BAND 47
Praxis kommunale Verkehrswende
Ein Leitfaden
Mit Texten von Thorsten Koska, Ulrich Jansen, Oscar Reutter, Carolin
Schäfer-Sparenberg, Meike Spitzner und Alina Ulrich
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PRAXIS KOMMUNALE VERKEHRSWENDE
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SCHRIFTEN ZUR ÖKOLOGIE
BAND 47
Praxis kommunale Verkehrswende
Ein Leitfaden
Mit Texten von Thorsten Koska, Ulrich Jansen, Oscar Reutter, Carolin Schäfer-Sparenberg,
Meike Spitzner und Alina Ulrich
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung
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Die Autorinnen und Autoren
Thorsten Koska (Einführung; Radverkehr; Geteilte und vernetzte Mobilität; Elektromobilität; Rahmenbedingungen), Ulrich Jansen (Parkraum; ÖPNV), Oscar Reutter (Strategien der Verkehrswende;
Erfolgsfaktoren für die Verkehrswende; Mobilität für alle), Carolin Schäfer-Sparenberg (Fußverkehr;
Parkraum; Entschleunigung; Integrierte Verkehrsplanung; Mobilitätsmanagement), Meike Spitzner
(Mobilität für alle), Alina Ulrich (Fußverkehr; Entschleunigung)
Alle Autorinnen und Autoren arbeiten beim Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH.
Weitere Informationen unter: wupperinst.org
Bildnachweise
Wir danken allen Rechteinhabern der Fotos für die freundliche Nutzungsgenehmigung.
Diese Publikation wird unter den Bedingungen einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht:
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de Eine elektronische Fassung kann heruntergeladen werden. Sie dürfen das Werk vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen. Es gelten
folgende Bedingungen: Namensnennung: Sie müssen den Namen des Autors / Rechteinhabers in der von ihm
festgelegten Weise nennen (wodurch aber nicht der Eindruck entstehen darf, Sie oder die Nutzung des Werkes
durch Sie würden entlohnt). Keine kommerzielle Nutzung: Dieses Werk darf nicht für kommerzielle Zwecke
verwendet werden. Keine Bearbeitung: Dieses Werk darf nicht bearbeitet oder in anderer Weise verändert werden.
Praxis kommunale Verkehrswende – Ein Leitfaden
Mit Texten von Thorsten Koska, Ulrich Jansen, Oscar Reutter, Carolin Schäfer-Sparenberg, Meike
Spitzner und Alina Ulrich
Band 47 der Schriftenreihe Ökologie
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung 2020
Gestaltung: feinkost Designnetzwerk, Sebastian Langer (nach Entwürfen von State)
Cover-Bild: © vit – stock.adobe.com
Druck: ARNOLD group, Großbeeren
ISBN 978-3-86928-212-1
Bestelladresse: Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8, 10117 Berlin
T +49 30 28534-0 F +49 30 28534-109 E buchversand@boell.de W www.boell.de
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INHALT
Vorwort
7
I Zur Einführung: Das Leitbild nachhaltiger Mobilität in Kommunen
9
II Strategien der kommunalen Verkehrswende
12
III Erfolgsfaktoren für die Verkehrswende in Kommunen
23
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
32
1 Fußgängerfreundliche Städte – attraktive Wege und hohe Aufenthaltsqualität
32
2 So rollt es besser! Kommunen fahrradgerecht gestalten
41
3 Entschleunigung! Wie durch reduzierte Geschwindigkeit die Verkehrssicherheit erhöht wird
51
4 Neuer Raum – Wie Parkraummanagement und Straßenverkehr verbessert
werden können
58
5 Alleskönner ÖPNV – Wie man das Rückgrat des Umweltverbundes
attraktiver macht
68
6 Einfach von hier nach da – Geteilte und vernetzte Mobilität im Umweltverbund 78
7 Strom ist stark – Wie man Elektromobilität fördert
89
8 Jetzt kommt zusammen, was zusammengehört – Über die Verzahnung von
Stadt- und Verkehrsplanung
99
9 Überzeugen und motivieren – Mobilitätsmanagement und Kommunikation
108
10 Mobilität für alle! – Wie die Verkehrswende allen eine umweltschonende
Mobilität ermöglicht
115
V Notwendige Rahmenbedingungen für die Verkehrswende
132
Anhang: Weiterführende Literatur, Good-Practice-Beispiele und Planungshilfen
138
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Vorwort
VORWORT
Wie wollen wir in unseren Städten und Gemeinden leben? Wollen wir mehr Platz und
öffentliche Räume schaffen und bewahren, um einander begegnen und uns wohlfühlen zu können? Wollen wir, dass sich Menschen sicher im Straßenraum bewegen können, auch Kinder, ältere Menschen und Personen mit eingeschränkter Beweglichkeit?
Und trotzdem möglichst schnell vorankommen? Oder: Wollen wir jederzeit alles mit
dem Auto erreichen und überall parken können?
Diese Fragen beschäftigen viele Menschen im Alltag. Der Wunsch nach einer
anderen Mobilität wird stärker – zahlreiche Bewohner/innen von Städten und
Gemeinden gehen oft und gerne zu Fuß, und das Radfahren boomt. Die Nachfrage
nach einem zuverlässigen ÖPNV in dichter Taktung steigt. Auf der anderen Seite wird
um jeden wegfallenden Parkplatz gekämpft, die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer/innen wird aggressiver.
Die Mobilität in Deutschland wandelt sich, wie in anderen Ländern auch. Ein
wachsendes Bewusstsein für den Klimawandel, der bereits heute Realität ist und von
Kindern und Jugendlichen durch die FridaysForFuture-Bewegung auf die aktuelle
politische Tagesordnung gesetzt wurde, macht klar, dass die CO2-Emissionen im Verkehr sinken müssen. Bisher sind sie nämlich in fast allen anderen Bereichen, wie bei
den Haushalten und in der Industrie, gesunken. Doch der Verkehr verursacht aktuell rund ein Fünftel der deutschen Kohlendioxidemissionen. Er emittierte 2017 sogar
einige Kilotonnen CO2 mehr als 1990 – also vor rund 30 Jahren. Aber Menschen haben
auch andere Erwartungen an Straßen und Plätze in ihren Kommunen, sie möchten keinen Stau, keine zugeparkten Fuß- und Radwege, und sie möchten, dass ihre
Kinder eigenständig, sicher und ohne Angst zur Schule gehen oder fahren können.
Rund 91 Prozent der Bundesbürger/innen sind laut der Studie «Umweltbewusstsein
in Deutschland 2016» der Meinung, dass es zum guten Leben beiträgt, wenn Städte
und Gemeinden gezielt so entwickelt werden, dass die bzw. der Einzelne nicht mehr
auf ein Auto angewiesen ist. Andererseits werden auch in Großstädten noch circa die
Hälfte der Wege mit dem Auto zurückgelegt. Und jährlich werden in Deutschland
über drei Millionen Pkw neu zugelassen; fast ein Drittel davon sind inzwischen SUVs.
Mit diesen Widersprüchen muss die Kommunalpolitik umgehen. Die gute
Nachricht ist: Die lebenswerte Stadt ist möglich, und alltagstaugliche Mobilität
funktioniert durchaus auch ohne eigenes Auto. Blickt man ins europäische Ausland, sieht man viele gute Beispiele, die die Richtung anzeigen und die lebenswerte Stadt erlebbar machen: Sei es das fußgängerfreundliche Vitoria Gasteiz, die
«City of Cycling» Kopenhagen, Zürich als Welthauptstadt des ÖPNV sowie die vernetzte Metropole Helsinki, wo eine Flatrate alle Verkehrsmittel nutzbar macht für
die schnellsten Wege durch die Stadt, ohne dass man ein eigenes Auto braucht. Die
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Heinrich-Böll-Stiftung hat im vergangenen Jahr einige dieser «Best Practices» im
Internetdossier «kommunale Verkehrswende» zusammengestellt (https://www.boell.
de/de/kommunale-verkehrswende).
Deutsche Städte und Gemeinden haben sich ebenfalls auf den Weg gemacht zu
einer Verkehrswendekultur. Davon handelt dieser Leitfaden. Er zeigt, was heute schon
möglich ist und gemacht wird, teilweise mit überschaubarem Mitteleinsatz, um eine
gute Mobilität mit perspektivisch Null Verkehrstoten, ohne Stau, besserer Luft und
schöneren Straßen und Plätzen zu erreichen. Vorgestellt werden Beispiele aus der
ganzen Bundesrepublik aus großen und kleineren Städten zu den Themen Fußverkehr, Radverkehr, Entschleunigung, Parkraummanagement, ÖPNV, vernetzte Mobilität, Elektromobilität, integrierte Stadt- und Verkehrsplanung, Mobilitätsmanagement
und Kommunikation sowie Mobilität für alle. Wir hoffen, damit einen praktischen
Instrumentenkasten für alle Kommunalpolitiker/innen zusammengestellt zu haben,
die vor Ort die kommunale Verkehrswende gestalten wollen. Alle Beispiele sind zur
Nachahmung empfohlen.
Denn der Durchbruch zu einer nachhaltigen umwelt- und sozialverträglichen
Verkehrspolitik ist in den meisten Kommunen noch nicht geschafft. Der Abschied
vom Leitbild der autogerechten Stadt fällt schwer, manche Verwaltungen stecken in
ihren Routinen fest. Die kommunale Verkehrswende ist keine kosmetische Kurskorrektur, sondern ein klarer Kurswechsel, der Mut und Entschlossenheit braucht. Der
sich aber lohnt, da es viel zu gewinnen gibt.
Schließlich zeigt unser Leitfaden auch, welche Grenzen übergeordnete politische Ebenen, allen voran die Bundespolitik, der kommunalen Verkehrswende derzeit
setzen. Die kommunale Finanzausstattung ist für einen anspruchsvollen ÖPNV-Ausbau nicht ausreichend. Für die gültige Straßenverkehrsordnung ist immer noch der
motorisierte Individualverkehr derjenige Verkehr, der in erster Linie fließen soll und
anderen Verkehrsarten gegenüber bevorzugt wird. Spielräume für Experimente der
Gleichberechtigung von Fortbewegungsarten gibt es zu wenige. Bei den Rahmenbedingungen für die Verkehrswende in Städten und Gemeinden gibt es noch viel Luft
nach oben. Aber: Es gibt bereits hier und heute zahlreiche Spielräume, die die Kommunalpolitik nutzen kann. Wir möchten dazu anregen und ermutigen, das auch zu
tun. Damit die lebenswerte Kommune auch in Deutschland flächendeckend Realität
werden kann.
Wir danken den Autorinnen und Autoren des Wuppertal Instituts: Thorsten
Koska, Oscar Reutter, Carolin Schäfer-Sparenberg, Alina Ulrich, Ulrich Jansen und
Meike Spitzner für die produktive Zusammenarbeit. Ohne ihr Engagement wäre die
Publikation in dieser Form nicht möglich gewesen. Außerdem danken wir Ulrike
Reutter für kritische Kommentare und konstruktive Tipps.
Berlin, Januar 2020
Peter Siller Sabine Drewes
Leiter der Abteilung Politische Bildung
Referentin für Kommunalpolitik und
Stadtentwicklung der Heinrich-Böll-Stiftung
Inland der Heinrich-Böll-Stiftung
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
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I Zur Einführung: Das Leitbild nachhaltiger Mobilität in Kommunen
I Zur Einführung: Das Leitbild
nachhaltiger Mobilität in
Kommunen
Autofreie Straßen in vielen Städten, mehr Bundesmittel für den öffentlichen Personennahverkehr, neue Modelle für das Bewohnerparken, Umweltspuren, flexible
Ride-Pooling-Angebote – es sieht so aus, als würde die Verkehrswende nach vielen
Jahren im Stau nun Fahrt aufnehmen. Die Frage nach einer besseren Mobilität in
Städten prägt aktuell die öffentliche Debatte: In Zeitungskommentaren, Online-Foren, auf Marktplätzen und Bürger/innenversammlungen wird darüber gestritten, wie
eine Verkehrswende gelingen kann.
Dass die Bedeutung des Themas in den letzten Jahren gewachsen ist, ist kein
Zufall. Die Klimakrise wird zu einem immer drängenderen Problem, weil weltweit zu
wenig getan wird, um die Klimaziele von Paris einzuhalten. Extremwetterereignisse
und die Proteste von Fridays for Future haben dies mit Vehemenz ins öffentliche
Bewusstsein gebracht. Der Verkehr ist für fast 19 Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Damit Deutschland seine Klimaziele einhalten kann,
müssen die Emissionen im Verkehr um mehr als 40 Prozent bis 2030 sinken. Wie
groß diese Herausforderung ist, wird deutlich, wenn man zurückblickt: In den letzten
30 Jahren sind die Emissionen gar nicht gesunken, während alle anderen Sektoren
bereits zum Klimaschutz beitragen.
Zugleich sind die direkt wirksamen Umwelt- und Gesundheitsschäden des Verkehrs spürbar: Die immer noch gesetzeswidrig hohen Stickoxidbelastungen in vielen Innenstädten haben Gerichte zu Fahrverboten veranlasst. Viele Städte erproben
Möglichkeiten, diese Belastung zu senken – auch wenn die Maßnahmen vielfach nur
punktuelle Wirkung haben. Nicht zuletzt beschränkt der Autoverkehr die Lebensqualität in Städten und verschärft soziale Ungleichheiten. Das Wohnen an viel befahrenen Straßen ist durch die Verkehrsbelastung unattraktiv und ungesund. Die hohen
Geschwindigkeiten des Straßenverkehrs gefährden schwächere Verkehrsteilnehmer/
innen, schrecken vor dem Radfahren ab und nehmen insbesondere Kindern die Möglichkeit, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.
Es sind all diese Faktoren, die die Rufe nach einer anderen, nachhaltigen Mobilität lauter werden lassen. Einerseits wollen viele Menschen eine Verkehrswende, wie
Befragungen zeigen: Mehr als 70 Prozent der Befragten fordern mehr Tempo beim
Umbau des Mobilitätssystems (Redaktionsnetzwerk Deutschland 2019: Deutsche fordern mehr Tempo bei der Verkehrswende. https://www.rnd.de/politik/deutsche-fordern-mehr-tempo-bei-der-verkehrswende-74MFAL7JVIZKON6RMG3K6NYNGQ.html)
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eine grundsätzliche Akzeptanz für eine andere Verkehrspolitik in den Kommunen ist
also da. Andererseits gibt es nach wie vor viele Vorbehalte, wenn es um konkrete Veränderungen geht. Hierzu zählen Widerstände von Autobesitzer/innen etwa gegen die
Verknappung von Parkraum, die Angst des Einzelhandels vor möglichen Einnahmeausfällen oder die Schwierigkeit jedes Einzelnen dabei, bequeme Gewohnheiten aufzugeben – wie den Weg mit dem Auto zum Bäcker.
Aufgabe der Politik und Verwaltung, aber auch der engagierten Zivilgesellschaft
in den Kommunen ist es nun, diese Vorbehalte zu entkräften und eine greifbare Idee
davon zu entwickeln, wie eine lebenswerte Stadt nach einer Verkehrswende aussehen
kann – denn nur wenn ein klares Ziel definiert und ein Leitbild skizziert wird, kann
der manchmal beschwerliche Weg dorthin bewältigt und von den Menschen mitgetragen werden.
Es ist das Leitbild einer Stadt für alle: barrierefrei, mit ruhigen Straßen und sauberer Luft, mit Platz zum Verweilen und kurzen Wegen zur Schule, zur Arztpraxis oder
zur Bäckerei. Nahmobilität, öffentlicher Verkehr und Sharing-Angebote sind gestärkt
und gut miteinander vernetzt: Breite Radwege, Tempo 30 auf den meisten Straßen
und eine Vorrangschaltung für Rad- und Fußverkehr an Ampeln machen Wege mit
dem Rad und zu Fuß schneller und sicherer. Durch bessere Verbindungen und eine
Anschlussgarantie in einem Taktfahrplan ist es komfortabler, mit dem öffentlichen
Personennahverkehr unterwegs zu sein. Wo kein Bus fährt, ergänzen intelligente
On-demand-Verkehre das Angebot. Carsharing und Leihfahrräder stehen an Mobilstationen zur Verfügung und machen auf vielen Wegen das eigene Auto überflüssig.
Wer einen größeren Einkauf zu erledigen hat, leiht sich dort eines der Lasten-Pedelecs
aus. Die Mobilität wird damit vielfältiger: Wo ein Weg heute mit dem Auto zurückgelegt wird, steht in Zukunft eine nahtlos verknüpfte Wegekette aus verschiedenen
Verkehrsmitteln, die je nach Bedarf eingesetzt werden.
All dies führt dazu, dass der private Autoverkehr eine deutlich geringere Rolle
spielt. Viele Straßen sind autofrei, geparkt wird in Quartiersgaragen – dafür ist auf der
Straße nun mehr Platz zum Spielen, für Begrünung, für Sitzgelegenheiten. Die verbliebenen Autos sind überwiegend elektrisch und damit energiesparsam und lokal
emissionsfrei unterwegs.
Dass dies keine unrealistische Utopie, sondern eine konkrete, umsetzbare Per
spektive ist, zeigen die Praxisbeispiele vieler Städte in Deutschland, Europa und weltweit: die fahrradfreundlichen Bedingungen in Kopenhagen, Münster oder Bocholt,
der attraktive öffentliche Nahverkehr in Wien, verkehrsberuhigte Superblocks in Barcelona, Mobilstationen in Bremen oder Offenburg, das kommunale Mobilitätsmanagement in Aachen oder München und viele andere gute Beispiele. Diese Vorbilder
zeigen, dass die Kommunen eine gute Chance haben, die Verkehrswende durch ihr
eigenes Handeln tatsächlich voranzubringen. Die vorliegende Publikation fokussiert
dabei auf Umsetzungsbeispiele aus Kommunen in Deutschland, um zu zeigen, dass
auch unter den hier vorzufindenden Rahmenbedingungen eine kommunale Verkehrswende möglich ist.
Allerdings ist dieser Weg mit vielen Herausforderungen verbunden, die Kommunalpolitik und -verwaltung gemeinsam mit der Zivilgesellschaft bewältigen müssen.
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I Zur Einführung: Das Leitbild nachhaltiger Mobilität in Kommunen
Quelle: René Mentschke (René Mentschke – flickr CC BY-SA 2.0)
Heutiger Stadtverkehr
Stadt- und Verkehrsplanung ist über Jahrzehnte dem Paradigma autogerechter Städte
gefolgt. Damit bilden die gebaute Infrastruktur und die bestehenden Regeln noch das
überkommene Leitbild der autogerechten Stadt ab. Dies macht das Auto heute immer
noch so attraktiv – und diese Attraktivität zu verändern, ist eine schwierige Aufgabe.
Zudem ändern sich Planungsprozesse in der öffentlichen Verwaltung nur langsam. Komplexe Verfahren, Personalengpässe und begrenzte Finanzmittel erschweren
eine schnelle Umsetzung zusätzlich.
Diese Hemmnisse aufzubrechen erfordert Überzeugungskraft, Beharrlichkeit
und die Fähigkeit, die Menschen in der Stadt von den Vorteilen der Verkehrswende
zu überzeugen.
Wie dies gelingen kann, möchte dieser Praxisleitfaden zeigen – mit einer Auswahl von konkreten Maßnahmen, die Kommunen selbst umsetzen können, um die
Verkehrswende voranzubringen. Nach einer Darstellung von allgemeinen Strategien
und Erfolgsfaktoren geht der Leitfaden in zehn thematischen Kapiteln auf wichtige
Handlungsfelder der kommunalen Verkehrswende ein. Er behandelt die Förderung
von Radverkehr und ÖPNV ebenso wie übergreifende Konzepte, z. B. eine integrierte
Verkehrsplanung oder Maßnahmen des Mobilitätsmanagements. In jedem Beitrag
werden erfolgreiche Praxisbeispiele aus größeren oder kleineren Kommunen und
Regionen dargestellt, um interkommunales Lernen zu ermöglichen und einen Ausblick auf die Möglichkeiten der Verkehrswende zu geben.
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II Strategien der kommunalen
Verkehrswende
Die Gestaltung einer kommunalen Verkehrswende ist keine Kleinigkeit, sondern eine
schwierige und komplexe Aufgabe. Mit einer positiven Grundhaltung kann diese
immense Aufgabe aber als das Gemeinschaftswerk Vieler gelingen. Dafür werden im
Folgenden zehn strategische Ansatzpunkte skizziert.
Kommunale Verkehrswende bedeutet zuallererst: Umsteuern! Das heißt: die klare
Abkehr vom Leitbild einer autogerechten Stadt, das in praktisch allen Städten in
Deutschland im Zuge der historischen Massenmotorisierung seit den 60er Jahren
des 20. Jahrhunderts aktiv verfolgt wurde. Damals wurden die Städte durch die Stadtund Verkehrsplanung auf die Ansprüche des motorisierten Individualverkehrs ausgerichtet. Kommunale Verkehrswende bedeutet deshalb nichts Geringeres als einen
klaren Kurswechsel. Die autozentrierte Stadt ist ein Relikt von gestern. Jetzt geht es
darum, dass anstelle des Bedürfnisses, mit dem Auto unterwegs zu sein, die Ansprüche der Menschen an lebenswerte Stadtqualitäten und ein gutes Wohnumfeld und
die Ansprüche der Gesellschaft an eine klima- und umweltschonende Mobilitätsgestaltung in den Mittelpunkt rücken (vgl. z. B. Drewes 2019). Die kommunale Verkehrsplanung priorisiert deshalb die Verkehrsmittel des Umweltverbundes, also das
Zu-Fuß-Gehen, das Radfahren, das Fahren mit Bussen und Bahnen im öffentlichen
Nahverkehr sowie ergänzend Ride-Pooling, Carsharing und Taxis als öffentliche
Autos.
Dieser Strategiewechsel ist keine Kleinigkeit, keine kosmetische Kurskorrektur. In
den meisten deutschen Städten ist das ein radikaler Kurswechsel. Einige Städte sind
schon in dieser neuen Richtung unterwegs und ermutigen als erfolgreiche Vorbilder
andere Kommunen, ihnen nachzueifern. Manche sind weiter, manche weniger weit.
Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts steht vielen Städten eine solche
Verkehrswende erst noch bevor. Die sozialen, ökonomischen und vor allem die ökologischen Grenzen, allen voran die dringende Notwendigkeit für eine klimaschonende
Gestaltung des Verkehrs, an die die überkommene autoorientierte Stadtverkehrspolitik
stößt, erfordern ein entschlossenes Umsteuern hin zu einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Mobilitätsgestaltung.
Dabei kommt es darauf an, diese Wende hin zur zukunftsfähigen Mobilität klar,
entschlossen und schnell durchzuführen. Die drei zentralen Kriterien zur Beurteilung
des erforderlichen Strategiewechsels und der erforderlichen Maßnahmen lauten:
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1 Umsteuern und Kurswechsel
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Ist die vorgenommene Veränderung «richtungssicher»? Findet wirklich ein konsequenter Kurswechsel statt? Oder geht es nur um kosmetische, minimalistische
Kurskorrekturen, die verkehrspolitisch unauffällig sind – und unwirksam. Das
wäre eine «Als-ob-Verkehrspolitik».
Sind die für den neuen Kurs hin zur zukunftsfähigen Mobilität verfolgten Maßnahmen «größenordnungssicher»? Tragen sie wirksam und in der Größenordnung
relevant dazu dabei, eine zukunftsfähige Mobilität zu gestalten? Oder sind sie
dafür zu klein und unangemessen? Das wäre eine «Verzagtheits-Verkehrspolitik».
Ist die Geschwindigkeit des Kurwechsels angemessen? Wirken die ergriffenen
Maßnahmen schnell genug, um die Ziele von Stadtqualität und Umweltschonung
auch zügig zu erreichen? Oder sind die Maßnahmen zu halbherzig und zu zögerlich. Das wäre eine «Später-irgendwann-mal-Verkehrspolitik».
Diese drei Kriterien – «richtungssicher», «größenordnungssicher» und «geschwindigkeitssicher» – machen klar: Kommunale Verkehrswende bedeutet einen deutlichen
Haltungswechsel.
II Strategien der kommunalen Verkehrswende
2 Haltungswechsel und Gewinne
Eine kommunale Verkehrswende argumentiert nicht nur gegen etwas – insbesondere
gegen zu viel Autoverkehr. Politikerinnen und Politiker können ihre Erfolgschancen
erhöhen, wenn sie deutlich machen, dass die Verkehrswende auch ein Gewinndiskurs
ist und für etwas wirbt – für mehr Qualität.
Zunächst steht im Zentrum einer solchen kommunalen Verkehrswende das
Ziel, den Menschen und den Unternehmen eine Mobilität zu ermöglichen, die
ihren Bedürfnissen entspricht und dabei zugleich ökologisch verträglich, sozial verpflichtet und gerecht sowie ökonomisch effizient ist. Denn nur in dieser Verknüpfung werden Mobilität und Verkehr zukunftsfähig und stadtverträglich. Eine lokal
und konkret erlebbare Verkehrswende schafft viele Gewinne für die Menschen, die
Umweltqualität und die Stadt. Sie gewinnen: mehr Ruhe, eine gesündere Atemluft,
aktiven Klimaschutz, verbesserte Verkehrssicherheit, höhere Wohnumfeldqualität,
freien Bewegungsraum für Kinder und erweiterte umweltschonende Mobilität für
alle. Kurzum: eine lebenswerte Stadt. Diese Gewinne können und sollen die Verluste
übertreffen, die es natürlich auch gibt, wenn künftig nach der kommunalen Verkehrswende nicht mehr jederzeit und überall beliebig Autos ohne nennenswerte Einschränkungen gefahren und abgestellt werden dürfen. Wegen der beeindruckenden
Gewinne lohnt es sich aber, das Leitbild Verkehrswende zu verfolgen und entschlossen zu realisieren.
3 Gemeinschaftswerk kommunale Verkehrswende
Die kommunale Verkehrswende ist ein Gemeinschaftswerk vieler Beteiligter. Das
macht die Aufgabe Verkehrswende scheinbar überkomplex und unübersichtlich. Ein
veränderter Blick macht die Sache aber weniger verwirrend. Die bunte Vielfalt der
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Akteurinnen und Akteure eröffnet die Chance für die Verkehrswende, diesen Akteurinnen und Akteuren noch mehr Handlungsräume für diese gemeinsame Sache zu
geben. Kommunale Verkehrswende ist so verstanden eine Stärkungsstrategie; Verkehrswende ist «Empowerment».
Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung können bei ihren vielfältigen, alltäglichen Planungsaufgaben wie Verkehrsentwicklungsplanung, Nahverkehrsplanung,
Stadtentwicklungsplanung, Bauleitplanung, Lärmminderungsplanung, Luftreinhalteplanung, Klimaschutzplanung usw. einen klaren Kurs für die kommunale Verkehrswende setzen und die dafür erforderlichen Strategien und Maßnahmen verfolgen.
Die lokalen Unternehmen können mit ihren Standortentscheidungen und ihrem
betrieblichen Mobilitätsmanagement mittun. Die Industrie- und Handelskammer
oder die Kreishandwerkerschaft sind in diesem Kontext wichtige, produktive Kooperationspartner. Die örtliche Wohnungswirtschaft kann mit wohnstandortbezogenen
Mobilitätsmanagementstrategien dazu beitragen. Die städtische Mobilitätswirtschaft
kommunale Nahverkehrsunternehmen, Carsharing-Anbieter und das Taxigewerbe
sind ohnehin die natürlichen Verbündeten einer Verkehrswende weg vom Auto
hin zum Umweltverbund. Denn sie unterstützen einen im Kern autounabhängigen
Mobilitätsstil, der nur ausnahmsweise auf öffentliche Autos zurückgreift. Sie profitieren davon und gewinnen: mehr Kundinnen und Kunden, mehr Einnahmen, mehr
Wertschätzung.
Die lokalen Medien in Zeitung, Hörfunk, Fernsehen und Social Media können
jeden Tag die vielfältigen Themen der kommunalen Verkehrswende aufgreifen, kritisch darüber berichten und kommunale Lösungen thematisieren.
Jede/r Einzelne kann die eigene alltägliche Mobilität weniger autoorientiert
gestalten, sich autounabhängiger fortbewegen, mehr multimodal und intermodal
unterwegs sein oder sich gleich ganz für ein autofreies Leben entscheiden.
Die Zivilgesellschaft kann sich politisch für die kommunale Verkehrswende in Initiativen engagieren und dafür mitstreiten.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Forschungseinrichtungen und
Hochschulen können sich mit ihrer Kompetenz und über ihre Projekte in Forschung,
Lehre und mit ihren gesellschaftlichen Aktivitäten für die Verkehrswende in ihrer
Stadt engagieren.
Und schließlich kann die überörtliche Ebene der Region, des Bundeslandes, des
Bundes und der Europäischen Union die Aktivitäten der kommunalen Verkehrswende mit ihren Rahmensetzungen unterstützen.
Mit diesem Verständnis wird die Großaufgabe kommunale Verkehrswende zu
einem sinnstiftenden Gemeinschaftsprojekt, das alle Beteiligten an ihrem jeweiligen
Platz einbezieht. Kommunale Verkehrswende wird damit zu einem solidarischen
Gemeinschaftsprojekt aller.
4 Kommunale Verkehrswendeplanung
Die kommunale Verkehrswende ist eine dauerhafte kommunalpolitische Großaufgabe – so ähnlich wie Wohnungspolitik, Gewerbeflächensicherung, Umweltplanung,
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II Strategien der kommunalen Verkehrswende
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Bauleitplanung, Schulentwicklung oder Kindergartenpolitik. Kommunalpolitik und
-verwaltung sollten diese Aufgabe mit hoher Priorität und Kontinuität angehen und
dafür Strukturen schaffen: Pläne und Programme dafür entwickeln, Beschlüsse dafür
treffen und Projekte realisieren sowie Personal und Budgets dafür bereitstellen. Strategische Pläne wie Verkehrsentwicklungspläne sind für die Gestaltung der Verkehrswende genauso erforderlich wie konkrete, dazu passende operative Projekte.
Kommunale Verkehrswende bedarf sachlich überzeugender Konzepte, die den
Anforderungen dieser großen Transformation auch tatsächlich gerecht werden. Zum
Beispiel: Tempo-30-Straßenabschnitte vor Grundschulen sind gut und richtig. Aber
für eine echte kommunale Verkehrswende ist eine flächendeckende innerörtliche
Höchstgeschwindigkeit von Tempo 30 im ganzen Stadtgebiet notwendig – auch auf
den Hauptverkehrsstraßen. Ein «Modal Shift» vom Auto zum Umweltverbund im Binnenverkehr ist richtig, reicht aber nicht aus. Genauso gilt es, auch die Ein- und Auspendler/innen mit stadtregionalen Verkehrskonzepten wirksam zum Umstieg vom
Auto auf den Umweltverbund zu bewegen. In der Nahverkehrsplanung einer Stadt
das ÖPNV-Angebot gerade noch so auf dem heute vorhandenen Angebotsniveau aufrecht zu erhalten, das wird kaum ausreichen, um im großen Maßstab Menschen zum
Umstieg vom Auto in Busse und Bahnen zu motivieren. Den Umweltverbund zu fördern, aber gleichzeitig Zubringerstraßen in die Innenstadt und das Parkraumangebot
in der City auszubauen, wird nicht dazu führen, dass viele Verkehrsteilnehmer/innen
auf den Umweltverbund umsteigen. Solche halbherzigen und widersprüchlichen
Konzepte sind weder wirksam noch überzeugen sie die Menschen.
Wer kommunale Verkehrswende wirklich will, muss deshalb auch klar und konsequent darauf ausgerichtete Verkehrswendekonzepte entwickeln und vertreten. Solche kommunalen Verkehrswendeplanungen behandeln integriert: die verschiedenen
Verkehrs- und Wegezwecke, die verschiedenartigen Verkehrsmittel im motorisierten
Individualverkehr und im Umweltverbund, vertikal die übergeordneten Planungsebenen und horizontal die betroffenen «benachbarten» Planwerke wie Bauleitplanung, Klimaschutzplanung, Luftreinhalteplanung oder Lärmminderungsplanung, die
unterschiedlichen Akteur/innen, die zeitlichen Planungshorizonte der kurz-, mittelund langfristigen Planungen und manches mehr (FGSV 2013).
Die kommunale Verkehrswende braucht einerseits die Unterstützung durch
eine explizite Verkehrswendepolitik auf den höheren, vorgelagerten Handlungsebenen im politischen Mehrebenensystem: durch die Regionen, die Bundesländer, den
Bund und die Europäische Union. Andererseits konkretisiert die lokale Ebene auch
Verkehrswendestrategien dieser übergeordneten Ebenen und gibt im Gegenstromprinzip ihrerseits Impulse für eine verkehrswendeorientierte Weiterentwicklung der
überörtlichen Rahmenbedingungen.
5 Leitbild, Ziele und Zielwerte
Zukunftsfähige Mobilität und nachhaltigen Verkehr gilt es von den Zielvorstellungen, den angestrebten Gewinnen her, rückwärts im Heute zu gestalten. «Vom Ziel
her denken» ist das Motto. Auf diesem Weg ist es notwendig, konkret zu werden
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und operationale Zielwerte zu formulieren. Zum Beispiel: Gesunde Atemluft heißt,
die Stickstoffdioxid-Immissionsbelastungen schon im nächsten Jahr unterhalb des
gesetzlichen Grenzwertes von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft zu senken – mindestens. Kein verkehrslärmverursachter Herzinfarkttoter in der Wohnbevölkerung
heißt: keine Straßenlärmbelastungen oberhalb eines Immissionslärmwertes von 65
dB(A) überall dort, wo Menschen wohnen – auch an Hauptverkehrsstraßen – spätestens bis zum Jahr 2023 oder eher. Sicheres Verkehrsumfeld heißt: die Vision Zero, also
null Verkehrstote im Stadtgebiet, zu realisieren, in spätestens einer Dekade – oder
schneller. Klimaschutz auch im Stadtverkehr heißt: minus 80 bis minus 95 Prozent
Kohlendioxidemissionen aus dem Stadtverkehr bis 2050 gegenüber dem Basisjahr
1990 und am besten ganz klimaneutral werden – oder schon 2030.
Solche operationalisierten Zielvorstellungen für städtische Lebensqualität (Wo?
Was konkret? Bis wann?) müssen stadtpolitisch definiert werden. Selbstverständlich
wird das strittig sein. Darüber bedarf eines demokratischen Diskurses und mutiger
stadt-, umwelt- und verkehrspolitischer Entscheidungen.
Nur mit dem transparenten Maßstab solcher operationaler Zielvorstellungen
kann eine Kommune beurteilen, wo sie bei ihrer Verkehrswende gerade steht und ob
ein gesamter Verkehrsentwicklungsplan oder ein neuer Nahverkehrsplan oder ein
ganz konkretes Verkehrsprojekt, wie Straßenneubau oder Tempo-30-Zone, Straßenbahnlinienneubau oder Fahrplanausdünnung, separater Radweg oder kombinierte
Umweltspur für Busse, Fahrräder und Taxis nun tatsächlich einen wirksamen Beitrag
zur Erreichung des Leitbildes und der Ziele leistet: richtungssicher, größenordnungssicher und geschwindigkeitssicher.
6 Strategie-Trias: Vermeiden – Verlagern – Verbessern
a) Das «Vermeiden» von Verkehr, bevor er überhaupt entsteht, indem Wege verkürzt
oder ersetzt werden. Home-Office-Regelungen können Arbeitswege an Werktagen
vermeiden. Telefon und Videokonferenzen helfen physische Dienstreisen zu vermeiden. Internetbanking kann Wege für Bankgeschäfte einsparen. Eine Stadt der
kurzen Wege mit räumlich gemischter Nutzung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Bildung oder Freizeitgestaltung eröffnet das Potenzial maximal
kurze Wege. Eine kommunale Verkehrswende sollte danach streben, die prinzipiellen Verkehrsvermeidungspotenziale solcher Ansätze zu erschließen. Oft liegen dabei die konkreten kommunalen Handlungsmöglichkeiten für Maßnahmen
zur Verkehrsvermeidung außerhalb der traditionellen Fachplanung Verkehr, etwa
bei der kommunalen Wirtschaftsförderung, der Schulstandortpolitik oder bei der
Arbeitszeitregelung für die Verwaltungsbeschäftigten im Rathaus.
b) Das «Verlagern» von Wegeanteilen vom motorisierten Individualverkehr zu den
Verkehrsmitteln des Umweltverbundes durch eine gezielte «Modal-Shift-Politik».
Dem dient eine kluge Kombination von Einschränkungen und Anreizen – die
sogenannte «Push- und Pull-Strategie». Zum Beispiel sind sichere Fußgänger16
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Drei grundlegende Strategien dienen der kommunalen Verkehrswende:
II Strategien der kommunalen Verkehrswende
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querungen, engmaschige Radverkehrsverbindungen oder die Busbeschleunigung
durch Ampelvorrangschaltungen positive Anreizmaßnahmen zur Förderung des
Umweltverbundes. Im Großen sollten Kommunen die autounabhängige Mobilität und das autofreie Leben in der Stadt systematisch fördern und Entmotorisierungsprozesse unterstützen, mit dem Ziel, die Anzahl der Autos im individuellen
Besitz zu reduzieren.
Menschen in autofreien Haushalten, die mit ihren grundsätzlich autofreien und auf den Umweltverbund orientierten Mobilitätsstilen schon heute die
kommunale Verkehrswende praktizieren, wollen und sollen ihre Aktivitätsziele
genauso erreichen können wie Personen, die dafür jederzeit ein eigenes Auto nutzen können. Immerhin leben in Deutschland 22 Prozent der Haushalte autofrei
(Stand 2017); in Großstädten liegt ihr Anteil noch deutlich höher (31 Prozent) und
in Metropolen wie Berlin, Hamburg oder München sogar bei 42 Prozent (BMVI
2018). Die kommunale Verkehrsplanung sollte deshalb nicht nur die Mobilität
der schon heute Autofreien, sondern auch prinzipiell die Mobilität aller, die sich
autounabhängig im Umweltverbund fortbewegen wollen, bei ihren Planungen
berücksichtigen und gegenüber dem Autoverkehrs-Infrastruktursystem priorisieren, so dass möglichst viele Menschen autofrei leben können.
Damit Anreize ihre volle Wirkungskraft entfalten können, ist es notwendig,
sie mit komplementären Einschränkungen des motorisierten Individualverkehrs
zu kombinieren – zum Beispiel: ein flächenhaftes Tempolimit auf 30 km/h innerorts, auch auf Hauptverkehrsstraßen. Nötig sind ferner die Verknappung und
Verteuerung des öffentlichen Parkraumangebotes im Straßenraum und die Verlagerung der abgestellten Kraftfahrzeuge in bestehende Parkhäuser und Tiefgaragen im Umfeld. Diese sind häufig gerade in den Abendstunden unterausgelastet.
Von den parkenden Kraftfahrzeugen befreite Straßenflächen können dann zur
Verbesserung des Wohnumfeldes umgestaltet und genutzt werden. Dieselfahrverbotszonen dienen der wirksamen Senkung der Luftschadstoffbelastungen,
Pförtnerampeln am Stadteingang lassen gerade nur so viele Autopendler/innen
in die Stadt einfahren, wie die Stadt wegen der Luftschadstoffbelastung oder Flächenknappheit verträgt, wie z. B. in Düsseldorf oder in Mannheim praktiziert.
Besonders effektiv sind Maßnahmen, die in sich die Anreiz- und Einschränkungswirkung miteinander verbinden – zum Beispiel: die Umwandlung von Fahrspuren für den motorisierten Individualverkehr auf Hauptverkehrsstraßen hin zu
kombinierten Umweltspuren für Busse, Taxis und Fahrräder oder die Umwandlung von kostenlosen öffentlichen Autoparkplätzen im Straßenraum in dicht
bebauten innerstädtischen Wohngebieten zu Flächen für Mobilstationen mit
Bushaltestelle, Fahrradquartiersgarage, Carsharing-Station und Taxistand, wie in
Bremen und Offenburg und jüngst die erste in Wuppertal.1
1
Am 17.9.2019 wurde die erste Wuppertaler Mobilstation im Stadtquartier Ölberg am Schusterplatz auf der Schneiderstraße eröffnet: https://bit.ly/383EFgB und https://bit.ly/2t4K9ch und
https://bit.ly/2Tj9NV7
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Und: Den Umweltverbund zu fördern anstatt den motorisierten Individualverkehr ist eine Effizienzstrategie par Excellence: denn er ist flächeneffizienter,
energie- und klima- und kosteneffizienter.
c) Das «Verbessern», um einen stadtverträglichen Verkehrsablauf zu gestalten und um
fahrzeugseitige, technische Verbesserungen zu realisieren. Bereits die Einführung
einer flächendeckenden Tempo-30-Regelung kann dazu beitragen, den Verkehrsablauf lärm- und schadstoffärmer zu gestalten. Außerdem sollte das in immerhin
mehr als fünfzig deutschen Städten bestehende Instrument «Umweltzone» (UBA
2018) zur Verringerung der lokalen Luftschadstoffemmissionsbelastung durch
Grenzwerteverschärfungen (Einführung einer «blauen Plakette» als zusätzliche
vierte Schutzstufe) zu einer «Klimazone» werden. Darin dürften dann künftig nur
noch Kraftfahrzeuge mit spezifisch niedrigen Treibhausgasemissionen fahren.
Fahrverbotszonen als regulative Eingriffe lösen in Kommunen, die verkehrspolitisch noch sehr autoorientiert ausgerichtet sind, vermutlich starke
Abwehrreflexe aus, wenn sie in die Diskussion gebracht werden. Dabei dürfte entscheidend sein herauszustellen, dass es um höhere schützenswerte Güter geht,
die allgemein akzeptiert sind, wie eine gesunde Atemluft oder wirksamen Klimaschutz, und nicht darum, Autofahrer/innen zu «ärgern». Für solche höheren Ziele
sind Verbote nichts Anderes als gesellschaftliche Solidaritätserwartungen. Helfen
kann auch der Hinweis auf andere als selbstverständlich akzeptierte Verbote wie:
das Rauchverbot in Gaststätten und öffentlichen Räumen (seit 2007) zum Zweck
des Nichtraucherschutzes oder das Glühlampenverbot (seit 2009) zum Zweck der
Energieeinsparung. Zwei historische Beispiele im Verkehr sind das Verbot, die
Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerhalb einer geschlossenen Ortschaft zu
überschreiten (seit 1957) oder nicht angeschnallt Auto zu fahren (seit 1976; sanktionsbewehrt seit 1984). Beide Verbote wurden zu Gunsten der Verkehrssicherheit
erst nachträglich in das Straßenverkehrsrecht aufgenommen – und erscheinen
uns heute vollkommen selbstverständlich.
Eine verbesserte Flotteneffizienz durch Vorschriften zur Kfz-Zulassung und
durch Förderprogramme voranzubringen ist Sache der Europäischen Union und
der Bundespolitik. Um zu einer weitergehenden und beschleunigten Verbesserung der technischen Standards zu kommen, sollten die Kommunen sich politisch
bei den übergeordneten Ebenen für die weitere Verschärfung der entsprechenden Vorschriften wie die Luftschadstoffemissionsvorschriften («Euronorm»),
CO2-Flottenemissionslimits, eine CO2-basierte Kfz-Steuer oder Tempolimits
einsetzen.
Selbst können Kommunen ihre Fuhrparks im «Konzern Kommune», vor
allem die eigenen Personenkraftwagen und die leichten Nutzfahrzeuge bis
3,5 Tonnen, als kommunale Flottenwende umrüsten und effizienter gestalten:
lärmarm, luftschadstoffreduziert, verbrauchsgünstig und CO2-sparsam, z. B.
durch Dreiliter-Spritsparautos oder Elektrofahrzeuge, auch als Carsharing für
Dienstfahrten.
Auch die Busse und Bahnen der kommunalen Verkehrsunternehmen sollten
besonders effizient, schadstoffarm und klimaschonend ausgelegt werden, z. B.
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durch den Einsatz von Ökostrom bei den Bahnen und durch besonders schadstoffreduzierte (gemäß Euronorm 6) und verbrauchsarme Stadtbusse wie Hybridbusse oder vollelektrische Busse mit Ökostrom oder Wasserstoffbusse.
7 Instrumente
II Strategien der kommunalen Verkehrswende
Kommunen können für die Umsetzung ihrer Verkehrswende fünf grundsätzliche Instrumententypen einsetzen:
a) Planen und Bauen, z. B. eine neue Straßenbahnlinie, einen zentralen Omnibusbahnhof oder dezentrale Fahrradquartiersgaragen und Mobilstationen.
b) Regeln und Anordnen, z. B. als kommunale Stellplatzsatzung, die für Neubauvorhaben ausreichende Fahrradabstellmöglichkeiten vorschreibt, ein innerörtliches
flächendeckendes Tempolimit von 30 km/h oder die straßenverkehrsrechtlich
angeordnete Einrichtung «Verkehrsberuhigter Bereiche» (umgangssprachlich
oft als «Spielstraße» bezeichnet) mit Z 325.1 StVO in Wohngebieten, so dass dort
Fußgänger/innen und Aufenthalt klaren Vorrang vor dem Kfz-Verkehr haben, der
darin nur in Schrittgeschwindigkeit (6 km/h) fahren darf.2
c) Bepreisen und Finanzieren, z. B. als Gebühren für das Parken von Kfz im öffentlichen Straßenraum oder als Einführung einer Citymaut für das Fahren im Stadtgebiet. Noch gibt es in Deutschland keine Stadt mit Citymaut. Deshalb hilft der
Blick ins Ausland, wo etliche europäischen Städte solche Straßenbenutzungsgebühren schon länger erfolgreich eingeführt haben, z. B. Bergen (seit 1985), Oslo
(seit 1990), London (seit 2003), Stockholm (seit 2006), Bologna (seit 2006), Mailand (seit 2008) und Göteborg (seit 2013). Das sind Good-Practice-Beispiele, von
denen deutsche Städte lernen können. Wofür eine Kommune ihr Geld investiv
ausgibt, beschließt der Gemeinderat mit dem jährlichen Haushaltsplan: Als Planungskosten: für den Straßenneubau oder für den Straßenbahnausbau? Zum Bau
von Parkhäusern: für Autos oder für Fahrräder? Für die Unterhaltungskosten für
Fahrbahnen oder für Radwege?
d) Werben für den Umweltverbund, wie z. B. bei der bundesweiten Aufklärungskampagne «Kopf an. Motor aus. Für null CO2 auf Kurzstrecken», die in den Jahren 2009
und 2010 in Bamberg, Berlin, Braunschweig, Dortmund, Freiburg, Halle an der
Saale, Herzogenaurach, Karlsruhe und Kiel durchgeführt wurde (fairkehr (o.J.)).
Unterstützt mit Bundesfördermitteln haben diese Städte mit einer systematischen
und positiven Public-Awareness-Kampagne für das Gehen und Radfahren in ihrer
2
«1. Wer ein Fahrzeug führt, muss mit Schrittgeschwindigkeit fahren. 2. Wer ein Fahrzeug führt,
darf den Fußgängerverkehr weder gefährden noch behindern; wenn nötig, muss gewartet werden. 3. Wer zu Fuß geht, darf den Fahrverkehr nicht unnötig behindern. 4. Wer ein Fahrzeug
führt, darf außerhalb der dafür gekennzeichneten Flächen nicht parken, ausgenommen zum
Ein- oder Aussteigen und zum Be- oder Entladen. 5. Wer zu Fuß geht, darf die Straße in ihrer
ganzen Breite benutzen; Kinderspiele sind überall erlaubt.» https://www.gesetze-im-internet.
de/stvo_2013/anlage_3.html (Zugriff am 26.11.19)
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Stadt geworben – erfolgreich übrigens, wie das Projektmonitoring für 2009 zeigen
konnte (Böhler-Baedeker et al 2010).
e) Organisieren und Managen, denn Mobilitätsmanagement ist ein immer wichtiger werdendes Werkzeug für die kommunale Verkehrswende (Stiewe/Reutter
2019). Schulen, Wohnungsunternehmen, Betriebe, Verwaltungen, Universitäten
oder Freizeitenrichtungen sind Handlungsfelder für das Mobilitätsmanagement.
Kommunen können dafür mit den entsprechenden Akteur/innen in Wirtschaft,
Bildungseinrichtungen und Verwaltungen kooperieren, wie zahlreiche gute Beispiele zeigen (DEPOMM 2019, Transferstelle Mobilitätsmanagement 2019). Ein
aktuelles Erfolgsbeispiel ist dafür das Projekt BMM HOCH DREI, in dem in den
drei bergischen Städten Remscheid, Solingen und Wuppertal in drei Jahren (2016
bis 2019) in sieben Quartierstypen 30 Betriebe in Sachen betriebliches Mobilitätsmanagement untersucht und beraten wurden (Reutter et al 2019).
Kommunale Verkehrswende braucht einen klaren Masterplan, der den Rahmen
steckt: Wo wollen wir in unserer Stadt hin mit dem Verkehr bis in zehn Jahren und
wie wollen wir das schaffen? Genauso wichtig sind aber auch konkrete Fokusprojekte,
welche die Gesamtstrategie im Konkreten wiedergeben und veranschaulichen – zum
Anfassen gewissermaßen – und die als kommunale Leuchttürme kraftvoll strahlen.
Zum Beispiel: die Einrichtung von Umweltspuren für Busse, Fahrräder und Taxis
durch Umverteilung des vorhandenen Straßenraums auf der wichtigsten, meistbefahrenen, überbreiten Hauptverkehrsstraße der Stadt, wie etwa in Berlin, Bielefeld,
Düsseldorf oder Münster. Den Rückbau von Hauptverkehrsstraßen zu Gunsten
von Umweltentlastung, städtebaulichem Qualitätsgewinn und zur Förderung des
Umweltverbundes, wie etwa die realisierten Vorzeigebeispiele Friedrich-Ebert-Straße
in Kassel, Osterstraße in Hamburg oder die Ortsdurchfahrt in Rudersberg. Den Aufbau von sichtbaren, benutzbaren Mobilstationen im Umweltverbund so wie in Bremen, Offenburg oder Wuppertal als klaren Netzaufbauplan nach dem Motto: Bis 2030
eröffnen wir in unserer Stadt jedes Jahr fünf neue Mobilstationen. Die Einrichtung
einer Wohnungsneubausiedlung ganz bewusst als autofreies Stadtquartier für auto
freie Haushalte, so wie sie in einigen Städten schon länger erfolgreich existieren z. B.
in Freiburg-Vauban, Hamburg-Saarlandstraße, München-Riem, Kassel-Unterneustadt, die Weißenburgsiedlung in Münster oder die Siedlung Stellwerk 60 in Köln.
9 Erprobung
Ein wichtiger Weg, das Neue, die Wende, in die Verkehrswelt zu bringen, ist das Ausprobieren neuer Lösungswege, um dadurch die Möglichkeiten der Veränderung zu
erkunden und auszutesten. Realexperimente wie die Sperrung der Ruhrgebietsautobahn A 40 für den motorisierten Verkehr zu Gunsten des nichtmotorisierten Verkehrs
und des Aufenthaltes auf den rund 60 Kilometern zwischen Duisburg und Dortmund während des Kulturhauptstadtjahres am 18. Juli 2010, Reallabore wie sie die
20
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
8 Fokusprojekte
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BMBF-Forschungsinitiative 2019 MobilitätsWerkStadt 2025 fördern will (BMBF 2019)
oder Verkehrsversuche wie in den 80er Jahren die Modellvorhaben zur flächenhaften Verkehrsberuhigung in sechs Modellstädten (Berlin-Moabit, Borgentreich, Buxtehude, Esslingen, Ingolstadt und Mainz) sind sehr gute Formate, um systematisch neue
Wege für die Verkehrswende praktisch auszuprobieren und wissenschaftlich zu evaluieren. In solchen räumlich und zeitlich begrenzten Erprobungsformaten können neue
Ideen für die kommunale Verkehrswende in der Kommune gezielt eingeführt, getestet
und reflektiert werden. Sie helfen, die Verkehrswende beschleunigt durch die Kraft
des Vorbildes voranzubringen. Dadurch können in den Kommunen bei allen Akteur/
innen Lernprozesse zur Machbarkeit der Verkehrswende ausgelöst und gestaltet werden. Dafür eröffnet die deutsche Straßenverkehrsordnung mit ihrem §45 Abs. 1 Nr. 6
eine verkehrsrechtliche Möglichkeit.3
10 Verkehrswende als Lernprozess
II Strategien der kommunalen Verkehrswende
Kommunale Verkehrswende bedeutet: Umsteuern! Diesen Kurswechsel gilt es als
Prozess zu verstehen und zu gestalten. Denn diese große Transformationsaufgabe ist
nicht von heute auf morgen zu bewältigen. Aus dieser Eigenschaft lässt sich ein Vorteil
gewinnen – nämlich die kommunale Verkehrswende ganz bewusst als längerfristigen
kommunalen Lernprozess zu organisieren. Permanent Fragen zu überprüfen wie:
Wo steht unsere Kommune in Sachen Verkehr im Moment? Wo wollen wir eigentlich
hin: Wie sieht unsere Zielvorstellung ganz konkret aus? Und Zwischenbilanz zu ziehen: Sind wir aktuell auf dem richtigen Weg zum Ziel oder droht gar die Zielverfehlung? Reicht die Größenordnung der bislang erreichten Veränderungen im Verkehr
aus oder ist das im Vergleich zur Aufgabe eher unangemessen, zaghaft eben. Ist die
Geschwindigkeit, mit der die Verkehrswende in unserer Kommune voranschreitet,
schnell genug – oder dauert das alles viel zu lange? Müssen wir nachjustieren, wenn
wir unsere Ziele wirklich erreichen wollen? Diese kontinuierliche Selbstüberprüfung
des schon Erreichten und des noch Unerreichten dient der ständigen lernorientierten
Reflexion im Prozess des Umsteuerns und dann dem Nachsteuern.
3
«Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und
den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie (...) zur Erforschung des Unfallgeschehens,
des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen.» Quelle: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) § 45 Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen:
https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/__45.html (Zugriff am 25.11.19)
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BMBF - Bundesministerium für Bildung und Forschung (2019): Richtlinie zur Förderung von Projekten zum Thema „MobilitätsWerkStadt 2025“, Bundesanzeiger vom 07.02.2019. Online verfügbar
unter: https://www.bmbf.de/foerderungen/bekanntmachung-2289.html (Zugriff 26.11.2019)
BMVI - Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2018): Mobilität in Deutschland
– MiD Ergebnisbericht, vorgelegt von: infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH
(Bonn) in Kooperation mit: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. v. Institut für Verkehrsforschung, IVT Research GmbH (Mannheim) und infas 360. Bonn; Abb. 6, S. 35 und Abb.
3 S. 23
Böhler-Baedeker, Susanne; Koska, Thorsten; Reutter, Oscar; Schäfer-Sparenberg, Carolin (2010):
Projektmonitoring der Kampagne „Kopf an: Motor aus“ im Jahr 2009. Endbericht, Wuppertal. Online verfügbar unter: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/index/index/docId/3613
(Zugriff am 26.11.2019)
DEPOMM e.V. (2019): Website, https://depomm-ev.de (Zugriff am 26.11.2019)
Drewes, Sabine (2019): Von der autogerechten zur lebenswerten Stadt. In: Heinrich-Böll-Stiftung und
VCD-Verkehrsclub Deutschland: Mobilitätsatlas – Daten und Fakten für die Verkehrswende.Berlin 2019, S. 12/13
fairkehr (o.J.): Kopf an: Motor aus. Für null CO2 auf Kurzstrecken. Die Städte. http://www.kopf-an.de/
die-staedte/ (Zugriff am 26.11.2019)
FGSV – Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. (2013) – Arbeitsgruppe Verkehrsplanung: Hinweise zur Verkehrsentwicklungsplanung. Köln.
Reutter, Oscar; Koska, Thorsten; Schäfer-Sparenberg, Carolin; Reutter, Ulrike: Betriebliche Mobilität
im Quartier gemeinsam verbessern: Erkenntnisse für die Praxis aus dem Projekt BMM HOCH
DREI / Redaktion : Reutter, Oscar; Koska, Thorsten; Schäfer-Sparenberg, Carolin; Reutter,Ulrike.
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (Hrsg.). Wuppertal 2019
Stiewe, Mechtild; Reutter, Ulrike (Hrsg.) (2019): Mobilitätsmanagement – Wissenschaftliche Grundlagen und Wirkungen in der Praxis. Essen 2012 sowie: Reutter, Ulrike; Stiewe, Mechtild: Mobilitätsmanagement – in Deutschland angekommen?! In: IzR – Informationen zur Raumentwicklung:
Mobilitätsmanagement Heft 1/2019. Stuttgart, S. 14-25.
Transferstelle Mobilitätsmanagement (2019): https://www.mobilitaetsmanagement.nrw.de/
decomm-depomm/decomm-2019 (Zugriff am 26.11.2019)
UBA – Umweltbundesamt (2018): Luftschadstoffe im Überblick – Feinstaub. https://www.umweltbundesamt.de/themen/luft/luftschadstoffe/feinstaub/umweltzonen-in-deutschland (Zugriff
am 25.11.19)
22
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
LITERATUR
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III Erfolgsfaktoren für die Verkehrswende in Kommunen
Für das Gelingen einer kommunalen Verkehrswende gibt es kein allgemeingültiges
Patentrezept. Jede Stadt oder Kommune muss dafür ihren eigenen Weg finden, denn
die lokalen Bedingungen, Probleme und Chancen sind in jeder Stadt in ihrer jeweiligen verkehrspolitischen Entwicklungsphase anders. Gleichwohl können einige Faktoren wie die folgenden den Erfolg begünstigen.
III Erfolgsfaktoren für die Verkehrswende in Kommunen
1 Lokaler Handlungsdruck
Ein deutlicher kommunalpolitischer Handlungsdruck im Verkehr, der von den lokalen Akteur/innen, der Stadtbevölkerung oder der Wirtschaft, der Stadtpolitik und
Stadtverwaltung oder den lokalen Medien wahrgenommen und anerkannt wird,
ist ein wesentlicher Motor der kommunalen Verkehrswende. Anlässe können zum
Beispiel sein: tägliche Dauerstaus auf Pendlerachsen, in denen die berufstätigen
Ein- und Auspendler/innen ihre Zeit und Nerven lassen müssen, drohende Dieselfahrverbote wegen überhöhter Stickstoffdioxidbelastungen im Personen- und im
Wirtschaftsverkehr, krankmachende Lärmbelastungen durch den Straßenverkehr,
Unfallschwerpunkte an bestimmten Brennpunkten, etwa auf stark befahrenen Hauptverkehrsstraßen, oder mit besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmenden wie Radfahrer/innen, Schulkindern oder Senior/innen oder mit besonders schlimmen Folgen
durch SUVs.1
Vielerorts überschreiten solche wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme des Verkehrs die Grenzen des lokal noch Erträglichen. Sie lösen eine kommunalpolitische Suchbewegung aus, um diese Schäden des Verkehrs zu verringern, die oft
von der Bürgerschaft, manchmal auch von Unternehmen artikuliert wird. Dabei entsteht meist schnell ein Bewusstsein dafür, dass eine punktuelle Problembearbeitung
zur Schadensbegrenzung z. B. Dieselfahrverbote auf zwei kurzen Straßenabschnitten,
eine Tempo-30-Regelung während der Schulzeiten vor einer Grundschule oder einige
Schallschutzfenster für den Wohngebäudeneubau an einer Hauptverkehrsstraße bei
weitem nicht ausreichen, um die verkehrsverursachten Probleme wirksam, dauerhaft
und flächendeckend zu lösen. Dadurch wird deutlich, dass tiefergehende, grundsätzliche Lösungen für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Mobilität gebraucht werden.
1
Wie z. B. der Unfall mit vier Verkehrstoten in Berlin am 6.9.2019, https://www.merkur.de/welt/
suv-unfall-berlin-unfallursache-wohl-geklaert-zr-13003265.html (Zugriff am 22.11.2019)
23
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Das bereitet den Boden für die Entwicklung von Konzepten und Strategien für eine
fundamentale und ganzheitliche kommunale Verkehrswendeplanung.
2 Überlokale Diskurse
Die lokalen Handlungsnotwendigkeiten werden umso drängender wahrgenommen,
je mehr sie durch überörtliche «Großwetterlagen» verstärkt werden. Zum Beispiel ist
der fortschreitende Klimawandel inzwischen ein weit in der Gesellschaft und Politik verstandenes dringliches globales Problem. Spätestens seit dem Klimastreik von
Greta Thunberg und der besonders von jungen Menschen angetriebenen Fridaysfor-Future-Bewegung sowie dem Youtube-Video von Rezo ist das Thema Klimaschutz fest in der Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft
etabliert. Es erfordert neben internationalen und nationalen Handlungsnotwendigkeiten auch tiefgreifende Veränderung auf der regionalen und lokalen Ebene,
z. B. bei der Energieerzeugung, der Gebäudedämmung, bei den industriellen und
gewerblichen Prozessen und eben auch im Verkehr. Damit bietet es einen starken
kommunikativen und gesellschaftspolitischen Hintergrund für die lokale verkehrspolitische Diskussion um eine Verkehrswende in einer einzelnen Stadt, die - auch aus
Klimaschutzgründen - eine autounabhängige Mobilität mit den Verkehrsmitteln des
Umweltverbundes voranbringen will.
Ähnliche gesellschaftliche Großthemen, die als verstärkende Kulisse für eine
kommunale Verkehrswende wirken, sind inzwischen die Themen «krankmachende
Luftschadstoffbelastungen» oder «unerträgliche Lärmbelastungen durch den Kraftfahrzeugverkehr». Sie werden auch durch die massenmediale Berichterstattung vermittelt, z. B. die multimedialen Medienkampagnen #Abgasalarm (2018) und #Es ist
zu laut (2019) des Südwestrundfunks bzw. der ARD. Eine vergleichbare Wirkung wird
von der Kommunikationskampagne «Vision Zero» des Deutschen Verkehrssicherheitsrates erhofft, die darauf abzielt, die Anzahl der Getöteten und Verletzten im Straßenverkehr entscheidend zu verringern und gegen Null zu bringen.
Jede Kommune ist eigen und einzigartig. Selbstverständlich gibt es allgemeine Strukturen, Theorien oder Gesetzmäßigkeiten der Stadtentwicklung, und dennoch ist jede
Kommune speziell. Ein Unikat, das von Lage, Größe, Topografie, lokaler Ökonomie,
der eigenen Geschichte, der Zusammensetzung der Stadtbevölkerung, der Art ihrer
Menschen, den Akteur/innen in Wirtschaft, Medien, Zivilgesellschaft, Verwaltung
und Politik und vielem mehr geformt wird. Diese konkrete Stadtrealität aus Struktur
und Eigenart gilt es auch für die kommunale Verkehrswende aufzunehmen und für
ihre Gestaltung zu nutzen.
Zum Beispiel bedeutet Radverkehrsförderung in einer sehr hügeligen Stadt
wie Stuttgart, Saarbrücken, Heidelberg oder Wuppertal ganz besonders das Thema
Pedelecs voranbringen, weil sie beim Radfahren helfen, «die Berge einzuebnen».
In einer Fahrradhochburg wie Münster steht dagegen im Vordergrund in großem
24
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
3 Kommunale Eigenart
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Maßstab das massenhafte Fahrradparken stadtverträglich zu gestalten. Und in Offenburg und Bremen geht es besonders darum, Fahrräder und Fahrradverleihsysteme
gut in die Mobilstationen für den Umweltverbund zu integrieren.
4 Lokale Debattenkultur
III Erfolgsfaktoren für die Verkehrswende in Kommunen
Die kommunale Verkehrswende kann ihre Erfolgschancen steigern, wenn sie auf lokale
Debattenkultur zurückgreifen kann. Das zeigen z. B. die neun Modellstädte2, wo 2009
und 2010 die bundesweite Public-Awareness-Kampagne «Kopf an. Motor aus. Für Null
CO2 auf Kurzstrecken.» zur Unterstützung einer Verkehrsverlagerung vom motorisierten Individualverkehr auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes lief. Zur weiteren
Unterstützung an die jeweilige lokale Ausgangssituation wurden die Mobilitätsangebote angepasst. In der sehr kompakten Kleinstadt Bamberg (77.000 Einwohner), wo
kurze Fußwege leicht möglich sind, wurde mit dem im lokalen Dialekt formulierten
Slogan «Bambärch konnsd älaafn» ein Kampagnenschwerpunkt auf die Stärkung des
Fußgängerverkehrs gelegt. Dort wurde außerdem mit der Schlagzeile «Das Rathaus
wird zum Radhaus» für mehr Radverkehr der Ratsmitglieder geworben. Und in Karlsruhe wurde die bundesweite Kampagne gleich drei Mal in den Jahren 2009, 2010 und
2011 immer auch mit eigenen Bezügen zur Stadt Karlsruhe erfolgreich durchgeführt.
Die lokale Debattenkultur kann auch über eine transformativ agierende Wissenschaft vorangetrieben werden. In Wuppertal zum Beispiel wurde in den vier Jahren
2016 bis 2019 jeweils im Sommersemester die stadtöffentliche Vortragsreihe der
Transformationstandems zur zukunftsfähigen Mobilität vom Wuppertal Institut, der
Bergischen Universität Wuppertal und dem dortigen Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit durchgeführt.3 Darin haben an inzwischen 24 Abenden
48 Referentinnen und Referenten, jeweils als Tandem aus Wissenschaft und Praxis,
ausgewählte Verkehrsthemen in Wuppertal vorgetragen und mit durchschnittlich 50
Teilnehmer/innen intensiv diskutiert. Wegen der guten Resonanz und der ausführlichen Berichterstattung der Wuppertaler Lokalpresse soll diese Reihe auch im Sommersemester 2020 weitergeführt werden.
5 Zivilgesellschaftliches Engagement
Zivilgesellschaftliches Engagement kann die Kraft entfalten, mehr zu bewegen als jahrelange Diskussionen innerhalb der politischen Institutionen. So hat es die Initiative
«Volksentscheid Fahrrad» in Berlin geschafft, mit der Vision einer fahrradfreundlichen Stadt, formuliert in 10 Zielen für ein Berliner Radgesetz, eine überwältigende
Zahl von Unterschriften für ein Volksbegehren zu sammeln, um einen Volksentscheid
zu initiieren und den Radverkehr zu einem wichtigen Thema im Landtagswahlkampf
zu machen (Volksentscheid Fahrrad 2019). Die neue Landesregierung nahm das Ziel
2
3
Bamberg, Dortmund, Halle/Saale und Karlsruhe (2009) sowie Berlin, Braunschweig, Freiburg,
Herzogenaurach und Kiel (2010).
Vgl.: https://transzent.uni-wuppertal.de/de/transfer/transformationstandem.html (Zugriff am
22.11.2019)
25
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eines Mobilitätsgesetzes in den Koalitionsvertrag auf das Abgeordnetenhaus verhandelte gemeinsam mit Vertreter/innen der Initiative und Verbänden das Berliner
Mobilitätsgesetz, das mit konkreten Zielen und Schritten, neuem Personal und höheren Budgets für den Radverkehr einen Meilenstein für eine Verkehrswende darstellt.
Die Bürgerinitiative hat mit ihrem Projekt «Volksentscheid Fahrrad» den EUROBIKE Award 2016 in der Kategorie «Konzepte & Dienstleistungen» für ihr ehrenamtliches Engagement mit der Begründung erhalten, dass der Volksentscheid Fahrrad in
Berlin weltweit einzigartig ist: Erstmals bringen Bürger/innen die Politik dazu, massiv
in die Radinfrastruktur zu investieren. Geholfen hat dabei, dass zwischen dem Beginn
und dem Erfolg der Initiative ein Regierungswechsel stattgefunden hat und die politisch Verantwortlichen der Verkehrswende gegenüber aufgeschlossen sind. Außerdem hat die Initiative «Volksentscheid Fahrrad» den Deutschen Fahrradpreis 2018 in
der Kategorie «Kommunikation» gewonnen.
Die kommunale Verkehrswende betrifft den Lebensalltag der gesamten Stadtbevölkerung und den Arbeitsalltag aller Unternehmen in der Stadt. Dieser Fakt ist Risiko
und Chance zugleich. Ohne intensive Bürgerbeteiligung bergen die großen Transformationsaufgaben das erhebliche Risiko, die Stadtgesellschaft und die Unternehmen
gegen die notwendigen Veränderungen aufzubringen. Eine frühzeitige und intensive
Bürgerbeteiligung nach den Regeln der Kunst als charakteristisches Prozessmerkmal
liefert darum zwar keine Erfolgsgarantie, ist aber eine unbedingte Voraussetzung für
das Gelingen der kommunalen Verkehrswende.
Und weil Bürger/innen und Unternehmer/innen beim Verkehr nicht nur Betroffene des vielerorts dominierenden Autoverkehrs mit Staus, Lärm, Luftvergiftung und
Unfallgefahren sind, sondern zugleich als Verkehrsteilnehmende auch Mitverur
sacher der Misere sind, eröffnen sich im Verkehrssektor – anders als z. B. im Energiebereich, in der Industrie oder in der Landwirtschaft – für sie besondere Möglichkeiten
zur Mitgestaltung der Verkehrswende. Es entsteht ein Chancenraum in doppelter
Hinsicht. Verkehrsteilnehmer/innen können sich in einer Stadt, bis auf wenige nachvollziehbare Ausnahmen, individuell grundsätzlich für oder gegen das Autofahren
entscheiden oder eben stattdessen für die Fortbewegung im Umweltverbund. Sie können durch die Fortbewegung im Umweltverbund mit ihrem individuellen Mobilitätsverhalten die Verkehrswende unterstützen und durchs Mitmachen mittragen – oder
sich ihr mit ihren Autos entgegenstellen.
Als politische Akteurin kann die Zivilgesellschaft die kommunale Verkehrswende
voranbringen – oder blockieren. Ein Volksbegehren für ein Radfahrgesetz kann dem
Radeln Rückenwind geben und im besten Fall sogar gleich ein ganzes Mobilitätsgesetz auslösen, so wie in Berlin (2018). Umgekehrt kann ein Bürgerentscheid auch
fortschrittliche Projekte der kommunalen Verkehrswende verhindern, wie in Aachen,
wo sich 2013 zwei Drittel der Aachener/innen, die sich am Bürgerentscheid zur Campusbahn beteiligt haben, gegen die Einführung der Straßenbahn gestimmt haben
(Aachener Zeitung 2013). Kommunale Politik tut also gut daran, die Bürgerschaft
26
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
6 Partizipation und Co-Produktion
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als Co-Produzierende nicht für ein bloßes Zulassen der Verkehrswende zu gewinnen, sondern sie auch ernsthaft und konstruktiv als Partnerin «auf Augenhöhe» in
das Großvorhaben kommunale Verkehrswende einzubeziehen. So gesehen sind
beispielsweise monatliche «Critical Mass»-Fahrraddemonstrationen, organisiert aus
der Stadtbürgerschaft, keine nervigen Störenfriede im Betriebsablauf des Straßenverkehrs, sondern ein willkommenes Geschenk für eine kommunale Verkehrswendepolitik, die das Radfahren wirklich voranbringen will.
III Erfolgsfaktoren für die Verkehrswende in Kommunen
7 Führungspersonen und Mitarbeitende
Straßenbahnpapst, Kübel-Otto und Verkehrswendemacherin sind die Spitznamen
von drei kommunalen verkehrspolitischen Führungspersonen, die jeweils entscheidende Weichenstellungen für die kommunale Verkehrswende in ihrer Stadt vorgenommen und verantwortet haben – auch bei starkem Gegenwind.
Dieter Ludwig hat in seinen verschiedenen leitenden Funktionen im ÖPNV von
den 70er Jahren bis zu seinem Ruhestand Mitte der 2000er Jahre den weitsichtigen
und weitreichenden Ausbau des Straßenbahnnetzes in seiner Region Karlsruhe und
Umland mit innovativen technischen und organisatorischen Kombinationslösungen
von Straßenbahn und Eisenbahnbetrieb, dem so genannten «Karlsruher Modell» als
«Der Kombinator» maßgeblich voran getrieben (BNN 2019). Damit hat er das Konzept
eines offensiven, modernen, integrierten Schienen-ÖPNV geprägt. Das wirkt deutschlandweit als Vorbild. Darum wird er heute respektvoll «Straßenbahnpapst» genannt.
Otto Wicht führte ab 1983, auch gegen erheblichen lokalen Protest, als Stadtbaurat
(1966-1994; dreimalige Wiederwahl) in Buxtehude in mehreren Innenstadtstraßen das
flächendeckende Tempolimit 30 ein – zu Gunsten von verbesserter Verkehrssicherheit
und höherer Wohnumfeldqualität (Kreiszeitung Wochenblatt 2015). Dafür nutzte er
die bundesweiten Modellversuche zur flächenhaften Verkehrsberuhigung. In Buxtehude ordnete er Tempo 30 und «rechts vor links» an und verengte die überbreiten
Fahrbahnen durch provisorisch aufgestellte Blumenkübel. Diese bepflanzten Betonkübel zum Ausbremsen von Rasern brachten ihm den Spitznamen «Kübel-Otto» ein.
Die Anzahl der Unfälle mit Fußgänger/innen nahm in diesen Bereichen innerhalb von
drei Jahren um 19 Prozent ab und die lokale Lärm- und Luftschadstoffbelastung reduzierte sich. Heute sind die provisorischen Blumenkübel weitgehend durch Bäume und
Rasen ersetzt. Die flächenhafte Verkehrsberuhigung, die er als Pionier der Langsamkeit in Buxtehude erstmals entwickelte, wurde deutschlandweit zum Vorbild. Er gilt
heute als der Erfinder der Tempo-30-Zone, die seit ihrer bundesweiten Aufnahme in
die Straßenverkehrsordnung im Jahr 1990 inzwischen in fast allen Städten in Deutschland als zentrales Element der flächenhaften Verkehrsberuhigung etabliert ist.
Katrin Eder gestaltet als Beigeordnete und Dezernentin für Umwelt, Grün, Energie und Verkehr in Mainz die kommunale Verkehrswende der rheinland-pfälzischen
Landeshauptstadt (B'90/Grüne KV Mainz 2019). Die 1976 in Mainz geborene, studierte Politikwissenschaftlerin zog 1999 als jüngstes Stadtratsmitglied für die Grünen
in den Mainzer Stadtrat ein. 2010 wurde sie zur Sprecherin ihrer Fraktion gewählt. Als
gewählte Verkehrsdezernentin arbeitet sie seit 2011 (Wiederwahl 2018) schon über
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ein Jahrzehnt an der kommunalen Verkehrswende in Mainz. Zwei Schwerpunkte zur
Förderung des Umweltverbundes für eine moderne urbane Mobilität des 21. Jahrhunderts hat sie dafür erfolgreich umgesetzt.
Im Radverkehr wurde durch den konsequenten Ausbau des öffentlichen Fahrradverleihsystems «MVG Mein Rad» und vieler weiterer Maßnahmen zur Förderung des
Radverkehrs wie dem Ausbau von Radabstellanlagen der Wegeanteil des Radverkehrs in
Mainz von 10 Prozent (2008) auf 17 Prozent (2016) spürbar gesteigert (Stadt Mainz 2016).
Das Mainzer Straßenbahnnetz wurde – auch dank Katrin Eders Engagements
– entscheidend erweitert: die neue «Mainzelbahn» (MVG o.J.) führt seit Dezember
2016 im Doppelgleis auf 9,2 km vom Hauptbahnhof West über die Universität bis zum
Lerchenberg, wo das ZDF sitzt. Im Verlauf der Mainzelbahn wurden 16 Haltestellen, inklusive einer Bedarfshaltestelle an der Opel-Arena, neu gebaut. Sie ist damit
das größte Verkehrsinfrastrukturprojekt in der Mainzer Geschichte. Schon die Erhebungen nach den ersten drei Monaten belegen, dass es auf der gesamten Strecke
erhebliche Fahrgastzuwächse im Vergleich zum Zeitpunkt vor dem Straßenbahnausbau gab. Der neue Fahrgastmagnet hat alle Erwartungen übertroffen und viele Menschen neu für den öffentlichen Nahverkehr begeistert (Allgemeine Zeitung 2018). Die
«Mainzelbahn» liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Stauvermeidung und zur
Verbesserung der Luftqualität in der Landeshauptstadt. Als Erfolgsstory, als gelungenes Zukunftsprojekt, wurde die Mainzelbahn vom Deutschen Bahnkunden-Verband
(DBV) mit dem Deutschen Schienenverkehrspreis 2018 in der Sparte «Nahverkehr»
ausgezeichnet (Mainzer Stadtwerke 2018).
Die kommunale «Verkehrswendemacherin» Katrin Eder bewertet es als Erfolg,
dass der Wegeanteil im motorisierten Individualverkehr in Mainz von 42 Prozent
(2008) auf 39 Prozent (2016) um 3 Prozentpunkte gesunken ist (Stadt Mainz 2016, Sensor-Magazin 2016).
Die drei Fälle Dieter Ludwig, Otto Wicht und Katrin Eder verdeutlichen, dass es für
das Voranbringen der kommunalen Verkehrswende sehr wohl auch auf Leadership von
Führungspersonen mit Anliegen, Überzeugung und Rückgrat ankommt – gerade auch
bei starkem politischen Gegenwind. Sie machen sich die kommunale Verkehrswende
zu ihrer Sache. Dabei benötigen diese Führungspersönlichkeiten selbstverständlich
den politischen Rückhalt in den kommunalen Gremien. Und sie brauchen auch verlässliche, engagierte Mitarbeiter/innen im kommunalen Verkehrs-Verwaltungshandeln, die auf ihrer Arbeitsebene die kommunale Verkehrswende konsistent umsetzen.
8 Beharrlichkeit und Kontinuität
Die kommunale Verkehrswende geht nicht von heute auf morgen. Ein großes Schiff,
das mit voller Kraft vorausfährt, stoppt erst nach einer langen Auslaufstrecke, nachdem der Fahrthebel auf null gestellt ist. Und es braucht einen sehr großen Wendekreis
für eine Kursumkehr. Genauso braucht die kommunale Verkehrswende weg von der
autogerechten Stadt hin zu einer lebenswerten Stadt des Umweltverbundes Zeit für
diese große Transformation. Kommunale Verkehrswende erfordert deshalb nicht nur
einen klaren Kurswechsel, sondern auch Beharrlichkeit und Kontinuität.
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Beispiele sind dafür deutsche Städte wie Bremen, Erfurt oder Freiburg die schon
seit Jahrzehnten kontinuierlich an ihrer stadtspezifischen Gestaltung der kommunalen
Verkehrswende arbeiten. So eine langjährige lokale Mobilitätskultur wird dann auch in
konkreten Planwerken deutlich, die ihrerseits als wichtige Meilensteine der städtische
Verkehrswende wirken und den sichtbaren Durchbruch nach oft langjährigen eher
unsichtbaren Vorarbeiten markieren. Zum Beispiel wurde in der Freien Hansestadt Bremen der Verkehrsentwicklungsplan Bremen von 2014 über den gesamten mehrjährigen
Aufstellungsprozess frühzeitig und konsensual im Dialog mit einer breiten Akteursallianz aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft erarbeitet (Freie Hansestadt Bremen o.J.).
Dieser Verkehrsentwicklungsplan ist die Grundlage für die strategische Verkehrsplanung
in Bremen bis zum Jahr 2025. Er soll dafür sorgen, dass künftig die einzelnen verkehrlichen Maßnahmen zueinander passen und zur Erreichung derselben Ziele dienen.
Oder in Thüringens Landeshauptstadt Erfurt, wo die gesamte Verkehrsentwicklungsplanung aus mehreren vom Stadtrat beschlossenen Teilkonzepten besteht,
deren Erarbeitung zeitlich in Etappen über mehrere Jahre erfolgt (Stadt Erfurt o.J.).
Damit werden im Zeitverlauf verkehrspolitische Lernprozesse für eine kommunale
Verkehrswende gestaltet. Erarbeitet und vom Stadtrat beschlossen sind in Erfurt
inzwischen der Verkehrsentwicklungsplan Innenstadt einschließlich Wirtschaftsverkehr (2012); der Nahverkehrsplan 2014-2018 (2014), der Verkehrsentwicklungsplan
Teilkonzept Radverkehr (2014), der Verkehrsentwicklungsplan Parkraumkonzeption Innenstadt (2015). Weitere Teilkonzepte (z. B. zum Mobilitätsmanagement und
zum motorisierten Individualverkehr) sollen künftig erarbeitet werden.
Oder zum Beispiel in Freiburg im Breisgau, die von sich selbst schreibt: «Die Stadt
Freiburg favorisiert bereits seit den 70er Jahren die umweltfreundlichen Verkehrsarten. Zuletzt wurden im Verkehrsentwicklungsplan 2020 die Hauptziele bestätigt, Verkehr durch eine abgestimmte Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik zu vermeiden
(«Stadt der kurzen Wege») und den Umweltverbund (Fuß, Rad und ÖPNV) attraktiver zu machen. Der verbleibende Autoverkehr soll so umwelt- und stadtverträglich
wie möglich gestaltet werden, indem Lärm, Abgase und Gefährdungen minimiert
werden. Seit vielen Jahrzehnten baut daher die Stadt Stadtbahnlinien und Radwege
aus, vergrößert und verschönert die Fußgängerzone und die Stadtteilzentren, optimiert Ampelschaltungen und verbessert die Verkehrsregelungen. Zusammen mit der
umweltfreundlichen und aktiven Freiburger Bevölkerung ist dies sehr erfolgreich: 79
Prozent aller Wege werden mit dem Fahrrad, mit Bus und Bahn oder zu Fuß zurückgelegt – das ist bundesweit Spitze (Stadt Freiburg o.J.).
Alle diese Fälle zeigen: eine kommunale Verkehrswende ist demokratisch gestaltbar. Dafür braucht es Kontinuität unabhängig von wechselnden kommunalpolitischen Mehrheiten, einen langen Atem und die Bereitschaft sowie die Fähigkeit, auch
Gegenwind auszuhalten.
9 Vorbild Kommune
Der «Konzern Kommune» kann und sollte die Verkehrswende auch selbst praktizieren. Telefon- und Videokonferenzen durchführen statt Dienstreisen. Dienst-Pedelecs
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vorhalten für innerstädtische Kurzstreckenfahrten. Jobtickets für die Beschäftigten
in der Stadtverwaltung anbieten und zugleich die Parkmöglichkeiten am Rathaus
zurücknehmen: sie ganz bewusst verknappen und verteuern. Dienstwagen abschaffen
und stattdessen Carsharing nutzen. Noch erforderliche Kraftfahrzeuge organisationseffizient «poolen» und technisch effizient auslegen: klein und leicht, verbrauchsarm
und sparsam, als Hybridfahrzeuge oder vollelektrisch – die Flottenwende des eigenen
Stadtfuhrparks managen. Wenn die Kommunalverwaltung auf diese Weise zeigt, was
Verkehrswende für sie als Mobilitätsmanagement im eigenen Haus bedeutet und zu
leisten vermag, wirkt die Kommune selbst als ein überzeugendes und motivierendes
Vorbild für alle anderen Akteur/innen in ihrer Stadt.
Versteht man Politik als die Kunst, das Machbare zu erkennen und das Notwendige
möglich zu machen, dann bedeutet das für die kommunale Verkehrswende, interpretiert als Transformationskunst (Schneidewind 2018), ihre politischen Möglichkeitsfenster zu erkennen, vielleicht sogar selbst herzustellen und dann entschlossen zu nutzen.
Mit diesem politischen Grundverständnis sind in erster Linie die Kommunalwahlen regelmäßig wiederkehrende Möglichkeitsfenster, um demokratische Mehrheiten
für eine kommunale Verkehrswende zu gewinnen. Dafür gilt es, die kommunale Verkehrswende zu einem wichtigen Wahlkampfthema zu machen.
Zusätzlich bieten auch kommunalpolitische Großereignisse in Sachen Verkehr
große Chancen für die kommunale Verkehrswende, zum Beispiel die zahlreichen
Gerichtsverfahren der Deutschen Umwelthilfe zu Dieselfahrverboten an städtischen
Luftschadstoffbelastungsbereichen. Wegen der Klage der Deutschen Umwelthilfe hat
z. B. die Stadt Stuttgart im Jahr 2019 Fahrverbote für besonders schadstoffemittierende Dieselkraftfahrzeuge (Euronorm 4 und schlechter) eingeführt und prüft aktuell
deren Ausweitung im Jahr 2020.4 Im Rechtsstreit mit der Stadt Wiesbaden konnte die
Deutsche Umwelthilfe ihre Klage am 13.2.2019 zurückziehen, weil der deswegen neu
aufgestellte Luftreinhalteplan für die Hessische Landeshauptstadt aus Sicht der Kläger «das bundesweit bisher ehrgeizigste Maßnahmenpaket für eine Verkehrswende»
enthält. Daher ließen die darauf beruhenden Prognosen der Luftschadstoffbelastung
künftig auch tatsächlich die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Stickstoffdioxidgrenzwerte erwarten (DUH 2019).
Zu erkennen, wo und wann sich welche Möglichkeitsfenster für entschlossene
Schritte der kommunalen Verkehrswende öffnen – oder geöffnet werden können –
ist eine analytische Kernaufgabe der kommunalen Verkehrswendepolitik. Und dann
diese geöffneten Fenster auch entschlossen zu nutzen, das ist die Kunst der Transformation und des kommunalpolitischen Handwerks, um den erforderlichen Wandel
auch wirklich zu gestalten: für die kommunale Verkehrswende.
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Vgl.: https://www.badische-zeitung.de/werden-diesel-fahrverbote-in-stuttgart-2020-ausgeweitet--177951586.html (Zugriff am 9.11.19)
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
10 Möglichkeitsfenster und Transformationskunst
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III Erfolgsfaktoren für die Verkehrswende in Kommunen
LITERATUR
Aachener Zeitung (2013): Glasklares Nein zur Aachener Campusbahn. Von Bernd Büttgens.
10.03.2013. Online verfügbar unter: https://www.aachener-zeitung.de/lokales/aachen/glasklares-nein-zur-aachener-campusbahn_aid-26205243 (Zugriff 27.11.2019)
Allgemeine Zeitung (2018): Zahlen übertreffen die Erwartungen: Die Mainzelbahn ist ein Fahrgastmagnet. Von Michael Erfurth. 04.05.2018. Online verfügbar unter: https://www.allgemeine-zeitung.
de/lokales/mainz/nachrichten-mainz/zahlen-ubertreffen-die-erwartungen-die-mainzelbahnist-ein-fahrgastmagnet_18733591 (Zugriff am 22.11.2019)
Badische Zeitung (2019): Werden Diesel-Fahrverbote in Stuttgart 2020 ausgeweitet? 04.10.2019.
Online verfügbar unter: https://www.badische-zeitung.de/werden-diesel-fahrverbote-in-stuttgart-2020-ausgeweitet--177951586.html (Zugriff am 9.11.19)
BNN – Badische Neueste Nachrichten (2019): Dieter Ludwig wird 80 – Karlsruhe feiert den Kombinator. Von Rupert Hustede. 13.07.2019. Online verfügbar unter: https://bnn.de/lokales/karlsruhe/
karlsruhe-feiert-den-kombinator (Zugriff 08.11.2019)
Bündnis 90 / Die Grünen Kreisverband Mainz (2019): Katrin Eder – Dezernat V – Umwelt, Grün, Energie und Verkehr. https://www.gruene-mainz.de/katrin-eder-dezernat-v-umwelt-gruen-energieund-verkehr/ (Zugriff am 22.11.2019)
DUH – Deutsche Umwelthilfe (2019): Pressemitteilung – Deutsche Umwelthilfe und ökologischer Verkehrsclub VCD erzielen Erfolg für die Saubere Luft in Wiesbaden – Hessische Landeshauptstadt
setzt die Verkehrswende um. 13.02.2019. https://www.duh.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/deutsche-umwelthilfe-und-oekologischer-verkehrsclub-vcd-erzielen-erfolg-fuerdie-saubere-luft-in-wiesb/ (Zugriff am 9.11.19)
Freie Hansestadt Bremen (o.J.): Verkehrsentwicklungsplan Bremen 2025. Online verfügbar unter:
https://www.bauumwelt.bremen.de/vep (Zugriff am 8.11.2019)
Kreiszeitung Wochenblatt (2015): Buxtehudes Ex-Stadtbaurat Otto Wicht ist gestorben. Von Thomas
Kreib. 17.04.2015. Online verfügbar unter: https://www.kreiszeitung-wochenblatt.de/buxtehude/c-politik/buxtehudes-ex-stadt-baurat-otto-wicht-ist-gestorben_a59438 (Zugriff 08.11.2019)
Mainzer Stadtwerke (2018): Schienenverkehrspreis für die Mainzelbahn. Pressemitteilung,
05.12.2018. Online verfügbar unter: https://www.mainzer-stadtwerke.de/medien/presseforum/
pressemitteilungen/pressemitteilung/schienenverkehrspreis-fuer-die-mainzelbahn/ (Zugriff
am 22.11.2019)
MVG – Mainzer Verkehrsgesellschaft (o.J.): Die Mainzelbahn in Zahlen. http://www.mvg-mainzelbahn.de/planung/strecke/ (Zugriff am 22.11.2019)
Schneidewind, Uwe (2018): Die Große Transformation – Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt/Main.
Sensor Magazin (2016): Interview mit Katrin Eder. Von David Gutsche, 31.10.2016. Online verfügbar
unter: https://sensor-magazin.de/interview-mit-katrin-eder-dezernentin-fuer-umwelt-gruenenergie-und-verkehr/ (Zugriff am 22.11.2019)
Stadt Erfurt (o.J.): Verkehrsentwicklungsplanung. Online verfügbar unter: https://www.erfurt.de/ef/
de/leben/planen/verkehr/vep/index.html (Zugriff am 8.11.2019)
Stadt Freiburg im Breisgau (o.J.): Mobilität und Verkehr. Online verfügbar unter: https://www.freiburg.de/pb/231303.html (Zugriff am 8.11.2019)
Stadt Mainz (2016): Mobilitätsbefragung 2016 zum werktäglichen Verkehrsverhalten der Bevölkerung
in Mainz. Mainz, S. 39
Volksentscheid Fahrrad (2019): Website. https://volksentscheid-fahrrad.de/de/willkommen-beimvolksentscheid/ (Zugriff 22.11.2019)
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IV Handlungsfelder der
Verkehrswende
1 Fußgängerfreundliche Städte – attraktive Wege und
hohe Aufenthaltsqualität
1. Ein gutes Fußwegenetz besteht aus ausreichend sicheren Wegen und sicheren
Querungsmöglichkeiten, die sich insbesondere an den schwächsten Verkehrsteilnehmer/innen (insbesondere Kinder und ältere Menschen) orientieren. Je
nach örtlicher Gegebenheit – d. h. je nachdem, ob es sich zum Beispiel um Hauptoder Nebenstraßen handelt, wie hoch die durchschnittliche Verkehrsmenge auf
dieser Straße ist und welche zentralen Einrichtungen hier zu finden sind – gibt
es unterschiedliche Optionen für sichere Querungsmöglichkeiten. Dazu gehören
Ampeln, Zebrastreifen sowie bauliche Aufpflasterungen oder Einengungen (s.
Beispiel Offenburg).
2. Gerechte Flächenaufteilung in Abgrenzung zu anderen Fortbewegungsarten:
Bisher wurde bei der Straßenraumaufteilung häufig von innen nach außen gedacht
und geplant. Das heißt, dass zunächst der Flächenbedarf für den motorisierten
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Das Zufußgehen zu fördern birgt viele Vorteile in sich: Aus Umweltsicht werden
weder Treibhausgase noch Luftschadstoffe emittiert, auch ist der Flächenverbrauch
deutlich geringer als bei motorisierten Fortbewegungsarten. Zu Fuß gehen ist sozial
und gesundheitsfördernd. Es gibt keine Zugangshürden wie bei anderen Arten der
Fortbewegung (z. B. Führerschein, Autoverfügbarkeit, Fahrschein o. Ä.), sondern
stattdessen gesundheitliche Vorteile für jeden, der regelmäßig zu Fuß unterwegs ist.
Denn regelmäßige Bewegung reduziert beispielsweise das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko, senkt den erhöhten Blutdruck und trägt zu einer höheren Lebenserwartung bei (Oberhofer 2015). Dass viele Menschen zu Fuß gehen, ist auch aus Sicht der
Kommunen empfehlenswert – Maßnahmen, die die Situation für Fußgänger/innen
verbessern können, sind meist kostengünstig.
Aus dem Fußverkehr ergeben sich zwei zentrale Anknüpfungspunkte für eine Verkehrswende: Eine fußgängerfreundliche Stadt bietet im Nahbereich (unter 2 Kilometer) ein Verlagerungspotenzial, da diese kurzen Wege auch gut zu Fuß statt mit dem
Auto bewältigt werden können. Zudem kann eine kompakte und durchmischte Stadtplanung im Sinne einer «Stadt der kurzen Wege» Routen vermeiden, die in der autogerechten Stadt mit Pkws zurückgelegt werden.
Fußgängerfreundliche Wege(netze) sollten die folgenden fünf Grundsätze
erfüllen:
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
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Verkehr geplant und dann die verbleibende Fläche dem nichtmotorisierten Verkehr zugewiesen wurde. Dieser Planungsansatz sollte umgekehrt werden: Die
Gehwegbreite sollte sich an den Erfordernissen der Fußgänger/innen orientieren
und nicht daran, wie viel Restfläche zur Verfügung steht. So sollten Gehwege mindestens 2,50 Meter breit sein, so dass sich Personen bequem begegnen können
und auch Rollstuhlfahrer oder Personen mit Kinderwagen, Gepäck o. Ä. problemlos passieren können.
3. Geschwindigkeit reduzieren (vgl. Textbeitrag «Entschleunigung! Wie durch
reduzierte Geschwindigkeit die Verkehrssicherheit erhöht wird»). Im Straßenraum begegnen sich die verschiedenen Verkehrsteilnehmer/innen, dabei kann
es zu Unfällen kommen. Je schneller der Kfz-Verkehr unterwegs ist, umso stärker
sind Fußgänger/innen gefährdet – zum einen, weil mehr Geschwindigkeit für
beide Seiten weniger Reaktionszeit bedeutet; zum anderen, weil Unfälle bei
höherem Tempo gravierendere Folgen haben. Um das Zufußgehen gerade auch
für Kinder und ältere Menschen sicher zu gestalten, sollten Tempo-30-Zonen und
Spielstraßen ausgeweitet werden.
4. Die Erhöhung der Aufenthaltsqualität umfasst verschiedene Aspekte: Fußwege
oder -überwege werden häufig vom motorisierten Individualverkehr blockiert.
Die Fahrzeuge beeinträchtigen so den Fußwegefluss und gefährden die Sicherheit
der Fußgänger/innen. Das muss konsequent kontrolliert und geahndet werden.
Bauliche oder gestalterische Veränderungen können dazu beitragen, dass Autos,
Motorräder oder Lieferfahrzeuge die Wege nicht mehr zuparken. Überdies kann
mit Beleuchtung, Sitz- und Spielmöglichkeiten, Begrünungen sowie Grünanlagen
erreicht werden, dass die Menschen sich gern und vermehrt zu Fuß fortbewegen
(vgl. Beispiel Griesheim unten). Insbesondere der Abbau von Angsträumen (d. h.
von Stadträumen, die gemieden werden, weil sie als nicht sicher empfunden werden) ist eine aktive Maßnahme zur Förderung des Fußverkehrs.
5. Eine barrierefreie Gestaltung des Fußwegenetzes ist nicht nur für mobilitätseingeschränkte Personen wichtig, die sich selbständig fortbewegen wollen. Sie
erleichtert beispielsweise das Laufen auch für diejenigen, die mit Kinderwagen
oder größerem Gepäck unterwegs sind. Es sollte grundsätzlich berücksichtigt
werden, dass Bordsteine abgesenkt sind, Treppen wo möglich vermieden werden und Orientierungshilfen für Blinde angebracht sind. Fußwege müssen auch
bei Nässe rutschfest und sicher sein, im Winter vorrangig von Eis und Schnee
geräumt werden und sollten keine Stolperkanten, Löcher oder größere Unebenheiten aufweisen.
Die verschiedenen Möglichkeiten, fußgängerfreundliche Städte auszugestalten,
unterscheiden sich in der Praxis wesentlich. Sie sind abhängig von der Stadtgröße,
aber auch von der durchschnittlichen Pkw-Verkehrsstärke, den (voraussichtlichen)
Fußgängerströmen und davon, welche konkreten Wege zu welchen Zielen zurückgelegt werden. So ist beispielsweise in einer verkehrsberuhigten Zone mit wenig Autoverkehr und einer übersichtlichen Straßen- und Parkraumgestaltung eine sichere
Querungsmöglichkeit nahezu überall gegeben. An Hauptverkehrsstraßen mit hohem
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Breite Fußgängerquerung in Offenburg
Foto: © Mathias Kassel
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Verkehrsaufkommen beispielsweise sind dagegen Fußgängerampeln mit kurzer Wartezeit notwendig.
Um in einer Kommune das Thema Fußverkehr strukturiert und zielgerichtet zu
bearbeiten, ist es sinnvoll, Fußgängerchecks durchzuführen. Umfang und Ausrichtung eines solchen Fußverkehrschecks können an die jeweiligen kommunalen Verhältnisse und Zielsetzungen nach dem Baukastenprinzip angepasst werden (vgl.
Fuss e.V. 2018) und so punktuelle Verbesserungen herbeiführen (z. B. hinsichtlich der
Fußgängerüberwege). Damit befördern sie systematisch das Zufußgehen in der Stadt
(z. B. durch abgestufte, flächendeckende Wegenetze).
Nachfolgend werden exemplarisch fußverkehrsfördernde Maßnahmen vorgestellt
und durch eine Auswahl guter Beispiele aus Klein- und Mittelstädten veranschaulicht.
Damit Fußgänger/innen einen Überweg sicher passieren können, sollten die
Querungsanlagen im Straßenraum betont werden, indem sie beispielsweise
farblich hervorgehoben oder auffallend groß dimensioniert werden. In Offenburg wurde der Fußgängerüberweg, der Bahnhof und Innenstadt miteinander
verbindet, deutlich über das übliche Maß von vier Metern auf ca. zehn Meter
verbreitert. Die Markierung ist zudem bis in den Bereich der Ausrundung vorgezogen. Das erhöht den Aufmerksamkeitswert (ivm 2014).
Diese Optimierung folgt der Richtlinie für die Anlage und Ausstattung von
Fußgängerüberwegen (R-FGÜ). Während es eine Mindestbreite von drei Metern
gibt und üblicherweise ein Zebrastreifen vier Meter breit ist, wird hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei «stärkerem Fußgängerverkehr» die Breite vergrößert werden kann. Einen überbreiten Fußgängerüberweg zu markieren ist
dabei mit ca. 1.500 Euro vergleichsweise kostengünstig, was sowohl den administrativen als auch den baulichen Aufwand betrifft. Die Maßnahme ist sehr
kurzfristig umsetzbar.
Weitere gute Beispiele für sichere Querungsmöglichkeiten für Fußgänger/
innen sind im Handbuch für die kommunale Praxis «Förderung des Rad- und
Fußverkehrs» (2014) zu finden.
Beispiel: Aufenthaltsqualität erhöhen: Die «bespielbare und besitzbare»
Stadt Griesheim
Die Stadt Griesheim ist Deutschlands erste «bespielbare» Stadt und wurde hierfür vielfach ausgezeichnet. Ziel der südhessischen Mittelstadt war es, den Kindern Freiraum zur selbständigen Fortbewegung zurückzugeben, so dass sie nicht
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: Sichere Querungsmöglichkeiten: Überbreiter Fußgängerüberweg
in Offenburg
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IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Foto: Velopa
Sitzbänke mit Rollatorplatz unterstützen
die «besitzbare» Stadt
mit dem Elterntaxi zum Kindergarten, zur Schule oder zu Freizeitaktivitäten
gebracht werden müssen. Sie sollten durch sichere und attraktive Wege motiviert werden, sich auf den eigenen Füßen in der Stadt zu bewegen.
In nur drei Jahren hat es die Stadt geschafft, ein flächendeckendes, kinderfreundliches Fußwegenetz von 25 Kilometern Länge zu schaffen, welches letztlich für alle Fußgänger/innen attraktiv ist. Dafür wurden zunächst Schulkinder
als Expert/innen für ihre Wege aktiv in die Planung eingebunden. Sie markierten
mit Kreide ihre Schulwege und beantworteten einen Fragebogen, in dem die
wichtigen Ziele der Kinder im Stadtgebiet ermittelt wurden und wie sie diese
Ziele gewöhnlich erreichen. Diese Wege wurden dann auf freie Flächen für Spielgeräte hin untersucht. In Abstimmung mit dem Ordnungs- und Liegenschaftsamt prüfte man anschließend, ob die Flächen für den Zweck geeignet waren.
Insgesamt konnten in den Jahren 2008 bis 2010 rund hundert Spielobjekte auf
verschiedenen (Kinder-)Wegen installiert werden. Sie reichen von farbigen
Pflasterungen auf dem Fußweg (z. B. für Hüpfekästchen) über Balancierbalken
bis hin zu Kletterobjekten. Der Fußweg durch die verschiedenen definitionsoffenen Spielobjekte macht den Kindern Spaß. So werden sie zum Laufen angeregt,
und die Eltern fahren sie weniger mit dem Auto.
Im Zeitverlauf stellte die Stadtverwaltung fest, dass Spielobjekte auch von
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älteren bzw. mobilitätseingeschränkten Menschen zum Ausruhen genutzt
wurden. So wurde in einem nächsten Schritt die «besitzbare» Stadt umgesetzt.
Analog zum Vorgehen bei den Kindern verzeichnete sie unter Einbeziehung
von älteren Bürgerinnen und Bürgern (z. B. über Vereine, Kirchengemeinden,
Seniorentreffs.) auf einem Stadtplan, welche wichtigen Ziele es für sie in der
Stadt gibt und welche Wegebeziehungen vorrangig genutzt werden. In einem
nächsten Schritt glich die Verwaltung ab, an welchen Standorten bereits Sitzmöglichkeiten vorhanden waren bzw. wo solche fehlten. Insgesamt konnten
so 160 Sitzgelegenheiten montiert werden, die von einfachen Bänken mit zwei
oder drei Sitzplätzen bis zu Sitzbänken mit Rollatorplatz reichen. Durch diese
vergleichsweise einfachen und kostengünstigen Maßnahmen ist es auch Seniorinnen und Senioren, die auf ihren Wegen eine gelegentliche Verschnaufpause
einlegen müssen, möglich, sich selbständig fortzubewegen.
Der administrative Aufwand für die «bespiel- und besitzbare» Stadt ist relativ
gering, und durch die aktive Einbindung der Kinder bzw. der älteren Menschen
kann wertvolles Alltags-Expertenwissen in die Planung eingebunden werden. Je
nach Ausgestaltung der Spiel- und Sitzobjekte variiert der Kostenaufwand pro
Element zwischen 400 Euro und 10.000 Euro (ivm 2014).
Die Stadt Kiel hat ihren Nachholbedarf in der Fußverkehrsförderung erkannt
und ein Fußwegeachsen- und Kinderwegekonzept erstellt, das die Situation
schrittweise verbessern soll. Der Planungsansatz ist ein durchgängiges Wegenetz, welches durch verschiedene Quartiere verläuft und Ortsteile miteinander
verbindet. Es werden Schulen, ÖV-Haltestellen, Supermärkte, Kindertagesstätten, Sporthallen und Spielplätze angebunden, ebenso wie Joggingrouten, Wanderwege und Velorouten. Das Netz unterscheidet Allzeitwege, Freizeitwege
sowie Kinderwege. Es sind spezielle Standards für Fußwege und Kinderwege
erarbeitet worden, welche die Qualität der Fußwege sicherstellen. Darin enthalten sind Gestaltungsstandards für eine hohe Aufenthaltsqualität (z. B. Sitzmöglichkeiten), für Orientierungshilfen (z. B. Wegweisung), für Gehwegbreiten
von mindestens 2,50 m und im Idealfall von 4,0 m, für die Barrierefreiheit, für
sichere Querungshilfen sowie für fahrgastfreundliche Bushaltestellen (Landeshauptstadt Kiel 2014). Relativ leicht umsetzbar wird eine Zeitspanne von maximal 20 Sekunden sein, die nicht überschritten werden darf, wenn Kinder auf
ihren Wegen die Ampelgrünphase anfordern. Außerdem wird die Grünphase
so verlängert, dass die Straße auch von langsameren Verkehrsteilnehmer/innen
bequem überquert werden kann (Landeshauptstadt Kiel 2014).
Weil die finanziellen Mittel begrenzt sind, konzentriert man sich gezielt auf
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: Das Fußwegeachsen- und Kinderwegekonzept in Kiel
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die Fußwegeachsen. Hier nahmen Bürgerinnen und Bürger («Planungsspaziergänge») wie auch Kinder der 4. Klassen («Wegetagebücher») in einem Partizipationsverfahren an der Planung teil. Zudem werden Arbeitskreise und Beiräte,
wie der Arbeitskreis Verkehrsmarketing, der Arbeitskreis Fußverkehr, der Beirat
für Menschen mit Behinderungen, der Seniorenbeirat sowie die betroffenen
Ortsbeiräte in die Entwicklung der Fußwegeachsen einbezogen (Webseite Landeshauptstadt Kiel).
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Beispiel: Institutionalisierung des Fußverkehrs in Leipzig
Während Autofahrer/innen eine Lobby haben, wird der Fußverkehr in vielen
Städten eher stiefmütterlich behandelt: Autofahrer/innen artikulieren meist
lautstark ihren Unmut über Staus oder Schlaglöcher auf der Straße. Fußgänger/
innen hingegen weichen Hindernissen auf dem Gehweg aus, ohne sich darüber zu beschweren, obwohl mehr als jeder fünfte Weg in Deutschland zu Fuß
zurückgelegt wird. Ausdruck der schwachen Fußgängerlobby ist beispielsweise,
dass es bisher auf verkehrsplanerischer Ebene nahezu keine Institutionalisierung des Fußverkehrs gibt.
Die Stadt Leipzig bildet hier eine Ausnahme: Seit Januar 2018 hat Leipzig
einen Fußverkehrsbeauftragten im Amt – den ersten in Deutschland. Er kümmert sich gezielt um die Belange von Fußgänger/innen und prüft bei neuen Projekten, ob ihre Interessen auch ausreichend berücksichtigt werden.
Außerdem ist der Fußverkehrsbeauftragte Ansprechperson für die Bürger/
innen, wenn es um viele kleine und relativ schnell umzusetzende Maßnahmen
zur Verbesserung der Situation von Fußgänger/innen geht – beispielsweise wie
ein Bordstein vor einem Seniorenheim abgesenkt oder Schäden auf Gehwegen
beseitigt werden können (Schindler 2019).
Zu seinen Aufgaben zählt aber auch, ein neues Fußverkehrskonzept zu
erstellen, das den Fußverkehr in Leipzig strategisch fördern soll. Die vier Themenschwerpunkte der Fußwegestrategie umfassen dabei: die Stadt der kurzen
Wege, lebendige und lebenswerte Straßen und Plätze, gesunde und sichere
Mobilität sowie nachhaltig und innovativ unterwegs (Webseite Stadt Leipzig und
Webseite Leipziger Volkszeitung).
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Literatur und andere Quellen
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Fuss e. V. (Hg.) (2018): Fußverkehrs-Checks & Fußverkehrs-Audits. Informationen zur Durchführung
von Fußverkehrs-Checks. Online verfügbar unter http://www.fussverkehrs-check.de/ (Zugriff
23.09.2019)
Ivm GmbH (Hg.) (2014): Förderung des Rad- und Fußverkehrs. Kosteneffiziente Maßnahmen im
öffentlichen Straßenraum. Online verfügbar unter https://www.ivm-rheinmain.de/wp-content/
uploads/2014/09/Kosteneffizienz-Handbuch_2014.pdf (Zugriff 23.09.2019)
Landeshauptstadt Kiel (2014): Standards für Fußwege und Kinderwege. Fußwegeachsen und Kinderwegekonzept. Online verfügbar unter https://www.kiel.de/de/umwelt_verkehr/verkehrswege/
fusswegeachsen_und_kinderwege/_dokumente_fusswegeachse_und_kinderwege/Standards_
Fusswege_v2.pdf (Zugriff 23.09.2019)
Oberhofer, Elke (2015): Spazierengehen verlängert das Leben. In: Ärzte Zeitung online vom
05.02.2015. Online verfügbar unter https://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/adipositas/article/878590/20-minuten-pro-tag-spazierengehen-verlaengert-leben.html (Zugriff
23.09.2019)
Schindler, Wiebke (2019): Fußgängern eine Stimme geben. Online verfügbar unter https://www.mdr.
de/nachrichten/vermischtes/bundesweit-erster-fussgaengerbeauftragter-100.html (Zugriff
23.09.2019)
Webseite Landeshauptstadt Kiel (o.J.): Fußwege-Achsen & Kinderwege. Bürgerbeteiligung. Online
verfügbar unter https://www.kiel.de/de/umwelt_verkehr/verkehrswege/fusswegeachsen_und_
kinderwege/buergerbeteiligung.php (Zugriff 23.09.2019)
Webseite Stadt Leipzig (o.J.): Planung für den Fußverkehr. Online verfügbar unter https://www.leipzig.de/umwelt-und-verkehr/verkehrsplanung/fussverkehr/ (Zugriff 23.09.2019)
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2 So rollt es besser! Kommunen fahrradgerecht gestalten
Ein Schlüssel für die Verkehrswende in Städten ist die Förderung des Radverkehrs.
Wenn eine Stadt fahrradfreundlich gestaltet wird, sind mit relativ wenig Aufwand
schnell Ergebnisse sichtbar – und diese wirken nachhaltig auf mehreren Ebenen, wie
die folgenden Seiten zeigen.
Vorteile der Radverkehrsförderung
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Das Fahrrad nutzt den knappen öffentlichen Raum besser als der Autoverkehr. Werden Kommunen fahrradfreundlich gestaltet, steht dem motorisierten Individualverkehr weniger, dem öffentlichen Raum und der Aufenthaltsqualität dagegen mehr
Raum zur Verfügung. Auf der Fläche, auf der ein Auto abgestellt werden kann, finden
bis zu zehn Räder Platz; den Straßenraum, den ein fahrendes Auto bei Tempo 50 verbraucht, können sich mehr als drei Radfahrende teilen (Randelhoff 2014).
Radverkehr ist preiswert – sowohl die Nutzung als Verkehrsmittel als auch die Förderung durch die Kommunen. Eine Studie der Universität Kassel hat in einem Vergleich die öffentlichen Ausgaben und die volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen
verschiedener Verkehrsmittel gegenübergestellt. Der Radverkehr beansprucht dabei
den geringsten öffentlichen Zuschuss im Verhältnis zu dessen ohnehin niedrigen
Gesamtkosten, und der externe Nutzen durch Gesundheits- und Umweltschutz überwiegt die externen Kosten durch Unfälle um ein Vielfaches (vgl. Universität Kassel
2018).
Anders als der Autoverkehr, aber auch anders als der öffentliche Verkehr produziert der Radverkehr keine Treibhausgase, keine Luftschadstoffe und keinen
nennenswerten Verkehrslärm. Damit ist das Rad neben dem Fußverkehr das umweltfreundlichste Verkehrsmittel.
Zudem trägt Radfahren zu Gesundheit und Wohlbefinden bei: Regelmäßiges Radfahren beugt Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor, stärkt das Immunsystem, steigert die
Fitness und kann beim Abbau von Stress helfen (vgl. Oja et al. 2011).
Schließlich kann fast jede und jeder Fahrrad fahren: Vom Kind bis zur Rentnerin
und zum Rentner können die meisten Menschen das Verkehrsmittel Fahrrad selbständig individuell nutzen. Wo die Bedingungen für den Radverkehr so gut sind, dass
sowohl Achtjährige als auch Achtzigjährige sicher mit dem Rad fahren können, ist
mehr eigenständige, selbstbestimmte Mobilität möglich.
Das Potenzial des Radverkehrs
Das Potenzial für Wege im Alltagsverkehr, die mit dem Fahrrad bewältigt werden können, ist größer als häufig vermutet. Tatsächlich sind 58 Prozent der Wege in Deutschland kürzer als 5 Kilometer (infas et al. 2019). Ein Großteil dieser Fahrten ist ohne
Mobilitätseinschränkungen und Komfortverlust mit dem Fahrrad möglich. Bislang
werden diese kurzen Wege aber noch immer überwiegend mit dem Auto zurückgelegt: 61 Prozent der Wege zwischen 2 und 5 Kilometer und immer noch 46 Prozent der
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Radverkehrskonzept entwickeln und Budget bereitstellen
Um die Verkehrsbedingungen für den Radverkehr zu verbessern, sollten Kommunen
dafür zunächst eine konkrete und detaillierte Planung entwickeln. Das Konzept sollte
alle für den Radverkehr relevanten Aspekte umfassen: den Aufbau eines Radnetzes,
notwendige Abstellanlagen, Serviceangebote wie z. B. ein Fahrradverleihsystem sowie
eine Kommunikation des Radverkehrs. Es ist notwendig, die Planung der anderen
Verkehrsträger mit einzubeziehen (Verkehrsentwicklungsplanung), denn eine Stadtplanung der kurzen Wege, die Einführung von Tempolimits und eine Verknüpfung
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Wege zwischen einem und 2 Kilometer werden (als Fahrer/in oder Mitfahrer/in) mit
dem motorisierten Individualverkehr bewältigt (infas et al. 2019).
Durch die Erkenntnis der vielen Vorteile hat sich das Bild des Radverkehrs in der
Öffentlichkeit gewandelt – vom Öko-Image zu einem modernen, aktiven Verkehrsmittel. Das Rad wurde zur Mobilitätsoption für alle im Alltag, nicht nur für Kinder und
diejenigen, die kein Auto haben. Immer mehr Menschen nutzen es für die täglichen
Wege zur Arbeit, zum Einkaufen oder in der Freizeit. Das zeigt sich in den wachsenden
Radverkehrsanteilen: Zwischen den Jahren 2008 und 2017 ist der Anteil an Wegen, die
für den Radverkehr genutzt werden, von 9 auf 11 Prozent gestiegen (ebd.); in vielen
Städten, die den Radverkehr konsequent fördern, liegt der Anteil deutlich höher: in
Bremen bei 24 Prozent (Stadt Bremen 2017), in Freiburg bei 34 Prozent (Stadt Freiburg 2019), in Münster sowie in Bocholt bei jeweils 39 Prozent (Stadt Münster 2014,
Stadt Bocholt 2019).
Nicht nur viele Kommunen haben die Förderung des Radverkehrs entdeckt und
organisieren sich in Arbeitsgemeinschaften fahrradfreundlicher Kommunen bzw.
Städte (AGFK/AGFS in 7 Bundesländern); auch das Bundesverkehrsministerium fördert den Radverkehr seit 2002 mit dem Nationalen Radverkehrsplan und bietet auf
dem «Fahrradportal» unter https://nationaler-radverkehrsplan.de Informationen
zur Förderung, Praxisbeispiele, eine Forschungsdatenbank sowie Fortbildungen und
Workshops der Fahrradakademie an. Allerdings ist der Umfang der Radverkehrsförderung auf Bundesebene begrenzt: Mit jährlichen Mitteln von 190 Mio. Euro (2019)
entspricht die Förderung nur gut 2 Euro pro Kopf und Jahr, während für den motorisierten Straßenverkehr mit über 10 Mrd. Euro das Fünfzigfache investiert wird. Um
dies zu ändern, fordert beispielsweise der Verkehrsclub Deutschland e. V. (VCD) mittelfristig eine Aufstockung der Bundesmittel für die Velo-Infrastruktur auf 25 Euro pro
Kopf (VCD 2019). Auch in der Modernisierung der Straßenverkehrsordnung bleibt
das Bundesverkehrsministerium hinter den Möglichkeiten einer konsequenten Fahrradförderung zurück.
Auch wenn das «Ob» der Radverkehrsförderung in der politischen Arena nicht
mehr grundsätzlich strittig ist, gibt es unterschiedliche Ansichten über die Priorität,
die der Radverkehr als nachhaltiges Verkehrsmittel genießen soll. Damit geht es nun
insbesondere auf kommunaler Ebene um das «Wie». Nachfolgend werden wichtige
Schritte der Radverkehrsförderung vorgestellt.
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mit anderen Elementen des Umweltverbundes tragen dazu bei, das Fahrrad ins Verkehrssystem zu integrieren und die Nutzungsbedingungen zu verbessern.
Das Konzept sollte partizipativ entwickelt werden und Akteur/innen aus Zivilgesellschaft, Handel und Gewerbe, Verkehrspolizei u. a. einbeziehen. Ein/e Radverkehrsbeauftragte/r und ein Arbeitskreis mit den relevanten Akteur/innen haben sich
hier bewährt, um die Planung und Umsetzung zu koordinieren. Zudem muss für die
Förderung des Radverkehrs ein angemessenes Budget bereitgestellt werden. Während
viele deutsche Städte heute nur etwa 3 bis 5 Euro pro Kopf und Jahr ausgeben, sind es
in Vorreiterstädten wie Amsterdam 11 Euro, in Kopenhagen 36 Euro und in Utrecht
sogar 132 Euro (Greenpeace 2018). Der Nationale Radverkehrsplan empfiehlt eine
jährliche Pro-Kopf-Investition von 8 bis 19 Euro, je nach Stand der Fahrradförderung
in der Kommune (BMVBS 2012).
Dass die aktive Partizipation von Bürger/innen zur Verbesserung der Radverkehrsförderung führen kann, zeigen die Initiative zu einem Radentscheid und das
unter Mitwirkung der Zivilgesellschaft daraus entstandene Mobilitätsgesetz in Berlin:
Die Fördermittel für den Radverkehr sind verdreifacht worden, und 50 neue Stellen
sollen die Umsetzung eines qualitativ hochwertigen Radnetzes ermöglichen (vgl.
Volksentscheid Fahrrad 2019).
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Aufbau eines Radnetzes und fahrradfreundliche Straßengestaltung
Das größte Hindernis, um das Rad zu nutzen, ist die unzureichende Infrastruktur. Der
Straßenraum vieler Städte steht zum überwiegenden Teil den Autos zur Verfügung –
die Infrastruktur, die Geschwindigkeit und die Verkehrsregeln sind weitgehend den
Bedürfnissen des Kfz-Verkehrs angepasst. Das macht Radfahren für viele Menschen
wenig attraktiv und zudem gefährlich. Daher sollte der Straßenraum neu gestaltet
werden. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Prinzipien: Zum einen kann ein Verkehrssystem dadurch fahrradfreundlich gestaltet werden, dass dieses Verkehrsmittel auf
jeder Straße gefahrlos nutzbar ist (vgl. Kapitel Entschleunigung). In Tempo-30-Zonen
und Fahrradstraßen haben Radfahrende Vorrang. Zum anderen kann dort, wo die
Regelgeschwindigkeit weiter bei 50 km/h liegt, der Aufbau eines hierarchischen Radnetzes dafür sorgen, dass es sichere, schnelle und zusammenhängende Haupt- und
Nebenrouten gibt. Die konkrete Ausgestaltung hängt von den jeweiligen örtlichen
Bedingungen ab. Mit dem wachsenden Radverkehrsaufkommen müssen bestehende
Anlagen ausgebaut werden. Ein hierarchisches Netz umfasst unter anderem folgende
Elemente:
Baulich angelegte Radwege: Radwege in baulicher Trennung von Fahrbahn und
Gehweg verringern mögliche Konflikte sowohl mit Autofahrer/innen als auch
mit Fußgänger/innen. Die Radwege sollten zwei Meter breit sein, damit sich
Radfahrende gegenseitig überholen können. Entscheidend für die Sicherheit ist
die Verkehrsführung an Kreuzungen. Vielfach bergen von der Straße getrennte
Radwege auf Gehwegniveau an Kreuzungen ein erhöhtes Unfallrisiko. Werden
diese Radwege umgestaltet, muss der Sichtkontakt zu Autofahrer/innen durch
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eine entsprechende Verkehrsführung an Kreuzungen ermöglicht werden. Auch
eine wahrnehmbare Abgrenzung zum Gehweg (texturierter Belag oder minimale
Kante) ist wichtig.
Radstreifen (mit durchgezogener Linie) und Schutzstreifen (mit gestrichelter
Linie) können mit wenig Aufwand ins Straßennetz integriert werden. Die Radfahrer/innen sind dabei gemeinsam mit dem Autoverkehr unterwegs und werden
durch bessere Sichtbarkeit weniger gefährdet. Ein Risiko sind hier insbesondere
Regelverstöße durch parkende oder die Linie überfahrende Autos und Lieferfahrzeuge. Nur wenn diese konsequent geahndet werden, ist ein sicherer Radverkehr
möglich. Sollen hinreichend breite Radstreifen geschaffen werden, müssen oft
Fahrbahnen in Radstreifen umgewandelt werden.
Baulich getrennte Radwege auf Fahrbahnniveau, abgegrenzt etwa mit Balken
oder Pollern: An Unfallschwerpunkten und stark befahrenen Straßen ist es sinnvoll, Radstreifen auf diese Weise von der Fahrbahn abzutrennen. So geht vom
Autoverkehr weniger Gefahr aus.
Radschnellwege: Um längere Distanzen mit hoher Geschwindigkeit bewältigen
zu können, werden Radschnellwege weitgehend kreuzungsfrei mit Brücken oder
Tunneln gestaltet und baulich getrennt angelegt. Als Einrichtungsradweg sind sie
mindestens drei Meter breit, Zweirichtungsradwege vier Meter. An unvermeidbaren Kreuzungen können Radfahrer/innen durch intelligente Ampelschaltungen
eine «grüne Welle» erhalten.
Fahrradstraßen einrichten: Fahrradstraßen wurden 1997 in die Straßenverkehrsordnung eingeführt. Sie sind grundsätzlich Radfahrern vorbehalten, diese können
die gesamte Fahrbahn benutzen und auch nebeneinander fahren. Schneller als
30 km/h darf man hier nicht unterwegs sein. Fahrradstraßen können dort eingerichtet werden, wo der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart oder dies
alsbald zu erwarten ist. Allerdings muss dabei laut StVO auch auf die Bedürfnisse
des Kfz-Verkehrs Rücksicht genommen werden. Um eine Dominanz des Autos
auf Fahrradstraßen zu verhindern, sollten diese möglichst nur für Anlieger freigegeben werden. Die Regelungen zur Ausgestaltung von Fahrradstraßen sind sehr
allgemein formuliert, konkrete Gestaltungsvorgaben gibt es nicht. Wenn Kommunen Fahrradstraßen sinnvoll in ihr Straßennetz integrieren, sind sie eine gute
Möglichkeit, Radverkehr ohne separate Radinfrastruktur zu fördern.
Einbahnstraßen für den Radverkehr öffnen: Gegen die Fahrtrichtung für den Radverkehr geöffnete Einbahnstraßen in Nebenstraßen können das Netz ergänzen
und die Wege für den Radverkehr deutlich verkürzen.
Fahrradparken verbessern
In der gesamten Kommune verfügbare Fahrradabstellanlagen ermöglichen es, das
Rad im Alltagsverkehr zeitsparend und komfortabel zu nutzen.
Eine Grundausstattung bildet ein Netz an Fahrradbügeln. Eine größere Anzahl
von Fahrradbügeln findet auf dem Gehweg oft keinen Platz. Es ist daher sinnvoll,
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Parkbuchten für den Pkw-Verkehr nach Bedarf in Abstellflächen für Fahrräder
umzuwandeln.
Ebenerdig zugängliche Fahrradboxen und Radstationen bieten sichere und wettergeschützte Abstellplätze. Sie sollten zum einen an wichtigen Umsteigepunkten
wie Bahnhöfen und an relevanten ÖPNV-Haltepunkten, an Einkaufszentren und
öffentlichen Einrichtungen, aber auch in Wohngebieten aufgestellt werden. Vollautomatische Stationen und Fahrradboxen ermöglichen einen kosteneffizienten
Betrieb. Neben der Ad-hoc-Nutzung sind auch fest vermietete Boxen und Stellplätze sinnvoll, insbesondere in Wohngebieten.
In Kombination mit dem Zugang zu anderen Verkehrsmitteln können Abstellanlagen Teil von Mobilstationen sein (vgl. Kapitel Geteilte und vernetzte Mobilität).
Viele Verkehrsziele und Wohngebäude sind nicht hinreichend mit adäquaten
Abstellmöglichkeiten für Fahrräder ausgestattet. Um dies zu verändern, können
kommunale Stellplatzsatzungen angepasst werden: So kann bei Nachweis von
ebenerdig zugänglichen diebstahl- und wettergeschützten Fahrradabstellanlagen
die Anzahl nachzuweisender Pkw-Stellplätze anteilig gesenkt werden, um damit
einen Anreiz für die Einrichtung solcher Fahrradstellplätze zu schaffen.
Beispiel: Kontinuierliche Fahrradförderung in Bocholt
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Die Stadt Bocholt engagiert sich seit vielen Jahren in der Förderung des Radverkehrs. Das Velo wird dort quer durch alle Bevölkerungsgruppen für den
Alltagsverkehr genutzt – der Radverkehrsanteil an allen Wegen beträgt 39 Prozent. Im Jahr 2019 ist die Stadt bereits zum sechsten Mal als Bundessieger des
ADFC-Fahrradklimatests in der Gruppe der Kommunen unter 100.000 Einwohnern ausgezeichnet worden (ADFC 2019).
Zur Erreichung dieses Ziels hat Bocholt in den vergangenen Jahrzehnten
sukzessive die Bedingungen für den Radverkehr verbessert (vgl. Stadt Bocholt,
o. J.).
Die Radverkehrsförderung wurde systematisch in Verkehrsplanungsprozesse integriert, koordiniert werden diese im Fachbereich Tiefbau, Verkehr
und Stadtgrün. So plant man etwa neue Siedlungen so, dass die Verkehrswege für Radfahrer/innen und Fußgänger/innen optimiert sind. Leitbild für
die Stadtentwicklung ist das Konzept «Stadt der kurzen Wege».
Ein zusammenhängendes und dichtes Netz erschließt den Stadtraum für den
Radverkehr. Dabei werden die Radwege häufig abseits der Hauptverkehrsstraßen angelegt. Auf wenig befahrenen Straßen wird der Radverkehr auf der
Fahrbahn, auf stark befahrenen Straßen als separater Radweg geführt. Viele
Einbahnstraßen wurden systematisch für den Radverkehr geöffnet. Einzelne
Radrouten baute man in den vergangenen Jahren zudem als Radschnellwege aus; dort haben Radfahrer/innen an Kreuzungen Vorfahrt.
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Foto: Christoph Mischke, Stadt Göttingen
eRadschnellweg Göttingen
Fahrradparkhaus Karlsruhe
Foto: Stadtplanungsamt, Stadt Karlsruhe
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Vorgezogene Aufstellflächen, großzügige Markierungen und separate
Ampelschaltungen, die dem Radverkehr einen Zeitvorsprung gewähren, sorgen für mehr Sichtbarkeit und Sicherheit der Radfahrer/innen an
Kreuzungen.
Eine bewachte Radstation und viele überdachte Abstellanlagen an wichtigen Verkehrsknoten ermöglichen das sichere Abstellen der Fahrräder.
Die enge Kooperation der Stadt als in der Region bedeutendes Mittelzentrum mit den benachbarten Kommunen in Deutschland sowie mit den
angrenzenden Niederlanden ermöglicht eine regionale Koordination der
Radverkehrsförderung. Seit 2009 ist Bocholt Mitglied der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in
NRW (AGFS).
Beispiel: eRadschnellweg Göttingen
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
In der Fahrradstadt Göttingen werden bereits 28 Prozent der Wege mit dem Rad
zurückgelegt. Die Stadt möchte ihren Radanteil aber weiter erhöhen – insbesondere im Pendlerverkehr auf dem Weg zur Arbeit. Um hierfür einen Anreiz
zu bieten, hat die Stadt die Strecke vom Göttinger Bahnhof zu den bedeutenden
Arbeitsstätten rund um das Universitätsklinikum zu einem rund vier Kilometer
langen eRadschnellweg (für Pedelecs geeigneter Radschnellweg) ausgebaut.
Damit wurde hier der erste Radschnellweg geschaffen, der zentral durch eine
Stadt führt. Das Projekt wurde im Jahr 2016 mit dem 2. Platz des Deutschen
Fahrradpreises ausgezeichnet (AGFS 2016).
Auf einem Drittel der Strecke wird der Radverkehr gemeinsam mit dem übrigen Verkehr geführt. Auf zwei Dritteln wurden großzügig angelegte, separate
Zweirichtungswege von 3 bis 4 Meter Breite geschaffen.
Um ein schnelles und bequemes Fahren zu ermöglichen, wurden Übergänge zur Fahrbahn ohne Bordsteinkante umgesetzt, an Ampeln wird der
Radverkehr bevorzugt.
Entlang der Strecke wurden Dauerzählstellen eingerichtet, um Erkenntnisse
über die Nutzung zu gewinnen.
Mehr als die Hälfte der notwendigen Investitionen von rund 1,1 Mio. Euro
erfolgt aus eigenen Mitteln, knapp die Hälfte machen Fördermittel des Programms «Schaufenster Elektromobilität» aus.
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Beispiel: Audit und Entwicklung einer Radverkehrsstrategie in Karlsruhe
Voraussetzung für eine zielgerichtete Förderung des Radverkehrs sind u. a. eine
gute Analyse des Status quo und die darauf aufbauende Erarbeitung einer geeigneten Strategie. Die Stadt Karlsruhe hat beides vor rund 15 Jahren getan und
erntet dafür heute die Erfolge: Im Jahr 2019 wurde sie als fahrradfreundlichste
Großstadt bis 500.000 Einwohner ausgezeichnet (ADFC 2019).
Mit einem sogenannten BYPAD-Verfahren (Bicycle Policy Audit) hat die
Stadt die Situation des Radverkehrs und die Herausforderungen im Detail analysiert. Mithilfe externer Expert/innen und lokaler Akteur/innen – aus Stadt- und
Verkehrsplanung, Bauamt, Polizei, lokaler Wirtschaft, Verbänden und anderen
zivilgesellschaftlichen Gruppen – wurden verschiedene Aspekte des Radverkehrs qualitativ bewertet.
Mit Blick auf die Vorbereitungsphase betrachtet das Audit die Aspekte:
Anforderungen der Radfahrenden
Steuerung der Politik und Koordinierung
Strategien und Konzepte
Finanzen und Personal
Zudem werden die konkreten Aktivitäten der Fahrradförderung analysiert:
Schließlich betrachtet das Audit Evaluation und Wirksamkeit der Fahrradförderung in der Kommune.
Das von internationalen Experten entwickelte BYPAD-Verfahren ist online
detailliert erläutert unter https://bypad.org.
Basierend auf den im Audit analysierten Schwachstellen entwickelte die
Stadt Karlsruhe 2005 ein 20-Punkte-Programm als Grundsatzstrategie zur Förderung des Radverkehrs. Es formuliert unter anderem die Ziele, den Radverkehrsanteil stark zu steigern, die Unfallzahlen zu senken, ein Radroutennetz
aufzubauen und jährlich zwei Radrouten zu planen und zu bauen.
Ein Monitoring-Prozess begleitete die Umsetzung des Programms, das im
Jahr 2013 fortgeschrieben wurde. Dort wurden etwa der Zielwert für den Radverkehrsanteil von 23 Prozent (für 2012 angestrebt und mit 25 Prozent übertroffen)
auf 30 Prozent bis zum Jahr 2020 erhöht und die konkreten Ziele für das Radverkehrsnetz und das Fahrradparken angepasst (Stadt Karlsruhe 2013).
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Infrastruktur und Sicherheit
Information und Erziehung
Kommunikation und Partnerschaften
Ergänzende Maßnahmen
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Abb.: BYPAD für Städte und Gemeinden
BYPAD betrachtet Radverkehrspolitik als dynamischen Prozess
Evaluation & Wirksamkeit
Anforderungen der
Radfahrerinnen
Ergänzende
Massnahmen
TEN
ITÄ
IV
T
K
REITUNG
RBE
VO
Kommunikation &
Partnerschaft
Steuerung der
Politik &
Koordinierung
ORING
NIT
MO
Strategien &
Konzepte
A
Information & Erziehung
Finanzen & Personal
Infrastruktur & Personal
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Quelle: BYPAD - Bicycle Policy Audit www.bypad.org
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ADFC – Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e.V. (2019): Dossier zum Fahrradklima-Test 2018.
Online verfügbar unter: https://www.adfc.de/dossier/dossier-zum-fahrradklima-test-2018/
AGFS – Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise
in NRW e.V. (2016): eRadschnellweg Göttingen. Projektbeschreibung. Online verfügbar unter:
https://www.der-deutsche-fahrradpreis.de/fileadmin/bfb_dateien/Download_2016/Nominierte/02_eRadschnellweg.pdf (Zugriff 28.10.19)
BMVBS – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2012): Nationaler Radverkehrsplan 2020. Den Radverkehr gemeinsam weiterentwickeln. Berlin.
BYPAD (o.J): BYPAD - Die effizienteste Methode zur Verbesserung von lokalen und regionalen Radverkehrsmaßnahmen. https://bypad.org (Zugriff 28.10.19)
Greenpeace e.V. (2018): Radfahrende schützen – Klimaschutz stärken. Sichere und attraktive Wege für
mehr Radverkehr in Städten. Hamburg.
Infas / DLR / IVT / Infas 360 (2019): Mobilität in Deutschland – MiD. Ergebnisbericht. Eine Studie des
Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Bonn.
Oja, A., Titze, S.; Bauman, A.; de Geus, B., Krenn, P., Reger-Nash, B.; Kohlberger, T. (2011): Health
benefits of cycling: A systematic review. In: Scandinavian Journal of Medicine and Science in
Sports
Randelhoff, Martin (2014): Vergleich unterschiedlicher Flächeninanspruchnahmen nach Verkehrsarten. Online verfügbar unter: https://www.zukunft-mobilitaet.net/78246/analyse/
flaechenbedarf-pkw-fahrrad-bus-strassenbahn-stadtbahn-fussgaenger-metro-bremsverzoegerung-vergleich/ (Zugriff 28.10.19)
Stadt Bocholt (o.J): Fahrradstadt. Online verfügbar unter: https://www.bocholt.de/rathaus/planenbauen-verkehr/fahrradstadt/ (Zugriff 28.10.19)
Stadt Bremen (2017): Bericht der Verwaltung für die Sitzung der Deputation für Umwelt, Bau, Verkehr, Stadtentwicklung, Energie und Landwirtschaft (S) am 17.08.2017: Mobilität in Bremen –
Vertiefende Analyse der Haushaltsbefragung zum Verkehrsverhalten SrV aus dem Jahr 2013 und
Vergleich mit den Ergebnissen der SrV aus dem Jahr 2008
Stadt Freiburg (2019): Die Freiburger Verkehrskonzeption. Online verfügbar unter: https://www.freiburg.de/pb/231648.html (Zugriff 28.10.19)
Stadt Karlsruhe (2013): Radverkehr – 20-Punkte-Programm. Zwischenstand und Fortschreibung
des 20-Punkte-Programms zur Förderung des Radverkehrs in Karlsruhe. Online verfügbar
unter: https://www.karlsruhe.de/b3/verkehr/radverkehr/massnahmen/HF_sections/content/
ZZkRU2CZAtsvPA/ZZl4jA7xgdAQNo/Broschüre_Internetversion_klein.pdf (Zugriff 28.10.19)
Stadt Münster (2014): Verkehrsverhalten und Verkehrsmittelwahl der Münsteraner. Ergebnisse einer
Haushaltsbefragung im Herbst 2013. In: Beiträge zur Stadtforschung, Stadtentwicklung, Stadtplanung, Verkehrsplanung. Nr. 1/2014.
Universität Kassel (2018): NRVP 2020 – Welche Kosten verursachen verschiedene Verkehrsmittel
wirklich? Zusammenfassung, Ausblick und Diskussion. Von Assadollah Saighani und Carsten
Sommer. Präsentation. Online verfügbar unter: https://www.uni-kassel.de/fb14bau/fileadmin/datas/fb14/Institute/IfV/Verkehrsplanung-und-Verkehrssysteme/Forschung/Projekte/
NRVP2020/7_17_11_28_Zusammenfassung_Ausblick_Diskussion.pdf (Zugriff 13.12.19)
VCD (2019): Erfolgreiche Fahrradförderung: Verantwortung und Maßnahmen. https://www.vcd.org/
themen/radverkehr/fahrradpolitik/#c2303 (Zugriff 12.11.19)
Volksentscheid Fahrrad (2019): 10 Ziele – weil Berlin sich dreht! Online verfügbar unter: https://
volksentscheid-fahrrad.de/de/ziele/ (Zugriff 11.11.19)
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3 Entschleunigung! Wie durch reduzierte Geschwindigkeit
die Verkehrssicherheit erhöht wird
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 3.000 Menschen infolge von Straßenverkehrsunfällen, über 300.000 werden verletzt. Im Jahr 2018 stieg sowohl die Zahl der
Unfälle mit Personenschaden (plus zwei Prozent) als auch die Zahl der Menschen,
die im Straßenverkehr getötet wurden (plus drei Prozent), im Vergleich zum Vorjahr
an. Dabei ereigneten sich 69 Prozent der Unfälle mit Personenschaden und 30 Prozent der tödlich verlaufenden Unfälle im innerstädtischen Bereich. Auch die Zahl der
getöteten Radfahrer/innen, Senior/innen und Kinder unter 15 Jahren stieg im Jahr
2018 wieder an (Statistisches Bundesamt 2018). Das zeigt, dass die Unfallrisiken in
Städten insbesondere für schwächere Verkehrsteilnehmer/innen wie Fußgänger/
innen, Radfahrer/innen, Kinder und ältere Menschen groß sind. Ein zentraler Faktor ist hierbei der motorisierte Individualverkehr (MIV). Die Schwere eines durch den
MIV verursachten Unfalls ist dabei direkt davon abhängig, wie schnell das Fahrzeug
unterwegs ist (Schüller 2010). Um den Verkehr insgesamt sicherer zu machen, sollte
der MIV durch verkehrsberuhigende Maßnahmen entschleunigt werden. So werden auch nicht-motorisierte Verkehrsarten attraktiver, und die Aufenthaltsqualität
im öffentlichen Raum steigt (vgl. Beitrag «Neuer Raum - Wie Parkraummanagement
und Straßenverkehr verbessert werden können»). Fußgänger/innen und Radfahrer/
innen können sich schneller und sicherer fortbewegen. Damit dauert auch der Weg
zur nächsten Haltestelle des öffentlichen Verkehrs sowie von der Haltestelle zum Ziel
weniger lange. Die Entschleunigung des MIVs kann also auch eine Verkehrsverlagerung begünstigen.
Maßnahmen zur Geschwindigkeitssenkung des motorisierten Verkehrs umfassen
regulative Maßnahmen, die mit baulich-infrastrukturellen, sanktionierenden bzw.
Informationsmaßnahmen kombiniert werden sollten. Hier einige Beispiele:
flächenhafte Tempolimits: Tempo-30-Zonen können mittlerweile nahezu flächendeckend eingeführt werden: Voraussetzung ist, dass es sich hierbei um
Wohngebiete, Gebiete mit hoher Fuß- und Radverkehrsdichte bzw. solche
mit hohem Querungsbedarf handelt. Nicht eingerichtet werden können Tempo-30-Zonen in Gewerbegebieten, an Vorfahrtsstraßen und an Straßen des überörtlichen Verkehrs. Hier können aber zumindest abschnittsweise Tempolimits
geprüft werden.
abschnittsweise Tempolimits: Streckenbezogen kann das Tempo reduziert werden, wenn besondere Anforderungen an die Sicherheit, den Lärmschutz oder an
die Luftreinhaltung bestehen. Das kann geboten sein, wenn
in unmittelbarer Nähe Kindergärten, Kindertagesstätten, Schulen, Alten- und
Pflegeheime oder Krankenhäuser gelegen sind,
viele Fußgänger/innen oder Radfahrer/innen den Straßenabschnitt nutzen,
viele Menschen den Straßenabschnitt überqueren,
es viele Unfälle oder sonstige Gefährdungen auf diesem Straßenabschnitt gibt
oder
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Optisches Signal für Tempo 30
Foto: Florian Peljak
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verkehrsbedingte Lärmbeeinträchtigungen bzw. Überschreitungen von
Luftreinhalte-Richtwerten vorliegen.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Eine Checkliste, unter welchen Bedingungen eine Tempo-30-Zone oder streckenbezogene Temporeduzierungen eingeführt werden können, ist im Soforthilfepapier des
VCD zu finden (VCD 2018).
Um den motorisierten Verkehr gezielt zu verlangsamen, sind regulative Maßnahmen, wie die Festsetzung von Geschwindigkeitsbegrenzungen, allein aber meist nicht
ausreichend. Es muss auch gewährleistet werden, dass die Tempolimits im Alltag eingehalten werden. Deshalb sollten sie je nach ortsspezifischen Gegebenheiten kombiniert werden mit:
baulichen Maßnahmen zur Reduzierung der Geschwindigkeit: Hierzu gehören Aufpflasterungen auf der Straße – sowohl auf der Strecke als auch an Knotenpunkten, Mittelinseln mit Versätzen, Verengung des Fahrbahnquerschnitts,
die Einrichtung von Kreisverkehren sowie eine Neuordnung der Parkflächen.
Der bauliche Aufwand und die damit verbundenen Kosten sind je nach gewählter Maßnahme sehr unterschiedlich. Ziel all dieser baulichen Maßnahmen ist
es, dass die Fahrer/innen aufgrund der Beschaffenheit der Straße die Geschwindigkeit anpassen müssen bzw. höhere Geschwindigkeiten gar nicht ermöglicht
werden.
Dialog-Displays: Durch Lob und Tadel wird den Fahrer/innen angezeigt, ob er/
sie sich an die bestehende Geschwindigkeitsbegrenzung hält. Praxis und Evaluation haben gezeigt, dass diese Dialog-Displays «Danke» bzw. «Langsam» effektiver sind als die Anzeige der aktuellen Geschwindigkeit. Die Wirkung wird hier
direkt mit Inbetriebnahme erzielt, und es tritt auch kein Gewöhnungseffekt ein
(Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft 2009). Die Kosten sind
verhältnismäßig niedrig und liegen bei ca. 5.000 Euro (ivm 2014).
Kontrolle der Geschwindigkeitsbegrenzungen und Ahndung, wenn sie nicht
eingehalten werden: Durch fest installierte «Starenkästen» oder mobile Geschwindigkeitskontrollen kann man überprüfen, ob die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit eingehalten wird. Bei Überschreitung müssen Fahrer/innen ein
entsprechendes Bußgeld zahlen, bei besonders schwerwiegenden Übertretungen
werden weitere Sanktionen ausgesprochen. Starenkästen sind allerdings sehr
teuer in der Installation, mobile Geschwindigkeitskontrollen brauchen hingegen
viel Personal, das häufig nicht vorhanden ist.
Shared Spaces: Der Planungsgrundsatz Shared Space bedeutet eine Verkehrsraumgestaltung, bei der alle Verkehrsteilnehmer/innen gleichberechtigt sind.
Nach dem Mischungsprinzip ist Verkehr neben dem Aufenthalt im öffentlichen
Raum «eine von vielen Nutzungen» (VCD 2009). Die Verkehrsteilnehmer/innen
haben aufeinander zu achten und Rücksicht zu nehmen.
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Beispiel: Die erste Tempo-30-Zone Deutschlands in Buxtehude
Im niedersächsischen Buxtehude wurde im Rahmen eines Modellversuchs im
Jahr 1983 die erste Tempo-30-Zone in Deutschland eingerichtet – lange bevor
sie offiziell in die Straßenverkehrsordnung einging. Ausgangslage war damals,
dass es in einem Gebiet, in dem Schulen, Kindergärten und ein Hallenbad
lagen, vermehrt zu Unfällen kam. Der Kraftfahrzeugverkehr war dort mit deutlich überhöhten Geschwindigkeiten unterwegs. Daraufhin setzte der damalige
Stadtbaurat eine Rechts-vor-links-Regelung durch und veranlasste eine Fahrbahnverengung durch Blumenkübel, die an Straßenränder gesetzt wurden.
Die Einführung der Tempo-30-Zone ging mit großen Protesten einher. Als sich
die Unfallzahlen jedoch deutlich reduzierten, akzeptierte die Bevölkerung sie
zunehmend. Heute gilt im gesamten Stadtgebiet, außer auf den Hauptverkehrsstraßen, Tempo 30 (Reiss 2013). 1990 führte man die Tempo-30-Zone schließlich bundesweit ein und nahm sie dauerhaft in die Straßenverkehrsordnung auf.
Dieses Beispiel zeigt, dass mit politischem Willen und Kreativität neue wirkungsvolle Verkehrslösungen entwickelt werden können, auch wenn sie anfänglich auf
Protest stoßen. Zunächst waren die Betonkübel in Buxtehude als Modellversuch
angelegt, und erst später entwickelte sich hieraus eine dauerhafte Verkehrsberuhigung. Temporäre Maßnahmen können vorteilhaft für eine Entschleunigung
sein, und sie können mittelfristig als Dauerlösungen installiert werden.
Rudersberg ist eine Gemeinde im Rems-Murr-Kreis in Baden-Württemberg und
hat rund 11.300 Einwohner/innen. Wie viele Klein- und Mittelstädte war auch
Rudersberg von hohem Durchgangsverkehr geprägt. Täglich passierten rund
13.000 Fahrzeuge die Ortsmitte. Häufig werden zur Entlastung der Ortsmitte
Umgehungsstraßen gebaut, mit der Folge, dass der Verkehr zwar umgeleitet
wird, gleichzeitig jedoch die jeweilige Ortsmitte unattraktiver wird: Der Einzelhandel zieht sich häufig zurück, und die Hauptstraßen verwaisen und verfallen.
Rudersberg hat sich bewusst für eine andere Variante entschieden, denn die
Bürger/innen hatten zuvor in einem Bürgerentscheid gegen eine Umgehungsstraße gestimmt.
Um den Verkehr zu beruhigen und die Ortsmitte attraktiver zu machen,
hat die Stadtverwaltung die Ortsdurchfahrt auf einer Länge von insgesamt 650 Metern in Anlehnung an das Shared-Space-Konzept umgestaltet. Hierzu wurden unter anderem der überwiegende Teil der Asphaltdecke
durch Pflastersteine ersetzt und die vormals zu schmalen Gehwege auf eine
Breite zwischen 1,70 Meter und 6,50 Metern erweitert und abgesenkt. Die
54
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: Umgestaltung der Ortsdurchfahrt in Rudersberg
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IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Foto: Garten- und Tiefbauamt in Freiburg/Br.
Maßnahmen zur Reduzierung der Geschwindigkeit in Freiburg
Oberflächen von Straße und Gehweg sind identisch gestaltet, so dass sie
als durchgehende Fläche wahrgenommen werden. Damit die Autofahrer/
innen gezwungen sind, langsamer zu fahren, und zur Erhöhung ihrer Aufmerksamkeit hat man an beiden Seiten Straßenleuchten aufgestellt. Sie
sind so angeordnet, dass sie den Verkehrsraum für die Autos verengen.
Durch diese Umgestaltung ist das Verkehrsaufkommen um rund ein Drittel
zurückgegangen. Damit sind auch verkehrsbedingte Luftschadstoffemissionen
reduziert worden, und der Straßenverkehrslärm nahm ab. Zudem konnte die
Aufenthaltsqualität verbessert werden. Das hat dazu geführt, dass sich Einzelhandelsgeschäfte und Gastronomieangebote entlang des verkehrsberuhigten
Bereichs neu ansiedelten (Webseite Ortsmitte Rudersberg).
Auch dieses Praxisbeispiel zeigt, dass es sich lohnt, neue Wege bei der Verkehrs- und Stadtplanung zu gehen. Rudersberg wurde mit dem zweiten Platz des
Deutschen Verkehrsplanungspreises 2016 ausgezeichnet und sei ein Vorzeigebeispiel. «Eine Umgehungsstraße hätte einen Eingriff in Natur und Landschaft
bedeutet, die Menschen wären an Rudersberg vorbeigefahren – und dem Ort
wäre so die Chance genommen, mit einer einladenden Geste die Menschen zum
Anhalten anzuregen» (Topp o.J. in: Webseite Ortsmitte Rudersberg).
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Beispiel: Shared Space in Bohmte
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Bohmte liegt im Osten des Landkreises Osnabrück in Niedersachsen und hat
etwa 12 700 Einwohner/innen. Bohmte war die erste Gemeinde in Deutschland,
in der eine nach Nutzungsarten getrennte Straße nach dem Konzept des Shared
Space umgestaltet worden ist. Shared Space ist ein raumplanerisches Konzept
zur Verkehrsberuhigung. Verkehrsschilder, Bordsteine und Ampeln im Straßenraum werden zugunsten einer gemeinsamen und gleichberechtigten Nutzung
des Verkehrsraumes durch alle Verkehrsteilnehmer/innen beseitigt.
Im Bohmte hatte die Bremer Straße als zentrale Verkehrsachse aufgrund von
Durchgangs- als auch innerstädtischem Verkehr ein hohes Verkehrsaufkommen
von Lkws und Pkws. Die Folge waren erhebliche Emissionen von Luftschadstoffen und Lärm. Das hat die Aufenthaltsqualität entlang der Straße erheblich
eingeschränkt. Konventionelle Maßnahmen zur Minderung der Belastungen
erzielten keine Wirkung, so dass die Stadt im Jahr 2004 die Idee des Shared Space
aufgriff.
Um den motorisierten Verkehr zu entschleunigen, reduzierte man die
Fahrbahnbreite. Nach dem Abschluss der Umgestaltung im Jahr 2008 bestand
die Straße aus einer rot eingefärbten Asphaltfahrbahn und beidseitig gepflasterten Rad- und Gehwegen. Diese sind niveaugleich mit der Fahrbahn. Vorhandene Ampeln und Verkehrsschilder wurden demontiert. Jetzt müssen alle
Verkehrsteilnehmer/innen aufmerksamer beobachten und sich aufeinander
abstimmen. Damit ist der Verkehr sicherer geworden. Anwohner/innen sowie
Gewerbetreibende vor Ort bestätigen eine Erhöhung der Aufenthaltsqualität.
Auch sind die Emissionen verkehrsbedingter Luftschadstoffe und von Verkehrslärm zurückgegangen (Goedejohann 2011).
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Literatur und andere Quellen
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (2009): «Lob und Tadel» - Wirkungen von
Dialog-Displays. Online verfügbar unter : https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=
s&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwih0ujTnPjkAhUDIMUKHe1uCW0QFjAAegQIARAC&url=https%3A%2F%2Fudv.de%2Fdownload%2Ffile%2Ffid%2F7863&usg=AOvVaw1_4rU0iy3aFHpLLi_8D6k4 (Zugriff 30.09.2019)
Goedejohann, K. (2011): Erfahrungen aus der Modellgemeinde Bohmte. Vortrag im Rahmen der
ADAC/UDV-Fachveranstaltung Verkehrsberuhigung in Geschäftsstraßen – Shared Space in der
kommunalen Praxis am 01. März 2011. Ohne Ort. Online verfügbar unter: https://www.google.
com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwiKkMuMl9DlAhVN-aQKHeTlAYoQFjAAegQIAxAC&url=https%3A%2F%2Fm.udv.de%2Fsystem%2Ffiles_force%2Fvortrag_goedejohann_0.pdf%3Fdownload%3D1&usg=AOvVaw1s_FL4iF1LCLnC_Eqn8pjh (Zugriff
01.10.2019)
ivm GmbH (Hrsg.) (2014): Förderung des Rad- und Fußverkehrs. Kosteneffiziente Maßnahmen im
öffentlichen Straßenraum. Online verfügbar unter: https://www.ivm-rheinmain.de/wp-content/uploads/2014/09/Kosteneffizienz-Handbuch_2014.pdf (Zugriff 23.09.2019)
Monheim, Heiner (2013): Finanzierung der Verkehrssysteme im ÖPNV. In: Stadt Leipzig (2013):
Mobilität 2020. Stadtentwicklungsplan Verkehr und öffentlicher Raum. Neun Fachgutachten zur
Fortschreibung. Online verfügbar unter: https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/
leipzig-de/Stadt/02.6_Dez6_Stadtentwicklung_Bau/66_Verkehrs_und_Tiefbauamt/STEP_Broschuere_Fachgutachten.pdf (Zugriff 30.09.2019)
Reiss, Julia (2013): Als Buxtehude die Tempo-30-Zone erfand. Online verfügbar unter: https://www.
welt.de/print/die_welt/hamburg/article122143941/Als-Buxtehude-die-Tempo-30-Zone-erfand.
html (Zugriff 30.09.2019)
Schüller, Hagen (2010): Modelle zur Beschreibung des Geschwindigkeitsverhaltens auf Stadtstraßen
und dessen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit auf Grundlage der Straßengestaltung.
Online verfügbar unter: https://tu-dresden.de/bu/verkehr/ivs/vnm/ressourcen/dateien/institutsschriftenreihe/Heft-12.pdf?lang=de (Zugriff 30.09.2019)
Statistisches Bundesamt (2018): Verkehr. Verkehrsunfälle. Fachserie 8 Reihe 7. Online verfügbar
unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Publikationen/Downloads-Verkehrsunfaelle/verkehrsunfaelle-jahr-2080700187004.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff 30.09.2019)
VCD (2018): Tempo 30 Soforthilfepapier. Sie wollen Tempo 30? Wir sagen Ihnen, was geht. Online
verfügbar unter: https://www.vcd.org/fileadmin/user_upload/Redaktion/Themen/Verkehrssicherheit/Tempo_30/Tempo30_Soforthilfe-Papier_09_2018.pdf (Zugriff 30.09.2019)
VCD (2009): VCD Position Shared Space. Online verfügbar unter: https://www.vcd.org/fileadmin/
user_upload/Redaktion/Publikationsdatenbank/Verkehrsplanung/VCD_Position_Shared_
Space_2009.pdf (Zugriff 30.09.2019)
Webseite Ortsdurchfahrt Rudersberg. Online verfügbar unter: http://www.ortsdurchfahrt-ruders
berg.de/ (Zugriff 30.09.2019)
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Die Lebensqualität in Städten hängt stark von der Gestaltung und Nutzbarkeit des
öffentlichen Raums ab. Dieser umfasst unter anderem Straßen, Wege, Parkplätze,
Plätze sowie Grün- und Erholungsflächen und ist in der Stadt begrenzt. Deshalb
sind die vielen mitunter konkurrierenden Nutzungsanforderungen gegeneinander
abzuwägen.
Besonders viel öffentlicher Raum wird vom motorisierten Individualverkehr
beansprucht: durch Straßen und öffentlichen Parkraum. Das Parken von Kraftfahrzeugen ist dabei eine besonders ineffiziente und zudem sozial ungerechte Form der
Nutzung (Notz 2017), denn es privilegiert Autobesitzer/innen vor anderen Nutzergruppen. Geparkte Autos sind häufig ein Sicherheitsrisiko: wenn sie auf Geh- und
Radwegen sowie Feuerwehrzufahrten stehen oder die Sicht auf querende Fußgänger/
innen einschränken. Oft nehmen sie Fußgänger/innen, besonders Kindern, beim
Überqueren der Straße die Sicht auf die Fahrbahn. Parkplätze zu bauen und zu erhalten kostet die Allgemeinheit viel Geld. Darüber hinaus verursachen Parksuchverkehre
Lärm-, CO2- und Schadstoffemissionen und vermindern so die Aufenthaltsqualität im
öffentlichen Raum.
Das Parkraumangebot in einer Stadt und dessen Bewirtschaftung beeinflusst das
Verkehrsaufkommen maßgeblich. In Stadtquartieren mit einem hohen Verkehrs
aufkommen und einer angespannten Parkplatzsituation kann der Parksuchverkehr
abhängig von der Situation vor Ort bis zu 40 Prozent des innerstädtischen Autoverkehrs ausmachen (Siemens 2007). Wenn flächendeckend und konsequent bewirtschaftete Parkplätze in der Stadt bereitgestellt werden, so kann das den Pkw-Verkehr
reduzieren, Verdrängungseffekte in benachbarte, nicht bewirtschafteten Bereiche
verhindern1 und bei Durchführung flankierender Maßnahmen zur Verlagerung von
Pkw-Verkehren auf den Umweltverbund beitragen. Parkraummanagement umfasst
dabei die räumliche Verteilung bewirtschafteter Parkplätze in einer Stadt und den
Umfang ihrer Bewirtschaftung.
Die Ausgestaltung des Parkraummanagements fällt in die Verantwortlichkeit der
Kommune. Sie ist somit eine Maßnahme, mit der die Kommune direkt auf das Verkehrsaufkommen und die Verkehrsmittelwahl einwirken kann (vgl. Heinrichs et al.
2013). Leider gibt es in den Verwaltungen mitunter zersplitterte Zuständigkeiten für
die einzelnen Teilbereiche des Parkraummanagements. Der damit einhergehende
Koordinationsaufwand ist groß. Ein einsetzender Wertewandel zumindest in vielen
Großstädten verändert jedoch die Einstellung der Menschen zum Pkw-Besitz. Viele
wollen auf ein eigenes Fahrzeug zunehmend verzichten, und sie tolerieren regelwidriges Parken immer weniger. Das kann die Ausweitung des Parkraummanagements
befördern. Viele Bewohner/innen wünschen sich zunehmend mehr Aufenthaltsflächen und weniger Parkplätze im öffentlichen Raum und drücken das auch aus.
1
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Da die Nutzung öffentlichen Raums zum Abstellen eines Fahrzeugs einer Privatisierung öffentlichen Raums gleichkommt, sollte diese unter keinen Umständen kostenfrei möglich sein.
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
4 Neuer Raum – Wie Parkraummanagement und Straßenverkehr verbessert werden können
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Andererseits stoßen Maßnahmen wie die Verknappung2 und Verteuerung von Parkraum und die räumliche und zeitliche Ausweitung von dessen Bewirtschaftung auch
immer wieder auf Widerstände in der Bevölkerung und polarisieren die Kommunalpolitik so stark wie selten eine andere Regelung. Die Einführung eines flächendeckenden Parkraummanagements muss daher auch immer von einer kommunikativen
Strategie begleitet werden, die sich inhaltlich mit der Lebensqualität in der Stadt und
dem Nutzen öffentlicher Räume für die Allgemeinheit auseinandersetzt.
Zur Steuerung der öffentlichen Parkflächen stehen den Kommunen verschiedene
Maßnahmen zur Verfügung. Zentral hierbei ist, dass die Kommunen zunächst ein
Parkraummanagement einführen. Damit wird die Parkraumnutzung mittels baulicher, organisatorischer und verkehrsrechtlicher Maßnahmen zeitlich und räumlich
beeinflusst (AGFS 2015). Wie Parkraummanagement vor Ort konkret ausgestaltet
werden kann, variiert je nach Rahmenbedingungen wie beispielsweise der Größe der
Kommune oder der verkehrlichen Situation. Folgende Schritte sollte eine Kommune
jedoch unabhängig davon durchführen, wenn sie ein Parkraummanagement etablieren will:
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Das Parkraummanagement sollte in den strategischen Plänen der Kommune verankert werden.
Das Parkraumkonzept sollte folgende Fragen beantworten: Warum ist eine
Bewirtschaftung notwendig? Ist der Parkdruck hoch? Bestehen Konflikte zwischen verschiedenen Nutzer/innengruppen?
Eine Bestandsanalyse des ruhenden Verkehrs sollte durchgeführt werden: Wo
wird wann und wie viel geparkt? In welchen Teilräumen der Stadt ist die Nachfrage nach Parkplätzen höher als das Angebot?
Die (neu) zu bewirtschaftenden Räume sind festzulegen. Dabei sollten die
Anwohner/innen eingebunden werden.
Die Parkgebühren müssen festgelegt werden: Kommunen in Deutschland dürfen
(mit Ausnahme von Bayern, wo eine Gebührenhöchstgrenze gilt) die Höhe der
Parkgebühren nach eigenem Ermessen selbst bestimmen.
Die regelmäßige Überwachung des ruhenden Verkehrs muss sichergestellt werden: Hohe Parkgebühren verleiten vor dem Hintergrund vergleichsweise niedriger Strafen zum illegalen Parken.
Eine umfassende Übersicht der Schritte zu Etablierung und dauerhaftem Betrieb
eines Parkraummanagements umfasst der Leitfaden «Parkraummanagement lohnt
sich» (Difu 2019). Die folgenden vier Maßnahmen sind zentral, wenn ein Parkraummanagement konzipiert wird:
2
Eine Reduzierung von Parkplätzen im öffentlichen Straßenraum lässt sich verkehrsrechtlich fast
ausschließlich aus Gründen der Sicherheit und der Ordnung des Verkehrs durchführen. Andere
Belange können nur schwer berücksichtigt werden (vgl. Notz 2017).
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Bewirtschaftung von Parkplätzen: Wenn Kommunen Parkraum bewirtschaften,
dann können sie beispielsweise die Zeiträume der Bewirtschaftung, Parkdauer,
Parkgebühren und die Nutzungswidmung (welche Fahrzeuge oder welche Personengruppen dürfen die Parkplätze nutzen und welche nicht) festlegen. Bisher
beschränkt sich die Parkraumbewirtschaftung in vielen Städten auf die Innenstadtbereiche. Mit einer zunehmenden Distanz zur Innenstadt nehmen kostenlos
und ohne zeitliche Beschränkung nutzbare Parkmöglichkeiten im öffentlichen
Raum zu. Das kann für Autofahrer/innen ein Anreiz sein, Parkplätze außerhalb
der bewirtschafteten Flächen zu suchen, und erhöht möglicherweise wiederum
den Parksuchverkehr. Deshalb sollte die Parkraumbewirtschaftung über die
Randbereiche der Innenstadt hinaus ausgeweitet und konsequent überwacht
werden.3 Evaluierte Fallbeispiele haben gezeigt, dass höhere Parkgebühren einen
stärkeren Lenkungseffekt für den Pkw-Verkehr in der Stadt haben als niedrige.
In Berlin-Mitte beispielsweise haben sie bewirkt, dass die Parkraumnachfrage
im Straßenraum weitgehend konstant blieb oder sogar leicht zurückgegangen
ist – trotz gestiegener Beschäftigtenzahlen in den bewirtschafteten Räumen und
steigenden Motorisierungsraten (Difu 2009).
Sonderparkberechtigung «Bewohnerparken»: In Gebieten mit überwiegender
Wohnfunktion kann unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. Parkdruck, konkurrierende Nutzergruppen oder Belastung der Wohnbevölkerung mit Lärm und
Abgasen (Difu 2019)) das sogenannte Bewohnerparken eingeführt werden. Es gilt
ein Halteverbot mit Ausnahme von Bewohner/innen mit entsprechenden Parkausweisen. Die Gebühren für das Bewohner/innenparken sind allerdings bundeseinheitlich in der Straßenverkehrsordnung auf max. 30,70 € pro Jahr gedeckelt,
daher haben die Kommunen nur eingeschränkte Möglichkeiten zur preislichen
Steuerung.
Zur Einführung von Bewohnerparkzonen sind folgende Schritte notwendig:
Untersuchung der Parksituation und Entwurf eines Bewohnerparkkonzepts
Kenntnisnahme der Bezirksvertretung über diesen Konzeptentwurf
Einwohnerversammlung mit der Möglichkeit, dass Einwohner/innen Änderungsvorschläge unterbreiten
Fertigstellung des Bewohnerparkkonzepts
Beschluss durch die Bezirksvertretung
Umsetzung des Anwohnerparkens durch Beschilderung, Markierung und
Information der Bewohner/innen
Kontinuierliche Kontrolle der Parkregelungen und Ahndung von Verstößen
Reduzierung der Anzahl von Parkplätzen: Bereich Neubau: Kommunen können die Anzahl privater Stellplätze begrenzen. Zwar ist die Pflicht zum Bau von
Stellplätzen beim Bau von Wohn- oder Geschäftshäusern in vielen Bundesländern geltendes Recht. In einigen Ländern können aber die Kommunen über ihre
Landesbauordnungen in Abhängigkeit der Erschließungsqualität des öffentlichen
3
60
Beispielsweise in den Niederlanden wird Parkraumbewirtschaftung oft bis nahe an die Stadtgrenze praktiziert.
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
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Personennahverkehrs davon bereits ganz absehen oder die Zahl der bereitzustellenden Stellplätze reduzieren (vgl. Difu 2019). Bereich bestehender Parkraum:
Parkraum im öffentlichen Raum kann von der Kommune auch umgewidmet
oder reduziert werden. Kommunen dürfen in dem Teil des Straßennetzes, in
dem sie selbst Baulastträger4 sind, bestimmte Verkehrsarten ausschließen und
nur ausgewählte zulassen. Sie dürfen dort Pkw-Stellplätze in Radwege, Fußwege,
ÖPNV-Flächen, Stellplätze für Fahrräder oder Aufenthaltsflächen umwidmen
sowie verkehrlich begründete Park- und Halteverbotszonen ausweisen und auch
so Stellplätze im öffentlichen Raum reduzieren.
Überwachung des Parkraums und Ahndung von Verstößen: In die Zuständigkeit des Amtes für öffentliche Ordnung fällt i. d. R. die Überwachung des ruhenden Verkehrs. Sie umfasst a) die konsequente Ahndung von tariflichen Verstößen
gegen die Bewirtschaftung und b) das konsequente Ahnden von illegalem Parken auf dafür nicht vorgesehenen Flächen wie Rad- oder Fußwegen5 (vgl. Beispiel
«Faires Parken in Karlsruhe»). Nur wenn auch kontrolliert und entsprechend
sanktioniert wird, kann sich eine gewünschte Wirkung wie regelkonformes Parken einstellen. Das ist jedoch für die Kommune personal- und zeitintensiv. Wenn
es der Kommune ernst mit diesen Maßnahmen ist, müssen die notwendigen Personalstellen geschaffen werden.
Argumentieren und mit Widerständen umgehen
Nur wenige Themen kommunaler Verkehrspolitik werden so kontrovers diskutiert wie
das Parkraummanagement. Politiker/innen, die sich in Kommunen für eine Reduzierung des Parkens einsetzen, müssen mit Widerstand aus Teilen der Stadtgesellschaft
rechnen. Viele der Argumente, die der kommunalen Politik von Gegner/innen dabei
entgegengebracht werden, können jedoch durch Fakten, eine sachliche Argumentation und eine gute Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit entkräftet werden:
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Es gibt kein gesetzlich verankertes Recht auf kostenloses Parken: Parkplätze sind
ein Angebot beziehungsweise eine Leistung, die Kommunen nicht kostenlos
bereitstellen müssen (Difu 2019), insbesondere da sie Kosten6 erzeugen, die von
der Kommune getragen werden.
Parkgebühren sind gerecht und sozial, denn sie wahren die Interessen der Bürger/innen, die sich keine Automobilität leisten können oder wollen (Difu 2019).
4
5
6
NRW-Kommunen können beispielsweise unter https://www.nwsib-online.nrw.de prüfen, für
welchen Teil des Kreis-, Landes- oder Bundesstraßennetzes auf ihrem Gebiet sie Baulastträger
sind.
Durch die konsequente Überwachung des ruhenden Verkehrs wird deutlich gemacht, dass insbesondere das Parken auf Flächen, die hierfür nicht vorgesehen sind, eine unter Umständen
schwerwiegende Gefährdung der Sicherheit von Menschen darstellen kann (vgl. Notz 2017).
Die Baukosten für einen Parkplatz am Straßenrand betragen rund 1.500 Euro, die jährlichen
Unterhaltungskosten in Berlin rund 60 Euro (vgl. BBSR 2015 und Notz 2015).
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Friedrich-Ebert-Straße in Kassel
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Foto: Stadt Kassel (Copyright: Stadt Kassel/Stadtplanung/Bauaufsicht/Denkmalschutz)
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Die Einführung von Parkgebühren sensibilisiert für die Belange nachhaltiger
Mobilität, denn sie kann einen Umstieg auf klima- und umweltschonendere Fortbewegungsarten bewirken (BMVIT 2015).
Der Einzelhandel verliert durch die Einführung kostenpflichtiger Parkplätze
keine Kundschaft: Viel wichtiger dafür, dass Kund/innen in einem Geschäft einkaufen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen, sind die Aufenthaltsqualität
in den Geschäftsbereichen, die Auswahl des Angebotes und die Gestaltung der
Geschäfte (IFH 2015).
Beispiel: Die schrittweise Abschaffung von Parkplätzen im öffentlichen
Straßenraum in der Kölner Innenstadt
Im Jahr 2016 hat der Rat der Stadt Köln die «Parkraumfreie Zone Innenstadt»
beschlossen. Autos, die in die Innenstadt einfahren, sollen dort nicht mehr im
Straßenraum, sondern in Parkhäusern parken. Hierzu wird die Zahl der Stellplätze in zwei ausgewiesenen Zonen in der Innenstadt, auf denen ohne Bewohnerparkausweis geparkt werden darf, schrittweise reduziert, und zwar um zehn
Prozent pro Jahr. Behindertenparkplätze bleiben erhalten, ebenso vorerst auch
Bewohnerparkplätze. Jedoch soll auch das Bewohnerparken mittelfristig in die
Parkhäuser verlagert werden. Die dadurch freiwerdenden Parkplätze im Straßenraum sollen zurückgebaut werden. Bisher in erster Linie vom motorisierten
Verkehr genutzter Straßenraum soll zu Straßenraum für Fußgänger/innen sowie
für den Radverkehr umgestaltet werden. Sind Straßen in den beiden Zonen nicht
für die Erreichbarkeit der Parkhäuser nötig, dann werden diese für den Pkw-Verkehr gesperrt und dürfen nur noch von Anlieger/innen genutzt werden.
Das Gebiet um die Friedrich-Ebert-Straße grenzt im Westen an die Kasseler
Innenstadt. Im Quartier gibt es viele Ladengeschäfte, und es ist ein bedeutender Standort von Arbeitsplätzen, Dienstleistungs- und Gastronomieangeboten.
Seit Mitte der 1990er Jahre war eine Zunahme des Leerstandes und der Fluktuation zu beobachten. Das Straßenbild wirkte teilweise vernachlässigt, und die
Geschäfte verzeichneten weniger Laufkundschaft. Zudem hatte die FriedrichEbert-Straße als breite Verkehrsachse eine Trennwirkung.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist unter anderem die Verteilung
der Verkehrsfläche neu organisiert worden. Die zweite Richtungsfahrbahn hat
man zu einer autofreien Promenade umgestaltet. Sie ist Teil einer stadtweiten
64
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: Von der Verkehrsachse zum Boulevard: Die Friedrich-Ebert-Straße
in Kassel
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Rad- und Fußverkehrsverbindung. Die Gehwege sind verbreitert und separate
Radstreifen angelegt worden. Parkstreifen wurden neu geordnet und über 70
Bäume gepflanzt. Diese Aufwertung des öffentlichen Straßenraums hat bewirkt,
dass die Nachfrage nach Ladengeschäften und gewerblichen Objekten wieder
zunimmt und dass die Leerstände zurückgehen (vgl. www.stadtbaufoerderung.
info).
Beispiel: Faires Parken in Karlsruhe
Selbst in engen Straßen billigte man in Karlsruhe in der Vergangenheit das Parken von Autos auf dem Gehweg weitgehend. Diese Tolerierung erfolgte ungeachtet dessen, dass beispielsweise Fußgänger/innen in diesem Fall auf die Straße
ausweichen mussten, und trotz des in der Straßenverkehrsordnung verankerten
Verbotes, auf Gehwegen zu parken. Neben der Nichtbeachtung des geltenden
Rechts waren es auch zunehmende Widerstände aus der Bürgerschaft und ein
Mangel an Barrierefreiheit und Fußverkehrsqualität, die Januar 2019 zum Ende
der bisher geduldeten Praxis des Gehwegparkens geführt haben (Kaute 2018).
Seit Januar 2019 darf in Karlsruhe nur noch dort auf dem Gehweg geparkt
werden, wo Parkplätze entsprechend abmarkiert sind. Hierzu wurden zunächst
in drei exemplarisch untersuchten Stadtteilen entsprechende Parkierungskonzepte erstellt (Stadt Karlsruhe o. J. a und b). Umfangreiche Untersuchungen und
Ortsbegehungen mit Bürgervereinen waren dem vorausgegangen. Nur wenn die
folgenden Voraussetzungen erfüllt sind, können Parkflächen auf dem Gehweg
freigegeben werden:
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Mindestmaß der Restfahrgasse: 3,50 Meter (keinesfalls weniger als 3,10
Meter)
Höchstmaß für Breite eines parkenden Fahrzeugs: 2 Meter
Mindestmaß für Gehwegrestfläche: 1,60 Meter
Höchstmaß für Parkfläche auf dem Gehweg: 0,5 Meter (Stadt Karlsruhe
2016)
Wenn dies nicht der Fall ist, ist das Parken auf Gehwegen nicht erlaubt und wird
entsprechend geahndet.
Eine personelle Ausweitung der Überwachung des neu geregelten ruhenden Verkehrs ist nach Aussage des Presse- und Informationsamtes der Stadt
Karlsruhe nicht erfolgt. Vielmehr werde im Rahmen der üblichen Kontrollen das
Gehwegparken nun mit kontrolliert (Kaute 2019).
Um die Bürger/innen für die Belange des fairen Parkens zu sensibilisieren
und sie gleichzeitig in die Lage zu versetzen, selbst aktiv zu werden, hat die Stadt
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die Broschüre «Faires Parken in Karlsruhe – Ein Leitfaden für die Bürgervertretungen» erstellt. Sie liefert unter anderem eine Anleitung für Bürgerinnen und
Bürger, vor Ortselbst zu untersuchen, ob Gehwegparken in Zukunft geahndet
werden soll oder in Ausnahmefällen genehmigt werden wird. Das «faire Parken»
in Karlsruhe ist somit in erster Linie ein Beispiel für gelungene Beteiligung, aber
auch Kommunikation: Die Verwaltung begründet sachlich und nachvollziehbar,
warum eine zu kulante Haltung gegenüber illegalem Parken geändert werden
musste und dass es «keinen Rechtsanspruch auf kostenloses Parken im öffentlichen Raum gibt».
In Karlsruhe darf man sein Auto nur noch auf abmarkierten Parkplätzen abstellen.
Foto: Monika Müller-Gmelin, Stadt Karlsruhe
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IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Literatur und andere Quellen
AGFS (2015): Parken ohne Ende? Eine AGFS-Broschüre zum Thema Nahmobilität und Autoparken. Online verfügbar unter: https://www.agfs-nrw.de/fileadmin/user_upload/parkraum_
brosch_2015_WEB.pdf (Zugriff 2.11.2019)
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (2015): Untersuchung von Stellplatzsatzungen und Empfehlungen für Kostensenkungen unter Beachtung moderner Mobilitätskonzepte. Endbericht. Berlin.
Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) (2015): Österreich unterwegs 2013/2014. Ergebnisbericht zur österreichweiten Mobilitätserhebung «Österreich
unterwegs 2013/2014». Wien. Online verfügbar unter: https://www.bmvit.gv.at/verkehr/
gesamtverkehr/statistik/oesterreich_unterwegs/downloads/oeu_2013-2014_Ergebnisbericht.
pdf (Zugriff 2.11.2019)
Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) (2009): Einfach Parken. Ergebnisbericht zum Arbeitspaket
5 im Forschungs- und Entwicklungsvorhaben «ParkenBerlin». Berlin. Online verfügbar unter:
https://difu.de/sites/difu.de/files/bericht_difu_einfach-parken_1.pdf (Zugriff 2.11.2019)
Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) (2019): Parkraummanagement lohnt sich. Leitfaden für
Kommunikation und Verwaltungspraxis. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.agora-verkehrswende.de/fileadmin/Projekte/2017/Parkraummanagement/Parkraummanagemet-lohnt-sich_Agora-Verkehrswende_web.pdf (Zugriff 01.10.2019)
Heinrichs, E. Horn, B., Krey, J. (2013): Parkraumbewirtschaftung in Deutschland: eine Standortbestimmung. In: Städtetag aktuell 07/2013, S. 10-11.
IFH (2015): Vitale Innenstädte. Ergebnispräsentation der bundesweiten Befragung von über 33.000
Innenstadtbesuchern - Pressekonferenz vom 27.01.2015. Online verfügbar unter: https://www.
bcsd.de/media/vitale_innenst__dte_ergebnispr__sentation_pressekonferenz_27.01.2015.pdf
(Zugriff 2.11.2019)
Kaute, Florian (2019): Seit einer Woche wird Gehwegparken geahndet: Einige sprechen von «unfairen Kontrollen», Stadt sieht erste Erfolge - «Beschwerden nur zum Teil beleidigend». Online
verfügbar unter: https://www.ka-news.de/region/karlsruhe/parken-karlsruhe./Seit-einer-Woche-wird-Gehwegparken-geahndet-Einige-sprechen-von-unfairen-Kontrollen-Stadt-sieht-erste-Erfolge-Beschwerden-nur-zum-Teil-beleidigend;art6066,2330940 (Zugriff 2.11.2019)
Kaute, Florian (2018): Ende des illegalen Gehwegparkens in Karlsruhe naht: «Es hat einfach Überhand genommen!». Online verfügbar unter: https://www.ka-news.de/region/karlsruhe/
parken-karlsruhe./Ende-des-illegalen-Gehwegparkens-in-Karlsruhe-naht-Es-hat-einfach-UEberhand-genommen;art6066,2320571 (Zugriff 2.11.2019)
Notz, J. (2015): Öffentlicher Raum zum privaten Parken. Eine Analyse der Bereitstellung öffentlicher
städtischer Straßenräume für ruhenden KFZ-Verkehr vor dem Hintergrund gesellschaftlicher
Anforderungen und institutioneller Rahmenbedingungen. Masterarbeit am Fachgebiet für Integrierte Verkehrsplanung; Technische Universität Berlin. Berlin.
Notz, J. (2017): Die Privatisierung öffentlichen Raums durch parkende Kfz. Diskussionspapier der
TU Berlin. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.ivp.tu-berlin.de/fileadmin/fg93/Dokumente/Discussion_Paper/DP10_Notz_Privatisierung_%C3%B6ffentlichen_Raums_durch_parkende_Kfz.pdf (Zugriff 01.10.2019)
Siemens AG (2007): Intelligente Lösungen für das Thema «Parken». München. Online verfügbar
unter www.mobility.siemens.com
Stadt Karlsruhe (2016): Faires Parken in Karlsruhe - Ein Leitfaden für die Bürgervertretungen. Karlsruhe. Online verfügbar unter: www.karlsruhe.de
Stadt Karlsruhe (o.J.a): Gehwegparken / Faires Parken in Karlsruhe. Online verfügbar unter: https://
www.karlsruhe.de/b3/verkehr/automobil/gehwegparken.de (Zugriff 2.11.2019)
Stadt Karlsruhe (o.J.b): Pilotprojekt zum Gehwegparken. Online verfügbar unter: https://www.karlsruhe.de/b3/verkehr/automobil/gehwegparken/pilotprojekt.de (Zugriff 2.11.2019)
www.staedtebaufoerderung.info (Zugriff 2.11.2019)
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5 Alleskönner ÖPNV – Wie man das Rückgrat des Umweltverbundes attraktiver macht
Warum kommunale Politik im ländlichen Raum aktiv werden muss
Die Sicherung der Mobilität der Bürgerinnen und Bürger ist teilweise sehr kostenintensiv, gleichzeitig haben viele Kommunen nur geringe finanzielle Handlungsspielräume. Bislang nutzt in ländlichen Räumen und vielen kleinen und mittleren Städten
die Mehrzahl der Menschen das eigene Auto. Wie oft sie davon Gebrauch machen,
ist davon abhängig, ob und in welcher Form es Alternativen zum Auto gibt. Vielerorts ist jedoch auch eine Mobilität ohne Auto möglich, da viele Wege zu Fuß oder mit
dem Fahrrad zurückgelegt werden können und Stadtbusse für längere Wege oder als
Zubringer zu Regionalbussen oder zur Eisenbahn vorhanden sind (ebd.). Dass öffentliche Verkehrsmittel durch die kommunale Ebene gefördert werden, ist sowohl aus
68
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) bildet das Rückgrat des Umweltverbundes in den Kommunen. Wo er gut ausgebaut ist, ermöglicht er schnelle, verlässliche
und barrierefreie Mobilität für alle. In Großstädten und dicht besiedelten Räumen
macht vielfach ein qualitativ hochwertiges, engmaschiges und dicht getaktetes Netz
aus S-Bahnen, Stadt- und Straßenbahnen sowie Bussen die Nutzung des öffentlichen
Verkehrs attraktiv. In vielen ländlichen Räumen und kleinen oder mittleren Städten
sind die Mobilitätschancen für Menschen ohne Auto dagegen oftmals schlecht. Die
ländlichen Räume in Deutschland sind dabei nicht homogen: Sie unterscheiden sich
untereinander mit Blick auf ihre räumliche Lage, die Raumstruktur und die zu beobachtenden demografischen Prozesse.
Ländliche Räume und somit auch die in ihnen liegenden Städte in Deutschland sind somit geprägt durch das Nebeneinander von schrumpfenden, stabilen
und wachsenden, von verhältnismäßig zentralen und gut erschlossenen und von
peripheren Räumen. Sie wachsen dort, wo es gute Anbindungen an Ballungsräume
mit gut bezahlten Arbeitsplätzen gibt, und schrumpfen dort, wo dies nicht der Fall
ist. Insbesondere in strukturschwachen, schrumpfenden oder peripher gelegenen
Gebieten stellt diese Entwicklung hohe Anforderungen an ein qualitativ hochwertiges
und dabei nachhaltiges Angebot öffentlicher Verkehrsmittel – insbesondere, da der
finanzielle Spielraum dieser Kommunen oftmals eingeschränkt ist. Nicht alle Kommunen werden daher die Möglichkeit haben, eigene, unter Umständen kostenintensive ÖPNV-Angebote zu entwickeln und zu betreiben. Diese Kommunen werden den
Schwerpunkt darauf legen müssen, die Nutzbarkeit des regionalen ÖPNV-Angebotes
durch ihre Bürgerinnen und Bürger auf andere Weise zu erhöhen.
Eines jedoch haben alle ländlichen Räume gemeinsam: Kann der ÖPNV für deutlich mehr Wege genutzt und mit anderen Verkehrsmitteln gut verknüpft werden, ist
es möglich (wenn auch nicht überall in gleichem Umfang), so die Abhängigkeit der
Menschen vom Auto zu reduzieren (vgl. Heinrich-Böll-Stiftung 2019). Öffentliche Verkehrsmittel sind in ländlichen Räumen der zentrale Baustein einer auf Nachhaltigkeit
abzielenden Verkehrswende.
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Sicht des Umwelt- und Klimaschutzes als auch mit Blick auf die Daseinsvorsorge zentral.7 Mobilität ist einer der wesentlichen Faktoren für Lebensqualität in ländlichen
Räumen, der Einfluss von dortigen Städten und Gemeinden auf das überregionale
ÖPNV-Angebot aber begrenzt. Lediglich die Landkreise haben Planungskompetenzen. Die Kommunen können jedoch die lokalen Mobilitätsangebote für ihre Bürgerinnen und Bürger direkt steuern.
Die ÖPNV-Planung: Zuständigkeiten im Mehrebenensystem
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Die ÖPNV-Planung ist im politischen Mehrebenensystem der Bundes-, Landes-, regionalen und Kommunalpolitik von klar zugeordneten Zuständigkeiten sowie von politischen wie planerischen Handlungskompetenzen gekennzeichnet. Jeder Ebene sind
dabei bestimmte Aufgaben zugewiesen.
Beispielsweise finanziert die Bundesebene mit ihren Regionalisierungsmitteln
den Nahverkehr auf der Schiene mit. Wie die Gelder letztlich verwendet werden, wie
der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) auf Landesebene bereitgestellt wird, entscheiden jedoch die Bundesländer. Deren Aufgabe ist auch die Finanzierung des straßengebundenen ÖPNV. Zuständig für die Planung, Organisation und Ausgestaltung
von ÖPNV und SPNV ist die Landesebene.
Die Landkreise und kreisfreien Städte sind als ÖPNV-Aufgabenträger für die
Organisation und Finanzierung des ÖPNVs in einer Region verantwortlich, wobei
sich oftmals mehrere Landkreise und kreisfreie Städte zu Verkehrsverbünden zusammenschließen. Sie verfügen eher über die notwendige Expertise, um an die jeweiligen
Rahmenbedingungen angepasste Mobilitätsangebote zu entwickeln und umzusetzen.
Aufgabe der Planung in den Kommunen ist die Organisation vor Ort. Dies bedeutet,
auf Kreisebene organisierte regionale ÖPNV-Angebote mit den baulichen und organisatorischen Gegebenheiten vor Ort zu verknüpfen und reibungslose Umstiege auch
auf Mobilitätsangebote, die den ÖPNV ergänzen, sicherzustellen.
7
Das im Grundgesetz festgeschriebene Leitbild der gleichwertigen Lebensbedingungen in allen
Landesteilen, im Raumordnungsgesetz definiert als die Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, insbesondere der Erreichbarkeit von Einrichtungen und Angeboten der Grundversorgung für alle Bevölkerungsgruppen, ist zunehmend schwerer zu erreichen
(vgl. Deutscher Bundestag 2017).
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Der ÖPNV in der Region und seine Bedeutung für nachhaltige Mobilität in der
Kommune
Ein funktionierender ÖPNV ist in ländlichen Räumen Voraussetzung dafür, dass auch
andere Alternativen zum Auto funktionieren (vgl. Monheim, Hüsler 2015), denn konventionelle ÖPNV-Angebote sind zentraler und oftmals unverzichtbarer Baustein von
Intermodalität. Damit der öffentliche Personennahverkehr in der Fläche eine wirklich attraktive und funktionierende Alternative zur Pkw-Mobilität sein kann, müssen
bestimmte Anforderungen erfüllt sein:
Einführung eines integralen oder integrierten Taktfahrplans (ITF): Beim ITF
wird nicht für jede Linie einzeln geplant, sondern die Fahrpläne unterschiedlicher Bahn- und Buslinien werden integriert betrachtet und in bestimmten Takten
(meist mindestens ein Anschluss pro Stunde) aufeinander abgestimmt. Das Ziel
des ITF ist ein flächendeckendes Angebot, in dem an allen Umsteigepunkten die
Anschlüsse optimiert sind (vgl. https://www.zukunft-mobilitaet.net/42868/analyse/integraler-taktfahrplan-itf-schweiz-deutschland-deutschlandtakt-umsetzbarkeit-konzept/).
Taktfahrtpläne auf möglichst allen Linien: Einrichtung eines 30-Minuten-, Stunden- oder Zweistundentaktes.
Ausrichtung möglichst aller Fahrpläne an zentralen Umsteigepunkten.
Differenzierung des Liniennetzes auf Basis der Nachfrage: häufige und schnelle
Verbindungen auf Linien mit hoher Nachfrage, ein Basisangebot auf nachfrageärmeren Verbindungen.
Die Kreisebene ist zuständig für die qualitative und quantitative Ausgestaltung
des ÖPNV-Angebotes im Kreis und in den kreisangehörigen Städten. Sie kann dessen Niveau also unmittelbar verbessern und Barrieren abbauen. So können die
Verkehrsunternehmen bisherige Nutzerinnen und Nutzer dauerhaft binden und
neue Nutzerinnen und Nutzer gewinnen. Geeignete Maßnahmen sind dabei baulicher, fahrzeugtechnischer und organisatorischer Art, wie beispielsweise barrierefreie und leicht aus dem Straßenraum erreichbare Bahn- und Bussteige, der Einsatz
komfortabler Fahrzeuge und Echtzeitinformationssysteme über Anschluss- oder
Umsteigemöglichkeiten.
Werden mehr Fahrten im bestehenden Liniennetz angeboten, die Betriebszeiten
ausgeweitet, zusätzliche Haltestellen und neue Linien eingerichtet, kann ein Kreis als
Aufgabenträger ebenfalls neue Fahrgäste gewinnen.
Das wesentliche Ziel der ÖPNV-Planung des Kreises sollte es sein, gute Umsteigemöglichkeiten mit kurzen Übergangszeiten zum überregionalen oder lokalen Busverkehr oder zur Schiene sicherzustellen. Der Kreis muss somit seine ÖPNV-Planung
mit der übergeordneten Planung der Region beziehungsweise des Verkehrsverbundes
abstimmen.
70
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Handlungsmöglichkeiten der Kreisebene
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Handlungsmöglichkeiten der Kommunen
In der Regel ist nicht die einzelne Gemeinde im ländlichen Raum, sondern der Landkreis der ÖPNV-Aufgabenträger. Diesem fehlt jedoch oftmals das spezielle Wissen zu
den räumlich verteilten Mobilitätsbedürfnissen und -möglichkeiten innerhalb der
kreisangehörigen Städte (vgl. Heinrich-Böll-Stiftung 2019). Daraus ergeben sich für
die Kommunen im Kreis im Rahmen der ÖPNV-Planung zwei Aufgaben. Zum einen
sollten sie dem Kreis mitteilen, wie die Verkehrssituation vor Ort aussieht. Dann kann
dieser in seinen Planungen berücksichtigen, was spezifisch notwendig ist. Zum anderen sollte der Kreis über die Planung der ÖPNV-Verbindungen vor Ort informiert werden. Das sind solche, die keine direkte überregionale Bedeutung haben, sondern der
Erschließung des Stadtgebietes oder als Zu- oder Abbringer des regionalen ÖPNV-Angebotes dienen. Je nach finanziellen Handlungsmöglichkeiten der Kommune bieten
sich verschiedene Wege an:
Einrichtung eines Stadtbussystems
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Die Einrichtung eines Stadt- oder Ortsbussystems, das in Eigenregie von der Kommune betrieben wird, kann ein bereits vorhandenes und eher auf regionale als auf
innerörtliche Verkehrsbedürfnisse ausgerichtetes ÖPNV-Angebot ergänzen. Das
können beispielsweise Zu- oder Abbringer sein. Ein Stadtbus kann jedoch auch die
ÖPNV-Erschließung innerhalb des Stadtgebietes verbessern oder die Anbindung
peripherer Ortsteile an die Kernstadt gewährleisten. Stadtbusse sind somit im Gegensatz zum regionalen ÖPNV viel stärker auf innerstädtische Mobilitätsbedürfnisse
zugeschnitten. Die Kommune bestellt den Stadtbus in der Regel beim Aufgabenträger
und trägt die Kosten für den Betrieb des Angebotes selbst.8
Wenn die Kommune ein Ortsbussystem einführen will, sind die ersten Umsetzungsschritte folgende:
Grundsatzbeschluss der politischen Gremien zu dessen Einführung.
Bestandserhebung und -analyse des ÖPNV-Angebotes, um zu erfassen, inwiefern
die verschiedenen Teilräume des Stadtgebietes erschlossen sind. Sie können beispielsweise im Rahmen der Erstellung oder Fortschreibung eines Verkehrsentwicklungsplans, eines Nahverkehrsplans oder eines Stadtentwicklungskonzeptes
durchgeführt werden und folgende Fragen vertiefen: Wie sind die jeweiligen
Nutzungsbedingungen für Alternativen zum Auto? Welche Mobilitätsbedürfnisse bestehen, und wie gut kann diesen mit Alternativen zum Auto entsprochen
werden?
Entwicklung eines bedarfsgerechten Liniennetzes: Je nachdem, welche Bedarfe
beziehungsweise Defizite im ÖPNV bestehen, werden Linienführungen und
Standorte von Haltestellen entwickelt.
8
Gute Beispiele für attraktive Stadtbussysteme sind beispielsweisejene in den nordrhein-westfälischen Städten Rheine, Bocholt oder Lemgo.
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Eine differenzierte Darstellung der zur Planung, zum Betrieb und zur Finanzierung
von Stadtbusangeboten notwendigen Arbeitsschritte ist beispielsweise im Infoportal mobil.nrw (vgl. https://infoportal.mobil.nrw/projekte/stadtbus.html) oder in der
vom nordrhein-westfälischen Verkehrsministerium erstellten Broschüre «Busverkehre in Klein- und Mittelstädten. Neue Chancen für den Bus» (vgl. Ministerium für
Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr 1999) zu finden.
Inzwischen existieren in vielen ländlichen Räumen flexible ÖPNV-Angebote wie
beispielsweise der Rufbus. Er verkehrt wie ein konventioneller Linienbus haltestellengebunden nach Fahrplan auf einem festen Linienweg. Eine Fahrt des Rufbusses
erfolgt jedoch nur dann, wenn ein Fahrgast vor der planmäßigen Fahrt seinen Fahrtwunsch angemeldet hat. Die große Stärke des Rufbusses ist der vergleichsweise einfache Umstieg vom konventionellen Linienverkehr zum Rufbus und bei Bedarf auch
wieder vom Rufbus zurück zum konventionellen Angebot. Ebenfalls flexibel ist das
Anrufsammeltaxi. Wie der Rufbus verkehrt es fahrplangebunden und nur dann, wenn
ein Fahrtwunsch angemeldet ist. Die Fahrt erfolgt von Bedarfshaltestellen oder konventionellen Haltestellen zur Haustür. Der Vorzug des Anrufsammeltaxis aus Sicht des
Fahrgastes ist es, dass es direkt bis zur Haustür fahren kann, also gegenüber dem konventionellen Linienverkehr viel komfortabler ist (vgl. BMVBS/BBSR 2009). Auch der
Komfort der Buchung solcher Angebote kann heute erhöht werden – die digitale Vernetzung macht es möglich. Eine Buchung erfolgt dann nicht mehr allein telefonisch,
sondern auch per Smartphone-App.
Flexible ÖPNV-Angebote können auf verschiedenen Wegen finanziert werden,
was oftmals sehr individuell gestaltet ist. Dabei spielen die Kreise meist eine zentrale
Rolle. Auch ausschließlich eine Gemeinde oder gemeinsam Kreis und kreisangehörige Gemeinde übernehmen in der Praxis die Finanzierung.9
Die Feinverteilung beziehungsweise die Anbindung des lokalen Linienverkehrs aus
der Fläche erfolgt durch räumlich und zeitlich flexible Mobilitätsangebote. Sie sind
nachfragegesteuert und machen es den Nutzerinnen und Nutzern im Gegensatz zum
angebotsorientierten linien- und fahrplangebundenen ÖPNV und SPNV möglich, den
Start- und Zielpunkt ihrer Fahrt sowie die gewünschte Abfahrts- oder Ankunftszeit in
der Regel weitestgehend selbst zu bestimmen. Beispiele für diese Mobility on demand
(Mobilität auf Abruf ) sind unter anderem Peer-to-peer-Sharing-Angebote (zwischen
Privatpersonen geteilte und von Dritten (online) vermittelte Nutzung) und betreibergestützte Ride-Sharing-Angebote (gemeinsame Nutzung eines Fahrzeuges für den
Transport von Personen) (vgl. Beitrag «Einfach von hier nach da - Geteilte und vernetzte Mobilität im Umweltverbund»).
9
72
Dies hat eine vertiefende Analyse von flexiblen Angeboten im Rahmen der Erstellung des Handbuchs ergeben (vgl. BMVBS/BBSR 2009).
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
On-Demand-Angebote
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Errichtung von Mobilstationen
Fehlen der Kommune die finanziellen Mittel zur Einrichtung eines Stadtbusangebotes, kann sie mit einer Mobilstation zur Verknüpfung des regionalen ÖPNV-Angebots
beitragen.10
Beispiel: Das Schnellbus-Angebot im Münsterland
Schnellbusse bieten eine direkte Verbindung aus ländlichen Regionen in urbane
Ballungszentren. Sie werden oftmals dort eingesetzt, wo zügige Schienenverbindungen fehlen. So ist der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) in der Region
teils nur gering ausgebaut – oftmals nur einspurig und nicht elektrifiziert – (vgl.
Wuppertal Institut 2017) und damit in vielen Teilräumen des Münsterlandes
keine attraktive Alternative zum Auto. Diese bieten Schnellbusse, die die Regionalverkehr Münsterland GmbH (RVM) betreibt. Zwar bedienen die Schnellbusse
im Münsterland auch die regionalen SPNV-Haltestellen, in erster Linie jedoch
fahren sie ohne Umwege aus den Teilräumen des Münsterlandes, in denen die
SPNV-Anbindung schlecht ist oder völlig fehlt, direkt nach Münster. Um die Verlagerung des Pkw-Verkehrs auf das Angebot von Schnellbussen zusätzlich zu
fördern, sind die Busse besonders komfortabel ausgestattet, bieten einen guten
Service und sind schnell.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Beispiel: Muldental in Fahrt
Der Mitteldeutsche Verkehrsverbund (MDV) realisiert derzeit das Modellvorhaben «Muldental in Fahrt». Durch die qualitative und quantitative Verbesserung des bestehenden ÖPNV-Angebotes in den Städten Bad Lausick, Brandis,
Colditz und Grimma im Landkreis Leipzig soll den dort lebenden Menschen
die Mobilität erleichtert werden. Erreicht werden soll dies insbesondere indem
peripher gelegene Ortsteile zunehmend durch den ÖPNV erschlossen werden,
mehr Angebote in nachfrageschwächeren Zeiten gemacht und ÖPNV und SPNV
besser verknüpft werden.
In einem ersten Schritt wurden im Jahr 2016 zwei neue Buslinien eingerichtet und bestehende Linien optimiert. Unter anderem weitete man Betriebszeiten aus, optimierte die Anbindung an den SPNV und an relevante Ziele. Im Jahr
2017 ist ein vertaktetes Angebot von Regionalbuslinien eingerichtet worden, mit
10
Diese Angebote können beispielsweise Car oder Bike Sharing-Angebote, Ride Sharing oder Ride
Hailing-Angebote sein. Kommunale Handlungsmöglichkeiten zur Etablierung solcher Angebote
sind im Beitrag 6 «Einfach von hier nach da - Geteilte und vernetzte Mobilität im Umweltverbund» dargestellt
73
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Foto: teamfoto Marquardt, Lüdinghausen
SchnellBus Münster
Plusbus im Hohen Fläming
Foto: VBB
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dem ebenfalls die Verknüpfung von Bus- und Schienenverkehr verbessert werden konnte.
In der nächsten Umsetzungsstufe ist ab Dezember 2019 vorgesehen, Stadtbusangebote in Bad Lausick und Brandis einzuführen. Die Stadtbusse sollen
zum einen die Feinerschließung innerhalb der Kernstädte sicherstellen und
zudem Ortsteile abseits der Kernstädte an diese anbinden.
Beispiel: Der PlusBus im Raum Leipzig und im Hohen Fläming
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Ebenfalls der Mitteldeutsche Verkehrsverbund (MDV) entwickelte im Jahr 2010
das Konzept PlusBus und setzte es 2013 erstmalig im Raum Leipzig um. Es sah
mindestens eine Busverbindung pro Stunde an jedem Ort vor, auch am Abend
und etwas reduziert am Wochenende – und eine weitere Verbindung von jedem
Zielort mit dem Bus oder der Bahn. Im Raum Leipzig konnte dadurch die Auslastung der Busse um 18 Prozent gesteigert werden. Charakteristisch für das
PlusBus-Angebot sind lange Bedienzeiten am Tag, eine kurze Taktung, kurze
Umstiegs- beziehungsweise Übergangszeiten vom Bus auf die Eisenbahn, ein
hoher Beförderungskomfort beispielsweise durch kostenloses WLAN in den
Bussen und eine hohe Reisegeschwindigkeit durch Bevorrechtigung an Lichtsignalanlagen sowie die Möglichkeit zur Nutzung von Busspuren (vgl. Zistel 2018).
Andere Verkehrsunternehmen übernahmen das Konzept, zum Beispiel der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg beim PlusBus Hoher Fläming im brandenburgischen Landkreis Potsdam-Mittelmark. Zwei Jahre nach der Einführung des
Angebots war das Fahrgastaufkommen gegenüber dem früheren Angebot ganz
erheblich gewachsen – im Durchschnitt um rund zehn Prozent, an den Bahnhöfen sogar um bis zu 37 Prozent. An den Haltepunkten des Schienenverkehrs, die
vom PlusBus bedient werden, hat sich die Zahl der Umsteiger vor allem durch
Berufspendlerinnen und -pendler verdoppelt. Auch in den Tagesrandzeiten und
den Schwachlastzeiten am Vormittag sind die Fahrgastzahlen gestiegen.
Beispiel: Flexible ÖPNV-Angebote – Der Rufbus
Flexible Angebote werden meist dort eingesetzt, wo die Zahl von Fahrgästen
für den wirtschaftlich tragfähigen Betrieb konventioneller Art nicht (mehr)
ausreicht. Erfolgreiches Beispiel eines flexiblen Angebotes ist der im Kreis
Heinsberg betriebene MultiBus. Dieser wurde im Jahr 2003 eingeführt, um die
Mobilitätsdefizite von Kindern, Jugendlichen, Familien und Senioren zu mindern (vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2009).
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Der MultiBus hat keine festgelegte Fahrstrecke und keinen Fahrplan. Eine Fahrt
wird auch hier nur durchgeführt, wenn im Vorfeld ein Fahrtwunsch angemeldet
wurde. Der Zustieg erfolgt an einer definierten Haltestelle, der Ausstieg jedoch
ist nicht an eine Haltstelle gebunden und kann an jedem beliebigen Ort innerhalb des Bediengebietes erfolgen, sofern dieser Ort vom Bus angefahren werden kann. Ursprünglich war geplant, dass der MultiBus die Fahrgäste an deren
Haustür abholen könne. Dies war jedoch genehmigungsrechtlich nicht möglich.
Stattdessen ist ein engmaschiges und fast an eine Haustürbedienung heranreichendes Haltestellennetz eingerichtet worden (vgl. ebd.).
Quelle: aachenerverkehrsverbund (flickr)
Aachener Bus
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Literatur und andere Quellen
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS)/ Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR) (2009): Handbuch zur Planung flexibler Bedienungsformen im
ÖPNV, Ein Beitrag zur Sicherung der Daseinsvorsorge in nachfrageschwachen Räumen. Berlin/
Bonn. Online verfügbar unter: www.bbsr.bund.de
Heinrich-Böll-Stiftung (2019): Umweltfreundlich mobil in ländlichen Räumen – Stellschrauben für
eine flächendeckende Verkehrswende. Berlin.
Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (1999): Busverkehre in Klein- und Mittelstädten. Neue Chancen für den Bus. Düsseldorf.
Online verfügbar unter: https://infoportal.mobil.nrw/fileadmin/02_Wiki_Seite/03_Projekte/04_
Stadtbus/publikationen_1_PDF_d.pdf (Zugriff 2.11.2019)
Monheim, H.; Hüsler, W. (2015): Ist-Zustand Angebot und Nachfrage. Trier.
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (2017): Mobilität 2050 in Münster. Unveröffentlichter
Endbericht. Wuppertal.
Zistel, M. (2018): ÖPNV in ländlichen Räumen - vom Stiefkind zur Schlüsselinfrastruktur. Vortrag im
Rahmen des 12. Deutschen Nahverkehrstags in Koblenz am 25. April 2018.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
https://infoportal.mobil.nrw/projekte/stadtbus.html (Zugriff 2.11.2019)
www.zukunft-mobilitaet.net/42868/analyse/integraler-taktfahrplan-itf-schweiz-deutschland-deutschlandtakt-umsetzbarkeit-konzept/ (Zugriff 2.11.2019)
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Geteilte und vernetzte Mobilität erleben in den letzten Jahren einen Aufschwung.
Hierfür gibt es mehrere Gründe. Zum einen haben sich die Mobilitätsbedürfnisse
gewandelt: Immer mehr Menschen nutzen verschiedene Verkehrsmittel und kombinieren diese. Insbesondere für junge Menschen nimmt der Besitz eines eigenen Autos
nicht mehr den Stellenwert ein, wie dies früher der Fall war (Bratzel 2018); außerdem
machen junge Menschen seltener einen Führerschein (KBA 2019). Zum anderen ist
dieser Wandel der Mobilitätskultur auch dadurch gefördert worden, dass eine Vielzahl von Sharing-Angeboten geschaffen wurde: stationsbasiertes Carsharing oder die
neuere Free-Floating-Variante, Fahrradverleihsysteme, geteilte E-Roller und Fahrdienste (Difu 2019).
Angebote geteilter und vernetzter Mobilität sind aber auch für kleinere Kommunen wichtig, um die Verkehrswende voranzubringen. Denn um einen Umstieg
vom Auto auf den Umweltverbund attraktiv zu machen, muss nicht nur jedes einzelne dieser Verkehrsmittel nutzerfreundlich und zuverlässig zur Verfügung stehen.
Darüber hinaus ist eine Verknüpfung aus Fuß- und Radverkehr, öffentlichem Verkehr und geteilten Mobilitätsangeboten wie Carsharing, Fahrradverleihsysteme und
Ride-Sharing notwendig, um eine attraktive Alternative zur Fahrt mit dem eigenen
Auto anzubieten.
Die Mobilitätsbedürfnisse eines jeden Menschen unterscheiden sich je nach
Anlass. Intermodalität bedeutet, dass auf einem Weg verschiedene Verkehrsmittel
kombiniert genutzt werden. Das kann etwa heißen, mit dem Rad (oder mit dem Auto)
zum Busbahnhof oder zur S-Bahnstation zu fahren und an der Zielhaltestelle einen
E-Roller zu nutzen, um die letzte Meile bis zum Ziel schneller zurücklegen zu können. Dagegen bezeichnet der Begriff Multimodalität die Verwendung unterschiedlicher Verkehrsmittel auf verschiedenen Wegen. Diese multimodale Mobilität wird
erleichtert, wenn die Nutzer/innen einfachen Zugang zu den verschiedenen Optionen haben.
Ein konsequent multi- und intermodal vernetztes Mobilitätsangebot versteht
Mobilität als Dienstleistung dafür, zuverlässig von A nach B zu gelangen – und nicht
als einzelnes Verkehrsmittelangebot. Durch die Kombination der spezifischen Vorteile
lassen sich mitunter auch Zeit- und Kostenvorteile gegenüber dem Pkw erschließen.
Konkret bedeutet die Systemintegration des Umweltverbundes insbesondere die
Verknüpfung von Sharing-Mobilität und nichtmotorisiertem Verkehr mit dem Öffentlichen Verkehr – der ÖPNV bietet hierbei das Rückgrat. Somit handelt es sich bei
der Integration dieser Angebote mit dem ÖPNV um eine Aufgabe, die auf Ebene der
Städte, Gemeinden und Kreise angesiedelt ist (KCW et al. 2017a).
Eine Herausforderung bei der Schaffung solcher Angebote besteht insbesondere
für mittlere und kleine Kommunen, da hier die geringere Nachfrage und Siedlungsdichte viele Angebote für private Betreiber unrentabel macht. Daher ist eine kommunale Förderung von geteilten Mobilitätsangeboten sowie deren Vernetzung eine
wichtige Bedingung, die den Rahmen für inter- und multimodale Mobilität setzen
78
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
6 Einfach von hier nach da –
Geteilte und vernetzte Mobilität im Umweltverbund
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kann. Dabei gibt es verschiedene Typen von Maßnahmen, die multi- bzw. intermodale Mobilität ermöglichen und die Vernetzung von Mobilitätsoptionen fördern.
Diese sind im Folgenden dargestellt.
Sharing-Angebote
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Angebote geteilter Mobilität haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.
Hierzu haben neben der Veränderung der Mobilitätskultur auch neue flexible Möglichkeiten der Buchung und Ausleihe beigetragen, die durch die Digitalisierung der
Angebotsplattformen und den Zugriff über mobiles Internet ermöglicht wurden.
Stationäre Carsharing-Angebote bestehen inzwischen in 740 Städten in Deutschland, Free-floating-Angebote gibt es dagegen nur in 18 Städten (Statista 2019). Auch
die Zahl der Fahrradverleihsysteme ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.
Sowohl Carsharing als auch Fahrradverleihsysteme gibt es inzwischen nicht mehr nur
in Großstädten. Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass es auch möglich
ist, auf die lokalen Bedingungen zugeschnittene Systeme in Klein- und Mittelstädten
erfolgreich zu betreiben.
Hierbei sind verschiedene Erfolgsfaktoren zu berücksichtigen:
Kommunales Konzept für Sharing-Mobilität: Grundlage für die Einführung von
Sharing-Angeboten bildet eine Bedarfsanalyse, die das Mobilitätsverhalten und
mögliche Potenziale analysiert und räumlich zuordnet. Darauf basierend können
mögliche Standorte und die Anzahl benötigter Carsharing-Fahrzeuge und Leihfahrräder geplant werden.
Fahrradverleihsysteme können durch den öffentlichen Verkehrsbetrieb sowie
durch die Kommune selbst betrieben oder beauftragt werden. In Vergabeverfahren für öffentliche Fahrradverleihsysteme können die Kommune oder die Verkehrsbetriebe festlegen, welche Eigenschaften das Fahrradverleihsystem haben
soll. Während sich in großen Städten zunehmend stationslose Systeme durchsetzen, in denen aufgrund einer großen Zahl von Rädern auch ohne definierte
Stationen meist ein Rad in der Nähe ist, können für kleinere Systeme auch stationsbasierte Angebote sinnvoll sein. Dort ist die begrenzte Zahl von Rädern besser
auffindbar. Durch attraktive Tarife, etwa eine kostenlose Nutzung für die ersten
30 Minuten für alle Nutzer/innen oder für Inhaber/innen von Zeitfahrkarten des
ÖPNV kann mit beeinflusst werden, wie häufig das System genutzt wird. Wichtig
ist es, die Rahmenbedingungen des Angebots detailliert vertraglich festzulegen,
um eine hohe Qualität der Räder und deren Wartung und Verteilung sicherzustellen. Einen Leitfaden mit Handlungsempfehlungen für Kommunen hierzu haben
Agora Verkehrswende, ADFC, DST und DStGB herausgegeben (Agora Verkehrswende et al. 2018).
Carsharing-Systeme werden durch kommerzielle Anbieter in Städten angeboten, wenn sich der Betrieb wirtschaftlich lohnt. Kommunen haben hier mehrere
Möglichkeiten, die Betriebsbedingungen zu verbessern. Zum einen kann die
Nutzung von Carsharing-Fahrzeugen durch die öffentliche Verwaltung sowie
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die Förderung der Nutzung im Rahmen von betrieblichem Mobilitätsmanagement eine Basisnachfrage schaffen und damit eine Grundauslastung sichern.
Zum anderen können Städte durch die Ausweisung von Stellplätzen für Carsharing-Fahrzeuge einen weiteren Anreiz bieten. Eine Einbindung in multimodale
Systeme (durch integrierte Plattformen oder Mobilstationen, s. u.) kann ebenso
dazu beitragen, Kund/innen zu gewinnen und die Bereitstellung eines Angebots
für Carsharing-Anbieter attraktiv zu machen. Einen Leitfaden zur Gründung
neuer Carsharing Angebote bietet der Bundesverband CarSharing (BCS 2018).
Zivilgesellschaftlich organisierte oder informelle Angebote bieten eine Möglichkeit, geteilte Mobilität ohne eigene Fahrzeuge oder Fahrangebote kommerzieller
oder öffentlicher Anbieter zu ermöglichen. Hierzu zählen etwa Mitfahrbörsen für
die spontane oder langfristige Organisation von Fahrgemeinschaften sowie Peerto-Peer-Carsharing zum Teilen privater Fahrzeuge. Wenn diese Angebote in multimodale Informations- und Buchungsplattformen aufgenommen werden, kann
ihnen eine größere Sichtbarkeit verschafft werden (vgl. KCW et al. 2017b).
Integrierte Informations- und Buchungsplattformen
Datenmanagement: Die Plattform umfasst statische Daten, wie die Standortdaten aller Elemente des multimodalen Mobilitätssystems, ÖV-Haltepunkte ebenso
wie die Standorte von Carsharing- oder Leihradstationen und die Fahrpläne des
Öffentlichen Verkehrs. Zudem enthält die Plattform dynamische Daten in Echtzeit – hierzu gehören die tatsächlichen Abfahrtszeiten des Öffentlichen Verkehrs
sowie die aktuelle Verfügbarkeit von Sharing-Fahrzeugen und die Standorte stationsunabhängiger Angebote. Eine besondere Herausforderung sind die Informationsschnittstellen, über die die Daten der verschiedenen Anbieter ausgetauscht
werden.
Buchungsmöglichkeit: Soll das System über eine Buchungsmöglichkeit verfügen,
müssen auch die Kundendaten integriert werden. Eine Abrechnung erfolgt dabei
entweder über den Plattformbetreiber oder über den jeweiligen Anbieter der
gebuchten Mobilitätsoption.
Tarifliche Integration: Eine Integration verschiedener Mobilitätsangebote durch
gemeinsame Tarife oder Rabattsysteme kann multimodale Mobilität attraktiver
machen und zur Gewinnung von Kunden sowie der Häufigkeit der Nutzung beitragen. Je nach Mobilitätsangeboten, der Struktur der Anbieter und der Nachfragesituation können unterschiedliche Formen der tariflichen Integration sinnvoll
80
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Um verschiedene Mobilitätsangebote zu verknüpfen, können Kommunen integrierte
Plattformen schaffen, auf denen Informationen zu den verschiedenen Angeboten zur
Verfügung stehen und diese Angebote gebucht werden können. Die Plattformen sind
online verfügbar und insbesondere auch für den mobilen Zugang per Smartphone
optimiert – etwa mit einer eigenen App oder einer mobilen Website. Eine solche integrierte Plattform umfasst verschiedene Elemente und kann unterschiedlich ausgestaltet werden (vgl. KCW et al. 2017b)
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sein. Möglich sind etwa Angebote auf Basis eines ÖPNV-Zeitkartentarifs, bei dem
das jeweils individuelle Hinzubuchen von Sharing-Angeboten Rabatte gewährt.
Ein anderes Modell sind Paketangebote, die Zeitkontingente oder pauschale
(Flatrate)-Nutzungsmöglichkeiten für die verschiedenen Mobilitätsangebote
beinhalten.
Mobilstationen als räumliche Verknüpfungspunkte
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Mobilstationen sind «sichtbare Verknüpfungspunkte und Schnittstellen des Umweltverbundes mit systemischer Vernetzung mehrerer Verkehrsmittel in direkter räumlicher Verbindung» (Zukunftsnetz Mobilität NRW 2015). Sie verknüpfen Angebote des
öffentlichen Verkehrs mit Carsharing, Bikesharing und weiteren innovativen Mobilitätsangeboten sowohl organisatorisch als auch baulich miteinander und bieten
sichere Abstellmöglichkeiten für private Fahrräder. Wenn diese Verknüpfungspunkte
einen möglichst nahtlosen Übergang von einem Verkehrsmittel aufs andere ermöglichen, haben es die Verkehrsteilnehmer leichter, diese intermodalen Schnittstellen
zu nutzen. Darüber hinaus können Mobilstationen durch zusätzliche Angebote angereichert werden – etwa Packstationen, Kioske, Geldautomaten oder WLAN-Hotspots.
Über welche Ausstattung eine Mobilstation verfügen sollte, kann je nach räumlicher
Lage und den Mobilitätsbedürfnissen vor Ort sehr unterschiedlich sein.
In der Praxis ist die Errichtung einer Mobilstation durch die Kommune ein mehrstufiger Prozess. Dieser erstreckt sich von konzeptionellen Überlegungen über den
Aufbau bis hin zum operativen Betrieb der Station. Zudem muss die Finanzierung
des Betriebes und der vorgesehenen Elemente der Mobilstation geplant und sichergestellt werden. Damit einhergehend ist die Verteilung der Aufgaben zwischen denen
für Errichtung und Betrieb relevanten Akteurinnen und Akteuren zu organisieren.
Zentrale Arbeitsschritte sind u. a.:
Auswahl eines geeigneten Standorts über eine verkehrliche Bestandsaufnahme:
An welchen Standorten ist die Errichtung sinnvoll?
Über welche Ausstattung soll die Station verfügen (beispielsweise Carsharing,
Bikesharing, Fahrradboxen, Ladestation für E-Autos)?
Partnerinnen und Partner für den Betrieb der Station: Wer kommt als Betreiber der verschiedenen Angebote in Betracht (beispielsweise Carsharing-Unternehmen, kommunaler Energieversorger, vor Ort aktive private und öffentliche
Verkehrsunternehmen)?
Kosten- und Finanzierungsplan: Wie hoch sind die Investitionskosten für die einzelnen Ausstattungsmerkmale? Wie werden diese Investitionskosten finanziert?
Wie hoch sind die Betriebskosten für die vorgesehenen Dienstleistungen? Können Fördermittel beantragt werden?
Eine ausführliche Darstellung und Erläuterung der notwendigen Umsetzungsschritte
zum Bau und Betrieb einer Mobilstation enthält das Handbuch Mobilstationen Nordrhein-Westfalen (Zukunftsnetz Mobilität NRW 2015).
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Mobilstation Offenburg
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Foto: Technische Betriebe Offenburg
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Beispiel: Mobilitätsflatrate Augsburg
Die Stadtwerke Augsburg wollen vernetzte Mobilität attraktiver machen. Dafür
haben sie mit der «Mobil-Flat» ein integriertes Angebotspaket geschaffen, das
im November 2019 gestartet ist (Stadt Augsburg 2019). Das Angebot umfasst Bus
und Straßenbahn, Carsharing-Fahrzeuge und Leihräder. Die Flatrate gibt es in
zwei Tarifen: zu 79 und 109 Euro, je nachdem, wie häufig Carsharing-Fahrzeuge
genutzt werden. Im kleinen Tarif sind 15 Stunden oder bis zu 150 Kilometer
inklusive, das große Paket umfasst 30 Stunden und unbegrenzte Kilometer. Das
Fahrradverleihsystem kann auf jeder Fahrt bis zu 30 Minuten kostenlos genutzt
werden, ebenso der ÖPNV im Stadtgebiet. Die Elemente der Mobilitätsflatrate
– ÖPNV, Carsharing und Leihfahrradsystem – werden dabei alle von den Stadtwerken Augsburg angeboten, was eine tarifliche Integration leichter macht.
Ein dichtes Netz an Sharing-Angeboten macht die Mobilitätsflatrate für Kundinnen und Kunden attraktiv: Rund 200 Carsharing-Fahrzeuge werden an mehr
als 70 Stationen angeboten, dazu kommen 175 Leihfahrräder an 30 Stationen.
Um die Nachfrage abschätzen zu können und das Angebot passgenau zu entwickeln, haben die Stadtwerke das Modell mit 50 Nutzer/innen getestet und deren
Mobilitätsverhalten ausgewertet (Stadtwerke Augsburg 2019).
Die Verkehrsgesellschaft Hameln-Pyrmont bietet seit 2017 die MobilCard
Hameln an. Das Ziel der MobilCard ist es, durch die attraktive Kombination von
Fahrrad und Bus eine Alternative zur Pkw-Nutzung zu etablieren (Landkreis
Hameln-Pyrmont 2017).
Die MobilCard enthält ein übertragbares ÖPNV-Abo für den gesamten Landkreis und ein eigenes Leih-Pedelec, das den Kunden für die Vertragsdauer zur
Nutzung zur Verfügung gestellt wird. Das Angebot umfasst zu einem monatlichen Preis von 49 Euro eine verbundweite Zeitfahrkarte und die Miete des individuellen Pedelecs einschließlich eines Wartungs-Service. Mit einer vergünstigten
Partnerkarte erhalten Partner/innen oder Familienmitglieder das gleiche Angebot für einen um 20 Euro vergünstigten Preis. Um Neukund/innen zu gewinnen,
erhalten diese im ersten Nutzungsjahr das Angebot für vier Monate kostenlos.
Im Landkreis, in dem insbesondere die ländlichen Teilräume nicht flächendeckend mit dem ÖPNV erschlossen sind, kann das Pedelec als Zubringer in
höherem Maße als ein konventionelles Fahrrad die Einzugsbereiche der Haltestellen vergrößern. Auf diesem Wege werden auch die Teilräume in der Region,
die vorher nicht oder nur in geringem Maße durch den ÖPNV erschlossen
waren, ans Angebot angebunden (VCD o. J. a).
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Praxis Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: MobilCard Hameln – Kombinierte Nutzung von ÖPNV und Fahrrad
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Beispiel: Mobilstationennetz Offenburg
Ein gutes Beispiel für Mobilitätsstationen abseits der Großstädte ist das Netz
von Mobilitätsstationen in Offenburg, einer baden-württembergischen Stadt
mit rund 60.000 Einwohnern. Als Maßnahme des Mobilitätsmanagements im
Rahmen des integrierten Verkehrs- und Klimaschutzkonzepts hat die Stadt 2013
beschlossen, ein Mobilstationennetz aufzubauen. Möglich war dies auch durch
den engagierten Einsatz des Bürgermeisters und der zuständigen Dezernenten
(VCD o. J. b).
Die Mobilstationen ermöglichen eine multimodale Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel. In direkter Nachbarschaft zu Haltestellen des Bus- und
Schienenverkehrs bieten sie neben Pedelec, Bike- und Carsharing-Angeboten diebstahl- und witterungsgeschützte Abstellmöglichkeiten für Fahrräder.
Angeboten werden nicht nur konventionelles Car- und Bikesharing, sondern
auch E-Fahrzeuge und Pedelecs; in der nächsten Ausbaustufe sollen auch Sonderfahrzeuge wie Lasten-Pedelecs und Anhänger zum Angebot gehören (Stadt
Offenburg 2018).
Für die Gestaltung der Mobilstationen wurde ein modularer Aufbau nach
dem Baukastenprinzip gewählt. Dies ermöglicht, die Ausstattung der Stationen
an die Bedingungen einzelner Standorte anzupassen – sowohl bei erstmaligen
Aufbau als auch nach Bedarf im Verlauf des Betriebs. Die Module bieten verschiedene Konfigurationsmöglichkeiten:
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Standort und Lademöglichkeit: für (E-)Carsharing und (E-)Bikesharing und
(E-)Lastenräder
Abstellmöglichkeiten: für private Fahrräder und Pedelecs als Bügel sowie als
Fahrradboxen
Integrierter Kiosk oder Gastronomie-Element
Auskunftsterminal mit Online-Informationssystem
Künftig können weitere Angebote integriert werden, die einen Zusatznutzen bieten: Dazu gehören WLAN-Hotspots, Packstationen zur Abholung und dem Einstellen von Paketpost oder Bankautomaten. Bis zum Jahr 2016 wurden bereits
vier Mobilitätsstationen in Offenburg aufgebaut. Angestrebt wird der schrittweise Aufbau eines flächendeckenden Mobilstationennetzes in der Offenburger
Innenstadt, den umgebenden Stadtteilen, Gewerbegebieten und in den benachbarten Gemeinden. Zukünftig soll in allen Offenburger Stadt- und Ortsteilen
sowie in sämtlichen Gewerbegebieten mindestens eine Mobilstation vorhanden
sein. Die Standorte der ersten Stationen wurden über Sondernutzungsgenehmigungen geregelt, die weiteren Stationen der Ausbaustufen sind bereits im
Bebauungsplan vorgesehen.
Die Mobilstationen werden unter der Dachmarke «Einfach Mobil» vermarktet,
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Federführung des Projekts hat die Stadt Offenburg, die die Stationen mit ihrer
Tochter «Technische Betriebe Offenburg» als BgA (Betrieb gewerblicher Art)
des öffentlichen Verkehrs betreibt. Finanziert wird der Betrieb der Stationen
zum Teil über eine Konzessionsabgabe der Dienstleister, die an den Stationen
Car- und Bikesharing anbieten (nextbike und stadtmobil). Werbeflächen an den
Stationen bilden einen weiteren Finanzierungsanteil, der restliche Anteil wird
durch die Stadt erbracht.
Mit einer einheitlichen Zugangskarte erhalten die Nutzer/innen die Möglichkeit, auf alle an den Mobilstationen verfügbaren Angebote vor Ort zuzugreifen. Sie erhalten zudem eine Vergünstigung gegenüber dem regulären Tarif. Ein
Online-Portal ermöglicht die Buchung der Angebote. Durch eine Verknüpfung
mit dem Tarifsystem des regionalen Verkehrsverbunds wird ein Nutzungsrabatt
für Nutzer/innen des öffentlichen Verkehrs gewährt.
Foto: Münchner Verkehrsgesellschaft
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Mobilstation Münchner Freiheit
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Beispiel: Carsharing in Flensburg
Als mittelgroße Stadt war Flensburg zunächst nicht attraktiv für kommerzielle
Anbieter von Carsharing. Inzwischen ist das anders – der Carsharing-Anbieter
Cambio betreibt 14 Fahrzeuge an sechs Stationen in Flensburg. Erreicht wurde
dies durch eine Strategie zur Akquisition einer hinreichenden Basis-Nachfrage,
die die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Cambio-Angebots sichert. Als Teil des
Klimaschutzplans hat der Klimapakt Flensburg – eine Initiative aus Unternehmen, öffentlicher Verwaltung und Einrichtungen sowie zivilgesellschaftlichen
Organisationen – koordiniert Betriebe angesprochen und für ein betriebliches
Mobilitätsmanagement unter Einbindung von Carsharing gewonnen. Dadurch
wurde erreicht, dass verschiedene Unternehmen und Institutionen ihren Fuhrpark teilweise aufgelöst haben und Teile der betrieblichen Mobilität durch die
Nutzung von Carsharing-Fahrzeugen abwickeln.
Für die Betriebe ist dies mit Kosteneinsparungen verbunden, denn die
Carsharing-Fahrzeuge ersetzen insbesondere die Teile der betrieblichen
Flotten, die zuvor für Nachfragespitzen vorgesehen waren und damit einen
großen Teil der Zeit ungenutzt waren.
Zugleich entsteht damit eine Basisnachfrage für das Carsharing-Angebot,
das sich gut mit den Nutzungszeiten privater Nutzer/innen ergänzt. Die
Fahrzeuge sind an mehr als sieben Stunden pro Tag ausgelastet und kommen auf eine Jahresfahrleistung von rund 28.000 km (SHZ 2017). Die über
700 Nutzer/innen der Fahrzeuge teilen sich auf rund 50 Prozent betriebliche
Nutzer/innen, 15 Prozent Studierende und 35 Prozent sonstige Privatnutzer/
innen auf (Difu 2019).
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Die Stadt hat die Angebote flankiert, indem sie 2016 ein umfassendes Konzept
für Carsharing-Stellplätze entwickelt hat und die Stellplätze im öffentlichen
Raum zur Verfügung stellt – und zwar unmittelbar an den Betrieben und Einrichtungen, die das Carsharing-System betrieblich nutzen.
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Agora Verkehrswende, Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e. V. – ADFC, Deutscher Städtetag – DST,
Deutscher Städte- und Gemeindebund (DStGB) (Hrsg.): Bikesharing im Wandel: Handlungsempfehlungen für deutsche Städte und Gemeinden zum Umgang mit stationslosen Systemen.
2018. Autoren: Burkhard Horn, Alexander Jung. Online Verfügbar unter: https://www.agora-verkehrswende.de/fileadmin/Projekte/2018/Stationslose_Bikesharing_Systeme/Agora_Verkehrswende_Bikesharing_WEB.pdf (Zugriff 11.11.2019)
bcs Bundesverband CarSharing e.V. (2019): Leitfaden zur Gründung neuer CarSharing-Angebote.
Online verfügbar unter: https://carsharing.de/sites/default/files/uploads/arbeitsschwerpunkte/
leitfaden_neue_cs-angebote_versandversion.pdf (Zugriff 11.11.2019)
Bratzel, Stefan (2018): Junge Generation und die Mobilität der Zukunft. Bergische Gladbach. Online
verfügbar unter: https://www.auto-institut.de/index_htm_files/Pressemitteilung_Mobilitaet_
Junge%20Generation.pdf (Zugriff 11.11.2019)
Difu – Deutsches Institut für Urbanistik (2019): Topic Guide – Integration Of Shared Mobility Approaches In Sustainable Urban Mobility Planning. Online verfügbar unter: https://difu.de/publikationen/2019/integration-of-shared-mobility-approaches-in-sustainable.html (Zugriff 11.11.2019)
Landkreis Hameln-Pyrmont (2017): Mit dem Pedelec zur Haltestelle: MobilCard jetzt auch in Bad
Münder! Online verfügbar unter: https://www.hameln-pyrmont.de/Schnellnavigation/Startseite/Mit-dem-Pedelec-zur-Haltestelle-MobilCard-jetzt-auch-in-Bad-Münder-.php?object=tx,2561.5&ModID=7&FID=2749.2407.1 (Zugriff 11.11.2019)
KBA – Kraftfahrtbundesamt (2019): Fahrerlaubnisbestand im Zentralen Fahrerlaubnisregister. Flensburg. Online verfügbar unter: https://www.kba.de/DE/Statistik/Kraftfahrer/Fahrerlaubnisse/
Fahrerlaubnisbestand/fahrerlaubnisbestand_node.html (Zugriff 11.11.2019)
KCW, Öko-Institut, Probst & Consorten (2017a): Bewertung von Multimodalitätsstrategien für Verkehrsunternehmen, -verbünde und Kommunen. FoPS-Forschungsvorhaben Nr. 70.0877. Berlin.
KCW, Öko-Institut, Probst & Consorten (2017b): Leitfaden Kommunale Multimodalitätsstra- tegien.
FoPS-Forschungsvorhaben Nr. 70.0877. Berlin.
SHZ – Flensburger Tageblatt (2017): Flensburger Car-Sharing weiter auf der Erfolgsspur. Online verfügbar unter: https://www.shz.de/lokales/flensburger-tageblatt/flensburger-car-sharing-weiter-auf-der-erfolgsspur-id16769071.html (Zugriff 11.11.2019)
Stadt Augsburg (2019): Neue Mobilitätsflat der Stadtwerke Augsburg. Online verfügbar unter:
https://www.augsburg.de/aktuelles-aus-der-stadt/detail/neue-mobilitaetsflat-derstadtwerke-augsburg/ (Zugriff 11.11.2019)
Stadt Offenburg (2018): Aufbau eines Netzes von Mobilitätsstationen in Offenburg und Umgebung.
Offenburg. Online verfügbar unter: http://www.offenburg.de/html/media/dl.html?v=17749
(Zugriff 11.11.2019)
Stadtwerke Augsburg (2019): Alles fahren zum fixen Preis: Die Mobil-Flat der Stadtwerke Augsburg
– Zwei Preis-Pakete für 79 und 109 Euro monatlich. Pressemitteilung. Online verfügbar unter:
https://www.sw-augsburg.de/ueber-uns/presse/detail/alles-fahren-zum-fixen-preis-die-mobil-flat-der-stadtwerke-augsburg-zwei-preis-pakete-fuer-79-und/ (Zugriff 11.11.2019)
Statista (2019): Anzahl der Städte und Gemeinden mit Carsharing-Angeboten in Deutschland nach
Varianten. Online verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/412885/
umfrage/staedte-mit-carsharing-angeboten-in-deutschland/ (Zugriff 11.11.2019)
VCD – Verkehrsclub Deutschland e.V. (o. J. b): Einfach Mobil Offenburg: Die Marke Einfach Mobil
schafft Infrastruktur mit einheitlichem Design. Online verfügbar unter: https://www.vcd.org/
themen/multimodalitaet/beispiele/einfach-mobil-offenburg/ (Zugriff 11.11.2019)
VCD – Verkehrsclub Deutschland e.V. (o. J. a): MobilCard Hameln – Mit Pedelec und Bus mobil auf
dem Land. Online verfügbar unter: https://www.vcd.org/themen/multimodalitaet/beispiele/
mobilcard-hameln/ (Zugriff 11.11.2019)
Zukunftsnetz Mobilität NRW (2015): Handbuch Mobilstationen Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. Online verfügbar unter: https://www.zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de/www.adfc-nrw.de
(Zugriff 11.11.2019)
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Literatur und andere Quellen
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7 Strom ist stark – Wie man Elektromobilität fördert
Die Verkehrswende bedeutet nicht nur eine veränderte Mobilität, die mit weniger Verkehr auskommt und den Verkehr auf nachhaltigere Verkehrsmittel verlagert.
Zugleich ist eine Energiewende im Verkehr notwendig, um die verbleibenden Fahrzeuge effizient und erneuerbar anzutreiben. Neben der Strategie, kleinere und leichtere Fahrzeuge zu fördern, die energieeffizienter sind, bestehen verschiedene Pfade,
den Antrieb auf erneuerbare Energien umzustellen. Elektromobilität hat sich hierbei
aktuell als dominanter Entwicklungspfad durchgesetzt: Weltweit haben Autohersteller ihre Investitionen in die Elektromobilität stark erhöht, 2018 machten sie bereits
mehr als ein Drittel der Investitionen aus (Ernest & Young 2019). Da die Reichweite
zunimmt, der Infrastrukturausbau vorankommt und die Fahrzeugpreise sinken,
erwarten Studien in den kommenden Jahren ein deutliches Wachstum (Bratzel 2019).
Die Rolle von Biokraftstoffen bleibt aufgrund ihrer Ökobilanz und der nur begrenzt
verfügbaren Biomasse begrenzt, und aus erneuerbarem Strom erzeugter Wasserstoff
und synthetische Kraftstoffe sind mit Effizienzverlusten und hohen Kosten im Vergleich zu batterieelektrischen Lösungen verbunden.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Umweltvorteile der Elektromobilität
Elektrische Antriebe sind deutlich effizienter als Verbrennungsmotoren und können
zudem ihre Energie direkt aus erneuerbarem Strom beziehen. Dieser Vorteil wiegt
auch die hohen Energieaufwände in der Herstellung der Batterien auf. Durchschnittlich große und leistungsstarke Elektrofahrzeuge sind daher im Schnitt bereits heute
klimafreundlicher als konventionelle Fahrzeuge – sie stoßen im Lebenszyklus rund
ein Viertel weniger Treibhausgase aus als Benziner und 16 Prozent weniger als Dieselfahrzeuge. Wenn die Energiewende voranschreitet, erhöht sich dieser Vorteil für
Elektroautos, die 2030 zugelassen werden, deutlich, auf 41 Prozent bzw. 35 Prozent
gegenüber Benzin- und Dieselfahrzeugen (vgl. Agora Verkehrswende 2019). Wie groß
der Klimavorteil ist, hängt auch von der Größe der Batterie ab – bei leistungs- und
reichweitenstarken Fahrzeuge sinkt der aktuelle Vorteil beträchtlich. Daher sollte ein
Fokus auf kleinen Fahrzeugen mit einer den Anforderungen angemessenen Batteriekapazität liegen. Zudem ist die Zusammensetzung des Ladestroms relevant – in Kombination mit erneuerbar erzeugtem Strom spielen E-Fahrzeuge ihre Klimavorteile am
besten aus.
Neben den Klimavorteilen sind Elektrofahrzeuge zudem lokal emissionsfrei, sie
stoßen also keine Luftschadstoffe wie Rußpartikel oder Stickoxide aus und tragen zur
Verbesserung der Luftqualität in Städten bei. Durch den leiseren Antrieb senken sie –
zumindest bei niedrigen Geschwindigkeiten – auch die Lärmbelastung des Verkehrs.
Zu Beginn des Jahres 2019 waren in Deutschland rund 83.000 batterieelektrische
Fahrzeuge zugelassen, dazu kamen 67.000 Plug-In-Hybrid-Fahrzeuge, die neben
einem E-Antrieb auch über konventionellen Antrieb verfügen. Die Wachstumsraten deuten darauf hin, dass sich der Markt bis Mitte der 2020er Jahre massiv vergrößern wird. Szenarien gehen davon aus, dass E-Fahrzeuge bis 2030 zwischen rund 10
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Prozent und bis zu 40 Prozent des Neuwagenmarktes ausmachen werden – je nachdem, wie Angebot, Preis, Akzeptanz und politische Förderung sich entwickeln.
Elektromobilität umfasst dabei nicht nur Pkw – zunehmend verfügbare Angebote
machen auch die Elektrifizierung leichter Nutzfahrzeuge und von Bussen im ÖPNV
attraktiv. Pedelecs und E-Lastenräder können die Reichweite und die Einsatzzwecke
von Fahrrädern deutlich steigern.
Kommunale Konzepte zur Unterstützung von Elektromobilität
Kommunen können eine wichtige Rolle dabei spielen, wie schnell sich Elektromobilität durchsetzt. Vor Ort werden Ladeinfrastrukturen sowie die dafür notwendigen
Strom-Verteilnetze geplant und errichtet. Die Kommune ist hier sowohl Genehmigungsbehörde als auch möglicherweise Betreiber. Als Vorbild und Vorreiter können
Kommunen die E-Mobilität in den eigenen Flotten fördern, und sie können Bürger/
innen und Unternehmen dabei unterstützen, selbst in die E-Mobilität einzusteigen.
Schließlich kann die Kommune Einfluss nehmen auf das Angebot elektrischer Sharing-Angebote sowie die Elektrifizierung des Wirtschaftsverkehrs. Bereits heute sind
etwa 80 Prozent der Kommunen zum Thema E-Mobilität aktiv, wie eine Kommunalbefragung des Difu (2019) zur Elektromobilität zeigt.
Da E-Mobilität meist mit hohen und häufig langfristigen Investitionen verbunden ist, spielt eine strategische Planung durch die Kommune eine wichtige Rolle.
Spezifische kommunale Konzepte zur Förderung der Elektromobilität sind hierzu ein
geeignetes Instrument. Solches kommunalen E-Mobilitätskonzepte können durch
Bundesmittel gefördert werden.11 Eine Alternative oder Ergänzung hierzu ist eine
Querschnittsbetrachtung der E-Mobilität in sektoralen oder themenbezogenen Planungen, etwa dem VEP oder dem kommunalen Klimaschutzkonzept.
Elektrofahrzeuge können in Flotten ihre Vorteile schon heute besonders zur Geltung
bringen. Während im privaten Bereich vielfach noch Hemmnisse für den Einsatz
bestehen, sind E-Fahrzeuge in Flotten häufig rentabel einsetzbar. Dies hat mehrere
Gründe: Zum einen stehen in Flotten mehrere Fahrzeuge zur Verfügung, so dass
E-Fahrzeuge gezielt eingesetzt werden können und deren Einsatz geplant werden
kann – etwa auf kürzeren Strecken. Gerade für kommunale Zwecke mit überschaubaren Distanzen ist die Reichweite von E-Fahrzeugen meist völlig ausreichend. Ein
weiteres Argument besteht in der relativ einfachen Schaffung von Ladeinfrastruktur
für Flottenfahrzeuge: Parkplätze und Betriebshöfe von Kommunen und kommunalen
Betrieben können relativ einfach mit Ladeinfrastruktur ausgestattet werden. Schließlich spricht ein Kostenargument für die Nutzung von E-Fahrzeugen: Sie sind zwar in
der Anschaffung teurer, aber im Betrieb deutlich günstiger, da sie zum einen weniger
11
90
Anspruch auf Förderung haben unter anderem Städte, Gemeinden, kommunale Unternehmen
und sonstige Betriebe und Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft (BMVI 2017)
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Nutzung von E-Fahrzeugen in kommunalen Flotten
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wartungsintensiv sind, zum anderen die Kosten für den Ladestrom deutlich unter den
Kraftstoffkosten konventioneller Fahrzeuge liegen. Daher können elektrische Flottenfahrzeuge, die durch stetige Nutzung hohe Fahrleistungen haben, vielfach schon jetzt
kostengünstiger als konventionelle Fahrzeuge betrieben werden.
Auch bei kommunalen Nutzfahrzeugen kann sich die Elektrifizierung lohnen,
etwa in der Straßenreinigung oder der Müllabfuhr. Ein Anfang kann dabei dort
gemacht werden, wo Lärm und Luftschadstoffe ein besonders Problem sind, in sensiblen Einsatzgebieten wie Grünflächen oder Fußgängerzonen.
Unter https://www.e-stations.de/elektroautos/kostenrechner steht ein Gesamtkostenrechner für E-Fahrzeuge zur Verfügung, mit dem die Kostenstrukturen je nach
Anschaffungspreis, Fahrzeugtyp und Fahrleistungen verglichen werden können.
Als Beschaffer können Kommunen über die kommunale Beschaffungsrichtlinie
Umweltkriterien des Fuhrparks festlegen, etwa CO2- und Schadstoffgrenzwerte.
Elektrifizierung des ÖPNV
Elektrobusse sind leise, lokal schadstofffrei und durch die geringeren Vibrationen
komfortabler für die Fahrgäste. Viele Verkehrsbetriebe haben bereits begonnen, ihre
Busflotten zu elektrifizieren – mit überwiegend positiven Erfahrungen. Einen wichtigen Rahmen für die Elektrifizierung des ÖPNV bildet die europäische Clean-VehicleRichtlinie. Ab 2025 müssen mindestens 45 Prozent der neu anzuschaffenden Busse
alternativ angetrieben sein, die Quote steigt bis 2030 auf 65 Prozent. Dies stellt besonders für kleinere Verkehrsbetriebe eine Herausforderung dar. E-Busse sind bislang
noch mit deutlich höheren Kosten verbunden, die sich durch geringere Betriebskosten aktuell noch nicht kompensieren lassen. Zudem machen die ladebedingten
Einschränkungen in der Nutzbarkeit von E-Bussen es in vielen Fällen notwendig, die
Einsatzpläne zu überarbeiten und mehr Fahrzeuge anzuschaffen. Daher ist es wichtig,
dass öffentliche Verkehrsbetriebe rechtzeitig eine Strategie zur Umsetzung von E-Mobilität und weiteren alternativen Antrieben wie Wasserstoff- und Erdgasbussen entwickeln. Um die Kosten zu senken, können Verkehrsbetriebe sich zusammenschließen,
um günstigere Konditionen beim Erwerb der Busse zu vereinbaren (vgl. Fallbeispiel
«Initiative Elektrobus»)
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Beratung von Betrieben und Bürger/innen zur Elektromobilität
Ebenso wie in kommunalen Flotten haben E-Fahrzeuge in betrieblichen Flotten
schon heute Vorteile – die Planbarkeit von mit E-Mobilität kompatiblen Fahrzeuganforderungen in Flotten, Kostenersparnisse bei hohen Fahrleistungen und Lademöglichkeiten auf dem Betriebsgelände machen dies besonders attraktiv. Bislang haben
sich viele Unternehmen, insbesondere KMU, jedoch noch nicht mit E-Mobilität auseinandergesetzt. Mit Beratungs- und Informationsangeboten, insbesondere im Rahmen der Förderung von betrieblichem Mobilitätsmanagement, können Kommunen
die Unternehmen hier unterstützen.
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Ladestation Lincoln-Siedlung, Darmstadt
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Foto: Andreas Kelm, bauverein AG
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Um private Haushalte von den Vorteilen der E-Mobilität zu überzeugen, ist neben
Informationsangeboten vor allem die Vorbildfunktion öffentlicher Flotten von Bedeutung: Wenn kommunale Fahrzeuge, Taxen, der ÖPNV elektrisch fahren, ist Elektromobilität im Alltag sichtbar. Erfahrbar wird sie für Bürgerinnen und Bürger insbesondere
durch Carsharing-Angebote, in denen sie das elektrische Fahren selbst ausprobieren
können.
E-Fahrzeuge in Sharing-Systemen fördern
Mit Sharing-Systemen können die verschiedenen E-Fahrzeuge – Pkw und leichte
Nutzfahrzeuge, Pedelecs und E-Lastenräder – den Bürgerinnen und Bürgern niedrigschwellig zur Verfügung gestellt werden. Dies macht es ihnen möglich, sich mit
E-Mobilität vertraut zu machen, bevor sie selbst ein E-Fahrzeug anschaffen. Zugleich
steigert es die Attraktivität von Sharing-Angeboten und trägt damit zu einem verknüpften Mobilitätssystem bei. Die Stadt Offenburg hat etwa bei der Entwicklung
ihrer multimodalen Mobilstationen E-Carsharing und Pedelecs integriert und hierfür
Lademöglichkeiten vorgesehen (vgl. Fallbeispiel im Kapitel «Geteilte und vernetzte
Mobilität»).
Eine intelligente Kombination von E-Carsharing mit Kommunalen Flotten
ermöglicht es, die spezifischen Kostenvorteile von E-Fahrzeugen bei hohen Jahresfahrleistungen besser zu nutzen. So können Flottenfahrzeuge, die während der
Dienstzeiten primär der Stadtverwaltung zur Verfügung stehen, nach Dienstschluss
und am Wochenende als Teil der Carsharing-Flotte genutzt werden (vgl. Praxisbeispiel Düsseldorf ).
Die Ladeinfrastruktur ist das Rückgrat der Elektromobilität. Nur wenn ausreichende
Lademöglichkeiten vorhanden sind, ist es für Bürger/innen und Betriebe attraktiv, auf
E-Fahrzeuge umzusteigen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Ladeinfrastruktur
im öffentlichen Raum und auf privatem Gelände – beide spielen für den Aufbau eines
Ladenetzes eine unterschiedliche Rolle. Öffentlich zugängliche Lademöglichkeiten
haben für das Gesamtladevolumen nur eine untergeordnete Bedeutung, da hier eher
kurz geparkt wird und die Stromtarife für das Laden an öffentlichen Ladepunkten
relativ hoch sind. Zugleich sind diese Ladestationen wichtig für die öffentliche Sichtbarkeit und für die Dichte eines Ladenetzes, das für alle zugänglich ist – insbesondere
für Fahrten, die an die Reichweitengrenze führen. Im Alltagsverkehr spielen dagegen
Lademöglichkeiten im privaten Raum eine wesentlich größere Rolle – entweder zu
Hause, in der eigenen Garage oder auf dem dauerhaft gemieteten Parkplatz oder auf
Betriebsparkplätzen. Dort können sowohl Arbeitnehmer/innen ihre privaten Fahrzeuge während der Arbeit laden als auch Betriebe ihre Flottenfahrzeuge.
Beim Aufbau einer öffentlichen Ladeinfrastruktur können Kommunen oder kommunale Unternehmen direkt aktiv werden. In einem Ladeinfrastrukturkonzept legt
die Kommune fest, wo öffentliche Ladestationen vorgesehen werden und welchen
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Praxis Verkehrswende Ein Leitfaden
Ladeinfrastruktur schaffen
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Zugangsbedingungen sie unterliegen. In Sondernutzungssatzungen können Aufbau,
Betrieb und Nutzung von Ladeinfrastruktur dann konkret straßenrechtlich geregelt
werden. Beim Aufbau der Ladeinfrastruktur können die Kommune oder die kommunalen Stadtwerke selbst als Akteure tätig werden – oder die Kommune regelt als
Genehmigungsbehörde den Aufbau durch privatwirtschaftliche Akteure, etwa andere
vor Ort tätige Energieversorger.
Um Ladeinfrastruktur im privaten Raum zu fördern, haben Kommunen verschiedene Möglichkeiten. In kommunalen Stellplatzsatzungen kann festgelegt werden,
dass ein bestimmter Anteil von Stellplätzen mit Lademöglichkeiten versehen wird
oder zumindest entsprechende Stromzuleitungen gelegt werden. Auch der Stellplatzschlüssel ermöglicht hier Anreize – etwa die Reduzierung nachzuweisender
Stellplätze im Gegenzug zu einer Ausstattung mit Lademöglichkeinen. Mit städtebaulichen Verträgen können spezifische Regelungen getroffen werden, etwa zur E-mobilitätsgerechten Quartiersgestaltung und der Ausstattung mit Ladeinfrastruktur.
Um Anreize zum Ausbau von Ladeinfrastuktur im Bestand zu bieten, können
Kommunen Eigentümer/innen von Gebäuden und Parkplätzen individuell beraten,
auf Fördermöglichkeiten hinweisen und in Arbeitskreisen gemeinsam Lösungen
entwickeln.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Wirtschaftsverkehr elektrifizieren
Wirtschaftsverkehre sind mit ihren überwiegend dieselbetriebenen Nutzfahrzeugen in hohem Maße an den Schadstoff- und Lärmemissionen des Verkehrs beteiligt. Dies betrifft lokale Handwerker und Gewerbetreibende, Kurier-, Express- und
Paketdienstleister und Zustelldienste, die Belieferung des Einzelhandels und weitere
Wirtschaftsverkehre. Städte können im Interesse einer klima- und schadstoffneutralen Stadtlogistik Anreize dafür setzen, den Wirtschaftsverkehr zu elektrifizieren. Dies
ist etwa durch die Ausweisung von Ladezonen speziell für lokal emissionsfreie Fahrzeuge, durch Vorteile bei den Zufahrtsberechtigungen und Lieferzeiten sowie durch
Stadtlogistikkonzepte mit der Einrichtung von Mikro-Hubs möglich, von denen aus
die Feinverteilung mit E-Kleinfahrzeugen oder E-Lastenrädern erfolgt.
Die Kommune kann hierzu in einen Dialog mit den Akteuren des Wirtschaftsverkehrs suchen, sowohl in direkter Ansprache als auch in Arbeitsgruppen und Lenkungskreisen. Dabei können die Kostenvorteile eines Einsatzes von E-Fahrzeugen
in Flotten sowie von E-Lastenrädern oder Pedelecs statt regulärer Kfz ein wichtiges
Argument sein, das Wirtschaftsakteure überzeugt. Auch Taxiunternehmen können
auf diese Weise durch die Kommunen unterstützt werden – sowohl durch Beratung
als auch durch Anreize, wie sie die Stadt Dortmund etwa bei der Bevorrechtigung von
E-Taxen am Taxistand des Hauptbahnhofs erprobt. Fallbeispiele und Handlungsoptionen sind in der Publikation «E-Mobilität im städtischen Wirtschaftsverkehr – Handlungsspielräume und Optionen in den Kommunen» dargestellt (Difu 2014).
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Förderprogramme für Elektromobilität
Sowohl der Bund als auch die Länder unterstützen Kommunen bei der Förderung
von E-Mobilität. Mit der Förderrichtlinie Elektromobilität des BMVI werden unter
anderem der Aufbau von Ladeinfrastruktur sowie die Anschaffung von Elektrobussen
gefördert. Gemeinden und Landkreise können innerhalb dieser Richtlinie auch Mittel für die Entwicklung kommunaler E-Mobilitätskonzepte beantragen (BMVI 2019a).
Die Länder bieten ebenfalls Förderungen an, die mit der Bundesförderung kombiniert werden können. So bezuschusst z. B. das Land NRW E-Fahrzeuge in kommunalen Flotten mit bis zu 40 Prozent und den Aufbau von Ladeinfrastruktur mit bis zu
50 Prozent der Investitionskosten, Baden-Württemberg fördert u. a. die Errichtung
von Parkplätzen und Sonderspuren für E-Fahrzeuge.
Mit einer Kaufprämie fördert der Bund zusammen mit der Autoindustrie die
Anschaffung von E-Fahrzeugen: Bis 2025 werden batterieelektrische Fahrzeuge mit
einem Listenpreis unter 40.000 Euro bis zu 6.000 Euro gefördert, Plug-In-Hybride mit
bis zu 4.500 Euro. Bei einem höheren Listenpreis ist die Förderung 1.000 Euro niedriger bei reinen E-Fahrzeugen bzw. 500 Euro niedriger bei Plug-In-Hybriden. Auch
kommunale Betriebe sind bei der Förderung antragsberechtigt (BMWI 2019b).
Einen Überblick über Handlungsmöglichkeiten von Kommunen, über verfügbare Förderungen sowie Ansprechpartner in Bund, Ländern und Regionen bietet ein
Online-Portal des Bundesverkehrsministeriums unter https://www.starterset-elektromobilität.de
Elektrobusse sind in ihrer Anschaffung noch deutlich teurer als konventionelle
Busse. Zudem ist das Angebot derzeit noch begrenzt, erst wenige Anbieter konkurrieren auf dem neuen Markt. Um E-Busse dennoch zu möglichst günstigen
Preisen erwerben zu können, haben die Städte Hamburg und Berlin 2016 eine
«Beschaffungsinitiative Elektrobus» gegründet, um mit einer größeren Marktmacht auftreten zu können. Zugleich erleichtert die gemeinsame Beschaffung
die Erarbeitung der Ausschreibungsbedingungen und bedeutet auch für die
Anbieter von E-Bussen größere Planungssicherheit. In den vergangenen Jahren
sind der Initiative bislang 16 Verkehrsunternehmen deutscher Großstädte beigetreten. Neben dem Ziel der günstigen Beschaffung fördert die Initiative inzwischen auch den Austausch zwischen Verkehrsunternehmen und Partnern und
unterstützt den Wissenstransfer. Daher hat sie sich 2017 in «Initiative Elektrobus» umbenannt. Mitglieder des VDV erhalten Zugang zu den Dokumenten der
Initiative unter https://www.vdv.de/initiative-elektrobus.aspx
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: «Initiative Elektrobus»
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Beispiel: Geteilte Nutzung von kommunalen E-Fahrzeugen in Düsseldorf
Im Projekt E-Carflex hat die Stadt Düsseldorf zusammen mit dem regionalen
Carsharing-Anbieter Drive-CarSharing ein Modell entwickelt, um kommunale
E-Fahrzeugflotten mit den Bürger/innen gemeinsam zu nutzen (Stadt Düsseldorf 2016). Ziel ist es, die Nutzungsintensität der Fahrzeuge zu erhöhen und
damit die höheren Anschaffungskosten für E-Fahrzeuge schneller zu kompensieren: Je mehr Jahresfahrleistung ein E-Fahrzeug hat, umso schneller werden
die Zusatzkosten kompensiert.
Die Landeshauptstadt setzt hierfür in ihrem Fuhrpark seit 2016 zehn E-Fahrzeuge unterschiedlichen Typs an vier verschiedenen Standorten ein – vom
E-Smart über VW up bis zum BMW i3. Diese stehen nach Dienstschluss – ab dem
späten Nachmittag und am Wochenende – als reguläre Carsharing-Fahrzeuge
den Nutzer/innen des regionalen Carsharing-Anbieters Drive und des Kooperationspartners Flinkster zur Verfügung. Den Ladestrom beziehen die Fahrzeuge
an Ladesäulen der Stadtwerke Düsseldorf, die im Zuge der E-Mobilitätsstrategie
zudem sukzessive ein Ladenetz in der Stadt aufgebaut haben.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Beispiel: E-Mobilität in Dülmen
Die nordrhein-westfälische Stadt Dülmen zeigt, dass auch kleine Mittelstädte
sinnvoll in die Förderung von E-Mobilität einsteigen können. Die Stadt mit
46.000 Einwohnern hat 2014 begonnen, ihre kommunale Fahrzeugflotte zu elektrifizieren. Ziel ist perspektivisch die komplette Umstellung des kommunalen
Fuhrparks auf E-Fahrzeuge, wie es im kommunalen Klimaschutzkonzept vorgesehen ist. Gestartet ist die Stadt neben drei elektrischen Pkw auch mit sieben
Pedelecs, die als Diensträder einen Teil der kommunalen Flotte bilden.
Neben öffentlichen Fördermitteln wurden für die Finanzierung der E-Fahrzeuge Sponsoring-Verträge geschlossen. Die Sponsoren können die Fahrzeuge
im Gegenzug als Werbefläche nutzen.
Zugleich hat die Stadt vier Ladesäulen in der Innenstadt aufgestellt, die
sowohl für die städtische Fahrzeugflotte als auch für privates Laden genutzt
werden können. Um einen Anreiz für Bürger/innen zu bieten, stellt die Stadt an
diesen Ladestationen den Strom kostenlos zur Verfügung. Die für den Zugang
nötigen Transponder-Chips werden von der Stadt an interessierte Nutzer
ausgegeben.
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Literatur und andere Quellen
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Agora Verkehrswende (2019): Klimabilanz von Elektroautos. Einflussfaktoren und Verbesserungspotenzial. Erstellt durch ifeu – Institut für Energie- und Umweltforschung. Berlin. Online verfügbar
unter: https://www.agora-verkehrswende.de/fileadmin/Projekte/2018/Klimabilanz_von_Elektroautos/Agora-Verkehrswende_22_Klimabilanz-von-Elektroautos_WEB.pdf (Zugriff 20.11.2019)
BMVI – Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2017): Förderrichtlinie Elektromobilität. Online verfügbar unter: https://www.ptj.de/lw_resource/datapool/systemfiles/
cbox/1488/live/lw_bekdoc/frl_elektromobilitaet_bmvi_2017.pdf (Zugriff 20.11.2019)
BMWI – Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019a): Elektromobilität kompakt – die
Zukunft fährt elektrisch. https://www.bmvi.de/DE/Themen/Mobilitaet/Elektromobilitaet/Elektromobilitaet-kompakt/elektromobilitaet-kompakt.html (Zugriff 20.11.2019)
BMWI – Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019b): Altmaier: «Kaufprämie für E-Autos
wird bis Ende 2020 verlängert» Pressemitteilung.
Bratzel, Stefan (2019): Pressemitteilung Branchenstudie: E-Mobilität im internationalen Vergleich.
Konsolidierte Absatztrends im Gesamtjahr 2018 und Prognose 2019. Center of Automotive
Management, Bergisch Gladbach. Online verfügbar unter: https://auto-institut.de/index_htm_
files/Pressemitteilung_Elektro_2018_2019.pdf (Zugriff 20.11.2019)
Difu – Deutsches Institut für Urbanistik (2014): E-Mobilität im städtischen Wirtschaftsverkehr –
Handlungsspielräume und Optionen in den Kommunen. Von Wolfgang Aichinger. Berlin.
Online verfügbar unter: https://difu.de/publikationen/2014/elektromobilitaet-im-staedtischen-wirtschaftsverkehr.html (Zugriff 20.11.2019)
Difu – Deutsches Institut für Urbanistik (2015): Elektromobilität in der kommunalen Umsetzung.
Kommunale Strategien und planerische Instrumente. Berlin. Online verfügbar unter: https://
difu.de/publikationen/difu-berichte-12015/elektromobilitaet-in-der-kommunalen-umsetzung.
html (Zugriff 20.11.2019)
Ernest & Young (2019): Weltweite Investitionen im Automobilsektor. Eine Analyse ortsgebundener
Investitionsprojekte der führenden Autokonzerne der Welt 2010 – 2018. Online verfügbar unter:
https://www.ey.com/Publication/vwLUAssets/ey-weltweite-investitionen-im-automobilsektor-mai-2019/$FILE/ey-weltweite-investitionen-im-automobilsektor-mai-2019.pdf (Zugriff
20.11.2019)
Stadt Düsseldorf (2016): Elektroautos der Stadt jetzt privat zu mieten. Online verfügbar unter:
https://www.duesseldorf.de/umweltamt/aktuell/detailseite/newsdetail/elektroautos-der-stadt-jetzt-privat-zu-mieten.html (Zugriff 20.11.2019)
VDV (o.J.): Initiative Elektrobus. Online verfügbar unter: https://www.vdv.de/initiative-elektrobus.
aspx (Zugriff 20.11.2019)
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IV Handlungsfelder der Verkehrswende
8 Jetzt kommt zusammen, was zusammengehört –
Über die Verzahnung von Stadt- und Verkehrsplanung
Ziel einer integrierten nachhaltigen Verkehrsplanung ist es, eine verkehrliche und
räumliche Gesamtstrategie auf kommunaler Ebene zu entwickeln, die gegenseitige
Wechselbeziehungen stärker berücksichtigt. Gleichzeitig verhindert sie, dass die
verschiedenen Planungsbereiche unabgestimmt isolierte, sektorale Einzellösungen
erarbeiten, die ggf. sogar gegenläufig sind. Mit ihr werden beispielsweise die Planung
neuer Wohn- oder Gewerbegebiete, die Ansiedlung von Geschäften, das Anlegen
von Grün- und Erholungsflächen in Einklang gebracht, darüber hinaus werden diese
Gebiete mit möglichst geringem Verkehrsaufwand und mit den Mitteln des Umweltverbundes erschlossen.
Unterschiedliche Zielsetzungen der verschiedenen sektoralen (bezogen auf die
unterschiedlichen Politikfelder wie Stadtentwicklung, Grünflächenplanung etc.) und
modalen (bezogen auf die Verkehrsmittel) Handlungsfelder müssen gegeneinander
abgewogen und gemeinsame, vorteilhafte Lösungen gefunden werden. Nur wenn es
gelingt, ein gemeinsames Leitbild mit gemeinsamen Zielvorstellungen zu entwickeln,
lassen sich die Vorteile einer integrativen, strategischen Planung erschließen. Aus diesem Grund sollte der gemeinsame Entwicklungsprozess partizipativ und interdisziplinär angelegt und an einer nachhaltigen Entwicklung ausgerichtet sein. Nur so kann
ein breiter gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden.
Die Verzahnung von Stadt- und Verkehrsplanung und damit die stärkere Ausrichtung der räumlichen Planung auf eine Reduzierung des Verkehrsaufwandes («Stadt/
Region der kurzen Wege» und Nutzungsmischung) sowie die Ausrichtung der Verkehrsplanung auf den Umweltverbund durch eine ansprechende sowie nutzerorientierte Angebotsplanung («qualitativer und quantitativer Infrastrukturausbau des
Umweltverbundes») sind zentrale Bausteine der kommunalen Verkehrswende.
Darüber hinaus ergeben sich im Rahmen einer kommunalen Verkehrswende aus
einer integrierten und kooperativen Raum- und Verkehrsplanung zusätzliche Vorteile wie beispielsweise eine bessere Lebens- und Aufenthaltsqualität, Umwelt- und
Gesundheitsvorteile sowie ein besseres Image für die Stadt.
Auf gesamtstädtischer Ebene ist ein Sustainable Urban Mobility Plan (SUMP)
ein geeignetes Instrument, um ein nachhaltiges städtisches Verkehrssystem auf- und
auszubauen. Dieser eher strategische Plan basiert auf bestehenden Planungsinstrumenten wie beispielsweise kommunalen Verkehrsentwicklungsplänen und ermöglicht es, (komplexe) städtische Verkehrsprobleme, die häufig durch andere städtische
Planungen (z. B. Flächennutzung, Wirtschaftsförderung) verursacht werden, zu lösen.
Zentraler Vorteil eines SUMP ist es, dass er integrativ und partizipativ angelegt ist. Er
bindet also verschiedene Politikbereiche, Verwaltungsebenen, Behörden sowie Bürgerinnen und Bürger während des ganzen Planungsprozesses ein.
Eine Leitlinie zur Entwicklung und Umsetzung eines SUMP ist online auf
der SUMP-Plattform der EU zu finden (https://www.eltis.org/sites/default/files/
sump-guidelines-2019_mediumres.pdf ). Hier wird der Aufstellungs- und Umsetzungsprozess mit elf Arbeitsschritten und insgesamt 32 Aktivitäten ausführlich
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beschrieben, so dass kommunale Entscheidungsträger/innen zahlreiche Hinweise
sowohl zum Gesamtprozess als auch zu einzelnen Aspekten finden.
Vier zentrale Herausforderungen lassen sich identifizieren (vgl. Lindenau/Böhler-Baedeker 2016), zu denen im Rahmen des Forschungsprojekts «CH4LLENGE»
hilfreiche Methodenhandbücher entwickelt wurden (http://www.sump-challenges.
eu/kits):
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie lokaler Interessenvertreter/innen
verbesserte institutionelle Zusammenarbeit verschiedener Fachabteilungen
sowie politischer und administrativer Vertreter/innen
Auswahl geeigneter Maßnahmen und Maßnahmenpakete
Monitoring der Wirkung von Maßnahmen und Evaluation von Verkehrsplanungsprozessen.
Hilfreich ist auch das Handbuch «Beteiligungsprozesse in einer nachhaltigen Stadtverkehrsplanung». Es stellt nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Beteiligungsformate vor und liefert Hinweise, welches Format wann angewendet werden kann,
sondern es bietet auch viele Praxisbeispiele und weiterführende Informationen zu
Beteiligungsinstrumenten (Lindenau/Böhler-Baedeker 2016).
Darüber hinaus gibt es weitere hilfreiche Methodenhandbücher, die praktische
Anleitungen zur Zusammenarbeit von Institutionen, zur Auswahl von verkehrspolitischen Maßnahmen und Maßnahmenpaketen sowie zur Einführung von Monitoring
und Evaluation innerhalb eines SUMP-Prozesses geben. Diese Methodenhandbücher
(englisch) sowie Kurzinformationen (deutsch) sind ebenfalls auf der SUMP-Plattform
der EU zu finden (http://www.sump-challenges.eu/kits).
Beispiele für eine Integration von Stadt- und Verkehrsplanung
Beispiel: Strategische integrative Verkehrsplanung auf gesamtstädtischer
Ebene: Verkehrsentwicklungsplan Innenstadt in Erfurt
Bei der Aufstellung des Verkehrsentwicklungsplans Teilkonzept Innenstadt in
Erfurt wurden die Prinzipien des SUMP angewendet und sollen im Folgenden
nachgezeichnet werden. Das veranschaulicht, welche Vorteile eine integriert und
kooperativ angelegte Planung bietet, wie sie umgesetzt werden kann und welche
zentralen Schritte durchlaufen werden sollten. Im Folgenden werden einzelne
Erfolgsfaktoren des Erfurter Verkehrsentwicklungsplans näher dargestellt.
100
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Gute Beispiele für eine Integration von Stadt- und Verkehrsplanung gibt es sowohl auf
gesamtstädtischer Ebene (vgl. Beispiel SUMP) als auch auf Quartiersebene (vgl. Lincoln-Siedlung). Sie werden im Folgenden exemplarisch näher beschrieben.
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Integration und Kooperation mit weiteren (städtischen) Akteur/innen
Das Amt für Stadtentwicklung und Stadtplanung hat mit Unterstützung von
zwei externen Planungsbüros (plan.publik aus Köln und verkehrskonzept aus
Aachen) den Verkehrsentwicklungsplan fortgeschrieben. In einem begleitenden
Arbeitskreis wurden Vertreter/innen der Stadtratsfraktionen, weitere städtische
Ämter, interessierte Verbände und andere Interessenvertreter/innen regelmäßig beteiligt. Die intensive Einbindung weiterer Akteur/innen (beispielsweise
im Rahmen von drei Workshops) hat so dazu beigetragen, dass die entstandenen verkehrsplanerischen Leitlinien des Verkehrsentwicklungsplans auch bei
späteren konkreteren Einzelplanungen nicht erneut diskutiert werden mussten,
«sondern mit den Leitlinien entsprechende Vorgaben und Standards bereits
beschlossen wurden, auf die in Zukunft bei einzelnen Planungen zurückgegriffen und bei Bedarf verwiesen werden kann» (Landeshauptstadt Erfurt 2012: 5).
Insofern kann eine frühzeitige Integration verschiedener Interessen und Akteur/
innen spätere Planungsprozesse beschleunigen.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger
Ziel war es, die Bürgerinnen und Bürger während des Aufstellungsprozesses
offen und aktiv zu beteiligen, um zum einen das bürgerschaftliche Engagement
zu aktivieren. Zum anderen sollten die Erfahrungen, Wünsche und Vorstellungen der Menschen hinsichtlich der verkehrlichen Entwicklung miteinbezogen
werden. Beteiligt wurden sie über ein Internetforum (https://forum.erfurt.de/
viewforum.php?f=48). Hier konnten die Erfurter/innen ihre Anregungen und
Wünsche hinsichtlich der verkehrlichen Entwicklung der Innenstadt ebenso wie
hinsichtlich der bestehenden Probleme und Mängel an der aktuellen verkehrlichen Situation äußern. Es war aber auch möglich, der Stadtverwaltung postalisch oder per E-Mail seine Ideen und Anliegen mitzuteilen.
Neben einer offenen Kategorie wurden die Beiträge thematisch nach den
folgenden sieben Bereichen gegliedert (die zentralen Ergebnisse sind ausführlich dokumentiert: https://forum.erfurt.de/viewtopic.php?f=48&t=462):
Zu Fuß gehen, bummeln, sich aufhalten, verweilen
Fahrrad fahren und abstellen
Öffentliche Verkehrsmittel und deren Haltestellen aus Fahrgastsicht
Erreichbarkeit und Parken mit dem Auto
Liefern und Laden
Wohnen in der Innenstadt
Gestaltung und Nutzung der innerstädtischen Straßen und Plätze
Auch wenn Beteiligungsverfahren (wie Fachplanungen, Verbände, Bürgerinnen und Bürger) häufig als aufwendig und zeitintensiv bewertet werden, so
dass beispielsweise in vielen Fällen Bürgerkonsultationen nur auf das gesetzlich
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vorgeschriebene Maß reduziert werden, zeigt das Erfurter Beispiel, dass die frühzeitige und kontinuierliche Einbindung der verschiedenen Akteur/innen einen
erheblichen Mehrwert darstellt. Auch der Zeitraum vom Aufstellungsbeschluss
(2010) bis zur Verabschiedung bzw. zum Druck des Verkehrsentwicklungsplans
(07/2012) war nicht besonders langwierig.
Zieldefinition
Im Vordergrund der Verkehrsentwicklungsplanung stand die weitergehende
Verkehrsberuhigung der Erfurter Innenstadt, um so Aufenthalts- und Wohnqualität zu erhöhen. Eine verbesserte Organisation des Wirtschafts- und Lieferverkehrs sollte mitberücksichtigt werden. Hierzu einigte man sich auf
übergeordnete Qualitätsziele wie
Priorität des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) zur Innenstadterreichbarkeit
Schutz und Erhalt der städtebaulichen Struktur und Qualität der Innenstadt
Flächenhafte Priorisierung des Fußgängerverkehrs in der Innenstadt und
Sicherung einer hohen Aufenthaltsqualität
Flächenhafte Erreichbarkeit der Innenstadt mit qualitativ guten Radverkehrsrouten
Fortführung einer konsequenten Verkehrsberuhigung der Innenstadt
Reduktion des Wirtschafts-, Liefer- und Versorgungsverkehrs mit Kraftfahrzeugen auf notwendigen Umfang
Parkraumbewirtschaftung als zentrales Steuerungsinstrument zur Entlastung der Straßen
Kernidee «Begegnungszone Innenstadt»
Die skizzierten Qualitätsziele werden in Erfurt mit dem Begriff «Begegnungszone Innenstadt» zusammengefasst. Dabei handelt es sich um ein zentrales
Gebiet innerhalb der Innenstadt bestehend aus Altstadt, Fußgängerzone und
dem städtebaulichen Umfeld mit einem Radius von etwa 500 Metern. Ist dieser
Bereich nicht Fußgängerzone, so ist er verkehrsberuhigt, so dass dem Zufußgehen und dem Aufenthalt Vorrang eingeräumt wird und der motorisierte Individualverkehr auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt bleibt. Innerhalb
der Begegnungszone dürfen nur die Bewohner/innen, mobilitätsbeeinträchtigte
Personen sowie der Lieferverkehr parken. Außerhalb dieses Areals und in der
weiteren Innenstadt besteht eine Parkraumbewirtschaftung.
102
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Der breite Diskurs mit Bürgerinnen und Bürgern, Vertreter/innen von Verbänden, Politik und Verwaltung bei der Entwicklung dieser Ziele ermöglicht es, sie
jeweils als Bewertungsmaßstab für die nachfolgenden Phasen im Aufstellungsprozess und für nachfolgende Einzelplanungen heranzuziehen.
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Verkehrsentwicklungsplan und spezifische Zielkonzepte
Im Rahmen der Fortschreibung des Verkehrsentwicklungsplans entstanden
sieben spezifische Zielkonzepte (MIV, Parken, Wirtschaftsverkehr, Radverkehr, Fußgängerverkehr, ÖPNV und Verkehrsmarketing). Sie orientieren sich
an den übergeordneten Qualitätszielen und beinhalten konkrete verkehrsmittelspezifische Maßnahmen. So soll beispielsweise die Begegnungszone vom
Parksuchverkehr möglichst flächenhaft entlastet werden. Mit dem aktuellen
Parkraumbewirtschaftungskonzept werden die Bewohnerparkzonen neu geordnet und das gebührenfreie Parken aufgehoben. Insbesondere sieht es aber auch
eine Beschränkung des Parkraumangebots innerhalb der Begegnungszone
Innenstadt vor. Umgesetzt wird dies mit einem flächenhaften Zonenhalteverbot
(StVO-Zeichen 290) und der Ausweisung von öffentlichen Parkständen lediglich
für Bewohner/innen, Personen mit Schwerbehindertenausweis sowie Ladeund Lieferverkehr.
Beispiel: Quartiersentwicklung: Lincoln-Siedlung in Darmstadt
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Ein gutes Beispiel für eine integrierte Mobilitäts- und Siedlungsentwicklung auf
Quartiersebene ist die Lincoln-Siedlung in Darmstadt, ein Stadtentwicklungsprojekt für rund 5.000 Menschen aller Alters- und Einkommensklassen. Ziel war
es, ein Quartier der kurzen Wege zu entwickeln. Im Jahr 2018 wurde die Siedlung aufgrund der vorbildlichen Integration von Stadt- und Verkehrsplanung mit
dem Deutschen Verkehrsplanungspreis ausgezeichnet.
Lösungsansatz
Darmstadt stand vor der Herausforderung, dass einerseits dringend benötigter
Wohnraum geschaffen werden sollte. Andererseits würden die geplanten rund
2.000 Wohneinheiten laut einem verkehrstechnischen Gutachten zusätzlichen
Verkehr in einer Größenordnung erzeugen, die im bestehenden Straßennetz
nach dem klassischen Modal Split nicht bewältigt werden könnte. So standen
zwei Optionen zur Wahl: die Anzahl der neuen Wohneinheiten reduzieren –
oder ein Siedlungs- und Mobilitätskonzept entwickeln, im dem der Umweltverbund so ausgebaut ist, dass deutlich weniger Wege mit dem Auto zurückgelegt
werden als üblich.
Die Lincoln-Siedlung wurde so konzipiert, dass der Umweltverbund das
verkehrliche Rückgrat bildet und die Erschließung durch den Kfz-Verkehr sehr
zurückhaltend erfolgte. Zentrale Bausteine des Mobilitätskonzepts der Lincoln-Siedlung sind:
konsequentes Parkraummanagement und ein reduzierter Stellplatzschlüssel
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Förderung von Multimodalität
umfassendes Mobilitätsmanagement
Im Folgenden werden die Grundzüge des Mobilitätskonzepts vorgestellt und
ausgewählte zentrale Umsetzungshinweise aufgeführt. Weiterführende Informationen sind auf der Website der Lincoln-Siedlung zu finden (https://www.
lincoln-siedlung.de/mobilitaet).
Städtebaulicher Vertrag
Um das Ziel eines multimodalen Quartiers umzusetzen, wurde zwischen der
Stadt und der Entwicklungsgesellschaft ein städtebaulicher Vertrag geschlossen.
In diesem ist festgeschrieben, wie ein auto- und verkehrsreduziertes Wohnen in
der Lincoln-Siedlung im Wesentlichen erreicht werden soll. Das Mobilitäts- und
Entwicklungskonzept umfasst die folgenden acht zentralen Maßnahmen:
Konsequentes Parkraummanagement und ein reduzierter Stellplatzschlüssel
Die Erschließung des Wohngebiets durch den motorisierten Individualverkehr
erfolgt sparsam, und das gesamte Quartier ist als Tempo-30-Zone oder als verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen. Ebenso gibt es einen autofreien Quartiersplatz. Im Fokus der verkehrlichen Erschließung steht nicht der motorisierte
Verkehr, sondern der Umweltverbund sowie eine hohe Aufenthaltsqualität
innerhalb des Quartiers.
Durch eine Einschränkungs- und Verzichtssatzung wurde der Stellplatzschlüssel für die Lincoln-Siedlung deutlich reduziert. Während er nach der
Darmstädter Stellplatzsatzung bei Wohngebäuden je Wohneinheit zwischen
0,8 Pkw-Einstellplätzen (Mehrfamilienhäuser u. sonstige Gebäude mit öffentlich geförderten Wohnungen) und 1,4 Pkw-Einstellplätzen (bei Ein- und Zweifamilienhäusern) liegt, verfügt die Lincoln-Siedlung nur über 0,65 Stellplätze
oder Garagen pro Wohneinheit. 0,15 der Stellplätze sind wohnungsnah, 0,5
Stellplätze befinden sich in bis zu 300 Metern Fußweg-Entfernung. Die genaue
104
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Mobilitätsmanagement, verortet im Quartier. Beratungs- und Informationsangebot für Bewohner/innen, Vermieter/innen und Bauherren zum Thema
Mobilitätsorganisation
Bereitstellung alternativer Mobilitätsangebote wie z. B. Car- und Bike-Sharing u. a.
Förderung der Elektromobilität
Förderung des Fahrradverkehrs
Förderung des ÖPNV
Belegungsmanagement für private Stellplätze in Sammelgaragen
Belegungsmanagement für wohnungsnahe private Stellplätze
Bewirtschaftung des Stellplatzangebots im öffentlichen Raum
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IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Ausgestaltung der Einschränkungs- und Verzichtssatzung ist zusammen mit
weiteren Dokumenten unter https://www.darmstadt.de/leben-in-darmstadt/
mobilitaet-und-verkehr/verkehrsentwicklung-und-projekte/mobilitaetskonzept-lincoln-siedlung/ zu finden. Verknüpft ist der reduzierte Stellplatzschlüssel mit einer Stellplatzvergabeordnung, in der transparent dargestellt wird, nach
welchen Kriterien (z. B. Mobilitätseinschränkungen, CarPooling-Fahrzeuge) die
Stellplätze vergeben werden. Darüber hinaus gibt es Parkstände im öffentlichen
Straßenraum für Besucherinnen und Besucher. Diese sind vollständig bewirtschaftet, um hier Dauerparken zu vermeiden.
Förderung der Multimodalität
Zur Förderung der Multimodalität wurde ein ganzheitliches Mobilitätskonzept
entwickelt und umgesetzt, dass sich aus Push- und Pull-Maßnahmen zusammensetzt. Zu den Push-Maßnahmen zählen restriktive Maßnahmen. Beispielsweise wird die Zahl der Pkw-Stellplätze reduziert, und die vorhandenen werden
bewirtschaftet, um die Pkw-Nutzung einzuschränken bzw. zu erschweren.
Pull-Maßnahmen hingegen schaffen Anreize, die Verkehrsmittel des Umweltverbundes zu nutzen – beispielsweise ein qualitativer und quantitativer Ausbau
des ÖPNV oder die Errichtung von Mobilstationen. So wird eine umweltverträgliche Multi- und Intermodalität gefördert.
Die verkehrliche Erschließung erfolgt schwerpunktmäßig durch die Verkehrsmittel des Umweltverbundes. Alle Straßen im Quartier sind verkehrsberuhigt, d. h. entweder als Tempo-30-Straße oder Spielstraße ausgewiesen.
Der Kfz-Verkehr wird entschleunigt und der Aufenthalt im öffentlichen Raum
attraktiver. Hinzu kommt, dass das dichteste Wegenetz die Wege für den Fußund Radverkehr umfasst, die nicht-motorisierten Verkehrsmittel also priorisiert
werden. Weiterhin gibt es innerhalb der Lincoln-Siedlung zwei Straßenbahnhaltestellen, durch die eine gute Anbindung etwa an die Darmstädter Innenstadt
und den Hauptbahnhof gewährleistet ist. Im städtebaulichen Vertrag wurde darüber hinaus festgelegt, dass pro Wohneinheit mindestens 2,4 qualitativ hochwertige und gut erreichbare Fahrradabstellplätze eingerichtet werden müssen.
Ein eigens entwickelter Leitfaden präzisiert diese Qualitätsanforderungen, die
auch im städtebaulichen Vertrag festgelegt sind. Auch hieran wird der Fokus auf
den Radverkehr deutlich: Laut Darmstädter Stellplatzsatzung sind bei Wohngebäuden ansonsten keine (bei Ein- und Zweifamilienhäusern) bzw. bis zu zwei
(bei Mehrfamilienhäusern u. sonstigen Gebäuden mit Wohnnutzung) Fahrradabstellplätze nachzuweisen.
Um den Bewohnerinnen und Bewohner der Lincoln-Siedlung umfassende
Alternativen zum eigenen Auto zu bieten, schafft Darmstadt ein multimodales
Verkehrsmittelangebot:
ÖPNV-Angebot: zwei Straßenbahnhaltestellen mit drei Straßenbahn-
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linien; ergänzend soll zukünftig ein Quartiersbus (e-mobil und On-Demand-Service) eine Verbindung zu den umliegenden Quartieren
gewährleisten.
Carsharing-Angebot eines lokalen Betreibers
E-Car-Pooling-Fahrzeuge für die Bewohnerschaft: Die Mieterinnen und
Mieter können vier Stunden pro Woche gratis auf eines von drei Elektrofahrzeugen zurückgreifen. Geladen werden die E-Fahrzeuge mit Ökostrom, so
dass sie im Betrieb klimaneutral sind. Außerdem verfügen alle Fahrzeuge
über ein Navigationsgerät und sind mit Kindersitzen ausgestattet.
Bike-Sharing und ein Lastenradverleihsystem: In der Siedlung gibt es zwei
Stationen für Leihräder (derzeit Call-a-Bike). Außerdem steht eins von
fünf E-Lastenrädern, die derzeit in Darmstadt unterwegs sind, in der Lincoln-Siedlung. Dieses kann kostenlos entliehen werden.
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Umfassendes Mobilitätsmanagement
Im städtebaulichen Vertrag (siehe Webseite der Lincoln-Siedlung) ist auch ein
umfassendes Mobilitätsmanagement für die Lincoln-Siedlung festgelegt. Dies
umfasst einerseits die bereits oben beschriebenen Bausteine (Parkraummanagement, multimodales Verkehrsmittelangebot) einschließlich Koordination, Vertrieb und Abrechnung der verschiedenen Mobilitätsdienstleistungen. Ergänzt
wird es durch eine Mobilitätszentrale für die Bewohnerschaft, Bauherren und
Projektentwickler/innen. Neben einer individuellen Mobilitätsberatung können
hier bestehende Mobilitäts- und Dienstleistungsservices gebucht werden, und
es werden neue Dienstleistungen (z. B. Lieferdienste, Paketannahme etc.) entwickelt. Im städtebaulichen Vertrag ist verankert, dass die Bewohnerschaft darüber
hinaus mindestens einmal im Jahr auf einer Versammlung über die bestehenden (auch neuen) Mobilitätsangebote informiert wird.
Finanziert wird das Mobilitätsmanagement nach einer Anschubfinanzierung durch die Stadt mittel- bis langfristig unter anderem über einen Teil der
Stellplatzeinnahmen. Auch dies ist durch den städtebaulichen Vertrag geregelt.
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Literatur und andere Quellen
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Landeshauptstadt Erfurt (2012): Verkehrsentwicklungsplan Erfurt. Teil Innenstadt – mit Wirtschaftsverkehr. Online verfügbar unter: https://www.erfurt.de/ef/de/service/mediathek/veroeffentlichungen/2012/117661.html (Zugriff 28.08.2019)
Lindenau, Miriam; Böhler-Baedecker, Susanne (2016): Beteiligungsprozesse in der nachhaltigen
Stadtverkehrsplanung. Handbuch. Online verfügbar unter: http://www.sump-challenges.eu
(Zugriff 28.08.2019)
Rupprecht Consult (Hg.) (2019): Guidelines for Developing and Implementing a Sustainable Urban
Mobility Plan. Second Edition. Online verfügbar unter: https://www.eltis.org/sites/default/files/
guidelines_for_developing_and_implementing_a_sustainable_urban_mobility_plan_2nd_edition.pdf (Zugriff 4.11.2019)
Webseite Ch4llenge. Online verfügbar unter: http://www.sump-challenges.eu/kits (Zugriff 22.07.201)
Webseite Lincoln-Siedlung: Lincoln-Siedlung. Mobilität. Online verfügbar unter: https://www.lincolnsiedlung.de/mobilitaet (Zugriff 22.07.2019)
Wissenschaftsstadt Darmstadt (2015): Durchführungsvertrag zur Umsetzung des Städtebaulichen
Vertrages zur Konversion der Lincoln-Siedlung vom 15.12.2015. Online verfügbar unter: https://
darmstadt.more-rubin1.de/beschluesse_details.php?vid=291901100016&nid=ni_2017-Stavo-118&suchbegriffe=lincoln&select_gremium=Stavo&select_art=si&status=1&x=7&y=5
(Zugriff 22.07.2019)
Wissenschaftsstadt Darmstadt (2018): Stellplatzvergabeordnung. Online verfügbar unter: https://
www.darmstadt.de/fileadmin/Bilder-Rubriken/Leben_in_Darmstadt/mobilitaet_und_verkehr/
verkehrsprojekte/Mobilitaet_Lincoln/Stellplatzvergabeordnung.pdf (Zugriff 22.07.2019)
Wissenschaftsstadt Darmstadt (2019): Satzung über die Einschränkung der und den Verzicht auf die
Herstellung von Stellplätzen oder Garagen in der Lincoln-Siedlung. Einschränkungs- und Verzichtssatzung Lincoln-Siedlung. Online verfügbar unter: https://darmstadt.more-rubin1.de/
beschluesse_details.php?vid=272507100304&nid=ni_2016-Stavo-113&suchbegriffe=lincoln&select_gremium=Stavo&select_art=si&status=1&x=6&y=4 (Zugriff 22.07.2019)
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9 Überzeugen und motivieren – Mobilitätsmanagement
und Kommunikation
Wie Menschen mobil sind und welche Verkehrsmittel sie nutzen, hängt nicht allein
von den infrastrukturellen, strukturellen und ökonomischen Voraussetzungen ab,
sondern wird auch von personenabhängigen Faktoren (objektive Sachzwänge und
subjektive Einstellungen und Werte) bestimmt. Informations-, Kommunikations- und
Imagemaßnahmen setzen genau hier an und zielen darauf ab, mit der vorhandenen
Infrastruktur ein möglichst großes Potenzial an Nutzerinnen und Nutzern für den
Umweltverbund zu gewinnen. Dabei sollen Mobilitätsalternativen und Nutzungsweisen bekannt gemacht und zu einer umweltfreundlichen und gesundheitsfördernden
Verkehrsmittelwahl motiviert werden.
Information und Kommunikation ebenso wie Mobilitätsmanagement sind zentrale Bausteine einer kommunalen Verkehrswende, denn der Ausbau der Infrastruktur
des Umweltverbundes allein reicht nicht aus, wenn die Nutzer/innen sich aufgrund
eingefahrener Mobilitätsroutinen Alternativen zum eigenen Auto nicht vorstellen
können oder solche nicht kennen. Oft gibt es auch Unwissenheit und Unsicherheit bei
der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und neuen Mobilitätsdienstleistungen.
Diese Bausteine sind verhältnismäßig kostengünstig in der Umsetzung und können, werden sie zielgerichtet eingesetzt, einen großen Effekt erzielen. Sie wirken aber
insbesondere kombiniert mit weiteren infrastrukturellen und verkehrsplanerischen
Maßnahmen.
Im Folgenden werden zwei Beispiele dargestellt, die zeigen, dass sowohl kommunales Mobilitätsmanagement als auch eine direkte Kommunikation mit den
(potenziellen) Nutzerinnen und Nutzern dazu beitragen, dass diese über ihr eigenes
Verkehrsverhalten nachdenken und Alternativen zum eigenen Auto ausprobieren.
Im Rahmen des kommunalen Mobilitätsmanagements übernimmt die Stadtverwaltung als Arbeitgeberin Verantwortung für den von ihr verursachten Verkehr. In Kooperation mit Mobilitätsanbietern und den entsprechenden städtischen Fachplanungen
entwickelt sie Maßnahmen, um diesen effizienter, umwelt- und sozialverträglicher
zu gestalten. Dabei können beim kommunalen Mobilitätsmanagement verschiedene
Bereiche im Fokus stehen und idealerweise integriert betrachtet werden:
Beschäftigtenmobilität: Wie kann der Weg zur und von der Arbeit möglichst
umweltfreundlich zurückgelegt werden?
Dienstgänge und Dienstreisen: Wie lassen sich klimaschädliche Emissionen auf
dienstlichen Wegen reduzieren?
Fuhrpark: Welche Optimierungen sind beim eigenen Fuhrpark möglich?
Besuchermobilität: Wie kann der Weg der Besucherinnen und Besucher zu städtischen Institutionen so gestaltet werden, dass sie gut mit dem Umweltverbund
anreisen können?
108
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Kommunales Mobilitätsmanagement
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IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Beispiel: Stadtverwaltung Aachen: Drei wichtige Erfolgsfaktoren für das
kommunale Mobilitätsmanagement
Die kommunale Politik und Verwaltungsspitze als Vorbild: Häufig genießen
Fragen zur dienstlich bedingten Mobilität auf der städtischen Agenda keine
hohe Priorität. Wichtig ist jedoch, die leitende Ebene innerhalb der Stadtverwaltung von den Vorteilen des Mobilitätsmanagements zu überzeugen. Nur
so stellt sie für die Entwicklung und Umsetzung im Betrieb ausreichende
zeitliche und finanzielle Mittel zur Verfügung. In Aachen war und ist Mobilitätsmanagement Chefsache. Der Bürgermeister und die Verwaltungsspitzen
waren von Beginn an eng in die Konzeptentwicklung eingebunden. In einer
«Werkstatt der Führungskräfte» diskutierte man u. a. gemeinsam, welche
Ziele im Rahmen des Mobilitätsmanagements verfolgt werden, wie die einzelnen Organisationseinheiten dazu beitragen können, sie zu erreichen, und
welche konkreten Maßnahmen nötig sind. Außerdem wurde eine Referentenstelle zum Thema «emissionsfreie Mobilität» eingerichtet. Sie übernimmt
auch Aufgaben aus dem Bereich Mobilitätsmanagement (Stadt Aachen o. J.:
18).
Analyse der Mitarbeiter/innenmobilität: Um wirkungsvolle Maßnahmen zu
entwickeln und umzusetzen, müssen die Kernprobleme identifiziert werden.
Es muss geprüft werden, welche Lösungsmöglichkeiten überhaupt geeignet
sind. Purer Aktionismus wie beispielsweise das Schaffen von Radabstellanlagen ist nicht sinnvoll, wenn die Beschäftigten zu weit vom Arbeitsplatz
entfernt wohnen. Ein Jobticket einzuführen wird auf geringe Resonanz stoßen, wenn der Verwaltungsstandort oder der Wohnort der Beschäftigten mit
öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht angebunden ist. Eine professionelle
Wohnstandort- und Erreichbarkeitsanalyse kann aufzeigen, welche Potenziale die verschiedenen Verkehrsmittel haben, um Mitarbeiter/innen optimal zu Arbeitsplatz und Wohnort zu befördern. Dabei wird jeweils bewertet,
wie schnell, teuer, gesund und umweltverträglich sie sind. Ebenso existieren gut bewährte Analyseinstrumente für die Bereiche Geschäftsreisen und
Fuhrpark. Auch die Stadt Aachen hat ihr Mobilitätsmanagementkonzept
auf Basis umfangreicher Analysen in Kooperation mit Externen (z. B. der
IHK Aachen sowie Mobilitätsberatern) entwickelt. Um die Bedürfnisse und
Wünsche der Beschäftigten aufzunehmen, befragte man in den Jahren 2009
und 2018 Mitarbeiter/innen jeweils zum Pendler- und Dienstreiseverhalten.
Die Erkenntnisse aus den Befragungen helfen einerseits dabei, Maßnahmen und Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Andererseits sind sie ein
gutes Instrument, will man erfahren, inwieweit sich das Mobilitätsverhalten
der Beschäftigten verändert hat. In der Fortschreibung des Mobilitätsmanagement-Konzepts der StädteRegion Aachen von 2018 ist festgelegt, dass
die Mitarbeiter/innen alle fünf Jahre zur dienstlichen Mobilität und zum
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Pendlerverhalten befragt werden sollen. Die bereits umgesetzten Maßnahmen können so evaluiert werden, und man erhält gleichzeitig Impulse, in
welchen Bereichen weiterer Verbesserungsbedarf besteht.
Mobilitätsmanagement als kontinuierlicher Prozess: Die Entwicklung eines
Mobilitätsmanagement-Konzepts sollte keine einmalige Handlung sein.
Wenn es bereits bestehende Managementsysteme im Betrieb gibt (z. B. Qualitäts-, Energie-, Nachhaltigkeits- oder Gesundheitsmanagement), kann das
Mobilitätsmanagement dort integriert werden, um mögliche Synergien zu
nutzen. In Aachen gibt es seit 2018 einen ausgebildeten Mobilitätsmanager, der zum einen für den Bereich Information und Marketing im Bereich
dienstliche Mobilität zuständig ist. D. h. er informiert und berät die Beschäftigten der Stadtverwaltung kontinuierlich, wie Dienstreiseplanung und
-organisation verbessert und wie möglichst die Verkehrsmittel des Umweltverbundes genutzt werden können. Zum anderen zählt die dezernatsübergreifende Vernetzung der Akteure bei mobilitätsrelevanten Fragestellungen
zu seinen Aufgaben. Kontinuität bedeutet jedoch auch, als erstes Basismaßnahmen umzusetzen (z. B. diebstahlsichere, überdachte und barrierefreie
Abstellmöglichkeiten für Fahrräder). Andere Maßnahmen brauchen einen
längeren Planungsprozess (z. B. bessere Anbindung des Standorts mit
öffentlichen Verkehrsmitteln).
Dies ist ein konkretes Beispiel für Maßnahmen, die die Stadt Aachen im Rahmen eines kommunalen Mobilitätsmanagements ergriffen hat. Während nach
dem Landesreisekostengesetz NRW Dienstreisen und -gänge vorrangig mit
öffentlichen Verkehrsmitteln durchgeführt werden sollen, kann bei «Vorliegen
eines triftigen Grundes» davon abgewichen werden. In der Praxis bedeutet dies,
dass insbesondere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung häufig auf den privaten Pkw zurückgreifen, wenn sie dienstlich unterwegs sind. Die
Kommunen müssen so keinen eigenen Fuhrpark vorhalten, und den Beschäftigten werden die Kosten erstattet. Das ist insbesondere bei älteren Fahrzeugen
lukrativ.
Diese gängige Praxis hat jedoch hinsichtlich der Umweltwirkungen Nachteile: Im Vergleich zur Nutzung des Umweltverbundes fallen höhere Emissionen an. Außerdem sind diese Privatfahrzeuge häufig größere Fahrzeuge mit
einem höheren Kraftstoffverbrauch, als er für den eigentlichen Weg notwendig
wäre. Darüber hinaus sind die Beschäftigten «gezwungen», auch den Weg zur
Arbeit mit dem Privat-Pkw zurückzulegen, muss der Privatwagen im Laufe des
110
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: Stadtverwaltung Aachen: Verzicht auf die Nutzung von
Privatfahrzeugen für dienstliche Zwecke
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Arbeitstages dienstlich genutzt werden. Die Stadt Aachen hat beschlossen, den
Einsatz von Privatwagen möglichst auf null zu reduzieren. So wurde im August
2018 die Dienstanweisung für den Außendienst aktualisiert. Sie besagt nun, dass
«vorrangig der ÖPNV für Dienstgänge und Dienstreisen genutzt werden soll»
(StädteRegion Aachen 2018: 10). Sollte das nicht möglich sein, so kann man ein
Dienstfahrzeugs bzw. Car- und Bikesharing-Angebot nutzen. Nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Vorgesetzten kann man nun noch den Privatwagen
einsetzen. Um das noch unattraktiver zu machen, gilt mittlerweile, dass Fahrtkosten mit dem Privatauto nicht mehr erstattet werden (Webseite Aachener
Nachrichten 2017).
Gleichzeitig wurden Maßnahmen ergriffen, die die Alternativen zum Auto
attraktiver machen – nicht nur für dienstliche, sondern auch für private Zwecke.
Wie in vielen anderen Stadtverwaltungen gibt es auch in Aachen ein Jobticket
für die Beschäftigten, so dass diese je nach Verkehrsunternehmen bzw. Verkehrsverbund eine kostengünstigere Zeitfahrkarte erwerben können. Beschäftigte dürfen das dienstliche JobTicket in Aachen nur dann privat nutzen, wenn
sie sich mit einem monatlichen Eigenanteil an den Kosten beteiligen. Dieses
Jobticket ist mittlerweile jedoch eine umfassende Mobilitätskarte geworden, mit
der auch Pedelecs von Velocity sowie Carsharing-Fahrzeuge – dienstlich und
privat – genutzt werden können.
Eine Evaluation der ergriffenen Maßnahmen steht noch aus. Es ist aber
schon erkennbar, dass zwei Faktoren eine hohe Akzeptanz bei den Beschäftigten
fördern: wenn der Personalrat, der das neue Mobilitätskonzept der Stadtverwaltung unterstützt, frühzeitig und transparent eingebunden wird, und wenn die
Stadtverwaltung verpflichtend durchsetzt, dass ausschließlich der Umweltverbund bzw. ein E-Pool-Fahrzeug für Dienstfahrten genutzt werden müssen. In
Einzelfällen sollte sie aber nachsichtig sein.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Aktive und zielgruppenspezifische Mobilitätsberatung
Insbesondere in ländlichen Räumen ist ein umfassendes Marketing für öffentliche Verkehrsmittel nötig: Hier werden motorisierte Fahrzeuge sehr oft genutzt. Die
äußeren Rahmenbedingungen (Parkplatznot, Stau), die im städtischen Raum vorherrschen und zumindest teilweise den Impuls geben, öffentliche Verkehrsmittel
zu nutzen, existieren auf dem Land nicht. Gleichzeitig müssen manche öffentlichen
Mobilitätsangebote erklärt werden (z. B. flexible Bedienformen), damit die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer die Bedingungen und Funktionsweisen kennen.
Gute Erfahrungen hat man mit dem dialogorientierten Marketing (z. B. individualisiertes Marketing – IndiMark von Socialdata) gemacht, das im Wesentlichen aus drei
Phasen besteht:
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Motivationsphase: Zunächst werden alle Haushalte in einem abgegrenzten
Gebiet angesprochen. Sie sollen motiviert werden, ihre Verkehrsmittelwahl zu
überdenken.
Informationsphase: Ist erkennbar, dass und inwieweit die Menschen ihr Verkehrsverhalten ändern möchten, werden verschiedene Gruppen gebildet. Für
jede Gruppe gibt es spezifische Informationen. Damit unterscheidet sich das Dialogmarketing deutlich von einer breit angelegten Werbeaktion, die wahllos Werbematerial versendet. Im Idealfall wird es in dieser Phase auch eine individuelle
Mobilitätsberatung geben.
Phase der Systemerfahrung: Neben den bloßen Informationen ist es wichtig,
dass die potenziellen Neukund/innen auch Praxiserfahrungen sammeln. Jetzt
werden beispielsweise für einen begrenzten Zeitraum kostenlose ÖPNV-Tickets
ausgegeben.
Änderungen im Mobilitätsverhalten sind nicht allein durch Informationen zu
erreichen. Genauso wichtig ist eine zielgruppenspezifische Ansprache (Adler/
Sedlak, 2018: 10 f.) Eine andere Art von Mobilität muss positiv erlebt werden. Aus
diesem Grund sollte zu Beginn genau analysiert werden, welche Zielgruppe mit
welchen Angeboten angesprochen werden kann.
Beispiel: Neubürgerpaket in der Stadt Aachen
Beispiel: Dialogmarketing im Kreis Euskirchen
Der Kreis Euskirchen war eine von acht Regionen in Europa, die im Rahmen des
EU-Projekts «Smart Move» eine Kommunikationskampagne zur Förderung des
ÖV umgesetzt haben. Sie basiert methodisch auf dem Dialogmarketing.
Der Kreis Euskirchen (187.000 Einwohner/innen) besteht aus elf Kommunen, deren Einwohner/innenzahl jeweils zwischen 4.000 und 56.000 liegt.
112
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Aus der Mobilitätsforschung ist bekannt, dass das eigene Mobilitätsverhalten in
der Regel kaum und wenn erst bei Umbrüchen im Leben (z. B. Wohnortswechsel) hinterfragt wird. Genau hier setzt das Paket von Informationen an, welches
die Stadt Aachen ihren Neubürgerinnen und Neubürgern bei deren Anmeldung
zum Willkommensgeschenk macht. Es ist Teil des Luftreinhalteplans, wurde aufgrund eines Beschlusses des Mobilitätsausschusses der Stadt zusammengestellt
und umfasst Orientierungen (wie die Broschüre «Aachen clever mobil. Unterwegs mit Rad, Pkw, Bus, Bahn oder zu Fuß», einen Liniennetzplan von Aachen,
einen Taktfahrplan des regionalen Bahnverkehrs, Tarifinformationen des Verkehrsverbundes) und Mobilitätsgutscheine (wie eine Monatsfreifahrkarte für
den ÖPNV und Carsharing-Vergünstigungen).
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
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Im Rahmen des Dialogmarketings sollten mindestens 500 Teilnehmerinnen und
Teilnehmer beraten werden. Zunächst versandte man ca. 5 300 Informationsschreiben. Allerdings war der Rücklauf auf diese Ansprache niedriger als erwartet,
so dass telefonisch nachgefasst werden musste, um die insgesamt geplante Interessentenzahl von 500 Personen zu erreichen. Die persönliche Ansprache war
erfolgreich. Insgesamt 275 Personen erhielten eine telefonische Beratung und
weitere 252 Personen darüber hinaus ein maßgeschneidertes Informationspaket.
Neben den individuellen Beratungen fand außerdem ein Bustraining für
(ältere) Menschen statt, bei dem z. B. Sicherheitsaspekte (sicherer Stand im
Fahrzeug, Rollator-Nutzung) vermittelt wurden. Das verband man mit einem
touristischen Ausflug. Förderlich bei der Ansprache war hier der Kontakt zu
lokalen Seniorennetzwerken.
Ein weiterer Baustein der aktiven Mobilitätsberatung ist der Mobilitätscheck.
Da die Menschen vor Ort selbst am besten wissen, wie ihre Alltagswege beschaffen sind und wo Probleme bestehen, insbesondere Schwachstellen auf dem Weg
zur Haltestelle, wurde ein Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern sowie der
Stadtverwaltung (Planungs-, Tiefbau- und Ordnungsamt) angeregt. Einerseits
konnten auf diesem Weg punktuelle Probleme im Fußwegenetz behoben werden. Andererseits haben die Bürgerinnen und Bürger erfahren, dass ihre Anregungen ernst genommen werden, denn die Probleme wurden schnell behoben.
Darüber hinaus war der lokale ÖPNV-Betreiber auf zahlreichen regionalen
Veranstaltungen mit einem Infostand präsent. So konnten die Menschen vor Ort
eine persönliche Mobilitätsberatung erhalten.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass – auch beim Dialogmarketing – die
erste Ansprache potenzieller Nutzerinnen und Nutzer am schwierigsten ist. Hier
ist es wichtig, intensiven persönlichen Kontakt herzustellen. Ist dieser aber erst
einmal geknüpft und das Interesse bei den bisherigen Nichtnutzerinnen und
Nichtnutzern geweckt, bietet die aktive Mobilitätsberatung hohe Chancen, Neukund/innen zu gewinnen. In einem Pilotprojekt in Österreich ergab die anschließende Evaluation, dass durch direktes Marketing die Fahrgastzahlen um 10 bis
15 Prozent gesteigert werden konnten (SmartMove Konsortium: o. J.). Und auch
im Kreis Euskirchen lassen sich positive Entwicklungen festhalten: Neben einem
höheren Bekanntheitsgrad der verschiedenen ÖPNV-Angebote im Kreis gab
etwa ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, den ÖPNV häufiger
zu nutzen als bisher. Auch in Bezug auf die Nutzerzahlen brachte die SmartMove-Kampagne positive Ergebnisse. Während in Kommunen des Kreises, die sich
nicht an der SmartMove-Kampagne beteiligt haben, die Nutzung der taxiBusse
um rund zwei Prozent abgenommen hat, kann man in den teilnehmenden Kommunen eine Steigerung um rund 15 Prozent verzeichnen (Webseite SmartMove).
Nähere Informationen zu diesem Projekt im Allgemeinen und zur aktiven
Mobilitätsberatung (z. B. Ablauf und Inhalte der Kampagne) im Kreis Euskirchen im
Besonderen sind auf der Projektwebseite http://smartmove-project.eu zu finden.
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Literatur und andere Quellen
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Adler, Michael; Sedlak, Robert (2018): Bitte wenden! Mit Kommunikation zu einer Verkehrswendekultur in unseren Städten – eine Anleitung in neun Schritten. Online verfügbar unter: https://
www.boell.de/sites/default/files/boell.brief_go7_bitte_wenden.pdf?dimension1=division_kpse
(Zugriff 05.09.2019)
SmartMove Konsortium (o.J.): Umsteigen! Aktive Mobilitätsberatung zur Intensivierung der Nutzung
von Bus und Bahn in ländlichen Regionen. Online verfügbar unter: https://www.nasa.de/fileadmin/content/04_projekte/01_forschungsprojekte/03_smartmove/pdf/Smartmove_Brochuere_
DE.pdf (Zugriff 24.07.2019)
Stadt Aachen (o.J.): Masterplan Green City. Die Maßnahmen des «Sofortprogramms Saubere Luft
2017-2020» für Aachen. Online verfügbar unter: http://www.aachen.de/DE/stadt_buerger/verkehr_strasse/verkehrskonzepte/Green-City-Plan/GreenCityPlan-klein.pdf (Zugriff 05.09.2019)
StädteRegion Aachen (2018): Betriebliches Mobilitätsmanagement-Konzept der StädteRegion
Aachen. Online verfügbar unter: https://www.staedteregion-aachen.de/fileadmin/user_
upload/Betriebliches_Mobilitaetsmanagement-Konzept_der_StaedteRegion_Aachen.pdf
(Zugriff 05.09.2019)
Webseite Aachener Nachrichten (2017): In der Verwaltung haben Privatautos ausgedient. Online
verfügbar unter: https://www.aachener-nachrichten.de/lokales/aachen/in-der-verwaltung-haben-privatautos-ausgedient_aid-30794531 (Zugriff 05.09.2019)
Webseite Smart Move: www.smartmove-project.eu (Zugriff 24.07.2019)
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10 Mobilität für alle! – Wie die Verkehrswende allen eine
umweltschonende Mobilität ermöglicht
Die kommunale Verkehrswende zielt darauf ab, allen Menschen eine zukunftsfähige
Mobilität zu ermöglichen wenn sie wichtige Orte erreichen möchten beispielsweise
zur Erwerbsarbeit, Versorgungsarbeit für andere, zum Einkaufen, für Besorgungen
oder persönliche Freizeit – und zwar mit den Verkehrsmitteln des Umweltverbundes (also zu Fuß, mit dem Rad, mit Bussen und Bahnen sowie Taxi und Carsharing)
anstatt mit dem motorisierten Individualverkehr. Die Personenmobilität soll umweltschonend und gender-responsiv gestaltet werden,12 die gesellschaftliche Teilhabe
aller ermöglichen und gleichstellungswirksam13 sein.
Die Problemlage
Die Lebenslagen der Menschen sind unterschiedlich und ungleich. Daraus resultieren oft soziale Ungerechtigkeiten. Auch die Mobilitätschancen sind sozial, genderbedingt und räumlich ungleich verteilt. Die Mobilitätsbedürfnisse von Frauen, von
Versorgenden, von Kindern, Jugendlichen und alten Menschen, von Einkommensschwachen sowie von Menschen mit Behinderungen werden häufig nicht angemessen berücksichtigt.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
12
13
Gender meint die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und damit jenes Gliederungsprinzip, das eine Gesellschaft so strukturiert, dass dominante Vorstellungen von «Maskulinität» und «Femininität» zustande kommen und diese asymmetrisch bewertet werden. Männer,
Frauen und andere Geschlechter werden so in den mit gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen angelegten Hierarchien positioniert und mit diesen konfrontiert. Entsprechend sind
nicht «Unterschiede qua sexus» das Problem, sondern die «Unterschiede der Bedingungen
für Menschen und der Definitions- und Gestaltungsmacht qua Gender». Gender erfordert die
Betrachtung «beider Seiten» (die Positionierungen in Relation): von sowohl des Marginalisierten als auch des Marginalisierenden («Verursacherprinzip», «Push- und Pull-Strategie»). So ist
stets eine kritische Auseinandersetzung mit «institutionalisiertem Androzentrismus» erforderlich: mit den schwer zu erkennenden impliziten Genderhierarchisierungen, die in Fachbegriffen, fachlichen Annahmen, Kategorien, Methoden, «Rationalitäten» eingeschrieben sind. Ohne
deren aktive Genderreflexion («Genderresponsivität») reproduziert man unbewusst («gender-blind») «Normen [...], die den ‹weißen› heterosexuellen ‹Mittelklasse-Mann› als ‹neutralen
und objektiven› Standard setzen» (Leitner 2010). Damit erneuert man die Unterordnung und
Externalisierung dessen, was dem gesellschaftlich «Weiblichen» zugeschrieben wird, als Abweichung (z. B. «besondere» Belange), als «Zusätzliches» (z. B. «auch für Frauen»), als außerhalb
des «Eigentlichen» (des Sachzusammenhangs, des Politikgegenstands o. Ä.) bzw. «für das
Ganze» (die Politik für den demokratischen Souverän, das Handlungsfeld o. Ä.) unmaßgeblich.
Planen für alle bedeutet somit, fachliche Unobjektivitäten aufgrund von Maskulinitätsorientierungen, die den Anspruch auf «wissenschaftliche Objektivität» und «allgemeine Nützlichkeit»
erheben wollen, nicht zu befördern.
Die Gebote des Gender-Mainstreamings verlangen von allen Fachpolitiken und Handlungsfeldern (somit auch von Verkehrs-, Stadtplanung etc.) aktive fachliche positive Beiträge zu Gleichstellung der Geschlechter. Sie wurden in Deutschland verankert im Jahr 2000 als «durchgängiges
Leitprinzip» in § 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung (GGO) der Bundesministerien (danach
auch in den Bundesländern, auch geltend für die Kommunen) und als rechtliche Grundlage in
§ 4(1) Bundesgleichstellungsgesetz von 2015 (BgleiG).
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Bei der integrierten Stadt- und Verkehrsplanung für die kommunale Verkehrswende kommt es darauf an, diese bislang oft strukturell ausgeblendeten Bedarfe
benachteiligter Bevölkerungsgruppen analytisch und konzeptionell differenziert
zu adressieren und die Verkehrsplanung daran auszurichten. Nur dann kann eine
«Mobilität für alle» unabhängig von ihren individuellen Eigenschaften, Einschränkungen oder Möglichkeiten als Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gerecht gestaltet
werden.
Dieser Grundsatz wird im Folgenden an vier unterschiedlichen Zugängen
verdeutlicht.
Verkehrsplanung ohne gender-bedingte strukturelle Ausblendungen
14
116
Mit «Gender Care Gap» (auch «Geschlechter-Sorge-Lücke») bezeichnet der 2. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung die Ungleichheit der Chancen von Männer und Frauen, auf
Versorgungsarbeit durch einen Partner bzw. eine Partnerin zurückgreifen bzw. diese selber
übernehmen zu können, als Problem gleicher Verwirklichungschancen. Eine Politik, die «den
Wünschen vieler Menschen entspricht, selbst im Lebensverlauf Sorgearbeit zu leisten und dennoch dauerhaft einer existenzsichernden Beschäftigung nachzugehen», stehe noch aus. «Politik sollte Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass eine partnerschaftliche Verteilung dieser
Arbeit für Frauen und Männer gleichermaßen attraktiv ist.» Vgl. Deutscher Bundestag (2017).
Noch einfacher ausgedrückt: «Eine erfolgreiche Gleichstellungs-Politik muss dafür sorgen, dass
sich Frauen und Männer Erwerbs-Arbeit und Sorge-Arbeit in Zukunft gerechter teilen können.»
BMFSFJ (2019).
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
In Deutschland leben 49 Prozent Männer und 51 Prozent Frauen. Wegen der immer
noch vorherrschenden gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen, insbesondere der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Erwerbs- und in Versorgungsarbeit, unterscheiden sich oft die Mobilitätsbedarfe von Männern und Frauen grundlegend.
Gesellschaftlich dominiert ein (modifiziertes) «Ernährer»-Modell. Wenn sie
Mütter werden «verdienen» Frauen eher in Teilzeit «mit», während Männer «vollzeitversorgungsarbeitsuntätig» und -erwerbstätig sind. Daran ausgerichtet sind die
gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere das Steuer-, Renten-, und Erwerbssystem sowie das Gesundheits- und Kinderbetreuungssystem. Diese Systeme stützen
Gendermodelle, die sich am biologischen Geschlecht orientieren. So generieren sie
einen «Gender Care Gap».14 Jedoch: In Vollzeit Erwerbstätige (meist Frauen ohne Kinder und Männer) und Teilzeitbeschäftigte haben unterschiedliche Mobilitätsbedarfe.
Noch anders sind die Bedarfe als «Care-Worker» des Haushalts, wenn zum Kümmern
um die eigene Versorgung noch das Kümmern um andere Personen dazukommt: um
den/die Partner/in, kleine Kinder, ältere Menschen u. a.
Das Problem: Der vorherrschende Androzentrismus der Planung bewirkt die Ausblendung der damit verbundenen Mobilitätsbedarfe (siehe oben und folgende Abb.),
von Frauen wie Männern. Diese Art von Verkehrsplanung orientiert sich am alltäglichen Mobilitätsmuster eines mittelalten, in Vollzeit erwerbstätigen, dabei jedoch
anders als Frauen weitgehend versorgungsuntätigen Mannes, das nur darin besteht,
werktags morgens von der Wohnung zur Erwerbsarbeit zu kommen und nachmittags
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Abb.: Was ist Mobilität?
Differenz des Verständnisses vor dem Hintergrund verschiedener Arbeitsalltage mit weitreichenden
Konsequenzen
Mobilität des Nur-Erwerbsarbeits-Alltags
Mobilität des Gesamt-Arbeits-Alltags
Erwerbsarbeit
Erwerbsarbeit
Schule
Einkauf
KiTa
Wohnung
Wohnung
SchulfreundIn
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Quelle: Spitzner, Meike; Beik, Ute (1996)
zurück. Hinzu kommen vielleicht noch berufliche Dienstwege sowie persönliche Freizeitwege von und zur Wohnung nach Feierabend.
Rund 91 Prozent aller Väter im Alter von 18 bis 64 Jahren waren im Jahr 2017
erwerbstätig, davon 94 Prozent in Vollzeit. Dagegen gingen nur 71 Prozent der Mütter
einer Erwerbstätigkeit nach, davon nur 34 Prozent in Vollzeit. Statistisch nicht ausgewiesen bleibt, welche Teil- oder Vollzeitversorgungsarbeit sie je zudem zu leisten
hatten.15
Wenn Frauen sich innerhalb dieser Rollenmodelle neben ihrer Erwerbsarbeit
zusätzlich um den Haushalt, das Einkaufen und die Versorgung, ggfs. auch Dritter,
mit den dafür erforderlichen Begleitwegen kümmern, sind ihre Mobilitätsbedürfnisse
sehr viel komplexer: Sie müssen in meist knappen Zeitfenstern vieles erledigen und
oft in raumzeitlich anspruchsvollen Wegeketten alle die von ihnen zu erledigenden
Aufgaben «unter einen Hut bringen» (vgl. obige Abb.).
15
«Als Väter und Mütter werden im Mikrozensus Personen gezählt, die mit ihren Kindern im selben Haushalt wohnen. Die hier betrachtete realisierte Erwerbstätigkeit berücksichtigt nur Väter,
die ihrer Erwerbstätigkeit tatsächlich nachgehen und nicht in Elternzeit sind. 0,5% aller Väter
zwischen 18 und 64 Jahren befanden sich 2017 in Elternzeit.» (Destatis 2019).
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Eine kommunale Verkehrswende sollte allen Menschen eine Mobilität ohne
eigenes Auto ermöglichen. Besonders in Haushalten mit kleinen Kindern herrscht
häufig die Einstellung vor: «Das funktioniert doch nur mit einem Auto». Wer dem
entgegensteuern will, tut gut daran, solche Analysen der Unterschiedlichkeit von
Bedingungen und den daraus resultierenden Mobilitätsbedürfnissen, gerade der
Reproduktionsarbeitsmobilität (Spitzner/Beik 1995, 1999), zu reflektieren. Mit einer
gender-responsiven Verkehrsplanung sollten die kommunalen Mobilitätslösungen
durch entsprechende Qualitäten und Angebote im Umweltverbund darauf ausgerichtet werden (Striefler 1998).
Das Beispiel aus Darmstadt aus dem Jahr 2001 (160.000 Einwohner/innen) kann
auch heute noch als gutes Beispiel für eine gender-responsive kommunale Verkehrs
planung gelten. Es zeigt vorbildhaft, wie systematisch in Konzept, Verfahren, Ermittlung der maßgeblichen Daten, Methoden und Beteiligung Verkehrsplanung gezielt
im Sinne einer «Verkehrsplanung für alle» verbessert werden kann.16 Da die Sanktionierungsqualität hinsichtlich der Umsetzung des Gender-Mainstreamings in der
Verkehrsplanung Mitte der 2000er Jahre stark zurückgegangen ist, sind seither kaum
noch (und nie mehr so systematisch) gender-responsive kommunale Verkehrsplanungen entwickelt worden. Letztlich umgesetzt wurde davon in Darmstadt nichts.
Gleichwohl gilt: Umgesetzt werden müsste es überall.
Bei der kommunalen (ÖPNV-)Verkehrsplanung in Darmstadt (2001) berücksichtigte man als zentralen Indikator für die Chancengerechtigkeit aller Bevölkerungsgruppen die Mobilitätsbedarfe unterschiedlichster Lebenssituationen von
Frauen. Als Ausgangspunkt für Verkehrs-/ÖPNV-Planung wurden die Mobilitätsbedarfe für Erwerbs- und für Versorgungsarbeit differenziert ermittelt.
Grundlage dafür waren Mobilitätstagebuchprotokolle mit nicht androzentrischen Wegezweck-Kategorien, aller Wege und nicht hierarchisiert durch die
nach Lebenslagen und Ortsteiltypus (innenstadtnah und Randlage) ausgewählten Frauen. Außerdem ermittelte man die Faktoren, die Verkehrsaufwand
zu ihren Lasten generieren: insbesondere das Wohnumfeld (die städtebauliche
Integration der Siedlung, die Umgebungsqualität hinsichtlich Bedrohungsfreiheit vor struktureller maskuliner Gewalt im öffentlichen Raum, die Sozialstruktur zum Feststellen ihrer Ausweichoptionalitäten etc.).
Eine qualitative Bewertung des ÖPNV-Angebots hinsichtlich seiner
Gebrauchsfähigkeit und der baulich-räumlichen Situationen ergänzte die quantitativen Analysen.
16
118
Als systematische konkrete Anleitung zum Verfahren, bis heute hochaktuell: Netzwerk «Frauen
in Bewegung»; Bündnis 90/ Die Grünen, Bundesvorstand und BAG Verkehr (Hg.) (1997).
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: Eine nicht androzentrische kommunale (ÖPNV-)Verkehrsplanung
in Darmstadt
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Parallel zu den Erhebungen wurden problemorientierte Gruppendiskussionen, Expertinnengespräche und öffentliche Stadtteil-Frauenversammlungen
als adäquate Beteiligungsformate eingesetzt. Die Verbindlichkeit gegenüber den
Befragten wahrte man durch die Erstellung eines Anforderungskatalogs, konkrete Empfehlungen und die Entwicklung modellhafter Konzepte.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Eine Verkehrsplanung, die sich am Gemeinwohl orientiert und eine «Mobilität für
alle» ermöglichen will, setzt voraus, dass die nicht gender-responsive Orientierung
vieler Mobilitätsbedingungen, Maßnahmen und Verkehrspolitiken systematisch
erfasst und abgebaut wird. Dies ermöglicht eine systematische Gendergleichstellungs-Verträglichkeitsprüfung (Gender Impact Assessment – GIA) (Spitzner/Turner/
Hamilton 2006). Sie kann dazu beitragen, die Gendereinseitigkeiten der strukturell
androzentrischen Orientierung «allgemeiner» Politiken zu beheben. Die sieben
Dimensionen der Gendergleichstellungs-Verträglichkeitsprüfung (siehe folgende
Abb.) sind für die Praxis operationalisierbar anhand ihrer jeweiligen Unterdimensionen. Das haben prototypische Anwendungen in verschiedenen Handlungsfeldern
netzgebundener Infrastruktursysteme, Raumtypen und global kulturspezifischen Verkehrskontexten gezeigt (Spitzner et al. 2019/im Erscheinen, insb. Kapitel 5).
So kann im Verkehrsbereich systematisch erfasst werden, ob
die Planung bei Benennung des Problems die Ursache und Wirkung nicht
geschlechtshierarchisch umkehrt und etwa aus dem Problem «Bedrohung durch
problematische Maskulinität» plötzlich ein «Frauen-Angst-Problem» macht
(Genderdimension GD 1) (Becker 2008 sowie Hofer 2018);
z. B. im Nahverkehrsplan die räumlichen Relationen und die zeitlichen Bedarfe
versorgungsökonomischer Mobilität zugrunde gelegt, mit Daten erfasst und
bedient werden (GD 2);
die Prioritäten, wie sie in kommunalen Verkehrsplanungen und -investitionen
gesetzt werden, tatsächlich nicht gendereinseitig gewählt werden (GD 4);
verkehrliche Entscheidungen sachlich-objektiv durch adäquaten Einbezug von
Genderexpertise statt genderblind getroffen werden (GD 6) (vgl. auch Spitzner et
al 2007);
die Fußwegenetzplanung auch ein akzeptables Nachtfußwegenetz bedenkt und
Haltestellenauslegungen und -zuwegungen struktureller maskuliner Gewalt im
öffentlichen Raum Rechnung tragen (GD 7) usw.
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Gender Impact Assesment (GIA)
Das Gender Impact Assessment (GIA) ist eine systematische Gendergleichstellungs-Verträglichkeitsprüfung in sieben Dimensionen.
1. Symbolische Ordnung/Zuschreibung und Bewertung, Positionierung, Priorisierung (Spitzner/Turner/Hamilton 2006)
Zuschreibung zu «Männlichkeit»/«Weiblichkeit» sowie qua sex
Abspaltung von Gegenstandsdimensionen/de-Kontextualisierung von sozialräumlichen, -zeitlichen u. a. Zusammenhängen)
Überbewertung des Maskulinen, Abwertung des Femininen, entsprechende
Prioritäten-Setzungen
Hierarchisierende Überbeleuchtung bzw. Ausblendung
Instrumentalisierung des gesellschaftlich «Weiblichen»
2. Krise der Versorgungsökonomie
Zuschreibung/Abweisung qua Geschlechtsrolle
Verteilung der Caring-Kosten und Caring-Benefits
Ausblendung als ökonomischer Sektor aus «der Ökonomie»
versorgungsökonomisch ineffeziente Infrastruktur-Planung und
Infrastruktursystem-Gestaltung
Vulnerabilität des versorgungsökonomischen Sektors (z. B. Nicht-Substituierbarkeiten, Verschiebbarkeit etc.)
Logik und Kriterien der Versorgungsökonomie
Instrumentalisierung als Externalisierungs-Reservoir
4. Öffentliche Infrastrukturen/Resourcen
Öffentlicher Raum: Zueignung, Enteignung
Öffentliche Haushalte und Gemeinwesen-Ökonomie
makroökonomische Maßnahmen und Strategien
infrastruktureller Service
5. Definitionsmacht-Verhältnisse/Institutionalisierter Androzentrismus
Nicht-Relativierung bisheriger Zugänge und Kategorien bei:
120
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
3. Erwerbsökonomie/Einkommen/Vermögen
horizontale und vertikale Segregation
Einkommens- und Vermögensverhältnisse
Sicherung ihres Gemeinwohl-Beitrags und Verhältnismäßigkeit gegenüber basalen gesellschaftlichen Ökonomien (Versorgungs-, Eigen-,
Gemeinwesen-Ökonomie)
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Problemwahrnehmung
Gegenstandsdefinition
Konzeptualisierung
Framing
zentralen Begrifflichkeiten
Methoden
Kategorien
Wissensproduktion
Schlußfolgerungen
Richtung von Maßnahmen
6. Gestaltungsmacht auf Akteursebene/(Nicht-)Repräsentanz öffentlichem
Gleichstellunginteresse in Entscheidungsprozessen/-gremien
Ausgrenzung von Genderexpertise, androzentrische Einschlüsse bei:
Wissensproduktion
Wissensrezeption
Konzeptualisierung
Verfahren
Entscheidungen
7. Privacy/Selbstbestimmung/Gesundheit
Strukturelle maskuline Gewalt (Übergrifflichkeit verbal, körperlich, gestisch
etc.), Objekt-Bezug zu Frauen
institutionalisierte Sanktionierung und öffentliche Sanktionierungsqualitäten dagegen
(Nicht-) Inklusive Bedingungen
gesellschaftliche Organisation von Sexualität, Gesundheit, Körperlichkeit
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Einkommensschwache vor sozialer Ausgrenzung schützen
In unserem Gesellschaftssystem leben «Reiche» und «Arme». Im Jahr 2015 charakterisierte die Bundesregierung 4,4 Prozent der Bevölkerung als von «erheblichen
materiellen Entbehrungen betroffen».17 Die Armutsrisikoquote lag in Deutschland
im Jahr 2014 über 15 Prozent, und zwischen 2013 und 2015 haben in Deutschland 7
17
BMAS - Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2017): Armut wird dabei im Wesentlichen als ein Mangel an Mitteln und Möglichkeiten verstanden, das Leben so zu leben und zu
gestalten, wie es in unserer Gesellschaft üblicherweise auf Basis des historisch erreichten Wohlstandsniveaus möglich ist. Reichtum ist im Gegensatz dazu eine Lebenslage, in der die Betroffenen weit überdurchschnittliche Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten haben (aus dem
Armuts- und Reichtumsbericht).
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bis 8 Millionen Personen Leistungen aus den Mindestsicherungssystemen bezogen.18
Viele Menschen müssen sich materiell einschränken und streng auf jeden Euro und
Cent achten. Darum sollte sich die kommunale Verkehrswende diesen sozial ungleichen Verhältnissen stellen, sozialer Exklusion entgegenwirken und danach streben,
auch Einkommensschwachen eine hinreichende Mobilität zu gewährleisten. Vor
allem indem die kommunalen Bedingungen für das sehr preiswerte Zufußgehen und
Radfahren verbessert werden und indem diesem Personenkreis ein bewusst sehr
preiswertes Sozialticket für den ÖPNV angeboten wird. Solche Sozialtickets gibt es
vielerorts.19 Die Kommunen und der Verkehrsverbund müssen bereit sein, ein solches Ticket einzuführen, so wie Kommunen oder das jeweilige Bundesland gewillt
sein sollten, den Verkehrsbetrieben die dadurch zusätzlich entstehenden Einkommensverluste auszugleichen. In Leipzig zum Beispiel finanziert die Stadt die Einnahmeverluste der Leipziger Verkehrsbetriebe für die Leipzig-Pass-MobilCard. Um den
Haushalt der Kommunen bei dieser Aufgabe zu entlasten, kann das Land Zuwendungen zu Sozialtickets gewähren, wie z. B. Nordrhein-Westfalen mit seinen «Richtlinien
Sozialticket 2011».20
Beispiel: Die Leipzig-Pass-MobilCard
Ein vorbildhaftes Beispiel ist die Leipzig-Pass-MobilCard, ein Sozialticket für
Bus und Bahn. Es ermöglicht Bürger/innen mit besonders niedrigem Einkommen, in Leipzig sind das etwa 70.000 Menschen, am gesellschaftlichen Leben in
der Stadt teilzunehmen. Zum Preis von 35 Euro je Kalendermonat (im Abo 32,80
Euro) können sie alle öffentlichen Verkehrsmittel im Stadtgebiet Leipzig rund
um die Uhr nutzen.
Anspruch auf den Leipzig-Pass und die damit verbundenen Leistungen
haben Einwohner/innen der Stadt Leipzig, die
18
19
20
122
Die Armutsrisikoquote als ein Maß der Einkommensungleichheit misst den Bevölkerungsanteil mit einem Einkommen unterhalb von 60 Prozent des Medianäquivalenzeinkommens nach
BMAS - Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2017): Lebenslagen in Deutschland.
Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. S. 10f. Online unter: https://
www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Archiv/Der-fuenfte-Bericht/Der-Bericht/
der-bericht.html, letzter Zugriff: 05.09.2019.
Eine Zusammenstellung der zahlreichen deutschen Städte, in denen ein Sozialticket angeboten
wird bietet ein Wikipedia-Artikel (Bearbeitungsstand vom 22.09.2019). Demnach gibt es Sozialtickets in 13 von 16 Bundesländern. Online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialticket
(letzter Zugriff: 31.10.2019).
Aktuell geltender Erlass (SMBI.NRW) mit Stand vom 25.09.2019. Ministerium des Innern des
Landes Nordrhein-Westfalen (IM NRW) (2019).
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch das Jobcenter
Leipzig erhalten (Bürgeramt);
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ein geringes Einkommen haben, welches das Anderthalbfache des maßgeblichen Regelsatzes zuzüglich des jeweiligen Anteils an den tatsächlichen
Unterkunftskosten nicht übersteigt. Je nach Haushaltsgröße ergeben sich
damit gestaffelte Einkommensgrenzen (Bürgeramt);
laufende Leistungen der Sozialhilfe, also Hilfe zum Lebensunterhalt oder die
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beziehen (Sozialamt,
Abteilung Wirtschaftliche Sozialhilfe);
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten (Sozialamt,
Abteilung Migrantenhilfe).
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Mobilitätsbedarfe von Kindern, Jugendlichen und alten Menschen
berücksichtigen
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, immerhin 16,5 Prozent der Bevölkerung
in Deutschland, sollen ihre Schule oder Ausbildungsstätte autonom ohne Auto und
nicht als transportiertes Kind im «Elterntaxi» erreichen können. Zudem ist der öffentliche Straßenraum als Lebensraum ein wichtiger Ort für Aufenthalt, Spiel und zur
Gewinnung von Autonomieerfahrung.
Gerade die «verkehrsberuhigten Bereiche» (Z 325.1 und 325.2 StVO), die
umgangssprachlich oft als «Spielstraßen» oder «Wohnstraßen» bezeichnet werden,
schaffen dafür gute Möglichkeiten in Wohngebieten. Hier stehen der Fußverkehr
sowie Aufenthalt und Kinderspiel auch verkehrsrechtlich im Vordergrund; deshalb
müssen alle anderen Verkehrsteilnehmer/innen deren Vorrecht beachten und dürfen
nur maximal Schrittgeschwindigkeit (6 km/h) fahren.
Die über 65-jährigen Seniorinnen und Senioren haben einen Anteil von 23,1
Prozent an der Bevölkerung in Deutschland. Sie wollen ihren Lebensalltag autonom
gestalten, ihre eigenen Angelegenheiten wie Einkaufen, Arztbesuche oder Freizeitaktivitäten selbstbestimmt regeln und die dafür erforderliche Mobilität im Umweltverbund selbständig bewerkstelligen, ohne auf ein eigenes Auto oder die Pkw-Mitnahme
durch andere angewiesen zu sein.
Eine kommunale Verkehrswendeplanung sollte deshalb die Verkehrsverhältnisse und die Straßenräume so gestalten, dass sich sechsjährige Kinder auf Roller und
Rad darin genauso aktiv, autonom und sicher bewegen können wie 86-jährige Rentner/innen mit Rollator, um ihre Aktivitätsziele zu erreichen. Eine Schlüsselstrategie
ist dafür die flächenhafte Verringerung der innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit
auf Tempo 30, ausdrücklich unter Einbeziehung der Hauptverkehrsstraßen. Um die
Anforderungen dieser Bevölkerungsgruppen an das Verkehrssystem und das Wohnumfeld wirkungsvoll in die Stadt- und Verkehrsplanung einzubringen, gilt es für ihre
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Lebenslagen angemessene Beteiligungsverfahren einzusetzen, die sie erfolgreich als
Expert/innen in eigener Sache zu Wort kommen lassen.21
Mobilitätsbehinderte und inklusive Mobilität
21
22
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Beispielhafte Methoden und Einsatzmöglichkeiten finden sich z. B. in: Forschungsgesellschaft
für Straßen- und Verkehrswesen 2012a und 2012b.
Artikel 9 der UN-Behindertenkonvention: (1) Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen
die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den
gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen,
sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese Maßnahmen, welche die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren
einschließen, gelten unter anderem für a) Gebäude, Straßen, Transportmittel sowie andere Einrichtungen in Gebäuden und im Freien, einschließlich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer
Einrichtungen und Arbeitsstätten; (...).»
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
«Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.» Das legt das
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 fest.
Vor dem Hintergrund dieser grundgesetzlichen Normierung hat sich die Bundesrepublik Deutschland auch das «Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen» der Vereinten Nationen zu eigen gemacht. Darin verpflichten sich
die UN-Vertragsstaaten, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund
von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern (Artikel 4 Absatz 1 Satz 1).22
Menschen mit Behinderungen, wie Gehbehinderte, Blinde oder Taube, wollen
und sollen gleichwertig am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und dafür
mobil sein. 7,8 Millionen Menschen in Deutschland, 9,4 Prozent der Bevölkerung,
sind schwerbehindert , d. h. anerkannt mit einer Behinderung von mindestens
50 Prozent.
Unter Bezug auf das Grundgesetz und die UN-Behindertenkonvention gilt es
darum, eine inklusionsorientierte kommunale Verkehrswende nach dem Grundsatz
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eines «Designs für Alle»23 zu gestalten. Der Leitgedanke dabei lautet: Was für Menschen mit Behinderungen gut ist, ist gut für alle! Damit wird das zuvor auf Behinderte
fokussierte Prinzip der Barrierefreiheit (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen 2012c) entscheidend erweitert. Körperlich oder geistig Mobilitätseingeschränkte sollen durch die Gesellschaft, die Stadtstruktur und das Verkehrssystem in
ihrer aktiven und autonomen Lebensführung nicht behindert werden.
Ein gutes Praxisbeispiel ist das kommunale Projekt «Guide4Blind» in Soest (20102012), das Sehbehinderten und ortsfremden Touristinnen und Touristen dient.
Beispiel: «Guide4Blind» in Soest
In der westfälischen Kommune Soest (47.000 Einwohner/innen) wurden im
Jahr 2012 im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes innovative technische
Lösungen für Blinde entwickelt, die ihnen ihre eigenständige Fortbewegung im
Straßenverkehr zu Fuß oder im öffentlichen Verkehr entscheidend erleichtern24
und eine weitgehend autonome Mobilität trotz der körperlichen Einschränkung
ermöglichen.
Das Zielführungssystem «Guide4Blind» ist die Grundlage einer eigens entwickelten Smartphone-App. Sie stellt den Reisenden nutzeroptimierte Karteninformationen zur Verfügung. Die Kommune beteiligte sich an der Ausarbeitung
ortsspezifischer digitaler Hilfsmittel inklusive akustischer Leitsysteme, indem
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
23
24
«Die Gewährleistung zugänglicher und nutzbarer Verkehrsanlagen durch möglichst viele
Menschen unabhängig ihrer individuellen Fähigkeiten ist eines der wesentlichen Ziele heutiger verkehrsbezogener Planungs- und Bauvorhaben. Diesbezüglich wird verstärkt von einem
«Design für Alle» gesprochen, welches über den Ansatz der auf Menschen mit Behinderungen
bezogenen «Barrierefreiheit» hinaus die menschliche Vielfalt insgesamt berücksichtigt. Um
Design für Alle erfolgreich umsetzen zu können, ist neben einer strategischen Gesamtplanung
zur Gewährleistung durchgängig barrierefreier Verkehrsnetze u. a. die Beteiligung der Bevölkerung an Planungs- und Bauvorhaben zentral.» Rebstock, Markus (2012). Vgl. auch: «Design
für Alle (DfA) ist ein Konzept für die Planung und Gestaltung von Produkten, Dienstleistungen
und Infrastrukturen, mit dem Ziel, allen Menschen deren Nutzung ohne individuelle Anpassung
oder besondere Assistenz zu ermöglichen. Konkret sind damit Lösungen gemeint, die besonders gebrauchsfreundlich und auch bei individuellen Anforderungen, z. B. aufgrund des Alters
oder einer Behinderung, benutzt werden können. Das Konzept berücksichtigt dabei, dass die
Design-für-Alle-Lösungen von den Konsumenten als komfortabel und attraktiv wahrgenommen werden.» Online unter: https://www.design-fuer-alle.de/design-fuer-alle/ (letzter Zugriff:
31.10.2019).
Quelle zum externen Messingenieur eagle eye technologies GmbH, online verfügbar unter:
https://www.ee-t.de/ (letzter Zugriff: 31.10.2019). Quelle des Büros der Landrätin Kreis Soest
zu Forschungsprojekten. Online verfügbar unter: https://smart4you.nrw/ (letzter Zugriff:
31.10.2019). Quelle des Büros der Landrätin Kreis Soest zu (momentan größtenteils inaktiven) Folgeprojekten als Ergänzung der vorangegangenen Forschungsarbeiten. Online verfügbar unter: https://www.kreis-soest.de/guide4blind/ueberuns/folge/folgeprojekte.php (letzter
Zugriff: 31.10.2019). E-Mail-Auskunft zur aktuellen Sachlage der Blindennavigations-Applikationen von Vertretern der Kommune Soest vom 12.9.2019.
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sie auf ihrem Stadtgebiet Geodaten extern erheben ließ. Zentimetergenaue
Messfahrzeuge haben die Straßenzüge kinematisch erfasst, die Daten in Geoinformationssysteme eingearbeitet und Hindernisse im Fußwegnetz kleinteilig
katalogisiert.
Für Soest entstanden dadurch digitale Querungs- und Kreuzungsmodelle,
die für das individuelle Navigieren von Blinden und zur Information für Städtetourist/innen eingesetzt werden. Via App und Internet können die Nutzer/innen
interaktiv mittels Touch- und Voiceover-Funktion auf die Angaben zugreifen.
Blinde erhalten dadurch akustische, optische und haptische Informationen bzw.
Warnungen zu Barrieren und zum Verkehrsgeschehen.
Heute ist die App in das lokale Nahverkehrssystem integriert.
Die in Soest modellhaft entwickelte Systematik kann auch in anderen Kommunen angewendet werden.
Für Rollstuhlfahrer/innen bieten bereits etliche Städte spezielle Stadtführer zur barrierefreien Mobilität an, wie etwa Bremen, Erfurt oder Hamburg. Ein
sehr gutes zivilgesellschaftliches Praxisbeispiel ist das internetbasierte Projekt
Wheelmap, das vom Berliner Verein Sozialhelden e.V. betrieben und in Kooperation mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund beworben wird. Es
wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, z. B. mit dem Bürgerpreis 2010, 2011 als
«Ausgewählter Ort im Land der Ideen» und 2013 mit dem World Summit Award
Mobile in der Kategorie «Inclusion und Empowerment».
Wheelmap ist eine kostenfreie internetbasierte Karte zum Suchen und Finden
rollstuhlgerechter Orte. Das Open-Source-Projekt erleichtert Rollstuhlfahrer/
innen eine selbständige Mobilität.
Wie bei Wikipedia können alle mitmachen und öffentlich zugängliche Orte
wie Cafés, Bibliotheken, Kinos oder Schwimmbäder entsprechend ihrer Rollstuhlgerechtigkeit bewerten – weltweit.
Wheelmap ist eine Mitmachkarte auf Grundlage der Geodaten von
OpenStreetMap und basiert auf dem «Crowdsourcing-Prinzip»: Menschen überall auf der Welt können ihr Wissen zu rollstuhlgerechten Orten mit der Community teilen. Über 850.000 Aktivitätsziele sind bereits kartiert und bewertet, täglich
kommen etwa 300 hinzu.
Wheelmap.org ist ein Projekt des Vereins Sozialhelden e. V. Berlin. Der Verein verfolgt das Ziel, Menschen für gesellschaftliche Probleme zu sensibilisieren und zum Umdenken zu bewegen. Sozialhelden wurde von den Cousins
Jan und Raul initiiert. Im Jahr 2004 startete der Verein gemeinsam mit einem
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Beispiel: Wheelmap powered by Sozialhelden – ein zivilgesellschaftlicher
Beitrag zur Inklusion von Gehbehinderten in Stadt und Verkehrssystem
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Berliner Radiosender «die Suche nach dem SuperZivi» für Raul, der mit seiner
Behinderung im Alltag auf Hilfe angewiesen ist. Über 150 SuperZivi-Kandidat/
innen bewarben sich, und der Gewinner wurde später tatsächlich Rauls Zivi.
Inzwischen ist aus der Initiative zweier Studenten ein großes Netzwerk an Freiwilligen und ein gemeinnütziger Verein mit vielen Projekten hervorgegangen,
die sich insbesondere dem «Disability Mainstreaming», der Gleichstellung von
Menschen mit Behinderung, als Querschnittsaufgabe widmen.
Denn: Menschen werden durch Barrieren behindert und nicht durch ihren
Rollstuhl oder ihre fehlende Sehkraft. Der Abbau von Barrieren und die damit
verbundene neue Zugänglichkeit sind ein Menschenrecht, das nicht nur behinderten Menschen zugutekommt.
Mit diesem Selbstverständnis wurde die «Wheelmap» entwickelt. In der
Karte wird die Zugänglichkeit von Aktivitätszielen im Stadtgebiet nach einem
einfachen und mit messbaren Kriterien operationalisierten Ampelsystem markiert: https://wheelmap.org
Die Umsetzung einer Mobilität für alle
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Zur Gestaltung einer zukunftsfähigen «Mobilität für alle» kommt es in der Praxis der
kommunalen Verkehrswende auf die folgenden zehn Schritte an:
1. Aufbau von Bewusstsein für die Notwendigkeit einer «Mobilität für alle» – einschließlich der grundlegenden Relevanz der Genderdimensionen – in der planenden Verwaltung, auf Arbeitsebene und Entscheider/innenebene sowie in den
kommunalpolitischen Entscheidungsgremien wie dem Verkehrsausschuss oder
Gemeinderat.
2. Kommunale Grundsatzbeschlüsse zum Gender-Mainstreaming und zur Bereitstellung von Ressourcen, um implizite genderbedingte Hierarchisierungen von
Maßnahmen durch Genderanalysen explizit sichtbar zu machen.
3. Entwicklung einer Roadmap zum Gender-Mainstreaming der Verkehrsplanung mit der Festlegung von verbindlichen Zielen, Fristen und Zuständigkeiten
und Einführung verbindlicher Genderevaluationen (anhand des o. g. GIA) und
Monitorings.
4. Aufbau von ausreichenden (Gender-)Kompetenzen und personellen Kapazitäten
im kommunalen Planungsalltag, um die erforderlichen – auch die gender-bezogenen – Daten und Planungsgrundlagen zu beschaffen, Analysen durchzuführen
und adäquate Konzepte entwickeln zu können.
5. Verstärkung der Kapazitäten von Gleichstellungsbeauftragten, Kinder-, Seniorenoder Inklusionsbeauftragten, die das Anliegen einer «Mobilität für alle» wirkungsvoll machen.
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Insgesamt sollte ein langfristiger Lern- und Qualifizierungsprozess in Politik und Verwaltung angestrebt werden, der Notwendigkeit und Möglichkeiten einer «Mobilität
für alle» vermittelt – für eine kommunale Verkehrswende.
Für die erfolgreiche Umsetzung des Planungsprinzips «Mobilität für alle» und für
die Geschlechtergleichstellung kommt es besonders auf drei Faktoren an:
1. einen klaren Willen in Politik und Verwaltung,
2. die Schaffung von ausreichenden Arbeitskapazitäten und (Gender-)Kompetenzen,
3. den Aufbau von entsprechenden verbindlichen und ausdrücklich auch auf das
Erreichen von Gleichstellungszielen ausgelegten Arbeitsabläufen und Verfahren
im politischen und administrativen System der Kommune.
128
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
6. Berücksichtigung des Ansatzes «Mobilität für alle» in der erforderlichen Differenziertheit bei internen Überlegungen und im Rahmen von extern vergebenen
Verkehrskonzepten.
7. Frühzeitige und umfassende Einbeziehung von Gender- und Inklusionskompetenz in allen Planungsphasen sowie Beteiligung der lokalen Stakeholder, Initiativen oder Verbände, welche die besonderen Interessen soziodemografisch
unterschiedener Bevölkerungsgruppen lokalpolitisch vertreten – zum Beispiel
Frauengruppen, Jugendräte, Seniorenvertretungen, Kinderschutzbund, Behindertenverbände oder Arbeitsloseninitiativen. Sie sind Expert/innen in eigener
Sache. Dazu können – für die jeweiligen Zielgruppen ansprechend gestaltete –
Veranstaltungen wie Workshops, Zukunftswerkstätten, Fokusgruppendiskussionen, Runde Tische, Stadtspaziergänge oder Beiratssitzungen dienen, bei denen
diese Repräsentant/innen der Gesellschaft zu Wort kommen.
8. Entwicklung und Erprobung des Ansatzes «Mobilität für alle» in Demonstrationsvorhaben, Reallaboren und Modellprojekten. So werden schnell exemplarische
und anschauliche lokale Erfahrungen gewonnen, die als Erfolgsgeschichten ausstrahlen und die Kontinuität der Anstrengungen wie weitere Projekte befördern
können.
9. Kontinuierliche Überprüfung aller Pläne, Projekte und Programme für eine kommunale Verkehrswende darauf hin, inwieweit der Grundsatz «Mobilität für alle»
differenziert behandelt und insbesondere die Gleichstellungswirksamkeit berücksichtigt wird und wie ggfs. nachgesteuert werden kann. Dazu dienen zum Beispiel
Evaluationsinstrumente wie Gender Impact Assessment (siehe Abb. «Das Gender
Impact Assessment (GIA) – eine systematische Gendergleichstellungs-Verträglichkeitsprüfung in sieben Dimensionen») oder ein Qualitätscheck «Design für
alle».
10. Umsetzung einer gender-responsiven kommunalen Verkehrsplanung als eine
Querschnittsaufgabe, die als eigene Dimension in allen Analysen und Konzepten
integriert mitgedacht und mitbeachtet wird: als Gender-Mainstreaming anstelle
der oft vorherrschenden androzentrischen Rationalitäten.
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IV Handlungsfelder der Verkehrswende
Literatur und andere Quellen
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6294db86a2cf9d42d475d68c99e4165d/zweiter-gleichstellungsbericht-der-bundesregierung-eine-zusammenfassung-leichte-sprache-data.pdf (Zugriff: 31.10.2019)
Bündnis 90/Die Grünen, Bundesvorstand und BAG Verkehr (Hg.) (1997): Regionalisierung des
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Deutscher Bundestag (1990): Große Anfrage «Emanzipation vom Auto - das Recht der Frauen auf
eine ökologische und soziale Verkehrswende» der Fraktion Die Grünen im Bundestag, Teil
I - III. Bundestags-Drucksachen 11/7383, 11/7384 und 11/7385 vom 31.05.1990. Teil I unter
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/11/073/1107383.pdf, Teil II unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/11/073/1107384.pdf, und Teil III unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/
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Deutscher Bundestag (2017): Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Unterrichtung
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Martens, Sabine; Pauls, Kerstin (Hg.) (2001): Gendergerechte Verkehrsplanung – Arbeitsbericht der
Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg Nr.206 /2001, S. 55-63, online
verfügbar unter: https://elib.uni-stuttgart.de/bitstream/11682/8730/1/AB206.pdf (letzter
Zugriff: 31.10.2019)
Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (2019): Richtlinien über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung des Sozialtickets im Öffentlichen Personennahverkehr
Nordrhein-Westfalen (Richtlinien Sozialticket 2011). Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr vom 08.08.2011. Geltender Erlass mit Stand vom
25.09.2019. Online verfügbar unter: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_text?anw_nr=1&gld_
nr=9&ugl_nr=923&bes_id=18305&menu=1&sg=0&aufgehoben=N&keyword=sozialticket#det0
(letzter Zugriff: 31.10.2019).
Netzwerk «Frauen in Bewegung»; Bündnis 90/ Die Grünen, Bundesvorstand und BAG Verkehr (Hg.)
(1997): Regionalisierung des öffentlichen Nahverkehrs – eine Chance für Frauen? Handreichung
für die Nahverkehrsplanung aus feministischer Sicht. Bonn.
Rebstock, Markus (2012): Design für Alle - Grundsätze und Prozess der Planung barrierefreier öffentlicher Verkehrsräume. In: Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Loseblattsammlung.
Beitragsnummer 3.1.1.3. Berlin/Offenbach.
Schäfer, Karl Heinz (2017): Chancen einer kinderfreundlichen Stadt- und Verkehrsplanung. In: Bracher et al. (Hrsg.): Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Loseblattsammlung. Beitragsnummer 3.2.6.3. Berlin/Offenbach.
Spitzner, Meike (2008): Klimaschutz & Gerechtigkeit - ohne aktive Verhandlung von Androzentrismus? In: Röhr, Ulrike, Spitzner, Meike, Stiefel, Elisabeth & von Winterfeld, Uta (2008):
Geschlechtergerechtigkeit als Basis für nachhaltige Klimapolitik. Bonn/Berlin: Forum Umwelt
& Entwicklung, genanet-Leitstelle Gender, Umwelt, Nachhaltigkeit, S. 13-21. Online verfügbar
unter: http://forumue.de/wp-content/uploads/2015/05/fr_2008_geschlechtergerechtigkeit_
und_klimapolitik.pdf (letzter Zugriff: 31.10.2019).
Spitzner, Meike (2000): Soziale Aspekte der Mobilität. Untersuchung im Auftrag der Enquete-Kommission «Zukunft der Mobilität» des Landtages Nordrhein-Westfalen. Hg. Landtag NRW. Düsseldorf. Drucksache «Informationen des Landtags NRW» Nr. 13/ 0034. Online verfügbar unter:
http://edz.bib.uni-mannheim.de/daten/edz-ma/ep/06/pe375.316-en.pdf
Spitzner, Meike; Turner, Jeff; Hamilton, Kerry (2006): Women and Transport. European Parliament, Directorate General Internal Policies of the Union, Policy Department Structural and
Cohesion Policies, European Parliament›s committee on Transport and Tourism. IP/B/TRAN/
ST/2005_008 (PE 375.316) in EN 26/06/2006. Bruxelles, insbesondere Seiten VII-X. Online verfügbar unter: http://edz.bib.uni-mannheim.de/daten/edz-ma/ep/06/pe375.316-en.pdf (letzter
Zugriff: 31.10.2019).
Spitzner, Meike; Weiler, Frank; Andi, Rahmah; Turner, Jeff (2007): Städtische Mobilität und Gender.
Förderung des öffentlichen Regionalverkehrs im Großraum Jakarta. Fokus Entwicklungspolitik
– Positionen der KfW Entwicklungsbank zu entwicklungspolitischen Themen. Frankfurt a.M.:
KfW, https://www.kfw-entwicklungsbank.de/Download-Center/PDFDokumente-Development-Research/2007_08_FE_Weiler-Transport-und-Gender_D.pdf (letzter Zugriff: 31.10.2019).
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Spitzner, Meike; Hummel, Diana; Stieß, Immanuel; Röhr, Ulrike; Alber, Gotelind (2019/im Erscheinen): Interdependente Genderaspekte der Klimapolitik. Gendergerechtigkeit als Beitrag zu einer
erfolgreichen Klimapolitik: Wirkungsanalyse, Interdependenzen mit anderen sozialen Kategorien, methodische Aspekte und Gestaltungsoptionen. Endbericht zum Forschungsprojekt UBA
371 641 119 0. UBA-Texte. Berlin: Umweltbundesamt.
Spitzner, Meike; Beik, Ute (1995/1999): Reproduktionsarbeits-Mobilität. Theoretische und empirische Erfassung, Dynamik ihrer Entwicklung und Analyse ökologischer Dimensionen und Handlungsstrategien. In: Spitzner, Meike; Hesse, Markus; Holzapfel, Helmut (Hg.) (1999): Entwicklung
der Arbeits- und Freizeitmobilität - Rahmenbedingungen von Mobilität in Stadtregionen. Forschungsberichte Bd.5. Wuppertal: Forschungsverbund Ökologisch verträgliche Mobilität.
Striefler, Katja (1998): Erreichbarkeits- und Mängelanalyse aus Frauensicht in ÖPNV-Angebotskonzepten. In: Bracher et al. (Hrsg.): Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Loseblattsammlung. Beitragsnummer 3.4.8.2. Berlin/Offenbach.
IV Handlungsfelder der Verkehrswende
https://www.bremen.de/barrierefrei/stadtfuehrer
https://www.erfurt-tourismus.de/sehenswertes/top-themen/erfurt-barrierefrei-erleben/
https://www.hamburg.de/mobilitaet/1570038/barrierefreie-wege/
ht t p s : / / w w w . l e i pz ig. d e / ju g e n d - f a m i l i e - u n d -s oz i a l e s / s oz i a l e - h i l f e n / l e i pz ig -p a s s /
leipzig-pass-mobilcard/
https://sozialhelden.de
https://wheelmap.org
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Die Maßnahmen und Beispiele aus den vorherigen Kapiteln haben gezeigt, in welcher
Weise Städte und Gemeinden heute schon die Verkehrswende vorantreiben können.
Doch nicht auf allen Feldern sind die Kommunen allein in der Lage zu handeln. Zahlreiche gesetzliche Regelungen auf der Ebene von Bund, Ländern und EU stecken den
Rahmen für eine kommunale Verkehrswende ab. Bislang stehen sie teilweise einer
Umsetzung der Verkehrswende noch entgegen; sie können sie aber auch unterstützen, wenn sie richtig formuliert sind.
Der verkehrspolitische Diskurs auf Bundesebene hat verschiedene blinde Flecken. Zum einen setzt besonders das Bundesverkehrsministerium einen starken technischen Schwerpunkt: auf Maßnahmen zur Verbesserung der Fahrzeugeffizienz, der
Förderung von E-Mobilität oder erneuerbaren Kraftstoffen. Wichtige Grundlage einer
Verkehrswende ist aber eine integrierte Strategie, die die Elemente der Vermeidung
und Verlagerung von Verkehren umfasst. Aufgrund der komplexen Wirkungszusammenhänge ist gerade hier eine langfristige und bundesweite Steuerung von Rahmenbedingungen notwendig, die bisher nicht ausreichend erfolgt. Zum anderen setzt
der Bund bislang einseitig auf Instrumente der Förderung und preislicher Anreize.
Effektiver, in ihrer Wirkung besser abschätzbar und zugleich erschwinglicher ist es
dagegen, in größerem Umfang Instrumente der Ordnungspolitik zu nutzen und durch
Regulierung etwa den Umweltverbund besserzustellen, den Straßenverkehr zu verlangsamen oder Vorgaben für die Effizienz von Fahrzeugen zu machen.
Einige der folgenden Rahmenbedingungen betreffen die Kommunen unmittelbar, wo sie etwa die Rechtsgrundlagen kommunaler Verkehrsplanung betreffen. In
anderen Feldern, wie dem Ausbau des Schienennetzes, ist die Kommune nur mittelbar betroffen – dennoch bestimmt die überregional relevante Infrastruktur den Verkehr in den Kommunen entscheidend mit.
Gemeindeverkehrsfinanzierung erhöhen und sichern: Der Bund beteiligt sich
an der Finanzierung des ÖPNV insbesondere durch Mittel nach Entflechtungsgesetz,
Regionalisierungsgesetz und Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Ausdrücklich
zu begrüßen ist die im Jahr 2019 beschlossene Erhöhung der GVFG-Mittel, die von
derzeit 333 Mio. Euro/Jahr zunächst verdoppelt und dann weiter erhöht werden, so
dass sie ab 2021 jährlich eine Milliarde Euro sowie ab 2025 jährlich 2 Milliarden Euro
betragen. Danach ist eine jährliche Erhöhung um 1,8 Prozent geplant. Diese Investitionsmittel haben eine zentrale Bedeutung für den Neu- und Ausbau des städtischen
ÖPNV. Während bisher nur der Neu- und Ausbau gefördert wird, sind zukünftig –
zumindest nachrangig – auch Sanierungs- und Erhaltungsmaßnahmen förderfähig.
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V Notwendige Rahmenbeding
ungen für die Verkehrswende
V Notwendige Rahmenbedingungen für die Verkehrswende
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Sanierungs- und Erhaltungsmaßnahmen sollten jedoch gleichrangig behandelt werden. Nach Schätzungen des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) liegt
allein der Sanierungsbedarf bei Straßen-, Stadt- und U-Bahnen bundesweit bei rund
fünf Milliarden Euro jährlich (VDV 2019). Dies zeigt, dass die bisherigen Erhöhungen
zwar wichtig sind, aber bei weitem nicht ausreichen und weiter aufgestockt werden
müssen.
Ende 2019 laufen die Entflechtungsmittel aus, die jährlich gut 1,3 Mrd. Euro für
Investitionen in den kommunalen Straßenbau und ÖPNV umfassen. Während das
Land Nordrhein-Westfalen bereits Ende 2016 sein ÖPNV-Gesetz dahingehend novelliert hat, dass auch ab 2020 in gleicher Höhe Landesmittel für Investitionen in den
ÖPNV gesichert sind, sind entsprechende Vorkehrungen noch nicht in allen Bundesländern getroffen worden.
Infrastruktur für die Verkehrswende schaffen: Die Verkehrswende macht neue,
verlässliche und ausreichend dimensionierte Infrastruktur für das Verkehrssystem
von morgen notwendig. Gerade weil deren Ausbau lange dauert, ist eine strategische Planung mit Schwerpunktsetzung auf den Umweltverbund notwendig. Seit der
Bahnreform ist das Schienennetz um rund 6.000 km oder fast 15 Prozent geschrumpft.
Notwendig wäre ein massiver Ausbau von Knotenpunkten und Ausweichgleisen und
eine digitale Ausrüstung des Netzes, um mehr Kapazitäten und pünktlichere Züge
zu ermöglichen. Stillgelegte Eisenbahnverbindungen können mit – im Verhältnis
zum Neubau – geringen Aufwänden reaktiviert werden. Der Bund kann dazu über
eine stärkere Priorisierung der Schiene im Bundesverkehrswegeplan und einer Mittelaufstockung nach Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz beitragen, und er kann
als Alleineigentümer der Deutschen Bahn entsprechende Zielvorgaben machen. Ein
weiterer wichtiger Schritt ist die verbindliche Einführung eines integralen Taktfahrplans für Deutschland («Deutschlandtakt»), an dem sich alle relevanten Verbindungen des Schienenpersonennahverkehrs auszurichten haben. Der Vorteil liegt in dem
für die Kundinnen und Kunden leicht merkbaren Fahrplan sowie in der Verkürzung
der Reisezeiten durch gut aufeinander abgestimmte Takte. Ebenso reduziert sich der
Planungsaufwand für die Verkehrsunternehmen, da sich der Betriebsablauf regelmäßig wiederholt. Zudem sind noch längst nicht alle Teile des Netzes elektrifiziert, also
mit Oberleitungen ausgestattet – dies zu beschleunigen, fördert die Elektrifizierung
des Verkehrs besonders effizient. Der Infrastrukturausbau betrifft aber nicht nur die
Schiene: Auch Radschnellwege und ein hochwertiges überörtliches Radwegenetz
kann der Bund mit deutlich höheren Mitteln fördern, als dies bislang im Nationalen
Radverkehrsplan und in den neuen Zusagen aus dem Klimaschutzprogramm des
Bundes vorgesehen ist.
Straßenverkehrsrecht ändern: Das Straßenverkehrsrecht und hier insbesondere
die Straßenverkehrsordnung zielen derzeit auf Sicherheit und Ordnung im Verkehr
ab, verfolgen aber nicht das Ziel einer nachhaltigen Mobilitätsgestaltung und somit
einer Verkehrswende. Aus heutiger Sicht ist es jedoch bedeutend, dass in Zukunft
auch Umwelt-, Klima- und Gesundheitsschutz durch das Straßenverkehrsrecht
gestützt und gefördert werden. Für eine entsprechende Novellierung der Straßenverkehrsordnung gibt es verschiedene Ansatzpunkte (ADFC/BBH 2019). Während bisher
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faktisch der fließende motorisierte Individualverkehr bevorzugt wird und Einschränkungen nur bei einer entsprechenden Gefahrenlage möglich sind (vgl. § 45 Abs. 9
Satz 3 StVO), ist das Straßenverkehrsrecht dahingehend zu ändern, dass alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind. Dies hätte zur Folge, dass beispielsweise inner
orts flächenhaft Tempo 30 eingeführt werden könnte und den nicht-motorisierten
Verkehrsteilnehmern Vorrang eingeräumt würde. Ein weiterer Ansatz ist, die Nachweispflicht bei der Einrichtung von Fahrradstraßen abzuschaffen, dass Fahrräder auf
dieser Wegeverbindung die vorherrschende Verkehrsart sind. Ein weiterer Hebel liegt
im Handlungsfeld Parkraum: Insbesondere der Flächenbedarf des ruhenden Verkehrs ist groß und wird überwiegend kostenfrei im öffentlichen Raum zur Verfügung
gestellt. Eine Parkraumbewirtschaftung erfolgt derzeit nur in begrenztem Maße, beispielsweise bei Großveranstaltungen oder bei erheblichem Parkdruck teilweise auch
in Innenstadtbereichen oder im Zusammenhang mit Bewohnerparken. Die StVO
sollte jedoch auch dahingehend überarbeitet werden, dass eine grundsätzliche flächenhafte Parkraumbewirtschaftung («Push»-Maßnahme) möglich ist, so dass auch
ein monetärer Anreiz geschaffen wird, anstelle des Autos den Umweltverbund zu nutzen. Das vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastrukturen ins Leben
gerufene «Bündnis für moderne Mobilität», welches sich auch mit der Neugestaltung
von Bewohnerparken und Parkraumbewirtschaftung befassen soll, plant, den Kommunen in diesen Bereichen einen höheren Handlungsspielraum einzuräumen. Das
ist ein wichtiger Schritt, um zukünftig angemessene Preise für wertvolle öffentliche
Räume festsetzen zu können.
Personenbeförderungsrecht reformieren: Neue flexible Verkehrsangebote wie
On-Demand-Ride-Pooling-Dienste, die den öffentlichen Verkehr ergänzen, sind bisher im Personenbeförderungsgesetz nicht vorgesehen. In der Novelle, die das BMVI
aktuell erarbeitet, sollten diese Dienste dem öffentlichen Linienverkehr gleichgestellt
werden, wenn sie den ÖPNV ergänzen, ersetzen oder verdichten. Zugleich sollte
Fahrdiensten, die ohne Pooling-Angebote in Konkurrenz zu Taxis treten, kein Wettbewerbsvorteil verschafft werden – eine Studie aus San Francisco, wo Dienste wie
Uber oder Lyft schon länger aktiv sind, zeigt, dass durch diese günstigen Angebote der
Autoverkehr insgesamt ansteigt (Erhard et al. 2019).
Verkehr sicherer machen: Die Anzahl der Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden in Deutschland hat zwar im Vergleich zu Beginn dieses Jahrhundert abgenommen, liegt mit über 300.000 Unfällen pro Jahr weiterhin deutlich zu hoch und
hat in den letzten fünf Jahren auch wieder zugenommen. Ein klares Bekenntnis des
Bundes zu einer Vision Zero ist notwendig, damit darauf aufbauend ein entsprechendes Handlungskonzept entwickelt und umgesetzt wird. Damit soll die hohe Zahl der
Verkehrsopfer nicht weiter toleriert werden. Einige europäische Länder wie Schweden, die Niederlanden, Österreich oder Großbritannien verfolgen schon seit Jahren
dieses klare Zielbekenntnis und konnten durch entsprechende Maßnahmen die Zahl
der Verkehrstoten und -verletzten deutlich senken. Dabei wird der Grundsatz verfolgt, dass Menschen im Straßenverkehr Fehler machen, die Verkehrswelt jedoch so
gestaltet sein muss, dass diese Fehler nicht zu schlimmen Unfällen führen. Die Maßnahmen reichen von verpflichtenden Notbremsassistenten und Tempolimits über
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V Notwendige Rahmenbedingungen für die Verkehrswende
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absolutes Alkoholverbot am Steuer bis hin zu baulichen Maßnahmen (Kreisverkehre
statt Kreuzungen). Grundsatz einer Verkehrspolitik mit der «Vision Zero» ist es, sich
stets am schwächsten Verkehrsteilnehmer zu orientieren und daraufhin die Politikund Planungsmaßnahmen zu gestalten.
Mobilitätsmanagement fördern: Mobilitätsmanagement in Betrieben, Schulen und Hochschulen, im Einzelhandel oder an Freizeitzielen ist ein effizienter Weg,
zielgruppengerecht Anreize für nachhaltige Mobilität zu setzen. Dennoch engagieren
sich nur wenige Unternehmen oder Einrichtungen im Mobilitätsmanagement – weil
es für sie selbst zusätzlichen Aufwand bedeutet. Verbindliche Rahmenbedingungen
können dazu beitragen, dieses Instrument zu stärken. Eine Möglichkeit besteht darin,
eine Mobilitätsanalyse und die Entwicklung eines Konzepts für Mobilitätsmanagement für Unternehmen und andere Institutionen verpflichtend zu machen, wie dies
etwa in den Niederlanden, Belgien oder Italien der Fall ist. Ebenfalls können finanzielle Anreize für Unternehmen gesetzt werden, die betriebliches Mobilitätsmanagement umsetzen, während der Verzicht auf Mobilitätsmanagement in Abhängigkeit
von der Menge des vom Unternehmen verantworteten Verkehrs mit einer finanziellen
Belastung verbunden wird – ähnlich wie bei der französischen Nahverkehrsabgabe,
der «versement transport» (EPOMM 2018).
Einheitliche Digitale Plattformen schaffen: Die Vielfalt der Angebote geteilter
Mobilität nimmt zu – Carsharing, Fahrrad- und Scooter-Sharing-Systeme, On-Demand-Ride-Pooling-Dienste und andere Angebote. Diese Dienste unabhängig vom
Anbieter und vom Ort des Angebots so zu integrieren, dass Information und Buchung
auf einer einheitlichen Plattform möglich sind, kann die Nutzerfreundlichkeit vernetzter Mobilität deutlich erhöhen. Hierfür sind bundeseinheitliche Standards notwendig,
da eine umfassende, wettbewerbsneutrale Vernetzung allein durch die verschiedenen
Anbieter nicht zu erwarten ist. In ähnlicher Weise ist eine Standardisierung und Vernetzung von weiteren Infrastrukturangeboten wie Mobilstationen und der Ladeinfrastruktur für E-Fahrzeuge auf Bundesebene notwendig.
Verkehrsvermeidung ermöglichen: Um ein weiteres Verkehrswachstum zu verhindern und die Reduzierung von Verkehr zu ermöglichen, ohne die Mobilität von
Bürger/innen einzuschränken, ist eine flächensparsame, mit der Verkehrsplanung
integrierte Stadtentwicklung notwendig. Bisher besteht für Kommunen ein finanzielles Interesse, durch Neuausweisungen von Gebieten ihre Attraktivität für Neubürger/
innen und Unternehmen zu steigern. Bundesraumordnung und Bauplanungsrecht
bieten hier zu schwache Anreize (UBA 2011). Eine Reform hin zu stärkeren Vorgaben
in der Bauleitplanung bzw. finanziellen Anreizen zu einer dichten Siedlungsentwicklung würde die Entwicklung von Städten und Regionen der kurzen Wege unterstützen.
Gesetzliche Vorgaben im Planungsrecht zur Bereitstellung von Versorgungsangeboten können dazu beitragen, die Nahversorgung zu verbessern und Verkehr zu vermeiden. Ergänzungen im Arbeitsrecht zur Ermöglichung von Home-Office an dazu
geeigneten Arbeitsplätzen können dazu beitragen, Pendlerverkehre zu reduzieren.
Dies beinhaltet sowohl Pflichten für Arbeitgeber/innen als auch eine Förderung zum
Aufbau entsprechender digitaler Infrastrukturen.
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Anreize für effiziente und emissionsarme Fahrzeuge setzen: Auch wenn die
technische Effizienz von Kraftfahrzeugen wächst – deutlich weniger verbrauchen
die meisten Fahrzeuge bislang nicht, da sie zugleich größer, schwerer und leistungsstärker werden. Die bisherige Steuerung über Energie- und Kraftfahrzeugsteuer setzt
nur geringe Anreize für den Kauf sparsamer Fahrzeuge. Ein Bonus-Malus-System,
dass progressiv steigende Steuern in Abhängigkeit von den CO2-Emissionen und
entsprechenden Förderungen für energieeffiziente (E-)Fahrzeuge einführt, könnte
dies ändern. Frankreich hat ein ähnlich strukturiertes Bonus-Malus-System erfolgreich eingeführt. Ein wichtiger Hebel, um den Fahrzeugmarkt zu beeinflussen, ist die
Dienstwagenregelung: Mehr als 60 Prozent aller Neufahrzeuge werden gewerblich
zugelassen, die Quote großer Fahrzeuge ist hier besonders hoch. Die bisherige steuerliche Bevorzugung aller Firmenwagen sollte eingeschränkt werden – nur noch Fahrzeuge mit niedrigen Emissionen würden dann steuerlich gefördert werden, andere
Fahrzeuge würden dann weniger attraktiv. Eine Abschaffung der Steuerreduzierung
auf Diesel kann dazu beitragen, Kostenwahrheit im Verkehr herzustellen und die
besonders mit Blick auf Schadstoffemissionen problematischen Antriebe weniger
attraktiv zu machen. Sinnvoll zur Förderung effizienter Fahrzeuge ist auch eine Weiterentwicklung der europäischen Flottengrenzwerte für CO2: Durch die Umstellung
der Bemessungsgrundlage von Fahrzeuggewicht auf Grundfläche werden leichtere
und effizientere Fahrzeuge gefördert; und mit einer Berücksichtigung von Lebenszyklusemissionen werden auch Anreize für die Entwicklung effizienter und CO2-sparsamer E-Fahrzeuge gesetzt, die bislang nicht bestehen.
Aus der Verbrennung fossiler Kraftstoffe aussteigen: Damit eine Wende zu klimaschonenden Antrieben und Kraftstoffen gelingt, reichen allein Anreize nicht aus.
Einen konkreten Endzeitpunkt für die Verbrennung von fossilen Benzin- und Dieselkraftstoffen zu setzen, wäre eine Möglichkeit, ein Schlusspunkt für die Neuzulassung
von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren eine andere. Wie auch beim Ausstieg für
die Verstromung von Kohle sorgt ein festes Datum für Planungssicherheit bei den
Anbietern ebenso wie den Verkehrsteilnehmern. Andere Länder machen es vor – in
Norwegen sollen ab 2025 alle zugelassenen Fahrzeuge Nullemissionsfahrzeuge sein,
in China, Schweden, Dänemark, Niederlanden, Irland und weiteren Ländern sollen
Verbrenner ab 2030 nicht mehr zugelassen werden.
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LITERATUR
V Notwendige Rahmenbedingungen für die Verkehrswende
ADFC – Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club/BBH – Becker Büttner Held (2019): Gute Straßen für
alle! Modernes Straßenverkehrsrecht für Fahrrad, Umweltverbund und MIV. Gutachten Fahrradgerechte Änderung des Straßenverkehrsrechts. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.
adfc.de/fileadmin/user_upload/Expertenbereich/Politik_und_Verwaltung/Download/190516_
Gute_Strassen-fuer-Alle-Gesetz_Final.pdf (Zugriff 26.11.2019)
EPOMM – The European Platform on Mobility Management (2018): Mobility Management Strategy
Book. Leuven. Online verfügbar unter: www.epomm.eu/docs/EPOMM_strategy_book.pdf
(Zugriff 26.11.2019)
Erhard, Gregory D.; Roy, Sneha; Cooper, Drew; Sana, Bhargava; Chen, Mei; Castiglione, Joe (2019):
Do transportation network companies decrease or increase congestion? In: Science Advances.
Vol. 5, no. 5. Online verfügbar unter: https://advances.sciencemag.org/content/5/5/eaau2670
(Zugriff 26.11.2019)
UBA – Umweltbundesamt (2011): Leitkonzept – Stadt und Region der kurzen Wege. Gutachten im
Kontext der Biodiversitätsstrategie. Texte 48/2011, Dessau. Online verfügbar unter: https://
www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/461/publikationen/4151.pdf (Zugriff
26.11.2019)
VDV – Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2019): Pressemitteilung: Bundesrat macht den
Weg frei für GVFG-Erhöhung. Online verfügbar unter: https://www.vdv.de/presse.aspx?id=9bff983b-8a4d-4b4e-9550-dbebe740ee35&mode=detail&coriander=V3_a9b3e7ed-11ac-970c20a3-d6f8c4e02776 (Zugriff 26.11.2019)
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Anhang: Weiterführende Literatur,
Good-Practice-Beispiele und
Planungshilfen
Der vorliegende Leitfaden gibt einen Überblick über kommunale Handlungsmöglichkeiten für eine Verkehrswende. Allerdings erlaubt der Umfang von 148 Seiten nicht,
jedes Planungsdetail zu vertiefen und alle interessanten Praxisbeispiele zu zitieren.
Jedoch liegen bereits vielfach Erfahrungen vor, die in anderen Leitfäden, Webseiten
und Studien Niederschlag gefunden haben. Diese weiterführenden Quellen und
Unterstützungsangebote werden nachfolgend thematisch gegliedert dargestellt.
Verkehrswende allgemein
Heinrich-Böll-Stiftung: Webdossier Kommunale Verkehrswende
https://www.boell.de/de/kommunale-verkehrswende
In dem Online-Dossier werden thematisch gegliedert Handlungsansätze und erfolgreiche Umsetzungsbeispiele aus Städten in Deutschland und Europa vorgestellt.
VCD – Verkehrsclub Deutschland: Themenfelder und Good-Practice-Beispiele
https://www.vcd.org/themen/
Auf seinen Themenseiten stellt der VCD Handlungsansätze und weiterführende Analysen und Positionspapiere dar. In einzelnen Handlungsfeldern wie Radverkehr oder
Multimodalität sind zudem umfassende Good-Practice-Sammlungen verfügbar.
FUSS e.V. (2018): Schritte zur Einführung einer kommunalen Fußverkehrsstrategie.
Handlungsleitfaden.
https://www.umkehr-fuss-online-shop.de/kostenlose-downloads/category/1-fussverkehrsstrategie.html?download=368:broschuere-handlungsleitfaden&start=40
Der umfangreiche Handlungsleitfaden, der sich an kommunale Akteur/innen richtet,
ist Ergebnis einer detaillierten Auswertung der Erfahrungen von Bürger/innen, Stakeholdern, Fachleuten und Verwaltung in fünf Modellstädten.
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Fußverkehr
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Radverkehr
Deutscher Fahrradpreis: Auszeichnungen für Best-Practices im Radverkehr
https://www.der-deutsche-fahrradpreis.de/
Der jährlich verliehene Deutsche Fahrradpreis wird als Fachpreis in den drei Kategorien Infrastruktur, Service und Kommunikation verliehen und prämiert gute Praxisbeispiele der Radverkehrsförderung. Die Kurzbeschreibungen der jeweils ersten drei Plätze
sind als Good-Practice-Sammlung online verfügbar.
Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Fahrradportal
https://nationaler-radverkehrsplan.de
Das umfassende Online-Portal bietet Neuigkeiten zum Radverkehr, Informationen zur
Förderung, Praxisbeispiele, eine Forschungsdatenbank sowie Weiterbildungsangebote
und Workshops.
IVM (2014): Förderung des Rad- und Fußverkehrs. Kosteneffiziente Maßnahmen im
öffentlichen Straßenraum. Handbuch für die kommunale Praxis.
https://www.ivm-rheinmain.de/wp-content/uploads/2014/09/Kosteneffizienz-Handbuch_2014.pdf
Das praxisorientierte Handbuch stellt Maßnahmen anhand detailliert beschriebener
und bebilderter Fallbeispiele vor und beziffert die jeweiligen Kosten für die Umsetzung.
Anhang: Weiterführende Literatur, Good-Practice-Beispiele und Planungshilfen
Parkraummanagement und Straßenraum
Agora Verkehrswende (2019): Parkraummanagement lohnt sich! Leitfaden für Kommunikation und Verwaltungspraxis
https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/parkraummanagement
-lohnt-sich/
Der Leitfaden unterstützt bei Planung, Abstimmung und Vermittlung umzusetzender
Maßnahmen sowohl verwaltungsintern als auch in Kommunikation mit Bürger/innen
und hilft beim Entkräften von Gegenargumenten.
UBA – Umweltbundesamt (2017): Fachbroschüre: Straßen und Plätze neu denken
https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/strassen-plaetze-neu-denken
Die Broschüre stellt gute Praxisbeispiele der innerörtlichen Umgestaltung des Straßenraums dar und gibt in einem Baukasten Planungshinweise für verschiedene Gestaltungs- und Funktionselemente.
Tempolimit
VCD – Verkehrsclub Deutschland (2018): Tempo 30 Soforthilfepapier. Sie wollen
Tempo 30? Wir sagen Ihnen was geht.
https://www.vcd.org/fileadmin/user_upload/Redaktion/Themen/Verkehrssicherheit/Tempo_30/Tempo30_Soforthilfe-Papier_09_2018.pdf
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Das Papier bietet eine allgemeinverständliche Checkliste für Einführung von Tempo-30-Zonen oder streckenbezogenen Temporeduzierungen.
UBA – Umweltbundesamt (2017): Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen.
https://www.umweltbundesamt.de/en/publikationen/wirkungen-von-tempo-30
-an-hauptverkehrsstrassen
Die Broschüre stellt die wichtigsten Erkenntnisse aus Messungen der Tempo-30-Wirkungen (Sicherheit, Lärmschutz, Luftreinhaltung, Förderung Fuß- und Radverkehr u. a.)
dar.
Öffentlicher Nahverkehr
BMVI (2016): Mobilitäts- und Angebotsstrategien in ländlichen Räumen. Planungsleitfaden für Handlungsmöglichkeiten von ÖPNV-Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen unter besonderer Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte flexibler
Bedienungsformen
https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/G/mobilitaets-und-angebotsstrategien-in-laendlichen-raeumen-neu.html
Der umfassende Leitfaden stellt verschiedene Angebotsformen systematisch dar, gibt
Planungshinweise und stellt Bewertungs- und Planungstools detailliert dar.
Geteilte und vernetzte Mobilität
KCW, Öko-Institut, Probst & Consorten (2017): Leitfaden Kommunale Multimodalitätsstrategien
http://mobilitaet21.de/wp-content/uploads/2018/02/700877_Multimodalitätsstrategien_Leitfaden.pdf
Der Leitfaden stellt verschiedene Konzeptvarianten multimodaler Vernetzungsplattformen vor und bewertet diese anhand Relevanz, kommunalpolitischer Ziele und regionalem Bezug.
Zukunftsnetz Mobilität NRW: Handbuch Mobilstationen Nordrhein-Westfalen
https://www.zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de/www.adfc-nrw.de
Das Handbuch stellt die Schritte bei Planung, Bau und Betrieb von Mobilstationen dar
und erläutert diese umfassend. Die meisten Hinweise sind dabei nicht NRW-spezifisch.
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Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
BCS – Bundesverband CarSharing (2018): Leitfaden zur Gründung neuer CarsharingAngebote
https://carsharing.de/sites/default/files/uploads/arbeitsschwerpunkte/leitfaden_
neue_cs-angebote_versandversion.pdf
In dem Ratgeber werden Erfolgsfaktoren, die wichtigsten Schritte beim Aufbau eines
Carsharing-Angebots und Hinweise für ein kontinuierliches Wachstum von Angebot
und Nachfrage beschrieben.
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Elektromobilität
Difu: E-Mobilität im städtischen Wirtschaftsverkehr – Handlungsspielräume und
Optionen in den Kommunen
https://difu.de/publikationen/2014/elektromobilitaet-im-staedtischen-wirtschaftsverkehr.html
Die Publikation stellt die in den Kommunen und Regionen bestehenden Herausforderungen im Bereich des Wirtschaftsverkehrs dar. Daran anschließend werden die Chancen für den Einsatz von E-Fahrzeugen gezeigt.
E-Stations: Kostenrechner für Elektrofahrzeuge
https://www.e-stations.de/elektroautos/kostenrechner
Der Kostenrechner stellt eine Planungshilfe bei der Anschaffung von E-Fahrzeugen dar,
bei der E-Fahrzeuge und konventionelle Fahrzeuge anhand verschiedener Faktoren wie
jährliche Fahrleistung, Fahrzeugtyp und Anschaffungspreis miteinander verglichen und
die Gesamtkosten bestimmt werden können.
Integrierte Verkehrsplanung
Anhang: Weiterführende Literatur, Good-Practice-Beispiele und Planungshilfen
ELTIS – The Urban Mobility Observatory: The SUMP Concept and Guidelines
https://www.eltis.org/mobility-plans/sump-concept
Das Konzept von Sustainable Urban Mobility Plans (SUMP) wird auf dieser englischsprachigen Plattform erläutert. Die SUMP Guidelines bieten einen umfassenden Leitfaden mit 12 Schritten in den Phasen Vorbereitung und Analyse, Strategieentwicklung,
Maßnahmenplanung sowie Implementierung und Monitoring.
UBA – Umweltbundesamt: Evaluation zählt: Ein Anwendungshandbuch für die kommunale Verkehrsplanung
https ://www.umweltbundesamt.de/publikationen/evaluation-zaehlt-einanwendungshandbuch-fuer-die
Dieses Handbuch liefert das nötige Wissen, um Prozesse und Wirkungen kommunaler
Maßnahmen im Verkehr zu evaluieren. Es geht detailliert auf Indikatoren, Untersuchungsdesigns und -methoden, Datenerhebung und Analyse sowie die Auswertung ein.
Mobilitätsmanagement und Kommunikation
DEPOMM: Informationen zum Mobilitätsmanagement
https://depomm-ev.de/infothek/
Die Deutsche Plattform für Mobilitätsmanagement bietet auf Ihrem Online-Portal
eine Mediathek mit weiterführenden Informationen zum Mobilitätsmanagement, darunter Hintergrundinformationen aus dem In- und Ausland, Forschungsprojekte und
Arbeitskreise.
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Agora Verkehrswende (2019): Neue Wege in die Verkehrswende. Impulse für Kommunikationskampagnen zum Behaviour Change
https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/neue-wege-in-die
-verkehrswende/
Das vom Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) entwickelte Impulspapier
stellt die Bedeutung von Kommunikation für die Veränderung des Verkehrsverhaltens
dar und stellt exemplarische Kampagnen und deren Wirkungsweise vor.
Zukunftsnetz Mobilität NRW: Kosteneffizienz durch Mobilitätsmanagement. Handbuch für die kommunale Praxis
https://www.zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de/sites/default/files/downloads/
znm-nrw-handbuch-kosteneffizienz-a4_rz-web_0.pdf
Das Handbuch geht auf Ziele, Akteur/innen und Handlungsfelder kommunalen Mobilitätsmanagements ein und stellt Kostenbewertungsansätze und Einsparpotenziale dar.
Darauf basierend werden Hinweise für eine erfolgreiche Umsetzung gegeben.
Mobilität für alle
Praxis kommunale Verkehrswende Ein Leitfaden
Europäische Kommission (2017): Access City Award. Beispiele für Best Practices, um
Städte in der EU barrierefreier zu gestalten
https://efre.brandenburg.de/media_fast/4055/Access%20City%20Award%20
2017_%20Beispiele%20für%20Best%20Practices%20um%20Städte%20in%20der%20
EU%20barrierefreier%20zu%20gestalten.pdf
Die Broschüre stellt Praxisbeispiele dar, in denen eine barrierefreie kommunale Verkehrsplanung oder Mobilitätsgestaltung erfolgreich umgesetzt wurde.
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ÖKOLOGIE
BAND 47
Praxis kommunale Verkehrswende
Ein Leitfaden
Der Ruf nach einer besseren Mobilität wird immer lauter. Städte
werden durch den zunehmenden und raumgreifenden Autoverkehr immer unbewohnbarer. Die CO2-Emissionen im Verkehr
steigen, obwohl sie dringend sinken müssten. Die Menschen haben
andere Erwartungen an Straßen und Plätze in ihren Kommunen,
sie möchten keinen Stau, keine zugeparkten Fuß- und Radwege.
Blickt man ins europäische Ausland, sieht man viele gute Beispiele,
wie Städte lebenswerter werden. Aber auch deutsche Städte und
Gemeinden haben sich auf den Weg gemacht zu einer Verkehrswendekultur.
Davon handelt dieser Leitfaden. Er zeigt, was heute schon möglich ist in Sachen Fuß- und Radverkehr, Entschleunigung, Park
raummanagement, ÖPNV, vernetzte Mobilität, Elektromobilität,
integrierte Stadt- und Verkehrsplanung, Mobilitätsmanagement
und Mobilität für alle. Diese Publikation bietet damit einen praktischen Instrumentenkasten für die Kommunalpolitik.
ISBN 978-3-86928-212-1
Heinrich-Böll-Stiftung
Die grüne politische Stiftung
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030 28 53 40 info@boell.de www.boell.de
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