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II. Eine Premieren-Kritik

Full text: Berliner Musikkritik / Schrattenholz, Joseph (Public Domain)

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Zeitungsfelde das Gras abweiden. Aesthetische Scharfrichter, die ihren 
blutigen Nachrichterdienst für ein Kellner-Trinkgeld verrichten! Und 
ganz dieselben Verhältnisse fast im ganzen schönen Lessing» und Kant- 
Vaterlande! Es ist einfach -- ekelhaft. = 
In Hamburg hat die sogenannte „Kritik“ sich beinahe ebenso un- 
zurechnungsfähig bewiesen, wie hier in Berlin. Nur Dresden, das 
kunstsinnige und fkunstbewährte Elb-Florenz, macht eine rühmliche 
Ausnahme. Dort wurde „Odysseus Heimkehr“ von der Presse wirklich 
als eine Heimkehr, als das, was sie wirklich ist, gefeiert: als die 
künstlerische Heimkehr eines der schönsten, poetischen Weltstoffe zu der 
edlen fosmopolitischen Schwesterkunst der Musif. Die Stadt, aus 
welcher Johannes Brahms zufolge, „nur Dummheiten kommen 
können“ und in welcher, einem Wikwort von Theodor Kirc<hner 
zufolge, „nur aus BosSheit Musik gemacht werden soll“ =- Hamburg 
nämlich -- hat übrigens bei der dortigen Premiere von „Odysseus 
Heimkehr“ ihren „Kritikern“ insofern wenigstens ein DeZaven gegeben, 
als der Verleger eines dortigen Blattes der „Kritik“ seines besoldeten 
Kritikers eine eigenhändig verfaßte Gegenkritik folgen ließ und den 
exekutirenden Scharfrichter seines Amtes entsehte. Ein Ereigniß, das 
fast ebenso bemerkenswerth ist, wie das öffentliche Eingeständniß des 
Berliner „Reichsboten“-Referenten, der „das einmalige Hören von 
„Odysseus Heimkehr“ zur Bildung eines gerechten Urtheils nicht für 
ausreichend“ hält. Ein Daniel! „Ein Daniel kam zu richten!“ Ob 
dieser Berliner Daniel sein bemerken3werthe8 Geständniß im Freien 
oder in der Löwengrube gemacht hat, weiß i< nicht. Das aber 
weiß ich, und werde e8 von meiner Meinung über Berlin im ganzen 
Leben nicht zu entfernen wissen: daß nämlich die existirende Berliner 
Musikkritik den offenkundigen Versuch gemacht hat, das hervorragendste 
musifdramatische Gebilde der Neuzeit in den Augen des Publikums 
als ästhetisches Zerrbild, als Resultat einer künstlerischen fausse-couche 
erscheinen zu lassen; denselben Künstler, den sie gelegentlich der 
Bungert= Abende Lilli Lehmann's fast einstimmig als „den be- 
deutendsten jeht lebenden Liederkomponisten“ auf den Schild hob und 
den die Dresdener Kollegenschaft nach Kenntniß von „Odysseus Heim- 
fehr“ mit vereinzelter Ausnahme zum hervorragendsten lebenden dra- 
matischen Komponisten stempelte, zum impotenten Nachahmer zu 
degradiren; daß sie versuchte, das Vorhaben einer begeisterungsfähigen 
Schaar ideal gesinnter und hochgebildeter Männer, das in dem Gode3= 
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