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II. Zur Musikgeschichte

Full text: Aus Adolf Bernhard Marx' litterarischem Nachlass / Selle, Gustav F. (Public Domain)

Wir müssen 1. das Kunstwerk, die Kunstperiode ete, im Zusammen- 
hange mit ihrer Zeit, als Ausgeburt ihrer Zeit fassen — und 
können kaum anders; wir können 2. nur so begreifen, wie das 
Werk in dieser Weise möglich gewesen und was es damals ge- 
sollt; aber wir können und dürfen 3. nicht unterlassen, aus unserem 
absoluten Gesichtspunkte — aus dem, den wir jetzt für den 
absoluten halten — das Werk und die Zeit, die es geboren, zu 
erkennen und zu würdigen. 
Was seiner Zeit genug gethan, lebt darum nicht für alle 
Zeit, sondern ist nur Dokument der seinigen. 
Offenbar sind zwei Grundstrebungen in der Musik: 1, die 
Vertiefung (bei den Älteren), 2. die Bewegung (bei den Neueren). 
Bei jenen gilt der einzelne Moment vor dem Ganzen, bei diesen 
ist es umgekehrt; bei jenen fehlt der Fortgang, bei diesen. die 
Wahrhaftigkeit. 
Beide sind das Ganze — ganz zu vereinen nie!! 
In allen kunstgeschichtlichen Evolutionen erscheint ein stets 
wiederkehrender Kampf zwischen dem Wollen und dem Können, 
dem Geist und dem Fleisch der Kunst, und das ist das elegische 
Moment in der Kunstgeschichte — Goethes „Wem gelingt es?“ 
Beides ist scharf zu unterscheiden. Das Wollen, der Vorsatz, spiegelt 
sogar den Zeitgenossen das Erreicht-haben vor, und man er- 
kennt erst viel später, dass es damals unmöglich war, dass das 
Material noch nicht gefunden und durchgeistet war, ohne welches 
die vorschwebende Idee sich nicht verkörpern konnte. Nur das 
künstlerisch gebildete Auge dringt hier durch die getäuschten 
Meinungen und Vorspiegelungen der preisenden Zeitgenossen, die 
wirklich befriedigt waren oder — nicht vermissten, weil sie nicht 
wussten. 
„Zeitseele“ — ein schönes Wort Auerbachs für das Leben 
und die Art einer Zeit. 
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