ausgewertet.
Beim Öffnungsprozess des Jugendamtes Pankow handelte es sich um einen klaren
Top-down-Prozess: Die Jugendamtsleitung gab den Rahmen des Prozesses vor und war
auch an der inhaltlichen Ausgestaltung maßgeblich beteiligt.
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2 Führungsverantwortung
„Diversitätsorientierung ist kein Thema, bei dem ich als Mitarbeiter entscheiden kann, will ich das oder nicht – sondern ich habe als Leitung
gesagt, wir wollen das. Ich glaube, es braucht diese klare Entscheidung von
oben. Jetzt ist es wichtig, dass die Führungskräfte sich damit auseinandersetzen; durch die weitere Auseinandersetzung wird sich dann das eine
oder andere setzen.“
Anja Krause, Jugendamtsdirektorin
Führungskräfte einbinden
In der Steuerrunde wurde als erstes Ziel vereinbart, die Führungskräfte einzubinden und
nach Möglichkeit für das Thema zu gewinnen, um damit die für die Umsetzung notwendige Unterstützung von oben zu mobilisieren.
Aus Sicht der Prozessbegleitung war diese frühe Einbindung der Führungskräfte sehr
wichtig. Von Nachteil für die inhaltliche Auseinandersetzung in den drei aufeinander
aufbauenden Fortbildungseinheiten (siehe Kapitel Diversity-Sensibilisierung, Jugendamt
Pankow) erwies sich allerdings, dass aufgrund von Krankheitsfällen und Urlaubszeiten
keine Kontinuität der Teilnahme erreicht werden konnte. In die selbstreflexiven Prozesse
konnte daher nicht so tief eingestiegen werden wie vorgesehen. Für viele der Anwesenden, so der Eindruck der Prozessbegleiterinnen, waren die Problemlagen zunächst
nicht ersichtlich. Es herrschte die Ansicht, dass sich ohnehin alle bemühten, den Hilfesuchenden neutral und nicht-diskriminierend entgegenzutreten. Aus Sicht der Steuerrunde
fielen die Widerstände gleichwohl geringer aus als erwartet. Auch wenn vielfach Skepsis
geäußert worden sei, seien die teilnehmenden Führungskräfte doch bereit gewesen, sich
auf Diskussions- und Selbsterfahrungsprozesse einzulassen und in den Fortbildungen
mitzuarbeiten.
Ein Mitglied der Steuerrunde hielt rückblickend fest: Zwar seien nach einem Jahr
wie zu erwarten noch keine großen Veränderungen festzustellen, es sei aber doch spürbar Bewegung in die Leitungsrunde gekommen. Nach wie vor werde Diversität häufig
mit Interkulturalität gleichgesetzt, aber ein Verständnis dafür, dass auch andere Vielfaltsdimensionen mitgedacht werden müssen, sei nun prinzipiell da. Durch die breite
Perspektive, die Diversity biete, falle es Einzelnen leichter, sich in andere Erfahrungen
und Sichtweisen hineinzuversetzen. Vor allem sei nun die Akzeptanz für weitere Maßnahmen des Öffnungsprozesses größer. Vor den Fortbildungen hätten viele Führungskräfte Diversity-Kompetenzen wenig Relevanz beigemessen für ihre tägliche Arbeit. Als
zu einem späteren Zeitpunkt in der Leitungsrunde darüber informiert worden sei, dass
Diversity-Kompetenzen künftig mit höchster Gewichtung in den Anforderungsprofilen
enthalten sein sollen (siehe Kapitel Bedarfsorientierung, Jugendamt Pankow), habe dies
bei den Führungskräften hingegen weitgehend Akzeptanz gefunden. Insgesamt, so
das Mitglied der Steuerrunde, sei es bei vielen Themen nun leichter, ein gemeinsames
Verständnis zu finden.
Luft nach oben: Die Bezirks- und Landesebene
Die diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung innerhalb des Jugendamtes Pankow war
als Top-down-Prozess konzipiert. Wird die gesamte Verwaltung in den Blick genommen,
ist das Jugendamt eines von vielen Fachämtern im Bezirk. Aus Sicht der Steuerrunde
gingen die Änderungen damit von relativ weit unten aus.
24
2 Führungsverantwortung
Der Bezirk Pankow ist Unterzeichner der „Charta der Vielfalt“ und hat für sich den Slogan
„Pankow – ein Ort der Vielfalt“ gewählt. Auf Initiative des amtierenden Bürgermeisters
gründete sich kürzlich innerhalb des Bezirksamtes die Arbeitsgruppe Diskriminierungs
freier Arbeitgeber. Die politischen Weichen sind also in Richtung Öffnung gestellt, und
erste Schritte wurden bereits unternommen. Dennoch hatte neben dem Jugendamt bislang nur die Stadtbibliothek einen Öffnungsprozess eingeleitet.
Die Mitglieder der Steuerrunde beschrieben die Veränderungsmöglichkeiten auf
Amtsebene als relativ begrenzt; Ausführungsvorschriften würden beispielsweise durch
das Land Berlin festgelegt. Nachhaltige strukturelle Veränderungen müssten daher
optimalerweise auf diesen Ebenen geregelt werden, auch um in der Breite zu wirken
und nicht auf das Engagement einzelner Ämter beschränkt zu bleiben:
„Eigentlich gehört das Thema Diversitätsorientierung ganz nach oben. Ich
glaube, je höher der Prozess angegangen wird, desto nachhaltiger kann er
wirken. Ein Fachamt kann bestimmte Dinge für sich regeln. Es stößt aber,
wenn es um Veränderungen von Strukturen oder bestimmten Abläufen
geht, auch schnell an seine Grenzen, weil die auf einer anderen Ebene
festgelegt wurden. Wenn es darum geht, Strukturen zu schaffen, bestimmte Vorgaben zu ändern, sind das Bezirksamt und der Senat Institutionen,
die viel verbindlicher und für mehr Bereiche Sachen vorgeben, festlegen
und entwickeln können. Je mehr von dort vorgegeben wird oder in der
Gesamtheit gemeinsam entwickelt wird, desto mehr geht es auch in die
Breite. Im Gesamterleben einer Familie hilft es wenig, wenn sie in einem
Bezirk auf ein diversitätsorientiertes Jugendamt trifft und im nächsten
Bezirk auf eins, welches sich noch gar nicht damit beschäftigt hat.“
Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung
Bereits sehr kleinteilige Entscheidungen können jenseits der Befugnisse der Fachämter
liegen, wie folgendes Beispiel verdeutlicht. Im Zuge der diversitätssensiblen Überarbeitung
des Internetauftritts hatte die Arbeitsgruppe Außendarstellung (siehe Kapitel Beteiligungs
orientierung, Jugendamt Pankow) die Empfehlung erhalten, vielfältigeres und persönlicheres Bildmaterial zu verwenden. Diese wirkungsvolle Maßnahme schien auf den ersten Blick relativ leicht umsetzbar und entsprach auch den Wünschen der zuständigen
Arbeitsgruppe. Jedoch war klar, dass sie kurzfristig nicht umfassend verwirklicht werden
könnte. Alle Berliner Ämter müssen ihr Bildmaterial aus einem Pool an Fotos auswählen,
an denen der Senat die Rechte erworben hat. Um für Diversity-Themen besser geeignetes Bildmaterial zu haben, müsste also zunächst der bisherige Bestand erweitert werden.
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Engagierte Führung und Mut zur Beteiligung
Als das Projekt im Sommer 2018 startete, war der amtierende Jugendamtsleiter von
Charlottenburg-Wilmersdorf seit einem halben Jahr im Amt. Vorangegangen war eine
längere Vakanz der Stelle, nachdem seine Vorgängerin in Ruhestand gegangen war. Unter
ihrer Leitung war bereits im Vorläuferprojekt „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle
Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V. eine Steuerrunde zur Interkulturellen Öffnung etabliert worden. Seitdem kam
eine Gruppe von circa sechs Fach- und Führungspersonen alle zwei Monate zusammen,
25
2 Führungsverantwortung
um gemeinsam Ziele zu entwickeln und Schritte zu planen. Mit dem neuen Projekt nahm
ihre Arbeit an Fahrt auf, was nicht zuletzt daran lag, dass der neue Jugendamtsleiter sich
schnell als aktives Mitglied der Steuerrunde einbrachte.
„Ich bin in der Steuerungsgruppe aktiv mit drin. Wir bemühen uns darum,
dass wir in dieser Steuerungsrunde wirklich auf Augenhöhe diskutieren.
Aus meiner Rolle heraus trage ich natürlich die Verantwortung dafür, dass
die Prozesse laufen, und ich bestimme auch den Rahmen. An dieser Stelle
wollen wir das aber alle gemeinschaftlich. Ich denke, wir haben auch einen
sehr großen Konsens darin, dass der Prozess in die richtige Richtung geht.“
Dr. Manfred Thuns, Jugendamtsdirektor
Mit ihrem Anliegen, ihn für den Öffnungsprozess einzunehmen und mit ins Boot zu
holen, rannte die Steuerrunde bei dem neuen Leiter offene Türen ein. Diversitätsorientierung war für ihn als Thema gesetzt und eine Frage der Grundhaltung für eine zeitgemäße Verwaltung; der Öffnungsprozess war nicht nur willkommen, sondern bereits
initiiert, mit bereits vorhandenen Koordinationsstrukturen. In der Vorbereitung der neuen
Projektlaufzeit verständigte sich die Steuerrunde mit den neuen Prozessbegleiter*innen
darauf, noch stärker in Richtung Diversity Management zu lenken. Außerdem war allen
an der Planung Beteiligten daran gelegen, den Prozess als Organisationsentwicklungsprozess anzugehen und dabei auf eine breite Mitarbeitendenbeteiligung zu setzen.
Für die beiden Prozessbegleiter*innen waren dies optimale Rahmenbedingungen,
um in einen tief greifenden Prozess einzusteigen. Ein ganz wichtiges Kriterium der
Diversitätsorientierung ist nämlich Partizipation: Maßnahmen werden nur dann ihre
Wirksamkeit entfalten, wenn sich die Mitarbeitenden darin wiederfinden. Insofern war
mit einer Leitung, die großen Wert auf Beteiligung legte, dies lebte und den Mitarbeitenden
vermittelte, eine wichtige Voraussetzung erfüllt.
„Wir befinden uns im Zeitalter der Vernetzung und der Kooperation und
ich finde, Partizipation gehört zu einem zeitgemäßen Führungsstil.
Dieser Prozess wird nicht im stillen Kämmerchen mit einer kleinen Gruppe
von Fachleuten und Experten geplant, sondern wir holen die Expertise
von Mitarbeiter*innen ein, die tagtäglich mit diesem Thema beschäftigt
sind und die ein hohes Interesse daran haben, an diesem Thema mitzuwirken. Es ist also ein Führungsinstrument, und gleichzeitig lassen sich so
Neuentwicklungen auch viel schneller in die Mitarbeiterschaft
transportieren.“
Dr. Manfred Thuns, Jugendamtsdirektor
Auch in der Steuerrunde machte sich dieser neue Führungsstil bemerkbar. Die Prozessbegleiter*innen beobachteten, dass die Mitglieder zunehmend mehr eigene Ideen einbrachten und dass sie von der Leitung ermutigt wurden, diese auch zu verfolgen.
„Durch die Organisationsentwicklung werden für die leitenden Mitarbeitenden viele Anlässe dafür geschaffen, die Erfahrung zu machen, dass
sie auch wirklich gestalten sollen. In den Prozessstrukturen werden sie
dazu ermutigt, selbständig tätig zu werden, ihre Ideen einzubringen
und zu verfolgen – darin wird die neue Führungskultur im Amt sichtbar.“
Martin Gerlach, Prozessbegleiter
26
2 Führungsverantwortung
Mechanismen für eine kontinuierliche
Auseinandersetzung einbauen
Die Steuerrunde wurde sukzessive auf annähernd zehn Personen erweitert; neben
Führungskräften waren nun auch thematisch engagierte Mitarbeitende verschiedener Bereiche und Hierarchieebenen an der Prozesssteuerung beteiligt. Parallel zum
Prozess innerhalb des Jugendamts hatte das Bildungsteam Berlin-Brandenburg eine
Qualifizierungsreihe für Ankerpersonen aller beteiligten Jugendämter angeboten. Aus
Charlottenburg-Wilmersdorf hatten einige Mitglieder der Steuerrunde, aber auch andere
interessierte Mitarbeitende daran teilgenommen. Zum Ende der Qualifizierungsreihe
waren diese Personen dazu eingeladen, der Steuerrunde beizutreten und ihr in der Fortbildungsreihe erworbenes Prozesswissen und ihre Diversity-Kenntnisse einzubringen.
In Anbetracht des drängenden Tagesgeschäfts war es eine Frage der Disziplin und
Priorisierung, sich immer wieder ausreichend Zeit für die regelmäßigen Treffen zu nehmen. Neben der unmittelbaren Planung weiterer Schritte, die es zu besprechen galt, wurden diese Runden für eine gewünschte vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung genutzt.
Häufig wurde die angesetzte Sitzungszeit überschritten, weil so viel Gesprächsbedarf
bestand. Für den Jugendamtsleiter war dies ein Zeichen der Bereitschaft der Mitarbeitenden, sich einzulassen auf den Öffnungsprozess und damit verbundene Fragen. Für
die Motivation der Beteiligten war es wiederum ganz zentral, das Gefühl zu haben, dass
sie wirklich etwas bewegen konnten und dass die Leitung dahinterstand. Den Wunsch
nach Veränderung und das Interesse, daran mitzuwirken, belegt beispielhaft das Zitat
einer Mitarbeiterin, die zu diesem Zeitpunkt seit Kurzem Mitglied der Steuerrunde war:
„Als Institution gibt es viele Bereiche, in denen man diskriminieren kann,
ich würde mir wünschen, da gemeinsam hinzuschauen. Wenn das halbherzig läuft, dann wird uns das nicht weiterbringen. Aber wenn die Motivation
da ist, diesen Schwung, den es jetzt gibt, mitzunehmen und darauf aufzubauen, wäre es schön. Viel zu tun gäbe es. Es bräuchte eine ehrliche Innenschau: Wo stehen wir, wo können wir etwas verändern, wo nicht und
woran liegt das dann? Wie können wir uns sensibilisieren, sei es uns als
Steuerrunde, sei es die Mitarbeiter? Wie können wir bestimmte Vorgänge
diskriminierungssensibler gestalten?“
Selver Temur-Erman, Mitarbeiterin Erziehungs- und Familienberatung
Während der Projektlaufzeit begleiteten die beiden Prozessbegleiter*innen die Treffen
der Steuerrunde. Für die strukturelle Verankerung der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung und eine nachhaltige Implementierung bedarf es jedoch dauerhaft
einer internen Person, die Verantwortlichkeiten nachhalten, Arbeitspakete terminieren
und Treffen organisieren kann, so die Überzeugung der Prozessbegleiter*innen. Der
Koordinator der Arbeit mit Geflüchteten im Jugendamt war früh Mitglied der Steuerrunde geworden, er hatte die Kooperation mit dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg
koordiniert und eng mit den Prozessbegleiter*innen zusammengearbeitet. Inzwischen
war er im Amt als Ansprechperson für Diversity bekannt. Perspektivisch könnte er eine
solche Rolle einnehmen. Angedacht wurde etwa, ihn als offiziellen Diversity-Beauftragten
zu benennen – wobei noch zu klären war, ob dafür zeitliche Ressourcen zur Verfügung
gestellt werden können und welche Zuständigkeiten eine solche Stelle umfassen sollte.
Unabhängig von der formalen Ausgestaltung braucht es für die Weiterführung des
Prozesses eine Stelle, die die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Diversity-Themen
sicherstellen und immer wieder auf die Tagesordnung bringen kann. Aus Sicht der
27
3 Bedarfsorientierung
Prozessbegleiter*innen sollte diese Person oder diese Gruppe ein Mandat haben, die
eigenen Strukturen, das eigene Handeln als Amt immer wieder kritisch zu hinterfragen;
sie sollte außerdem stetig evaluieren, wie es um die Öffnung des Amtes bestellt ist. Dazu
müsste sie Raum und Zeit für Reflexion und Austausch schaffen, jenseits des drängenden Tagesgeschäfts. Optimalerweise sollten in regelmäßigen Abständen neue Themen
bearbeitet und aus einer Diversity-Perspektive hinterfragt werden.
„Das System muss sich immer wieder selbst fragen: Wo stehen wir, stellen
wir uns die richtigen Fragen, haben wir die richtige Zielgruppe, wie treffen
wir neue Entscheidungen, sind in neuen Planungen alle Perspektiven
berücksichtigt? – Dafür müssen Mechanismen eingebaut werden.“
Martin Gerlach, Prozessbegleiter
3 Bedarfsorientierung
Jugendamt Pankow
Diversitätsorientierung in der Personalstrategie:
Der Generationenwechsel steht an
In den kommenden drei bis sechs Jahren steht im Jugendamt Pankow ein umfassender
Generationenwechsel an, wenn ein Großteil der Belegschaft und fast alle Führungspersonen in den Ruhestand gehen. Aufgrund der schwierigen Haushaltssituation der vorangegangenen Jahre sind mittlere Jahrgänge im Amt kaum vertreten, erst seit Kurzem
können neue Mitarbeitende eingestellt werden. Im Jugendamt Pankow, dem Berliner
Bezirk mit den meisten Kindern und Jugendlichen, sind die Probleme besonders drängend. Bei der Bewerber*innenlage zeichnet sich inzwischen ab, dass Jugendämter sich
generell verstärkt anstrengen müssen, um an das Personal zu kommen, das sie sich
wünschen, sowohl was die Anzahl als auch was die Qualifizierung angeht – und in Hinblick auf die Vielfaltsmerkmale der Mitarbeitenden.
Menschen mit Migrationsgeschichte sind kaum unter den Bewerber*innen und
Mitarbeitenden zu finden – selbst dann nicht, wenn die Migrationserfahrung drei
Generationen zurückliegt. Dies aktiv zu ändern, ist nicht nur eine Chance, um den Pool
28
3 Bedarfsorientierung
potenzieller Bewerber*innen zu vergrößern – was in Anbetracht einer positiven Lage
auf dem Arbeitsmarkt, in der es ohnehin mehr Arbeitsplätze als Bewerber*innen gibt,
bereits aus wirtschaftlichen Gründen geboten ist. Im Wesentlichen ist es aber eine Frage
der Repräsentanz der (post-)migrantischen Bevölkerung in der öffentlichen Verwaltung,
wie sie u. a. im Partizipations- und Integrationsgesetz des Landes Berlin (PartIntG) gesetzlich eingefordert und auch im Jugendamt Pankow gewünscht wird.
„Mir ist es wichtig, dass Verwaltung letztendlich ein Spiegel der Gesellschaft
ist: So wie die Gesellschaft aussieht, müsste auch die Verwaltung aussehen. Und da hat die Berliner Verwaltung im Allgemeinen und Pankow im
Besonderen noch Nachholbedarf. Es gibt sehr wenige Kolleg*innen, die
die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. – Und wenn das die Verwaltung
ist, dann erreicht man damit natürlich im Bezirk auch recht wenig Menschen, die außerhalb dieser weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft sind.
Mir ist es ein Anliegen, daran mitzuwirken, dass sich das ändert, und ich
sehe den Prozess als eine Möglichkeit, hier Denkprozesse anzustoßen.“
Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung
Für die Jugendamtsleiterin hatte das Thema Personal oberste Priorität. Daher entschied
sie, darauf auch im Prozess der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung den
Schwerpunkt zu legen:
„Wir wollen mehr Vielfalt in das Jugendamt bringen, auch in die Mitarbeiterschaft, und entsprechend haben wir uns überlegt, welchen Schwerpunkt wir im Projekt setzen wollen. Unser Fokus liegt im Bereich Personal,
auf der Personalentwicklung und der Personalgewinnung.“
Anja Krause, Jugendamtsdirektorin
Als Zielsetzungen benannte die Leitung zu Beginn: Die Mitarbeitendenschaft solle die
Gesellschaft widerspiegeln hinsichtlich Alter, Herkunft und anderer Vielfaltsdimensionen;
es gelte mehr jüngeres und geeignetes Personal zu finden, das Diversity-Kompetenzen
mitbringe; die Notwendigkeit für Veränderungen solle von den Mitarbeitenden mitgetragen werden. Damit war der Öffnungsprozess eingebettet in eine umfassende Personalstrategie, die in der Herausforderung des Generationenwechsels auch die Chance auf mehr
Vielfalt erkannte. Für die externen Prozessbegleiterinnen ergab sich daraus der klare
Auftrag, im Bereich Personalentwicklung, -gewinnung und -pflege tätig zu werden. Mit
dem Fokus auf Personalfragen, den die oberste Leitungsebene gesetzt hatte, konnten
genau die Schlüsselthemen angegangen werden, die aus Sicht der Prozessbegleiterinnen
für einen Kulturwandel innerhalb der Organisation zentral waren.
„Ich glaube, dass ein Top-down-Prozess gut geeignet ist, um wirklich
nachhaltig etwas zu verändern. In meinen Augen wurden dann genau die
wichtigsten Dinge in Angriff genommen: das Thema Personal und der
Außenauftritt. Damit gelingt es dem Jugendamt hoffentlich, sich langfristig
als Arbeitgeber gut aufzustellen, einen turnaround in der Organisationskultur herbeizuführen, so dass die Arbeit im Jugendamt für mehr Absolvent*innen attraktiv wird, auch für Zielgruppen, die bisher kaum erreicht
werden, wie z. B. junge Menschen mit Migrationsgeschichte.“
Tanja Michalczyk, Prozessbegleiterin
29
3 Bedarfsorientierung
Dieser notwendige turnaround in Sachen Amtskultur und Personal würde jedoch kein
Selbstläufer sein: Ohne entsprechende Maßnahmen entsteht leicht eine Dynamik, in
der die Jüngeren von den Älteren in das bestehende System „einsozialisiert“ werden und
dadurch die bestehende Amtskultur weitergegeben wird; die Gefahr ist dann groß, dass
zum Beispiel dringend benötigte „innovative Köpfe“ das Amt nach einigen Jahren wieder
verlassen. Die Notwendigkeit, diesen Veränderungsprozess bewusst zu gestalten, wurde
auch im Jugendamt so gesehen:
„Ich habe große Hoffnung, dass ein Wechsel im Denken auch mit dem
Generationswechsel stattfindet, aber das ist definitiv kein Automatismus.
Die Strukturen, die wir im Zuge dieses Prozesses diversitätsorientierter
Öffnung schaffen, sind dafür eine Grundlage – damit man eine Unternehmenskultur entwickeln kann, in der auch neue Leitungskräfte auf den
unterschiedlichen Leitungsebenen sofort spüren: Ich stoße hier auf einen
Nährboden, wo ich mit meinen Themen gut anknüpfen kann. Andere, die
sich erst dorthin entwickeln, sagen vielleicht: Spannend, habe ich noch gar
nicht drüber nachgedacht, aber es fällt mir leicht, mich dahingehend zu
öffnen. Ich glaube, das ist es, was wir hier erreichen können.“
Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung
Diese Aussage stammt von einem wichtigen Befürworter des Öffnungsprozesses im Jugendamt, einem Mitglied der Steuerrunde, auf dessen Betreiben die Projektkooperation mit
dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. maßgeblich zustande gekommen war. Er
selbst war erst kurz vor Beginn des Öffnungsprozesses als sehr junge Führungsperson in
die erste Leitungsebene aufgestiegen, inzwischen war er stellvertretender Jugendamtsleiter. Für die Prozessbegleiterinnen war diese altersbezogen ungewöhnliche Personalentscheidung eine zentrale Weichenstellung in Hinblick auf den angestrebten Kulturwandel: Jüngere Leute nach vorn zu holen, die Diversity-Kompetenzen mitbringen und/oder
selbst von Marginalisierung betroffen sind, das kann ihrer Erfahrung nach viel verändern.
Diversity in den Anforderungsprofilen:
Änderungen strukturell verankern
Auf welchem Weg die dringend notwendigen Veränderungen im Bereich Personal angegangen werden können, skizziert eine Prozessbegleiterin wie folgt:
„Die Kultur des Amtes muss sich verändern, damit sie überhaupt das
Personal bekommen, das sie suchen. Kurzfristig kann über veränderte
Stellenausschreibungen auf eine schnelle Veränderung in der Zusammensetzung des Personals hingewirkt werden. Es müssen Leute ins System
geholt werden, die bestimmte Kompetenzen schon mitbringen. Und mittelund langfristig braucht es eine Nachschulung von Stammpersonal.“
Renate Pulz, Prozessbegleiterin
30
Innerhalb der öffentlichen Verwaltung bilden Anforderungsprofile (APs) die Grundlage
für die Einstellung neuen Personals, ebenso für die kontinuierliche Beurteilung bereits
beschäftigter Mitarbeitender. Damit sind sie ein zentrales Instrument, um Vielfaltsorientierung strukturell zu verankern. In der dritten und letzten Fortbildung für Führungskräfte
(siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Pankow) wurde entschieden, eine
Arbeitsgruppe zu gründen, die die Anforderungsprofile des Jugendamtes in Hinblick auf
Diversity-Kompetenzen ergänzen oder verändern sollte.
3 Bedarfsorientierung
„Wir haben das Thema Personalentwicklung und -gewinnung gewählt und
geguckt, wie unsere Anforderungsprofile diesbezüglich aufgestellt sind,
wie unsere Ausschreibungen ablaufen, wie unsere Kriterien bei der Auswahl lauten. Sind wir da überhaupt so offen? Oder sind wir vielleicht so
eingeengt, dass wir manche Menschen gar nicht erreichen? Das wollen wir
verändern, damit wir die Menschen erreichen.“
Anja Krause, Jugendamtsdirektorin
Kurz zuvor hatte der Berliner Senat einen Musterkatalog herausgegeben, der als Vorlage dienen sollte, um in allen Berliner Verwaltungen interkulturelle und Diversity-
Kompetenzen verpflichtend in den Anforderungsprofilen zu verankern. Das amtsinterne
Vorhaben wurde damit von einer Vorgabe des Senats flankiert, was die Umsetzung
erheblich erleichterte.
Die neuen Anforderungsprofile sollten für alle Fachbereiche gleichermaßen gelten.
Daher wurde eine bereichs- und hierarchieübergreifende Arbeitsgruppe zusammen
gestellt, die Beteiligung daran war freiwillig. Die Leiterin Interne Dienste, als Mitglied der
Steuerrunde auch an der Prozesskoordination beteiligt, leitete die Arbeitsgruppe. Neben
der Jugendamtsleiterin und zwei Führungspersonen waren motivierte Mitarbeitende beteiligt. Die Prozessbegleiterinnen führten mit einem Input in die Theorieveränderung von
Interkultureller Öffnung zu Diversity und reflexiven Ansätzen in der Migrationspädagogik
ein, um eine Diskussionsgrundlage zu schaffen. Bei den ersten beiden Treffen wurden
die Senatsvorgaben kritisch diskutiert, außerdem wurde eine gemeinsame Definition von
Diversity- und interkulturellen Kompetenzen entwickelt und in Textbausteinen festgeschrieben, die für das ganze Jugendamt Gültigkeit haben sollte. Mit Unterstützung durch
die Jugendamtsleiterin beschloss die Arbeitsgruppe, beiden Kompetenzen künftig die
höchste Gewichtung zu geben; das heißt, sie gelten als „unabdingbar“ und müssen von
den Bewerber*innen bereits mitgebracht werden. Für Stellenausschreibungen wurde
eine verbindliche Schreibweise für eine gendersensible Sprache beschlossen. Zusammenfassend hält ein Mitglied der Steuerrunde fest:
„Die AG Personal hatte nach drei Treffen in nicht einmal drei Monaten das
Arbeitsergebnis vorliegen – das ist für eine Verwaltung schon sehr schnell.
Im Rahmen dessen, was uns an Vorgaben gemacht wird, haben wir tatsächlich in sehr kurzer Zeit eine gute Variante gefunden, Diversität einen hohen
Stellenwert zu geben: also Diversity-Kompetenzen überhaupt als Anforderung aufzunehmen und dem Thema im Verhältnis zu anderen fachlichen
Schwerpunktthemen wirklich eine sehr hohe Gewichtung zu geben.“
Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung
Beim dritten Treffen wurden Bewerbungsfragen, Rollenspielvariationen sowie Erwartungshaltungen zusammengetragen, mit denen die interkulturellen und Diversity-
Kompetenzen in Bewerbungsgesprächen erfasst werden konnten. Dabei zeigte sich,
dass sich die Anforderungen je nach Fachbereich unterscheiden; außerdem wurde festgestellt, dass der Gestaltungsspielraum aufgrund der Vorgaben des Bezirksamtes zu Zeit
und formalem Ablauf von Bewerbungsgesprächen recht begrenzt ist.
Als das Arbeitsergebnis vorlag, wurde ein Fahrplan zur weiteren Operationalisierung
entwickelt. In anstehenden Bewerbungsgesprächen sollten die einzelnen Fachbereiche
ihre Erfahrungen mit den neuen Anforderungsprofilen dokumentieren, die nun verpflichtend zum Einsatz kamen. Den Fachbereichen blieb es freigestellt, ob sie Rollenspiele
um verschiedene Vielfaltsdimensionen ergänzten oder das diesbezügliche Wissen im
Gespräch abfragten.
31
3 Bedarfsorientierung
Zur weiteren Konzeptionierung boten die Prozessbegleiterinnen eine individuelle Bera
tung an. Dabei ging es vor allem um spezifische Erwartungshaltungen, also darum, welche
Interaktionen oder Antworten der Bewerber*innen erwünscht seien. Ein gemeinsamer
Auswertungstermin sollte dann dazu dienen, die gemachten Erfahrungen zusammenzutragen und zwischen den Fachbereichen Ideen auszutauschen, was sich in der Praxis
bewährt hatte und was nicht.
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Mehrwerte und Bedarfe analysieren
Der Öffnungsprozess im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf war 2015 im Rahmen
des Projektes „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und
Brandenburg“ initiiert worden. Als 2018 die Kooperation in einem Folgeprojekt verlängert
wurde, waren sowohl der Jugendamtsleiter als auch die beiden Prozessbegleiter*innen
neu. Es galt, einen Einstieg in die gemeinsame Arbeit zu finden. Zu Beginn stand ein
intensiver Kommunikationsprozess zwischen Prozessbegleitung, Jugendamtsleiter und
Steuerrunde (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf). Weshalb sollte das Jugendamt diesen Prozess anstrengen? In welchen Bereichen
sollte Diversitätsorientierung implementiert werden? Welche Vorteile könnten das Amt
insgesamt und verschiedene beteiligte Akteur*innen davon haben? Verschiedene Perspektiven aus der Belegschaft wurden einbezogen, immer unter der zentralen Fragestellung, welchen möglichen Mehrwert die Akteur*innen in dem Öffnungsprozess sehen
könnten.
„Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man sich am Anfang selbst als Kommunikationsinstrument begreift und erst einmal ausfindig macht, wo
der potenzielle Mehrwert für die einzelnen Stakeholder liegt und wie ich
diesen Mehrwert kommuniziert kriege. Bevor nicht alle ein Eigeninteresse
daran entwickelt haben, können diese Prozesse nicht laufen. Nur wenn
dieser Mehrwert da ist, gibt es auch eine Chance auf nachhaltige Umsetzung.
Das ist so in der Organisationsentwicklung. Wenn da nicht alle Seiten ihr
Interesse erkennen, dann wird es keine nachhaltigen Veränderungen
geben.“
Martin Gerlach, Prozessbegleiter
Durch das Vorläuferprojekt gab es bereits Erfahrungswerte im Bereich Diversity-
Sensibilisierung. Die Rückmeldungen zu den Fortbildungen wurden analysiert, ebenso
die Leitungsklausuren und Planungsgespräche, die damals stattgefunden hatten. Die
Auswertung fand in Diskussionen innerhalb der Steuerrunde statt. Ergänzend evaluierten
die Prozessbegleiter*innen aus Dokumenten, die ihnen vorlagen, welche Themen im Amt
zentral schienen; die identifizierten Entwicklungsbedarfe unterbreiteten sie der Steuerrunde. Gemeinsam mit den Prozessbegleiter*innen eruierte die Steuerrunde, welche
Schwerpunkte sie setzen wollte. Richtungsweisend waren dabei folgende Fragen: Wohin
will sich das Jugendamt insgesamt entwickeln? Welche drängenden Themen oder Veränderungsprozesse stehen ohnehin an? An diesen internen Bedarfen und Zielsetzungen
setzte die Planung an. Die Prozessbegleiter*innen erarbeiteten Vorschläge für eine Gesamtstrategie und einen Fahrplan für das weitere Vorgehen; diese wurden in mehreren Rückkopplungsschleifen mit der Steuerrunde und noch einmal gesondert mit dem
Jugendamtsleiter abgestimmt.
32
3 Bedarfsorientierung
Am Ende stand ein Prozessdesign, in dem sich die beteiligten Akteur*innen mit ihren
Zielen wiederfinden konnten. Vor allem, und das war zentral, hatten sie das Gefühl, dass
Diversitätsorientierung nicht etwa als zusätzliches Thema zu bearbeiten sei, sondern als
Querschnittsthema in anstehende Prozesse integriert werde.
„Ich glaube, ein Schlüssel ist wirklich, das Thema Diversity mit unseren
Themen im Jugendamt zu verknüpfen, also nicht das Gefühl zu vermitteln,
das ist etwas on top – dann stöhnen alle. Jetzt ist der Ansatz, das mit
unseren Themen zu verknüpfen. Dann hat man plötzlich nicht mehr das
Gefühl, das zusätzlich machen zu müssen.“
Michael Süßkind, Koordinator der Arbeit mit Geflüchteten im Jugendamt
Diversity-Schwerpunkte mit Entwicklungszielen
des Amtes verknüpfen
Von zunächst acht Themen kristallisierten sich in der Steuerrunde final drei Schwerpunktbereiche heraus: Personal, Bundesteilhabegesetz und Familienservicebüro. Diese
Schwerpunkte wurden allen Mitarbeitenden bei einem internen Jugendamtstag (siehe
Kapitel Beteiligungsorientierung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) präsentiert.
Dort wurden zudem temporäre Fokusgruppen gegründet und damit beauftragt, konkrete Ziele für die einzelnen Bereiche zu entwickeln.
Unter dem Stichwort Personal wurde insbesondere der Frage nachgegangen, wie
sich das Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf als attraktiver Arbeitgeber aufstellen
kann. Aufgrund des anhaltenden Personalmangels bestand hier, ebenso wie in anderen
Berliner Verwaltungen, großer Handlungsdruck in diesem Bereich. Entsprechend groß
war das Eigeninteresse, hier Veränderungen anzustoßen, neue Wege zu beschreiten und
diversitätsorientierte Lösungen zu finden.
Mit den zwei anderen Schwerpunktbereichen wurden strukturelle Veränderungsprozesse aufgegriffen, deren Umsetzung ohnehin anstand. Im Januar 2020 trat das
neue Bundesteilhabegesetz in Kraft, was das Jugendamt vor einige organisatorische
und gesetzliche Herausforderungen stellte. Für die Ausgestaltung des neu einzurichtenden Teilhabefachdienstes war bereits eine Projektgruppe eingerichtet worden. Diese
Projektgruppe sollte nun durch eine Fokusgruppe unterstützt werden – mit dem Ziel,
Diversitätsorientierung stärker bei ihrer Planung zu berücksichtigen. Anders als andere
Fokusgruppen löste sich diese nach Erfüllung ihres Auftrags nicht wie vorgesehen auf,
sondern ging in der Projektgruppe auf. Die prozessspezifischen Strukturen verbanden
sich in diesem Bereich also mit den regulären Planungsstrukturen, und Diversity blieb
auch im weiteren Planungsprozess als Thema präsent.
Die dritte Fokusgruppe befasste sich mit der Konzeptionierung des neuen Familienservicebüros; einer Einrichtung, die gemäß dem Koalitionsvertrag des Berliner Senats
von 2016 in allen Berliner Bezirken eingerichtet werden sollte. Der Jugendamtsleiter
hatte nach positiver Rückmeldung der Fachsteuerung und der beteiligten Fachdienste
die Gründung eines solchen Beratungszentrums beschlossen, das alle Leistungen rund
um die Familie bündeln sollte. Darin sah er einen guten Ansatz, Familienleistungen zu
stärken. Bei der Planung des Familienservicebüros wurde darauf geachtet, dass dabei
eine diversitätsorientierte Perspektive eingenommen wurde und diejenigen ihre Ideen
einbrachten, die bereits beratend tätig waren.
33
3 Bedarfsorientierung
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin
An gesellschaftliche Entwicklungen anknüpfen
Das Jugendamt Ostprignitz-Ruppin war 2015 dem Projekt „Unterstützung in Vielfalt –
Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in Berlin und Brandenburg“ beigetreten. Initiiert
hatte die Kooperation mit dem Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V. der damalige
Jugendamtsleiter. Er war ein Jahr zuvor neu ins Amt gekommen. Ihm war aufgefallen, dass
der Blickwinkel Diversity in den Entscheidungsvorlagen zur Hilfeplanung bislang fehlte;
darauf wollte er nun einen neuen Fokus legen. Etwa zeitgleich zogen viele geflüchtete
Menschen in den ansonsten einwanderungsarmen Landkreis. Viele der unbegleiteten
minderjährigen Geflüchteten fielen in den Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes, neue
Strukturen mussten aufgebaut und mehr Personal eingestellt werden. Plötzlich bestand
intern eine große Notwendigkeit interkultureller Kompetenzen. Andere Dimensionen
einer umfassenden Diversity-Perspektive traten zunächst in den Hintergrund.
„Meine ursprüngliche Idee wurde ein bisschen weiterentwickelt und vom
Leben überholt. Für mich war das gut, denn ich hatte dann die Ressourcen
durch das Projekt, während bei uns die Probleme auftraten. Wir hatten
neue Leute im ASD [Allgemeinen Sozialen Dienst], wir mussten uns mit
anderen kulturellen Zusammenhängen auseinandersetzen, und dafür
passte das Projekt sehr gut.“
(Andreas Liedtke, Amtsleiter)
Der historische Zeitpunkt war einerseits günstig, da unter den Mitarbeitenden ein großer
Bedarf an interkultureller Qualifizierung bestand, um die eigene Handlungssicherheit zu
erhöhen; hieran konnte gut angeknüpft werden. Andererseits war die Belastung so hoch,
dass wenig Kapazitäten in zusätzliche Prozesse fließen konnten.
Zu Beginn des Folgeprojektes 2018 hatte sich die Ausgangslage konsolidiert. Neue
Bereiche waren geschaffen worden, und die Belastung für die einzelnen Mitarbeitenden war durch einen erhöhten Personalschlüssel zurückgegangen. Auch war die Anzahl
Geflüchteter im Landkreis gesunken. Nun zeigte sich allerdings, dass Diversity in der
Wahrnehmung vieler Mitarbeitender auf die interkulturelle Dimension beschränkt
geblieben war: Die Notwendigkeit eines Öffnungsprozesses erschien der Belegschaft
nicht mehr so groß.
„Wenn man sich die Entwicklung anguckt, damals, 2016, hatten wir 1650
Flüchtlinge bei uns, jetzt haben wir 650. Das heißt, der Problemdruck, den
die Kollegen empfinden, wird weniger. – Und damit wird auch die Akzeptanz für Diversity-Maßnahmen geringer. Im täglichen Umgang haben die
Mitarbeiter weniger mit Menschen mit Migrationshintergrund zu tun, aus
der Logik heraus erübrigt sich der Diversity-Bereich. Dabei bezieht sich
Diversity nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund. Das wird
die Kunst sein: das dahingehend zu verankern.“
Andreas Liedtke, Amtsleiter
Leitbildentwicklung: Wofür wollen wir stehen?
Vonseiten der Leitung bestand nach wie vor der Wunsch, auf Diversitätsorientierung
hinzuwirken und dies mit den allgemeinen Entwicklungslinien des Amtes in Einklang zu
bringen. Bei der Planung des Folgeprojektes ging es nun darum, die Öffnungsprozesse
34
3 Bedarfsorientierung
in einzelnen Bereichen, die bislang weitgehend unabhängig voneinander gelaufen
waren, zusammenzuführen; außerdem galt es, die Ausrichtung des Amtes insgesamt zu
konkretisieren. Angeregt durch die Beauftragte für Qualitätsmanagement im Allgemeinen
Sozialen Dienst (ASD) und den Amtsleiter – gemeinsam mit den Sachgebietsleiter*innen
bildeten sie die Steuerrunde des Öffnungsprozesses –, wurde beschlossen, einen Leitbildprozess anzugehen.
„Ohne große Not verändert sich im Amt leider nur in ganz kleinen Schritten etwas, und wenn man nicht weiß, welches Ziel das Boot ansteuert,
woher soll man dann wissen, an welchen Stellschrauben, Segeln, Rudern
man ansetzen soll? Das war meine Schwierigkeit im Amt als Qualitätsmanagerin. Was will das Amt? Wohin wollen wir uns entwickeln? Das sind
Fragen, die mir der Amtsleiter oder Sachgebietsleiter so einfach nicht
beantworten konnten. Ich wollte ein Leitbild haben, um eine Vision,
einen Handlungsrahmen für eine gute Arbeit im Qualitätsmanagement
zu erhalten: um mich daran auszurichten, meine Arbeit daran zu messen,
abrechenbar zu gestalten und meine Arbeit auf ein großes Ziel
auszurichten.“
Ramona Liessel, Qualitätsmanagerin im Allgemeinen Sozialen Dienst
Das Jugendamt hatte erst kürzlich mit dem Sozialamt fusioniert und wurde nun unter
Leitung des vormaligen Jugendamtsleiters als Amt für Familien und Soziales neu aufgestellt. Der Leitbildprozess sollte daher auch dazu beitragen, diese beiden Amtskulturen
und die Mitarbeitenden zusammenzubringen und eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Deshalb war eine zentrale Zielsetzung, alle Mitarbeitenden an der Entwicklung
des Leitbildes zu beteiligen (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung, Amt für Familien und
Soziales Ostprignitz-Ruppin).
In einem offenen Bottom-up-Prozess formulierten die Mitarbeitenden ihre Bedarfe und
entwickelten gemeinsam Ziele und Maßnahmen zu deren Umsetzung. Diversity floss
dabei als Querschnittsthema ein, indem die beiden Prozessbegleiterinnen als Diversity
Expertinnen immer wieder Impulse dazu einbrachten. Im finalen Leitbild waren dann
die Vorhaben des Amtes für die nächsten fünf Jahre festgeschrieben, einschließlich Entwicklungszielen und zu unternehmender Schritte.
Jugendamt Märkisch-Oderland
Schwerpunktbereich Allgemeiner Sozialer Dienst:
Fortbildungsbedarfe aufgreifen und kanalisieren
Im Vorläuferprojekt „Unterstützung in Vielfalt – Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe in
Berlin und Brandenburg“ hatte es viele Fortbildungen für die Mitarbeitenden des Bereichs
Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) und freier Träger gegeben. Der umA-Bereich
war im Zuge der gestiegenen Geflüchtetenzahlen 2016 neu aufgebaut worden. Die Mitarbeitenden äußerten einen großen Bedarf an Hintergrundwissen über verschiedene
Herkunftsländer. Mit den Ressourcen des Projektes konnten diese Bedarfe aufgegriffen
und gleichzeitig kanalisiert werden. Durch den Einsatz selbstreflexiver Methoden wirkten
die Prozessbegleiterinnen auf ein weniger kulturalisierendes Verständnis hin und vermittelten den Teilnehmenden mehr Handlungssicherheit in interkulturellen Kontexten.
35
3 Bedarfsorientierung
Mit der Fortsetzung der Kooperation 2018 im Rahmen des Projektes „Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe – Qualität sichern, Teilhabe ermöglichen“ entschied die Leitungsrunde des Amtes, den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), einschließlich des Bereichs umA,
als Schwerpunktbereich beizubehalten, um hier auf eine weitere Professionalisierung
hinzuwirken. Bei einem ersten Treffen der Prozessbegleiterinnen mit der Fachbereichsleiterin machte diese deutlich, dass sie eine Ausweitung des Prozesses auf den gesamten
ASD für sinnvoll erachte. Denn: Auch wenn einige Kolleg*innen in ihrem Arbeitsalltag
vermeintlich wenig Kontakt mit Menschen nichtdeutscher Herkunft hätten, seien im
Landkreis schon lange verschiedene migrantische Communitys vertreten. Sie stimmte
mit den Prozessbegleiterinnen überein, dass ein breiter Diversity-Ansatz am besten
geeignet sei, um die Mitarbeitenden für die vielfältigen Lebensrealitäten der Klient*innen
zu sensibilisieren und auch um Widerstände zu vermeiden.
„Wir befinden uns in ständigen Wandlungsprozessen. Auch die Welt des
Landkreises Märkisch-Oderland hat sich verändert und nicht erst 2015
mit dem umA-Zugang, sondern tatsächlich auch schon Jahre zuvor, weil wir
natürlich Familien verschiedener Nationalitäten in unserem Landkreis
haben. Aber Diversity hat ja nicht nur mit der Frage zu tun, mit welchen
Ethnien wir arbeiten, sondern wirklich mit allen Themen der Unterschiedlichkeit. Der ASD ist der am breitesten aufgestellte Dienst, und wir haben
hier mit allen Dingen des Lebens zu tun, die das Leben tatsächlich prägen.
Daher war mir das wichtig, nicht zu begrenzen, nicht nur auf das umA-Team
zu schauen. Betroffen sind alle Kollegen davon. Dabei geht es darum zu
fragen, welche Wahrnehmung, welchen Blick habe ich, wie gehe ich mit
Dingen um? Das betrifft alle.”
Jana Goldstein, Leiterin Allgemeiner Sozialer Dienst
Vor allem hatte die ASD-Leiterin ein großes Interesse daran, Fortbildungen für die Mitarbeitenden des ASD und der Jugendgerichtshilfe anzubieten, da sie dort Qualifizierungsbedarf sah. Eine gemeinsam entwickelte Prozessarchitektur trug diesem Bedarf Rechnung,
indem eine viertägige Fortbildungsreihe zum Thema „Vielfalt im Arbeitsalltag” konzipiert
wurde. Die Prozessbegleiterinnen wirkten auf einen Prozess hin, der bleibende Ergebnisse schaffen wird. Die Sensibilisierungsfortbildungen waren daher darauf ausgerichtet,
an Haltungen zu arbeiten und ein gemeinsames Verständnis von interkultureller Kompetenz und Diversity zu entwickeln. Die erarbeiteten Inhalte wurden dann von einer
Arbeitsgruppe ausgewertet und in den Einarbeitungsplänen des Fachbereichs festgeschrieben. Außerdem war geplant, sie in bereits bestehende Einarbeitungsformate zu
integrieren, etwa in die regelmäßigen „Stammtische“, bei denen sich neue und alte Mitarbeitende thematisch austauschten (siehe Kapitel Diversity-Sensibilisierung, Jugendamt
Märkisch-Oderland).
Schwerpunktbereich Kita-Fachberatung:
Strukturveränderungen nutzen
„Der Bereich Kita, das war von Anfang an etwas, wo ich dachte, darauf
sollten wir uns konzentrieren, denn da gehen die Kinder als Erstes hin,
da werden sie auch geprägt.“
Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin
36
3 Bedarfsorientierung
Der Kita-Bereich im Jugendamt Märkisch-Oderland war zu Projektbeginn 2018 gerade
frisch umstrukturiert worden. Die Kita-Fachberatung war der Eltern- und Familienberatung
(EFB) angegliedert und inhaltlich neu konzeptioniert worden. Sie war nun ausschließlich
für die Beratung von Kitas zuständig und sollte in Konfliktfällen intervenieren. Anders als
in anderen Bundesländern gibt es in Brandenburg keine gesetzlich festgeschriebenen
Qualitätsstandards für Kindertagesstätten, und es obliegt dem Jugendamt, die Qualitätsentwicklung der Einrichtungen zu begleiten. Indem administrative Aufgaben wegfielen,
konnte dieser Aufgabenbereich stärker ausgebaut werden.
Im Kontext dieses Entwicklungsprozesses nahm die Leitung das Projekt als eine Ressource wahr, um den Aufbau der neuen Strukturen zu begleiten und Diversity darin als
Thema zu verankern. Die Jugendamtsleiterin war als ehemalige Geschäftsführerin einer
Kita in dem Feld erfahren und sah dort großen Handlungsbedarf.
„Ich glaube, dass es allgemein sehr schwerfällt, bestimmte Prozesse zu
reflektieren in diesem Kita-Alltag, da gibt es nicht viel Zeit. Es ist für
Leitungen unglaublich schwer, Ruhe und Zeit zu finden, sich Gedanken
zu machen. Deswegen hatten wir für uns gedacht, dass das ein Angebot
sein könnte, das gern angenommen wird, weil es auch in den Kitas immer
mehr Thema ist – natürlich durch die Flüchtlingsfamilien, verstärkt durch
unterschiedliche Herkunftsländer, aber auch aufgrund von unterschiedlichen Lebenskonzepten: dass Eltern andere Jobs haben, zu anderen Zeiten
arbeiten, andere Vorstellungen haben, andere Partner haben, dass es
einfach auch da Kulturkonflikte gibt zwischen den Erziehern und den Eltern.“
Dr. Andrea Kopp, Jugendamtsleiterin
Diversity-Sensibilisierungen könnten langfristig dazu beitragen, Konflikte in den Kitas
zu entschärfen und damit den Druck auf das Personal zu verringern, so die Vision der
Leiterin. Perspektivisch solle die Kita-Fachberatung auf einen professionellen Umgang mit
Themen wie Migration, Flucht, Regenbogenfamilien oder Inklusion hinwirken. Der Leiter
der Erziehungs- und Familienberatungsstelle hatte bereits ein erstes internes Kitafachberatungskonzept erarbeitet, dieses enthielt aber keine konzeptionelle Herangehensweise
für Diversity. Diese zu erarbeiten und Diversity als Querschnittsthema in allen Aufgabenbereichen zu verankern, war nun Aufgabe der Fachberaterinnen; unterstützt wurden sie
dabei von den beiden Prozessbegleiterinnen. Parallel wurden im Rahmen des Öffnungsprozesses Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte und Kita-Leitungen entwickelt und
angeboten, um Diversity-Sensibilisierung in den Kitas des Landkreises zu fördern (siehe
Kapitel Diversity-Sensibilisierung, Jugendamt Märkisch-Oderland).
„Durch die Aufnahme in die Konzeption ist schon ein Riesenschritt gemacht,
um Diversity strukturell im Kitabereich zu verankern. Aber wie bringen
wir das in die Kitas, wie können wir es schaffen, dass die Leitungen, die
Mitarbeitenden auch danach handeln? Damit das keine leeren Floskeln
bleiben, war die Idee, Fortbildungen zu dem Thema zu entwickeln, anzubieten – und somit diese Werte und Haltungen zu vermitteln.“
Tanja Michalczyk, Prozessbegleiterin
37
4 Beteiligungsorientierung
4 Beteiligungsorientierung
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Eine breit angelegte interne Beteiligungsstrategie
Mit dem Projektstart 2018 war das klare Ziel verbunden, möglichst viele Mitarbeitende an
dem Öffnungsprozess zu beteiligen und mitzunehmen. Für Jugendamtsleitung, Steuerrunde sowie Prozessbegleitung war Partizipation eine zentrale Voraussetzung für eine
gelebte diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung: Die Mitarbeitenden sollten sich mit
ihren Interessen und Wünschen in den verschiedenen Maßnahmen wiederfinden und
Möglichkeiten bekommen, ihre Ideen und Expertise einzubringen und ihr Arbeitsumfeld mitzugestalten. Die Mitarbeit gründete auf Freiwilligkeit, insofern war es wichtig, die
Motivation der Beteiligten anzuregen und aufrechtzuerhalten. Zu verschiedenen Anlässen hatte sich gezeigt, dass die Belegschaft eine entsprechende Beteiligung auch selbst
wünschte. Beispielsweise hatten Teilnehmende einer Führungskräftefortbildung hinterfragt, wie die Schwerpunkte des Öffnungsprozesses gesetzt würden, und den Wunsch
geäußert, dabei mitzuentscheiden.
Großveranstaltung Jugendamtstag:
Die Belegschaft informieren und motivieren
Ein halbes Jahr nach Projektbeginn wurde ein Jugendamtstag angesetzt, zu dem alle
Mitarbeitenden eingeladen waren. Unter der Überschrift „Vielfalt und Teilhabe im
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf“ wurde Zwischenbilanz gezogen und gemeinsam
ein Blick auf den weiteren Öffnungsprozess geworfen. Das Ziel war, alle Mitarbeitenden
über die diversitätsorientierte Organisationsentwicklung zu informieren, Hintergründe,
Rahmenbedingungen und Vorgehen zu erläutern und sie dafür zu motivieren, die angestrebten Veränderungen mitzutragen. Von den 200 Mitarbeitenden nahm die Hälfte
an der Großveranstaltung teil, in Anbetracht der hohen Auslastung eine gute Quote, die
vom Interesse an dem Thema zeugte.
In der Vorbereitung der Veranstaltung hatte sich die Steuerrunde (siehe Führungsverantwortung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) darauf verständigt, das Thema
„Mehrwert des Prozesses für die Arbeit im Jugendamt“ in den Mittelpunkt zu stellen. In
den Diskussionen der Steuerrunde war dieser Aspekt zentral gewesen; nun sollten auch
die Mitarbeitenden die Gelegenheit bekommen, zu formulieren, worin sie potenzielle
38
4 Beteiligungsorientierung
Mehrwerte sahen. Zu diesem Zweck wurden beim Jugendamtstag sogenannte Fokusgruppen gegründet. Die Prozessbegleiter*innen stellten drei festgelegte Schwerpunktthemen (siehe Bedarfsorientierung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) für die
Fokusgruppen vor; ein viertes Thema – Moderne Verwaltung – wurde gemeinschaftlich
gewählt. Die zweite Tageshälfte diente dem Einstieg in das gemeinsame Arbeiten in den
Fokusgruppen. Die vier Themen wurden jeweils in einem Worldcafé präsentiert, die Mitarbeitenden durchliefen alle vier Stationen: An jedem der Tische trugen sie zunächst
zusammen, welche potenziellen Mehrwerte sie bei dem jeweiligen Thema verorteten,
was sie damit verbanden und was sie der Fokusgruppe für ihre Arbeit mitgeben wollten.
Anschließend waren die Mitarbeitenden eingeladen, sich in Listen einzutragen, wenn sie
Interesse an der Mitarbeit in einer der Fokusgruppen hatten.
Die Resonanz auf den Tag fiel sehr positiv aus, die Stimmung war gut und es entspannen sich angeregte Diskussionen. Für alle Fokusgruppen fanden sich Mitarbeitende, die
an den Themen weiterarbeiten wollten – zum Teil weil sie ein starkes Interesse an dem
jeweiligen Thema mitbrachten, zum Teil weil sie darin eine Gelegenheit sahen, stärker
planerisch mitzugestalten, als dies sonst in ihrem Arbeitsalltag möglich war. Aber auch
die Steuerrunde nahm neuen Schwung mit und freute sich über mehr Perspektiven
vielfalt und engagierte Mitstreitende.
Fokusgruppen: Mitarbeitende am
Planungsprozess beteiligen
„Für die Fokusgruppen gilt, dass damit erst einmal überhaupt eine Beteiligung stattfindet und dadurch ein Ernster-Nehmen von Mitarbeitenden – auch
an der Basis. Damit sind schon fünfzig Prozent gewonnen. Und die anderen
fünfzig Prozent schaffen dann die Inhalte, die da besprochen werden. Wir
lassen ja Diversity immer als Mainstreaming mitlaufen. Mit dem Aufruf zur
Beteiligung haben wir das Signal gegeben: ‚Wir wollen auch eure Ideen!‘
Inhaltlich kommt man mit 15 Personen auf mehr Ideen, als wenn wir in
einer Steuerrunde von fünf Personen nur mit Führungskräften
zusammensitzen.“
Michael Süßkind, Koordinator der Arbeit mit Geflüchteten im Jugendamt
Die Fokusgruppen setzten sich aus Jugendamtsmitarbeitenden ganz unterschiedlicher
Berufsgruppen und verschiedener Hierarchieebenen zusammen. In moderierten Gruppendiskussionen hatten sie Zeit und Raum, in einen unvoreingenommenen und offenen
Austausch zu treten. Eine solche Cross-over-Kommunikation fand im normalen Arbeitsalltag des Jugendamtes nicht statt. Sie eröffnete die Chance, viele interne Perspektiven
abzubilden. Aufgabe der Fokusgruppen war es, Ideen zum jeweiligen Thema zu entwickeln und daraus Ziele zu formulieren, die als Grundlage für die weitere Maßnahmenplanung dienten. Über einen Zeitraum von circa einem halben Jahr kamen die Mitglieder
bei mehreren Treffen zusammen und übermittelten ihr Arbeitsergebnis schließlich an
die Steuerrunde.
Als Einstieg in die Arbeit in den Fokusgruppen nahmen die Mitglieder an einer zweitägigen Diversity-Fortbildung teil. Sie diente der Diversity-Sensibilisierung und sollte
die Beteiligten dazu anregen, eine diversitätsorientierte Perspektive einzubringen und
Diversity als Querschnittsthema in ihre Planungen einzubeziehen. Die Teilnehmenden
konnten die Impulse und neuen Wissensbestände direkt in ihre praktische Arbeit in den
Fokusgruppen übersetzen. Dieser unmittelbare Anwendungsbezug wurde als große
Bereicherung gesehen.
39
4 Beteiligungsorientierung
Für die anschließende Planungsphase in den einzelnen Fokusgruppen war ein halb
tägiger Planungsworkshop je Fokusgruppe angesetzt; in einigen Fällen wurde ein zweiter
Termin vereinbart. Die am Jugendamtstag gesammelten Ideen sollten priorisiert und in
Ziele übersetzt werden, zudem sollten dafür konkrete Indikatoren benannt werden. Die
Prozessbegleiter*innen leiteten jeweils mit einem Input zum Thema Zielentwicklung ein,
um die Mitglieder mit den verschiedenen Ebenen von Zielen vertraut zu machen und sie
darin zu schulen, diese optimal zu formulieren. Um die Ziele des Jugendamtes mit den
Bedürfnissen der Mitarbeitenden in Einklang zu bringen, waren zwei Fragestellungen
handlungsleitend: Wie müssen die Strukturen beschaffen sein, um Chancengleichheit
möglich zu machen? Wie kann für Entlastung der Mitarbeitenden gesorgt werden?
Als Arbeitsergebnis übermittelten die vier Fokusgruppen eine tabellarische Übersicht
mit Leit, Mittler- und Handlungszielen zu den bearbeiteten Themen (Personal, Bundesteilhabegesetz, Familienservicebüro und Moderne Verwaltung) an die Steuerrunde. In deren
Zuständigkeitsbereich fiel es nun, anhand dieser Vorschläge Zeit-Maßnahmen-Pläne zu
entwickeln und dafür zu sorgen, dass die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen
eingeleitet werden, den beteiligten Akteur*innen transparent kommuniziert wird (siehe
Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt Feedback, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf).
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin
Auf dem Weg zu einem gelebten Leitbild:
Alle Mitarbeitenden beteiligen
Langjährige Mitarbeitende des Jugendamtes Ostprignitz-Ruppin (inzwischen zusammen
mit dem ehemaligen Sozialamt: Amt für Familien und Soziales) berichteten, dass in den
vergangenen Jahrzehnten mindestens drei Leitbilder im Amt erstellt worden und wieder
in der Schublade verschwunden waren. Entsprechend skeptisch begegneten viele dem
erneuten Anlauf, ein Leitbild für das Amt zu entwickeln (siehe Kapitel Bedarfsorientierung,
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin). Die Steuerrunde, zusammengesetzt
aus dem Amtsleiter, den Sachgebietsleitungen und der Qualitätsbeauftragten des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), verband mit diesem Vorhaben den Anspruch, zu einem
gelebten Leitbild zu gelangen und den Diversity-Schwerpunkt im Amt zu stärken.
„Die Mitarbeiter so breit zu beteiligen, ist aus meiner Sicht von so zentraler
Bedeutung, weil es [das Leitbild] diesmal nicht in der Schublade verschwinden soll. Alle zu beteiligen, heißt: Alle wissen davon, alle können nachfragen,
jeder Einzelne kann etwas anschieben und verändern.“
Ramona Liessel, Qualitätsmanagerin im Allgemeinen Sozialen Dienst
Die Steuerrunde betrachtete den Entwicklungsprozess als genauso wichtig wie das
Ergebnis selbst. Alle Mitarbeitenden sollten an der Entwicklung des Leitbildes beteiligt
sein und ihre Sicht darauf einbringen, woran es in den Strukturen und bei der Ausstattung des Amtes hakt, was in der internen Zusammenarbeit problematisch ist und wie
diese Aspekte verbessert werden können. Basierend auf diesen Vorstellungen entwarfen
die zwei Prozessbegleiterinnen die Prozessarchitektur: einen vorläufigen visualisierten
inhaltlichen Ablaufplan. Dieser wurde in der Steuerrunde diskutiert, wo später auch die
Auswertung der Veranstaltungen und weitere prozessorientierte Anpassungen erfolgten.
40
4 Beteiligungsorientierung
Eingangs wurden zwei Workshop-Phasen angesetzt. Zwei eintägige Workshops wurden
an jeweils acht Terminen angeboten, sodass alle Mitarbeitenden daran teilnehmen konnten. Die Teilnahme gründete auf Freiwilligkeit, war aber mit Freistellungen verbunden
und vom Amtsleiter aktiv beworben worden. Dieser begrüßte die Teilnehmer*innen
eines jeden Workshops, dann übernahmen die Prozessbegleiterinnen als neutrale externe Personen die Moderation.
Der erste Workshop spannte einen Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft.
Die Teilnehmer*innen waren aufgefordert, sich in ihre Anfangsphase im Amt zurück
zudenken und positive wie negative Erfahrungen zu benennen. Danach formulierten und
visualisierten sie ihre Visionen für das Amt in fünf Jahren.
Aus der Auswertung dieser ersten Workshop-Phase ergaben sich zwei wichtige Konsequenzen für die Konzeption der zweiten. Erstens hatten beim Feedback einige Mitarbeitende rückgemeldet, dass das hierarchieübergreifende Format für sie ein Hemmnis
dargestellt habe, insofern sie sich nicht getraut hätten, bestimmte Themen anzusprechen. Hier wurde nachgesteuert, indem für die zweite Workshop-Phase ein gesonderter
Termin für die Führungskräfte angesetzt wurde. Inhaltlich, so stellten die beiden Prozessbegleiterinnen zweitens fest, hatten sich die Mitarbeitenden fast ausschließlich mit
amtsinternen Angelegenheiten beschäftigt; der Blick nach außen, der für die Öffnung des
Amtes ausschlaggebend ist, fehlte weitestgehend. Darum entschieden sie zusammen mit
der Steuerrunde, im zweiten Workshop den Schwerpunkt auf das Verhältnis zwischen
Amt und Bürger*innen zu setzen, auch um die Diversity-Perspektive zu stärken.
Die zweite Workshop-Phase war von einer deutlich größeren Akzeptanz vonseiten
der Belegschaft geprägt. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass die Veranstaltungen mit ihren abwechslungsreichen Methoden Spaß machten und dass die Mitarbeitenden dort tatsächlich ihre Ideen und Wünsche einbringen konnten. Die Teilnehmenden
waren außerdem gespannt, ob die Ergebnisse der ersten Workshop-Phase tatsächlich
für alle transparent gemacht würden. Dass dieses Versprechen eingehalten wurde, verstärkte die Bereitschaft zur Mitwirkung und gab den Teilnehmenden Hoffnung, dass der
Prozess tatsächlich etwas bewirken würde. In der ersten Workshop-Phase war mitunter
das Stichwort „Bürger*innennähe“ genannt worden; dieses diente nun als Rahmen für
eine vertiefte Auseinandersetzung damit, welche Qualitäten „Bürger*innennähe“ kennzeichnen sollen. Im Sinne diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung ging es dabei
darum, eine divers zusammengesetzte Gesellschaft im Blick zu haben, wozu die Prozessbegleiterinnen als fachliche Expertinnen in diesem Bereich Impulse setzten. In mehreren
Rollenspielen gingen die Teilnehmenden der Außenwahrnehmung des Amtes nach. Daraus leiteten sie in Kleingruppen die Stärken und Schwächen des Amtes, was den Kontakt mit Bürger*innen betrifft, ab. Anschließend formulierten sie Entwicklungsbedarfe,
erarbeiteten Vorschläge für einen Idealzustand sowie Maßnahmen, um ihn zu erreichen.
Die Workshop-Ergebnisse sollten nun innerhalb der gesamten Belegschaft diskutiert werden. Hierzu wurde eine Großveranstaltung für alle Fach- und Führungskräfte
aller Dienststellen angesetzt, um gemeinsam Fragen zu diskutieren sowie Ziele und
Strategien zu erarbeiten. Bei der Veranstaltung wurden sieben Workshops zu als zentral identifizierten Themen angeboten: Eingangsservice, Haltungen, Wertschätzung, Teamstärkung, Transparente Kommunikation als Partizipationsprozess, Öffentlichkeitsarbeit sowie
Leistungsorientierte Bezahlung (LOB). Die Anwesenden konnten jeweils zwei auswählen.
Die Teilnehmenden diskutierten anhand verschiedener Leitfragen, welchen Soll-Zustand
sie erreichen wollten und welche Maßnahmen für den Weg dorthin geeignet sind. Abschließend formulierten sie hierzu Visionssätze, als Vorschläge für das finale Leitbild.
Der Tag schloss mit einem Ausblick auf den weiteren Prozess; die Prozessbegleiterinnen
informierten darüber, dass eine Freiwilligengruppe einen Leitbild-Entwurf erstellen würde
und alle herzlich zur Mitarbeit eingeladen seien.
41
4 Beteiligungsorientierung
In mehreren Treffen entwarfen die Freiwilligen nun aus den Ergebnissen der Workshop-Phasen und der Großveranstaltung einen Entwurf für ein Leitbild. Dieser Entwurf nahm noch eine Partizipationsschleife (siehe Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt
Feedback, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin): In den Dienstberatungen
wurde er allen Mitarbeitenden vorgestellt, damit deren Feedback in die finale Version
aufgenommen werden konnte. Geplant war eine zweite, festliche Großveranstaltung, bei
der die finale Version präsentiert werden sollte. Die Veranstaltung konnte jedoch nicht
wie geplant vor Projektende stattfinden, da dies in die Zeit der mit der einsetzenden
Corona-Pandemie verhängten Kontaktsperre fiel.
Im Laufe des umfangreichen Prozesses hatten die Mitarbeitenden viele Veränderungs
potenziale benannt. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass es ein arbeitsintensives
Unterfangen wird, diese aufzugreifen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen.
In der Planung der zeitlichen Ressourcen musste also nicht nur der Prozess selbst bedacht werden, sondern insbesondere auch die Umsetzung der Ergebnisse: Es bedurfte
spürbarer Veränderungen für die Mitarbeitenden, damit diese das gerade aufgebaute
Vertrauen in ihre Institution nicht wieder verloren. Entsprechend lag der Fokus mehrerer dazu einberufener Leitungsrunden auf schnell realisierbaren und wirksamen
Umsetzungsschritten.
Temporäre Arbeitsgruppen: Gestaltungsund Vernetzungsmöglichkeiten für engagierte
Mitarbeitende schaffen
Neben dem Bestreben, möglichst alle Mitarbeitenden zu erreichen, bestand eine weitere
Beteiligungsstrategie darin, diejenigen noch aktiver in den Prozess einzubinden, die von
sich aus motiviert waren, daran mitzuwirken.
Um eine Arbeitsgrundlage für die erwähnte Großveranstaltung (s. o.) zu haben,
musste zunächst das umfangreiche Material aus den Workshop-Dokumentationen gesichtet, sortiert und aufbereitet werden. Mit dieser inhaltlichen Vorbereitung wurde eine
temporäre Arbeitsgruppe betraut. Bei zwei halbtägigen Treffen arbeitete sie mit Unterstützung der Prozessbegleitung die zentralen Themen heraus, formulierte Leitfragen für
die geplanten Workshops und erstellte ein Programm für die Veranstaltung. Auf Wunsch
der Gruppe wohnte der Amtsleiter einem Treffen bei – in einer Zuhörer-Rolle, um wahrzunehmen, welche Themen und Probleme die Mitarbeitenden umtrieben.
Zehn Mitarbeiterinnen hatten sich auf eine allgemeine Einladung hin freiwillig für die
Arbeitsgruppe gemeldet. Viele von ihnen waren noch recht neu im Amt und hatten Lust,
dort etwas zu bewegen. Sie sahen in dem Leitbildprozess eine Möglichkeit, ihr Arbeitsumfeld mitzugestalten. Im Rahmen des Prozesses entstanden so Gestaltungsräume für
innovative Mitarbeitende (sogenannte early adopters), womit das Amt auch an Attraktivität als Arbeitgeber für diese Gruppe gewann. Sie konnten sich mit Gleichgesinnten vernetzen und dadurch ihren Schwung ins Jugendamt hineintragen.
„Wenn man die Kolleginnen, die bei der Vorbereitung für den Klausurtag
mit dabei sind, trifft, spürt man wirklich ein inniges Verhältnis. Da ist
etwas passiert – diese intensive Auseinandersetzung und vielleicht auch
die Haltung, etwas bewegen zu wollen. Das merkt man sofort – ah, das sind
Gleichgesinnte. Da ist eine Solidarität entstanden: Ich bin hier nicht allein
und will etwas bewegen, sondern da sind andere, die das mit mir tragen.“
Stefanie Landeck, Mitarbeiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst
42
4 Beteiligungsorientierung
Bei der Großveranstaltung übernahmen einige der Mitglieder der Arbeitsgruppe die Moderation eines Workshops. Die meisten entschieden sich, auch in der nächsten Phase
aktiv zu bleiben, nämlich in der Leitbild-Gruppe. Diese hatte den Auftrag, aus den Ergebnissen der Großveranstaltung den Leitbild-Entwurf zu erstellen und anschließend das
Mitarbeitenden-Feedback in die finale Version einzuarbeiten (siehe Kapitel Kommunikation: Schwerpunkt Feedback, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin).
Dilemma der Prozessbegleitung: Wie viel
Diversitätsorientierung steckt im Leitbild?
Mit Blick auf die Diversitätsorientierung ist die Beteiligung von Mitarbeitenden, wie sie im
Rahmen des Leitbildprozesses erfolgte, ein ganz zentrales Element. Wenn intern keine
Partizipation gelebt wird, kann auch die Strategie zur Bürger*innenbeteiligung kaum von
Erfolg gekrönt sein. Im vormaligen Jugendamt wie im Sozialamt hatte offenbar viel Frustration unter den Mitarbeitenden geherrscht – aus dem Gefühl heraus, ohnehin nichts an
ihren Arbeitsbedingungen ändern zu können. Die Erfahrungen, die die Mitarbeitenden
nun machten, waren neu und weckten die Zuversicht, dass sich doch etwas ändern kann.
Würden einige der von ihnen gewünschten und angestrebten Maßnahmen erfolgreich
umgesetzt, dann wachse auch die Bereitschaft, sich weiterhin in Veränderungsprozessen
zu engagieren, so die Hoffnung und Einschätzung der Prozessbegleiterinnen. In dieser
Hinsicht hat der bisherige Prozess den Boden bereitet und die Voraussetzungen für einen
weiteren Öffnungsprozess geschaffen.
Ein ergebnisoffener Prozess, der darauf ausgerichtet war, die Perspektiven und Bedarfe der Belegschaft einzuholen und im Leitbild abzubilden, bedeutete auch, dass Diversity nicht als Thema von oben gesetzt werden konnte, ohne damit auf Abwehr zu
stoßen. Durch die thematisch offene Herangehensweise konnte eine breite Akzeptanz
geschaffen werden, weil Mitarbeitende die Themen einbringen konnten, die ihnen am
Herzen lagen. Als Expertinnen für Diversity brachten die beiden Prozessbegleiterinnen
immer wieder Impulse ein, regten dazu an, verschiedene Perspektiven mitzudenken und
bei Veränderungsmaßnahmen Diversity als Querschnittsthema zu platzieren. Dabei erlebten sie allerdings regelmäßig, dass für die Mitarbeitenden andere Probleme aus ihrem
Arbeitsalltag obenauf lagen.
„Ich glaube, die Einschätzung der Leitbild-Gruppe ist richtig, dass viele
Diversity-Themen an den Mitarbeiter*innen vorbeigehen würden, weil
es gerade nicht deren Interesse ist. Mein Eindruck ist, dass man einen
richtig langen Atem braucht in diesen ländlichen Gegenden, wo kaum
Migrantinnen und Migranten sind, wo es fast noch kein Bewusstsein für
die Notwendigkeit von Diversity-Öffnung gibt. Wenn sich die Gesellschaft
dort verändert und diverser wird, hoffe ich, dass dann auch diese Prozesse
mehr fruchten. Ich glaube trotzdem, dass diese Prozesse jetzt sinnvoll
sind und langfristig auch den Kund*innen nützen.“
Renate Pulz, Prozessbegleiterin
Trotz dieser Herausforderungen gelang es, die Diversitätsorientierung des Amtes im gemeinsam entwickelten Leitbild zu verankern und entsprechende Maßnahmen auf den
Weg zu bringen. Im Leitbild-Entwurf kristallisierten sich drei Säulen heraus: erstens die
Arbeit an Haltungen (alle neuen Mitarbeitenden sollen fortan Diversity-Fortbildungen
durchlaufen; Diversitätsorientierung soll außerdem in den Einarbeitungsplänen festgeschrieben werden); zweitens die Verbesserung der Bürger*innenfreundlichkeit (zunächst
soll ein Eingangsservice geschaffen werden, der möglichst umfassend verschiedene
43
4 Beteiligungsorientierung
Kund*innenbedarfe berücksichtigt); drittens die Verbesserung der Arbeitsbedingungen
(durch Pausenräume, Teamstärkung, Kommunikation, Wertschätzung und Einarbeitung).
Jugendamt Pankow
Arbeitsgruppe Außenauftritt: Externe
Beteiligung ermöglichen und migrantische
Perspektiven einholen
Ein Ergebnis der zu Projektbeginn durchgeführten Führungskräfte-Workshops im
Jugendamt Pankow (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Pankow) war die
Gründung der Arbeitsgruppe Außenauftritt. Der verschwindend geringe Beschäftigungsanteil von Menschen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte im Jugendamt ließ
auf einen schlechten Ruf bei dieser Zielgruppe schließen. Als Teil der neuen Personal
gewinnungsstrategie sollte ein inklusiveres Bild nach außen vermittelt werden, um künftig auch Menschen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte anzusprechen. Ziel
war es, als attraktiver Arbeitgeber aufzutreten, als Amt, in dem Diversität geschätzt und
gewollt ist.
„Bei dem Punkt Außendarstellung des Jugendamtes ging es tatsächlich
darum, diesen Satz zu überprüfen: ‚Wir sind doch offen für alle!‘ – Wie
offen stellen wir uns denn dar, wen sprechen wir eigentlich unbewusst
und bewusst an?“
Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung
Die Arbeitsgruppe sollte, als eine der ersten Maßnahmen des Öffnungsprozesses, den
Internetauftritt und den Flyer des Jugendamtes kritisch überprüfen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Geleitet wurde die Arbeitsgruppe von einem Mitglied der Steuerrunde; zur Beteiligung war innerhalb der Mitarbeitendenschaft breit eingeladen worden.
Neben dem Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit und der Koordinatorin für Flüchtlingsfragen (beide waren im Rahmen einer jugendamtsübergreifenden Fortbildungsreihe für
Ankerpersonen bereits angebunden an das Projekt des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e. V.), meldeten sich zwei Mitarbeitende, die durch ihre Leitungen von der Arbeitsgruppe erfahren hatten. Ein weiterer Kollege hatte eigeninitiativ einen Leitfaden in
Leichter Sprache zur Beantragung eines Kitagutscheins verfasst, auch er wollte sich beteiligen. Alle aus der fünfköpfigen Arbeitsgruppe brachten ein großes Interesse mit, an
dem Thema zu arbeiten. Die Gründung der Gruppe war eine gute Gelegenheit, interne
Ressourcen zu nutzen sowie engagierte Vorreiter*innen zu vernetzen. In Anbetracht des
Arbeitsauftrags hätte sich der Leiter der Arbeitsgruppe eine diversere Zusammensetzung
gewünscht, unter den gegebenen Umständen sei dies jedoch nicht realisierbar gewesen.
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„Prinzipiell ist der Haken, dass in diesen AGs auch wieder die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft sitzt – aber wir werden das gar nicht anders
lösen können, denn das ist noch der große Teil der Belegschaft im Jugendamt. Woher bekommen wir also eine diversere Zusammensetzung dieser
AG? Auch schwierig finde ich, die wenigen Personen, die hier im Jugendamt
nicht zur weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft gehören, nur deswegen
in jede AG zu holen, die zu dem Thema tagt. Deshalb gab es eine Abfrage
– und wer möchte, beteiligt sich –, und ansonsten gucke ich, wie ich die
anderen Perspektiven weiter einhole.“
Max Anders, Leiter des Fachdienstes Fachcontrolling / Koordination Hilfen zur Erziehung
4 Beteiligungsorientierung
Beim ersten Treffen der Arbeitsgruppe wurde das bestehende Öffentlichkeitsarbeitsmaterial zunächst gesichtet. In einem zweiten Schritt sollten Nutzer*innenperspektiven
eingeholt werden, insbesondere aus migrantischen Communitys. Zu diesem Zweck
wurde der Öffnungsprozess des Jugendamtes vor dem Integrationsbeirat des Bezirks
vorgestellt; in diesem sind verschiedene Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) vertreten. Aus dieser Runde wurde eine temporäre Arbeitsgruppe gebildet und damit betraut, sich die Homepage des Jugendamtes unter diversitätssensiblen Gesichtspunkten
anzuschauen und dazu eine Rückmeldung zu geben. Das detaillierte Feedback sollte
zu einem späteren Zeitpunkt als Arbeitsgrundlage für eine umfassende Überarbeitung
des Internetauftritts dienen. Gleichzeitig bot die Einbindung von Nutzer*innen mit
Migrationsgeschichte eine gute Argumentationshilfe, um die Notwendigkeit für Veränderungen intern zu kommunizieren.
Zentral für eine fortdauernde vertrauensvolle Zusammenarbeit war die persönliche
Rückmeldung an den Integrationsbeirat und die beteiligten Akteur*innen. Sie wurden
darüber informiert, welche der vorgeschlagenen Veränderungen umgesetzt würden
und welche vonseiten des Amtes (vorerst) nicht realisierbar seien und weshalb. Beispielsweise die Empfehlung, die Website des Amtes in Leichte Sprache zu übertragen,
erschien dem Leiter der Arbeitsgruppe für viele Nutzer*innengruppen von Vorteil und
mit überschaubarem, einmaligem Aufwand umsetzbar. Was mehrsprachige Angebote
betrifft, wurde hingegen zunächst befunden, dass die Folgekosten nicht getragen werden könnten. Diese entstünden dadurch, dass fortlaufend Änderungen in allen Sprachen
eingepflegt werden müssten.
Geplant ist, die Ergebnisse aus dem inhaltlichen Austausch innerhalb der Arbeitsgruppe Außenauftritt und mit den Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) zu verschriftlichen. Mit diesem internen Leitfaden zu diversitätssensibler Öffentlichkeitsarbeit
im Jugendamt sollen neue Standards nachhaltig und personenunabhängig verankert
werden.
Vernetzung mit Migrant*innenselbstorganisationen
(MSO) stärken
Auch unabhängig von der Arbeitsgruppe Außenauftritt wurden im Jugendamt Maßnahmen ergriffen, um die Vernetzung mit Migrant*innenselbstorganisationen (MSO) zu verbessern. In der Vergangenheit hatten sich die MSO mit ihren Anliegen an die jeweils
zuständigen Fachdienste wenden können; in der Praxis waren solche Anfragen jedoch
oft im Sande verlaufen. Deshalb wurde die Koordinatorin für Flüchtlingsfragen als feste
Ansprechpartnerin benannt. Ihre Aufgabe ist es, Anliegen aus den verschiedenen Communitys aufzunehmen – etwa Themen betreffend, bei denen MSO Beratungsbedarf
sehen, um ihre Communitys gut beraten zu können – und in der Leitungsrunde darüber
zu informieren. Die Anliegen werden dann an die zuständigen Fachdienste weitergeleitet, wobei die Koordinatorin für Flüchtlingsfragen die Kommunikation mit den MSO
mitverfolgt. Die Koordinatorin für Flüchtlingsfragen nahm zudem regelmäßig an den
Treffen des Integrationsbüros des Bezirkes teil, wodurch anstehende Themen schneller ins Jugendamt hinein- und hinausgetragen werden konnten. Die feste Zuständigkeit einer fachdienstübergreifenden Stelle führte zu einer neuen, besseren Qualität des
Austauschs.
Dass die Zuständigkeit für die Belange der MSO nun bei der Koordinatorin für Flüchtlingsfragen lag, wurde intern durchaus auch kritisch gesehen; schließlich ging es nicht
allein um die Belange von Geflüchteten. Nicht nur in Pankow, auch in anderen Jugendämtern ist die Tendenz zu beobachten, dass die Themen Interkulturelle Öffnung und
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5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack
Diversity an die Verantwortlichen für Flüchtlingsfragen oder in den Bereich Unbegleitete
minderjährige Ausländer (umA) delegiert werden, so die Beobachtung der Prozessbegleiterinnen. Die Kehrseite dieser Auslagerung ist, dass sie den Blick darauf verstelle, dass
Vielfaltsthemen in allen Bereichen des Jugendamtes eine Rolle spielen. Im Jugendamt
Pankow wurde diese Lösung als Übergangsbehelf gewählt, weil die Koordinatorin für
Flüchtlingsfragen die einzige Stelle war, die sich bereits mit dem Thema Interkulturalität
beschäftigt hatte. Eine diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung macht es erforderlich, auch andere Interessengruppen stärker einzubeziehen. Während dem Jugendamt
Pankow einerseits an einer Öffnung für diverse Nutzer*innengruppen gelegen war, war
andererseits immer abzuwägen, wie viel Kommunikation nach außen die vorhandenen
Kapazitäten überhaupt erlaubten.
5 Kommunikation:
Schwerpunkt Feedback
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf
Feedback einholen
Beteiligungsorientierte Prozesse sind in hohem Maße von einer gelingenden Kommunikation und funktionierenden Feedback-Strukturen abhängig. Mit dem Aufruf zur Beteiligung geht für die Leitung die Verantwortung einher, ihr Versprechen – „Wir hören euch“
– auch einzulösen. So gehört zu echter Beteiligung, dass die Wünsche, die von der Basis
formuliert werden, auch tatsächlich in die weitere Planung einfließen. In welcher Form
dies geschieht, muss den Mitarbeitenden transparent kommuniziert werden. Ansonsten
verliert der partizipative Prozess seine Glaubwürdigkeit – und in Zukunft dürfte es (noch)
schwerer werden, Mitarbeitende zu motivieren, sich einzubringen.
Der Öffnungsprozess im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf sah verschiedene
Feedbackschleifen vor. Die Ziele, die die sogenannten Fokusgruppen (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) erarbeitet hatten, wurden
zunächst den Mitgliedern der Steuerrunde (siehe Kapitel Führungsverantwortung, Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf) übermittelt. Deren Aufgabe war es nun, diese Ziele zu
priorisieren und zu diskutieren, welche Schritte demnächst umgesetzt werden sollen. Als
Führungspersonen hatten sie auch einen Überblick darüber, welche Ziele eventuell bereits bearbeitet wurden oder nach derzeitigem Stand nicht umsetzbar waren. In beiden
Fällen mussten sie dies an die Fokusgruppen rückmelden und begründen. Aufbauend
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5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack
auf der Arbeit der Fokusgruppen erstellte die Steuerrunde Zeit-Maßnahmen-Pläne, die
erste Verantwortlichkeiten festlegten. Bevor die Pläne bekannt gemacht wurden, wurden
sie mit den Fokusgruppen rückgekoppelt. Diese erhielten damit Gelegenheit, Feedback
zu geben, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen den von ihnen formulierten Zielen entsprachen, und gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen, wenn Ziele nicht aufgenommen
worden waren.
„Es kann natürlich passieren, dass die Führungsebene sagt, diese Ziele
wollen wir jetzt nicht verfolgen. Dann müssen sie dies aber auch an die
Mitarbeiter*innen kommunizieren, die die Ziele formuliert haben. Das
kann jetzt nicht mehr im Stillen passieren. Es muss transparent ausgetragen werden und dann muss begründet werden, warum nicht. Die Themen
lassen sich jetzt nicht wieder einfangen. Sobald sie einmal über die Fokusgruppe in die Steuerungsrunde gespielt sind, sind sie im Jugendamt.“
Susanna Steinbach, Prozessbegleiterin
Nach der Rückkopplung mit den Fokusgruppen wurde die Planung allen Führungskräften des Amtes vorgestellt; dies geschah im Rahmen eines Klausurtages. An der Präsentation waren auch Vertreter*innen der Fokusgruppen beteiligt. Bei diesem Treffen ging
es darum, die Ziele der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung mit den anderen
Entwicklungszielen des Amtes zu verbinden. Da in vielen Fällen die Regionalleiter*innen
für die Umsetzung der Maßnahmen zuständig sein würden, war es ganz wesentlich, sie
– so noch nicht geschehen – für den Öffnungsprozess einzunehmen und einzubinden.
Kurz vor dem Ende der Projektlaufzeit war ein zweiter Jugendamtstag geplant, um
das Engagement aller Beteiligten und die erzielten Erfolge zu würdigen. Inzwischen waren neue Instrumente eingeführt worden, die nachhaltig für eine größere Diversitätsorientierung im Amt sorgen würden. Alle Mitarbeitenden sollten über den Stand der
Umsetzung informiert werden: Welche Maßnahmen wurden inzwischen angestoßen?
Welche Vorschläge konnten nicht berücksichtigt werden und aus welchen Gründen? Der
Jugendamtstag sollte auch als Ausblick dienen, wie es mit dem Öffnungsprozess nach
Projektende weitergehen würde; die Veranstaltung musste aber coronabedingt verschoben werden. Um dennoch zeitnah das Engagement der Mitarbeitenden zu würdigen
und alle mitzunehmen, erhielten alle Mitarbeitenden eine E-Mail. Darin informierte der
Jugendamtsleiter auch über die unternommenen Schritte und den aktuellen Stand des
Öffnungsprozesses.
Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin
Räume für Reflexion und Austausch schaffen
Im Amt für Familien und Soziales, das kurz vor Projektbeginn aus den beiden Ämtern
Jugendamt und Sozialamt gebildet worden war, herrschten nach wie vor sehr unterschiedliche Kommunikationskulturen. In beiden Settings barg das Thema Kommunikation viel Sprengstoff. Dies zeigte sich in den Workshops und Veranstaltungen, die im
Rahmen des diversitätsorientierten Leitbildprozesses stattfanden (siehe Kapitel Beteiligungsorientierung, Amt für Familien und Soziales Ostprignitz-Ruppin). Einzelne Mitarbeitende fühlten sich von ihren Vorgesetzten kontrolliert; andere meinten, private Gespräche
seien nicht gern gesehen, zugleich gebe es zu wenig institutionalisierte Formen des Austauschs untereinander. Die Mitarbeitenden wünschten sich Räume, um miteinander,
aber auch mit der Führungsebene in Fachaustausch treten zu können, Fragen und Probleme adressieren zu können und Resonanz zu erhalten.
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5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack
Durch den Leitbildprozess konnten diese Anliegen thematisiert werden, und es wurden neue Kommunikationsräume geschaffen – bei Workshops, in Arbeitsgruppen,
bei Steuerrunden-Treffen und auf Großveranstaltungen. In Form vieler verschiedener
Formate gab es nun Möglichkeiten für eine vertiefte Auseinandersetzung, für die im
Arbeitsalltag die Strukturen weitestgehend fehlten. Zum Zwecke nachhaltiger Veränderungen wirkten die Prozessbegleiterinnen darauf hin, dass Zeit für Austausch, Problem
besprechungen, Reflexionsrunden und Unterstützungsangebote perspektivisch in den
regulären Besprechungsstrukturen verankert werden.
„Ich habe das Gefühl, die Leute müssen in Kommunikation miteinander
gebracht werden, immer wieder in verschiedensten Konstellationen Dinge
miteinander besprechen. In diesen vielen Austauschrunden platzieren wir
immer wieder, dass Kommunikation das A und O ist. Die Mitarbeitenden
sollen ja zusammen Probleme lösen, das heißt, sie müssen miteinander
kommunizieren. Diesen Samen zu säen, das ist die Voraussetzung, damit
der Laden gut läuft.“
Ewa Niedbała, Prozessbegleiterin
Erste Anzeichen für eine positive Entwicklung der Kommunikationskultur im Amt zeigten
sich bereits während des laufenden Projektes. Die Durchmischung in den Workshops
hatte dazu beigetragen, dass die Mitarbeitenden sich untereinander besser kannten
und das Arbeitsumfeld als weniger anonym empfanden. Die Mitarbeitenden aus dem
vormaligen Sozialamt bzw. Jugendamt hatten Einblicke gewonnen, vor welchen Herausforderungen die jeweils anderen standen; der Umgang miteinander gestaltete sich nun
freundlicher.
„Die Kooperationsbereitschaft ist gewachsen, weil man sich kennt, aufeinander zugeht, den anderen und seine Aufgaben besser kennt. Es haben
sich einfach kleine Netzwerke gebildet, und das wird eingesetzt für die gute
gemeinsame Leistung für den Bürger. Die Mitarbeiter sind offener. Ich
habe noch nie so viele offene Türen auf dem Flur gesehen! Bürger werden
auf dem Flur angesprochen und in die richtige Etage verwiesen, weil man
sich jetzt auskennt, auch die Kollegen in den anderen Etagen und deren
Arbeit kennt.“
Ramona Liessel, Qualitätsmanagerin im Allgemeinen Sozialen Dienst
Den Leitbildprozess zum Anlass für eine
neue Feedbackkultur nehmen
Ganz entscheidend für die positive Resonanz war die Art und Weise, wie über den Leitbildprozess kommuniziert wurde. Die Mitarbeitenden waren vorab über Ablauf und Zielsetzungen informiert worden. Im Prozessverlauf dokumentierten die Prozessbegleiterinnen
alle Zwischenergebnisse und stellten die ausführlichen Foto-Dokumentationen den Mitarbeitenden zur Verfügung. Sie stellten sicher, dass keine Inhalte verloren gingen, sondern zur weiteren Bearbeitung an die zuständigen Arbeitsgruppen übermittelt wurden.
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5 Kommunikation: Schwerpunkt Feedpack
„Die Didaktik, das alles wirklich so dezidiert aufzuarbeiten und zu dokumentieren, fand ich beeindruckend und wertschätzend. So habe ich
das Gefühl gekriegt, es geht nichts verloren, da werde ich und wird jeder
gehört.“
Stefanie Landeck, Mitarbeiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst
Zur Transparenz gehörte auch, dass der Amtsleiter offenlegte, wo die Grenzen der Mitgestaltungsspielräume für Mitarbeitende lagen und welche Entscheidungen auf der
Führungsebene verblieben. Gleichzeitig sah er es als seine Verantwortung an, dafür zu
sorgen, dass die Vorschläge der Mitarbeitenden auch tatsächlich aufgegriffen wurden.
„Es ist sehr positiv aufgenommen worden, dass wir den Prozess völlig
transparent gestalten. Das heißt, jeder kriegt alle Ergebnisse. Ich habe
aber auch gesagt, dass wir nicht alles mit den Mitarbeitern diskutieren
können. Das Thema Fallbelastungen ist zum Beispiel etwas, womit sich
Leitung, Dezernentin und Sachgebietsleitungen beschäftigen werden – das
fällt nicht unter den Tisch. Aber auch die Ergebnisse aus dieser Runde sind
kein closed shop, sondern sollen rückgekoppelt werden. Ich glaube, es wird
ganz viel davon abhängen, ob wir A die Prozesse transparent weitergehen
und kommunizieren – das werden wir – und dass B Ideen auch aufgegriffen
und umgesetzt werden; oder wenn etwas nicht umsetzbar ist, muss auch
gesagt werden, warum. Wenn wir die Entwicklung so weitergehen, wie wir
sie angestoßen haben, dann glaube ich, ist das ein vernünftiger Prozess.“
Andreas Liedtke, Amtsleiter
Diese Transparenz in der Kommunikation von Führungsentscheidungen hatten viele Mitarbeitende bislang vermisst. Aber auch die Bottom-up-Kommunikation (also von unten
nach oben) war von Mitarbeitenden kritisiert worden: In ihrem Arbeitsalltag hatten sie
wenig Möglichkeiten, Feedback nach oben zu geben und sich zu ihren Arbeitsbedingungen zu äußern. Der Leitbildprozess bot einen Anlass, im Amt neue Formen des Feedback-Gebens zu praktizieren – etwa bei Workshops, die jeweils mit einer Feedbackrunde
endeten, die wiederum dokumentiert und ausgewertet wurde.
Aber auch insgesamt war der Prozess so konzipiert, dass Feedback ein zentrales
Element bildete. Schauen wir uns dazu den Leitbildprozess noch einmal an. Eine dafür
zuständige Arbeitsgruppe erstellte einen Leitbild-Entwurf; dieser basierte auf den Vorschlägen der Mitarbeitenden, die sie bei den Workshops der Großveranstaltung erarbeitet hatten. Um sicherzugehen, dass sich die Mitarbeitenden im Leitbild wiederfanden,
wurde vor der Finalisierung eine Feedbackschleife angesetzt: Der Entwurf wurde allen
Mitarbeitenden bei ihren jeweiligen Dienstberatungen vorgestellt, sie selbst hatten die
Möglichkeit, Rückmeldungen dazu zu geben. Dieses Feedback wurde in die Arbeitsgruppe zurückgespielt, die daraufhin das finale Leitbild formulierte. Als gemeinsamer Abschluss und Ausblick, bei dem der Erfolg gewürdigt werden sollte, war die Präsentation
des Leitbildes angesetzt.
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Ausblick
Ausblick
So unterschiedlich die hier skizzierten Wege der vier am Projekt beteiligten Ämter waren,
waren sie doch alle von denselben gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt, die sich
während des Projektzeitraumes ereigneten.
Als das Vorläuferprojekt im Sommer 2015 startete, standen die drei damals schon
beteiligten Jugendämter vor der Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit eine große
Anzahl geflüchteter unbegleiteter Minderjähriger sowie Familien in ihren Zuständigkeitsbereich aufzunehmen. Aufgrund jahrelanger Sparpolitik und dramatischer Unterbesetzungen war die personelle Ausgangslage in den Ämtern alles andere als günstig.
Auch sahen sie sich fachlich vor neue Herausforderungen gestellt, etwa was den professionellen Umgang mit Kriegs- und Fluchttraumatisierten betrifft. Für das Projekt bedeutete diese Entwicklung: Alles „Interkulturelle“ gewann schlagartig an Brisanz, es gab
einen enormen Bedarf an interkultureller Qualifizierung. Gleichzeitig agierten die Ämter
unter einem enormen Druck und hatten kaum zeitliche Ressourcen für die beginnenden
Öffnungsprozesse.
Das Projektende im Sommer 2020 war von einer krisenhaften Situation geprägt: dem
Ausbruch der Corona-Pandemie. Auch hier zeigte sich, dass Jugendämter als systemrelevante Institutionen in schwierigen Zeiten besonders gefordert sind; Prozessaktivitäten mussten gegenüber den Kernaufgaben zurückstehen. Für das letzte Projekt-Quartal
angesetzte Fortbildungen konnten aufgrund der geltenden Eindämmungsmaßnahmen
nicht stattfinden. In allen Ämtern waren eigentlich Abschlussveranstaltungen geplant,
um das Erreichte zu würdigen, aber auch um den Schwung mitzunehmen in die Zeit
nach dem Projektende – schließlich gilt es die angestoßenen Öffnungsprozesse weiterzuführen. Alle vier Ämter sind durch ihre Projektbeteiligung in Bewegung gekommen
und haben die Absicht, die begonnenen Prozesse fortzusetzen und sich zu diversitätsbewussten Organisationen weiterzuentwickeln.
Bei zeitlich begrenzten Projekten stellt sich immer die Frage der Nachhaltigkeit: Was
konnte angestoßen werden, was bleibt, wenn die Projektlaufzeit beendet ist und die
zusätzlichen Ressourcen und die externe Begleitung nicht mehr da sind? Im Kontext
diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung steht außer Frage, dass diese als fortlaufender Prozess zu verstehen ist: Die Organisationen müssen sich immer wieder selbstkritisch fragen, ob in Planungsprozessen alle Perspektiven berücksichtigt werden und wo
sie Ausschlüsse produzieren, und sie müssen Räume schaffen, in denen die gemeinsame
Arbeit reflektiert wird. Dafür braucht es auch langfristig die Unterstützung durch die Leitung, qualifizierte und engagierte Personen sowie intern zuständige Instanzen.
Im Rahmen des Projektes wurden Steuerrunden gegründet, die perspektivisch
die Prozesse in den Ämtern weiter koordinieren können. Durch die Zusammenarbeit
mit den Prozessbegleiter*innen konnten deren Mitglieder Erfahrungen darin sammeln, in Planungsprozessen eine diversitätsorientierte Perspektive einzunehmen. Darüber hinaus haben 20 Personen (zumeist Steuerrundenmitglieder) an der fünftägigen
Qualifizierungsfortbildung für Ankerpersonen teilgenommen, um sich grundlegendes
Prozesswissen, gekoppelt mit Fachwissen zu Diversity, anzueignen. Mitarbeitende wie
Führungskräfte machten in den verschiedenen Prozessgremien und -formaten neue Erfahrungen: Angeregt durch Impulse der Prozessbegleiter*innen hinterfragten viele ihre
eigene Perspektive und erlebten eine andere Qualität des Austauschs mit Kolleg*innen.
Es wurden Anlässe geschaffen, eigene Bedarfe zu formulieren und Feedback zu geben.
Aus den Rückmeldungen, die die Prozessbegleiter*innen erhielten, wurde deutlich,
wie viel Neues darin enthalten war: Die verwendeten Methoden, die Fragen, mit denen
sich die Mitarbeitenden beschäftigten, und die Einladung zur Partizipation waren im
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Ausblick
Verwaltungskontext ungewohnt – und fielen auf fruchtbaren Boden. In den besonders
beteiligungsorientierten Prozessen war deutlich zu spüren, dass Bewegung in die Ämter
gekommen war: Die Kommunikation untereinander änderte sich, und viele Mitarbeitende waren motiviert, sich in Prozessaktivitäten einzubringen, insbesondere wenn die
angestrebten Änderungen mit individuellen Mehrwerten verbunden waren.
Eine grundsätzliche individuelle Veränderungsbereitschaft ist nicht zwangsläufig mit
der Einsicht in die Veränderungsnotwendigkeit diversitätsorientierter Interkultureller
Öffnung gekoppelt. Die Erfahrungen lehrten, dass die Phase des „Auftauens“ für die
Inhalte der diversitätsorientierten Interkulturellen Öffnung lange dauern kann und mitunter erst einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen werden mussten, mit Diversity-
Themen anknüpfen zu können. Grundsätzlich bildeten Diversity-Sensibilisierungen ein
unverzichtbares Element, um auf individueller Ebene ein Problembewusstsein zu erzeugen, aber auch um aus einer diversitätsorientierten Perspektive heraus die Angebote und
Strukturen des Amtes analysieren zu können. Entsprechend äußerten alle Ämter den
dringenden Bedarf, regelmäßig Diversity-Fortbildungen anzubieten; zwei beschlossen,
dies nach Projektende als fortdauernde Maßnahme zu implementieren.
Eine nachhaltige Strategie bestand darin, Maßnahmen in Hinblick auf ihre strukturelle Verankerung zu planen. Insbesondere dort, wo es gelungen war, die Prozessmaßnahmen passgenau auf Bedarfe und Entwicklungsziele der Ämter abzustimmen, konnten
bleibende Veränderungen bewirkt werden. Indem Diversity-Kompetenzen in die Einarbeitungspläne oder (mit höchster Gewichtung) in die Anforderungsprofile aufgenommen
wurden, konnten zentrale Weichen für eine diversitätsorientierte Personalgewinnung
gestellt werden. Ein Familienservicebüro und ein Teilhabefachdienst, die nach Diversity-
Aspekten geplant wurden, versprechen eine bessere Nutzer*innenorientierung. Mit diesen und anderen Maßnahmen wurden in den Ämtern Instrumente für eine diversitätsorientierte Interkulturelle Öffnung implementiert, die nachhaltig wirken werden. Damit
zählen die Ämter in ihren Bezirken oder Landkreisen zu den Vorreitern.
Mitunter strahlten die im Rahmen des Projektes initiierten Prozesse auch in andere
Bereiche der Verwaltung aus: So läutete auch der Landkreis Ostprignitz-Ruppin eine partizipative Leitbildentwicklung ein, inspiriert durch den Leitbildprozess im zugehörigen
Amt für Familien und Soziales. Bisweilen fanden zudem zeitgleich ähnliche Entwicklungen
in anderen Bereichen der Verwaltung statt, wodurch Möglichkeiten der Vernetzung und
Synergieeffekte entstanden. In den beiden Berliner Bezirken waren die Themen
Diversitätsorientierung und Antidiskriminierung inzwischen auch auf Ebene der
Bezirksämter angesiedelt. In Pankow hatte auf Initiative des Bezirksbürgermeisters die
Arbeitsgruppe Diskriminierungsfreier Arbeitgeber, in der ein breites Spektrum an Fachämtern vertreten war, ihre Arbeit aufgenommen. In Charlottenburg-Wilmersdorf hatte
das Bezirksamt einen Fahrplan zur Interkulturellen Öffnung verabschiedet und drei Pilot
projekte gestartet; begleitend war eine Stelle zur Interkulturellen Öffnung (angesiedelt
im Integrationsbüro) geschaffen und eine Arbeitsgruppe mit der konkreten Bedarfserhebung und Zielentwicklung betraut worden. Diese und weitere Beispiele zeugen davon,
dass auf politischer Ebene zunehmend anerkannt wird, dass die bisherige Verwaltungspraxis gravierende Ausschlüsse erzeugt und dass Maßnahmen getroffen werden müssen, um soziale Dienstleistungen für alle in der gleichen Qualität zugänglich zu machen.
Öffentliche Verwaltungen haben als Arbeitgeber mit Vorbildfunktion dafür Sorge zu tragen, alle Bevölkerungsgruppen angemessen zu repräsentieren, um Diskriminierungen
auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken.
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Ausblick
Ergänzend zu den eingangs beschriebenen Ereignissen, die den Projektzeitraum prägten,
soll abschließend eine dritte, schleichende Entwicklung benannt werden, die im Kontext
diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung relevant ist: das Erstarken rassistischer
Stimmen. Denn auch gesellschaftliche Diskurse sind Umfeldfaktoren, die Veränderungsprozesse prägen. Vor diesem Hintergrund stehen öffentliche Verwaltungen heute besonders in der Verantwortung, ein klares Signal für Teilhabegerechtigkeit zu setzen und
Prozesse diversitätsorientierter Interkultureller Öffnung mit der hierfür dringend erforderlichen Priorität anzugehen.
„Ich finde es wichtig, zu schauen, wie der Trend allgemein in diesem Land
ist. Was alles salonfähig wird, wie Politiker und auch andere Menschen
reden, das finde ich gruselig. Da geht der Trend nicht in Richtung Vielfalt
und Öffnung, sondern ‚nach hinten‘. Es ist wichtig, nicht aus den Augen
zu verlieren, was für einen großen Einfluss das hat. Da reicht kein ambivalentes Signal, das letztlich suggeriert: ‚Es ist ja doch nicht so wichtig.‘ Es
macht schon etwas, wenn man sagt, ‚wir sind immer noch kein Einwanderungsland‘ – oder wenn eben von oben gesagt wird: ‚Wir wollen diese
Öffnung, wir wollen das als Gesellschaft und das ist uns wichtig‘ – und das
nicht nur bezogen auf Migration. Das könnte einen Druck von oben
schaffen, der bis in die kleinsten Zweige weiterwirkt.“
Selver Temur-Erman, Mitarbeiterin Erziehungs- und Familienberatung
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