Wir müssen 1. das Kunstwerk, die Kunstperiode ete, im Zusammen-
hange mit ihrer Zeit, als Ausgeburt ihrer Zeit fassen — und
können kaum anders; wir können 2. nur so begreifen, wie das
Werk in dieser Weise möglich gewesen und was es damals ge-
sollt; aber wir können und dürfen 3. nicht unterlassen, aus unserem
absoluten Gesichtspunkte — aus dem, den wir jetzt für den
absoluten halten — das Werk und die Zeit, die es geboren, zu
erkennen und zu würdigen.
Was seiner Zeit genug gethan, lebt darum nicht für alle
Zeit, sondern ist nur Dokument der seinigen.
Offenbar sind zwei Grundstrebungen in der Musik: 1, die
Vertiefung (bei den Älteren), 2. die Bewegung (bei den Neueren).
Bei jenen gilt der einzelne Moment vor dem Ganzen, bei diesen
ist es umgekehrt; bei jenen fehlt der Fortgang, bei diesen. die
Wahrhaftigkeit.
Beide sind das Ganze — ganz zu vereinen nie!!
In allen kunstgeschichtlichen Evolutionen erscheint ein stets
wiederkehrender Kampf zwischen dem Wollen und dem Können,
dem Geist und dem Fleisch der Kunst, und das ist das elegische
Moment in der Kunstgeschichte — Goethes „Wem gelingt es?“
Beides ist scharf zu unterscheiden. Das Wollen, der Vorsatz, spiegelt
sogar den Zeitgenossen das Erreicht-haben vor, und man er-
kennt erst viel später, dass es damals unmöglich war, dass das
Material noch nicht gefunden und durchgeistet war, ohne welches
die vorschwebende Idee sich nicht verkörpern konnte. Nur das
künstlerisch gebildete Auge dringt hier durch die getäuschten
Meinungen und Vorspiegelungen der preisenden Zeitgenossen, die
wirklich befriedigt waren oder — nicht vermissten, weil sie nicht
wussten.
„Zeitseele“ — ein schönes Wort Auerbachs für das Leben
und die Art einer Zeit.
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