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Das würde trotz aller guten Gesetze und Einrichtungen, die
wir haben, den Untergang bedeuten. Grosse, mächtige Nationen
sind untergegangen und zu Trümmern geworden, nicht durch
die Gewalt der Waffen, sondern immer nur — das lehrt überal
die Weltgeschichte — durch den sittlichen Verfall. Der sitt-
liche Verfall bestand aber darin, dass die Nationen verlernt
hatten, ihre Jugend richtig zu erziehen. Es brauchen nicht alle
jungen Leute gleich so zu sein, dass sie zum Dolch greifen,
es-genügt vollständig, dass aus ihrer Mitte solche Verbrecher
hervorwachsen. Der heutige Abend hat dazu dienen sollen,
dass wir uns von unserm Leichtsinn heilen lassen, dass wir
einmal einen Blick in den Abgrund thun, vor dem wir stehen.
Es genügt aber nicht den Blick zu thun, sondern wir müssen
alle die Hände rühren, um den Abgrund auszufüllen. Die Frage,
die ich heute berührt habe, ist keine konfessionelle, keine
parteipolitische, sie geht uns alle an, welchen religiösen
oder politischen Standpunkt wir auch einnehmen. Das
Arbeitsfeld ist ein so grosses, dass wir alle auf ihm
Platz finden, ohne uns gegenseitig zu stören. Auf einer
weiten Ebene werden allerlei Früchte gebaut, Weizen, Roggen,
Hafer, Rüben, Kartoffeln u. s. w. Jede Religion und Konfession,
jede Partei, jede ethische und moralische Bestrebung kann an
der Rettung unserer erwerbsarbeitenden Jugend selbstständig
schaffen. Nicht die Methode ist_die Hauptsache, sondern dass
wir alle Hand anlegen, um aus dem klaffenden Abgrunde wieder
eine fruchtbare Ackerfläche zu machen. Darum nehme jeder
die Karre und den Spaten in die Hand und suche sich die
rechte Erde, um die Karre zu füllen. Wenn das auch Mühe
und Schweiss kostet, denn in den steingepflasterten und as-
phaltbedeckten Strassen Berlins ist Erde schwer zu finden, so
sollten wir doch nicht davon abstehen, unsere Schuldigkeit zu
thun. „Ein Jeder: lern’ sein’ Lektion, so. wird ‚es gut im
Hause ston“, sagt ein altes Sprichwort. Gott der Herr
hat uns eine ernste Lektion gehalten. Es kommt darauf an,
dass wir sie gründlich lernen. Kine grosse Stadt wie. Berlin
spricht 8 Tage von einem Ereignis wie der Levysche Mord.
Dann geht ihr Treiben weiter und sie vergisst, was sie erlebt
hat. Das wollen wir nicht thun, wir wollen unsere Lektion
beherzigen. Wenn wir alle, die wir hier versammelt sind, Hand
ans Werk legen, wenn wir andere zu demselben zu gewinnen
suchen, so_wird uns der schauervolle Mord in.der Mohrenstrasse
zur Besserung unserer Notstände Anlass geben und auch der
heutige Abend, an dem wir uns bemüht haben, die Mahnung,
die uns geworden ist, zu beherzigen, kein vergeblicher für uns,
tür diese Stadt und für unser Vaterland sein. Das walte Gott!