Nummer 37
vhw werkSTADT
Januar 2020
Rechtspopulismus,
Raumstrukturen und Milieus
Teil II
Die kleinräumliche Dimension der AfD-Ergebnisse
Bernd Hallenberg
Einleitung
Während sich der erste Teil nach einer einleitenden sozio-demografischen Profilierung der
AfD-Wählerinnen und -Wähler mit strukturund entwicklungsräumlichen Zusammenhängen auf der Kreisebene beschäftigt hat, folgt
im vorliegenden zweiten Teil eine kleinteiligere
sowie in Teil 3 eine milieuorientierte Betrachtung rechtspopulistischer Wahlergebnisse. Dabei geht es zunächst um Strukturzusammenhänge, die von der Gemeinde- über die Stadtteil- bzw. zur Ebene der Wahlbezirke reichen.
Die verschiedenen Ebenen der AfDErgebnisse: Gemeinden und Wahlbezirke
Die in Teil 1 beschriebenen Ost-West-Unterschiede bilden sich auch in den kleinräumigen
Ergebnissen deutlich ab: In 93 Prozent der
westdeutschen Gemeinden erreichte die AfD
bei der Europawahl 2019 maximal 15 Prozent
der Stimmen, während sie in 69 Prozent der
ostdeutschen Kommunen einen Anteil von
mehr als 20 Prozent der Stimmen erzielte.
Tabelle 1: Wahlergebnisse der AfD in den Gemeinden nach Ländern und Stimmanteilen
Zum anderen wird in Teil 3 geprüft, ob und in
welchem Ausmaß die lokale Verteilung der sozialen Milieus als Geo-Milieudaten, anknüpfend an grundsätzliche Erkenntnisse über politisch-gesellschaftliche Einstellungen in den Milieus, einen relevanten Erklärungsbeitrag für
die unterschiedlichen Ergebnisse der rechtspopulistischen Partei liefern können und wie dieser
konkret
aussieht.
Abbildung 1: AfD-Ergebnis Europawahl 2019
1
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
Dieser Niveauunterschied zeigt sich in Abbildung 1, wo die AfD-Ergebnisse in den Ortsgrößenklassen dargestellt werden. Interessant ist
vor allem der geringe grundsätzliche Unterschied im AfD-Ergebnis zwischen kleineren
und größeren Gemeinden. Nur im Osten fällt
der Stimmenanteil in den Großstädten deutlich ab, während diese Abweichung im Westen wesentlich geringer ist – bei allerdings sehr
AfD BTW %
AFD LT 19 %
1000-2999
500-1000
<500
18,00
Um diese Unterschiede
herausarbeiten zu können, wird zusätzlich zur
Gemeindeebene
die
Ebene der Wahlbezirke
herangezogen, welche
durchschnittlich
etwa
2
1.000 Bewohner aufweisen. Durch die Verknüpfung mit raumscharfen Geo-Daten und
sozial-räumlichen Strukturmustern können so
auf der Ebene von Stadt-, Ortsteilen oder
18,80
Ortsgrößen Mitte 2019, von…bis Einwohner
Abbildung 2: Wahlergebnisse in den drei ostdeutschen
Ländern BRB, SN, TH
großer Streuung, auf die im Strukturkontext
näher eingegangen wird.
>100000
20,00
50000-100000
22,00
30000-50000
24,00
15000-30000
26,00
10000-15000
28,00
5000-9999
30,00
3000-5000
32,00
kann auf Basis der Auswertung nach Ortsgrößen also nicht die Rede sein. In den drei östlichen Bundesländern, in denen im Herbst 2019
ein neuer Landtag gewählt wurde, konnte die
AfD zwischen 2017 und 2019 ihre Ergebnisse
in nahezu allen Gemeindegrößenklassen steigern – mit Ausnahme der Großstädte. Hier
vertieft sich offenbar eine Kluft, die viel mit der
demografischen und lebensweltlichen Zusammensetzung der BevölkeWahlergebnisse in den drei ostdeutschen Ländern
rung zu tun hat. Zugleich
(BRB, SN, TH) nach Ortsgrößen: Bundestag (BTW) 2017,
wird in der Stadt-LandLandtage (LT) 2019, in %
Perspektive häufig die
29,55
Wirkung der „inneren
28,15
27,87
Peripherisierung“ in vie27,44
27,04
len Großstädten, aber
26,50
26,49
26,01
auch in den Ortsteilen
25,29
von kleineren Gemeinden, vernachlässigt, wie
im folgenden Kapitel
deutlich wird.
Von einer generellen Kluft zwischen Großund Kleinstädten, wie sie oft konstatiert wird,1
1
vgl. z. B. Die Zeit, 11.7.2019: Politische Spaltung – Stadt oder
Land.
Briefwahlbezirke, die mehrere Gemeinden umfassen. Deren Anteil
verzerrt das Gesamtergebnis jedoch kaum.
2
Grundlage der Auswertung sind die im Oktober 2019 vom Bundeswahlleiter veröffentlichten Daten zu den gut 86.000 Wahlbezirken in Deutschland, die auf Gemeindeebene zusammengefasst
wurden. Nicht berücksichtigt werden für die Gemeinden solche
2
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
Wahlbezirken erklärende Zusammenhänge
strukturiert aufgezeigt werden.
Tabelle 2: Wahlbezirke bei der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl 2019 nach AfD-Ergebnisklassen und Bundesländern
Die in Tabelle 2 zusammengefassten AfD-Ergebnisse nach Wahlbezirken und Ländern bei
der Bundestagswahl 2017 (BT) und der Europawahl 2019 (EW) bestätigen das Grundmuster der Gemeindeebene. So ist im Westen die
Zahl der Wahlbezirke mit hohen AfD-Ergebnissen (> 30 Prozent) von 135 auf 54 zurückgegangen; in 62 Prozent der Bezirke erreichte die
Partei maximal zehn Prozent der Stimmen. Im
Osten liegt die entsprechende Zahl der Bezirke
mit einem Anteil von > 30 Prozent relativ konstant bei etwa 2.900. Deutlich zugenommen
haben die hohen Ergebnisse insbesondere in
Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Zugleich sind jedoch auch die „Ausreißer nach
3
unten, das heißt mit geringem AfD-Anteil, angestiegen, was auf die weitere räumliche Ausdifferenzierung der Bevölkerung hinweist.
Die Streuung der Wahlbezirksergebnisse der AfD in den Städten
Aufschlussreich ist ein Vergleich der Spannweiten der innerstädtischen Wahlbezirks-Ergebnisse der AfD. Eine starke Spreizung der
Stimmanteile deutet, wie zu zeigen ist, auf heterogene sozial- bzw. milieuräumliche Strukturen hin – et vice versa. Grafisch lässt sich dieser
Vergleich über den Quartilsabstand der Wahlbezirksergebnisse abbilden, also über jenen
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
Bereich, in dem sich die beiden mittleren Ergebnisquartile befinden, während die „Ausreißer“ – nach oben und unten – als ErgebnisPunkte dargestellt werden.
Das folgende Diagramm enthält die entsprechenden Auswertungen für 13 Großstädte,
darunter vier in den östlichen Ländern.
deutlich weiter auf; in Gelsenkirchen ist sogar
eine vergleichbare Niveaustruktur wie in den
Ost-Großstädten zu beobachten. Hier bereits
finden sich deutliche Hinweise auf das Ausmaß bzw. die lokale Reichweite der „inneren
Peripherisierung“ und eines damit verbundenen rechtspopulistischen Wahlverhaltens.
Abbildung 3: Spannweite und Varianz der AfD-Ergebnisse in ost- und westdeutschen
Großstädten, Europawahl 2019
Während zum Beispiel in
München in 50 Prozent aller
Wahlbezirke das AfD-Ergebnis
zwischen fünf und knapp acht
Prozent liegt und nur in einem
Bezirk mehr als 20 Prozent erreicht wurden, ist in Cottbus
oder Dresden eine erheblich
größere Spreizung auf zudem
höherem Niveau zu beobachten. Doch auch in westdeutschen Städten mit sozial benachteiligten Quartieren wie
Essen oder Mannheim spannt
sich das Ergebnistableau
4
Ein zeitlicher Längsschnittvergleich
dieser Spannweiten zwischen Bundestags- und Europawahl bei fünf
Großstädten in Ostdeutschland liefert ein gegenläufiges Bild: Während in den aufstrebenden Zentren
Potsdam, Dresden und Erfurt ein
Rückgang der mittleren Ergebnisquartile feststellbar ist, spreizen
sich in den strukturproblematischen Städten wie Cottbus oder
Gera die Ergebnisse in den Wahlbezirken weiter auf. Abweichende
demografische und soziale Entwicklungsmuster liefern den Hintergrund.
Abbildung 4: Quartilsabstand, ostdeutsche Großstädte, BT 2017 und EW
2019
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
den Landtagswahlen Ende Oktober weitgehend bestätigt; in der Spitze, im Saale-OrlaKreis, erreichten die Abweichungen bis zu 50
Prozentpunkte. In 84 Gemeinden – in Brandenburg (23), Sachsen (44) und Thüringen
(17) – erzielte die AfD bei den Landtagswahlen
2019 jeweils mehr als 40 Prozent, in fünf sogar
Die Streuung der AfD-Ergebnisse
im ländlichen Raum
Doch die teilweise hohe Ergebnisbreite der
AfD beschränkt sich keineswegs auf die urbanen Zentren. Die struktur- und entwicklungsbezogenen Auswertungen auf Kreisebene
dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb auch der stärker peripherisierten
Höchster Gemeindeanteil
15,5
16,6
25,5
27,1
23,2
16,1
24,7
9,3
Niedrigster Gemeindeanteil
27,1
38,8
46,0
49,1
47,0
27,6
33,0
26,4
20,2
24,4
25,2
18,7
19,4
24,2
17,7
34,9
36,2
44,2
40,2
24,7
22,8
19,8
18,3
14,6
22,3
23,2
23,1
16,3
22,9
36,7
36,4
39,7
39,3
27,4
16,0
8,5
10,00
4,7
20,00
0,00
22,3
18,7
30,00
13,8
40,00
35,9
50,00
43,5
60,00
51,7
Thüringen: Höchste und geringste AfD-Anteile in den
Kreisen nach Gemeinden, Europawahl 2019
Kreisergebnis
Abbildung 5: Thüringen: Höchste und geringste AfD-Anteile in den Kreisen nach Gemeinden, Europawahl 2019
Kreise. zwischen den Gemeinden ein hohes
Gefälle bei den Stimmanteilen der AfD zu beobachten ist – von einem regional einheitlichen Wahlverhalten kann also keineswegs die
Rede sein.
So lagen bei den Europawahlen 2019 in einigen Kreisen Thüringens die Gemeindeergebnisse um bis zu 40 Prozentpunkte auseinander; die geringste Abweichung betrug immerhin noch 13 Punkte. Dieses Muster wurde bei
5
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
jeweils mehr als die Hälfte der Stimmen. Zugleich blieb sie in 26 Gemeinden unter der Marke von 15
Prozent, darunter 20 mit wenigen
hundert Bewohnern. Dieses Muster
beschränkte sich nicht nur auf Thüringen.
Bei
den
Landtagswahlen in Brandenburg variierten die
AfD-Anteile auf der Gemeindeebene
innerhalb der Landkreise zwischen
17,5 Punkten (Uckermark) und 30
Punkten in Potsdam-Mittelmark.
Diese knappen Zahlen verdeutlichen,
dass eine gröbere entwicklungsstrukturelle Perspektive bei weitem
nicht ausreicht, um die Varianz der
AfD-Ergebnisse zu erklären. Vielmehr sind weitere (mikro-)lokale Besonderheiten zu berücksichtigen.
Und diese fallen bei vergleichbar hohem Zuspruch für die Rechtspopulisten keineswegs einheitlich aus. Dem
Bild der dörflichen Gemeinden, die
von der (Eigen-)Versorgung abgeschnitten sind, entsprechen etwa das
Angerdorf Paska im Saale-Orla-Kreis
(AfD: 62,7 %) oder Kühdorf im Kreis
Greiz (54,1 %):
Abbildungen 6: Paska und Kreis Hildburghausen Quellen: Google Maps/
eigene Fotos
6
„Durch das Hundertseelennest führt
nur eine kleine Landstraße, die an
der in diesem Gebiet wild mäandernden Saale plötzlich endet. Weiter
geht es dann nur noch mit einer
Fähre. Zum Einkauf bietet sich, auf
der gewundenen Straße zurück, eigentlich nur Ziegenrück an, eine der
kleinsten Städte Deutschlands, die
nicht zuletzt vom Thüringischen
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
Schiefergebirge an der Ausbreitung gehindert
wird. Kann man sich als Nicht-Tourist abgehängter fühlen als hier?“3
In anderen Gemeinden mit hohen AfD-Anteilen, wie etwa in Hirschfeld (50,6 %) in der
brandenburgischen Peripherie, gibt es dagegen – trotz der geografischen Lage am Braunkohlegebiet – nach Aussagen des lokalen AfDVertreters keine „dringlichen Probleme, außer,
dass viele zum Pendeln gezwungen“ seien.
Migration habe in seinem Wahlkampf „keine
Rolle“ gespielt. Das Ergebnis zeige vielmehr,
dass „die Menschen hier noch normal sind“.4
Tatsächlich waren rechte Parteien hier schon
lange vor der AfD-Gründung stark vertreten.
In den 2000er Jahren erzielte die DVU bis zu
26 Prozent. Auch das Vereinsleben ist im
1.200-Einwohner-Ort durchaus sichtbar und
reicht, eher konservativ-traditionell, vom Anglerverein über einen Heimatverein bis zum
Spielmannszug „Deutsche Eiche“ und
„Hirschfelder Blide“ zwecks Bewahrung mittelalterliche Bräuche. Vielfach sind gerade im
Osten die Folgen der „inneren Peripherisierung“ in zentrumsferneren Ortsteilen von
Klein- und Mittelstädten zu beobachten, welche nicht selten eingemeindet worden sind.
Dies wird am Beispiel Thüringens deutlich, wo
„innere Peripherisierung“ – nach der regionalen – auf der Ortsteilebene zu noch höheren
AfD-Ergebnissen führt, wie etwa in Abbildung
3
Zit. n. U. Ebbinghaus: Die unterschätzte Landflucht. FAZ,
28.10.2019
4
Parteimitglieder in Deutschland: Version 2019. Oskar Niedermayer. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 30; Berlin:
Freie Universität Berlin 2019.
5
Zeit-Online, 31.5.2019: AfD lässt Mandate mangels Kandidaten
5 dargestellt, im Kreis Hildburghausen an der
bayerischen Grenze.
Die begrenzte, aber wachsende
kommunalpolitische Verankerung
der AfD
Im Vergleich zu den anderen im Bundestag
vertretenen Parteien ist die kommunalpolitische Verankerung der AfD bislang begrenzt.
Zwar konnte die Partei die Mitgliederzahl seit
ihrer Gründung 2013 auf knapp 35.000 verdoppeln,4 doch reicht diese Basis häufig nicht
aus, um flächendeckend Kandidatinnen und
Kandidaten aufzustellen, bzw. errungene
kommunale Mandate anzunehmen, wie zuletzt die Kommunalwahlen in sieben Ländern
im Mai 2019 dokumentiert haben.5 Selbst in
ihrer Hochburg Sachsen bleibt die Mitgliederbasis von knapp 2.600 Ende 2019 deutlich
hinter jener der anderen Parteien zurück.6
Nach Auskunft der AfD seien 82 Prozent ihrer
Mitglieder zuvor nicht in einer Partei aktiv gewesen, gut sechs Prozent in der Union und die
übrigen 12 Prozent in anderen Parteien.7
Bei den Kommunalwahlen 2019 gewann die
AfD statt der zuvor rund 350 allerdings mindestens 3.361 neue kommunale Mandate in
jenen zehn Bundesländern hinzu, in denen gewählt wurde. In den übrigen Ländern verfügte
sie bereits über etwa 1.000 Mandate.8 Gleichwohl bleibt das Ergebnis bislang überschaubar. In Rheinland-Pfalz errang die Partei 2019
6
Zahlen für Dezember 2019 beim MDR Sachsen, 26.12.2019.
M. Gathmann: In diesen Parteien waren AfD-Mitglieder vorher
aktiv. Cicero-Exklusiv, 27.9.2019
8
T. Giesbers: Kommunalwahlen 2019: extrem rechte Antritte und
Mandate. https://www.apabiz.de/2019/kommunalwahlen-2019extrem-rechte-antritte-und-mandate/
7
unbesetzt.
7
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
nur in dreißig Städten und Gemeinden
überhaupt Stimmen. Dort wo sie antrat, er-
Stimmen erreicht; selbst in Sachsen wurden
nur in gut der Hälfte der Gemeinden Stimmen
für die Partei abgegeben.
Dort, wo die AfD kandidiert hat, lag ihr Ergebnis überwiegend
zwischen 10 und 20
Prozent, also deutlich
unterhalb der Ergebnisse bei Landes-, Bundestags- oder Europawahlen. Offenkundig
kann die AfD aktuell
Abbildung 7: Kommunale AfD-Mandate nach den Wahlen im Mai 2019 in den Ländern nach Ebenen
reichte sie 8,3 Prozent, an der Spitze lagen
Germersheim (17,7), Haßloch (15,8) und
Ludwigshafen mit 13,4 Prozent. Bei den
Kreistagswahlen erreichte sie auf Gemeindeebene vereinzelt 23 bis 25 Prozent der Stimmen. Auch im Saarland war die AfD nur in 24
von 52 Gemeinden erfolgreich und erreichte
dort zwischen 5,6 Prozent und 11,6 Prozent
der Stimmen. Auch in Baden-Württemberg
fehlten ihr häufig Kandidatinnen und Kandidaten, sodass sie nur in Städten über
100.000 Einwohnerinnern und Einwohnern
mehr als fünf Prozent erzielte, in kleinen Gemeinden aber nahezu unsichtbar blieb.
Auch in den ostdeutschen Ländern klaffen
große Lücken in der Karte der kommunalen
AfD-Mandate. In mehr als der Hälfte der Gemeinden hat die AfD mangels Bewerbungen
bei den Gemeinderatswahlen 2019 keine
9
9
8
Abbildung 8: AfD-Ergebnisse bei den Gemeinderatswahlen 2019, in Prozent, Darstellung auf Basis Landeswahlleiter
ebd.
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
nur bei bundesweiten Themen punkten.
Exkurs: Zivilgesellschaft und AfD –
Beobachtungen zu den Kommunalwahlen 2019
Häufig wird der Erfolg der AfD – insbesondere
im Osten – mit dem Fehlen einer breiten Zivilgesellschaft erklärt, oder zumindest mit dem
mangelnden zivilgesellschaftlichen Protest von
liberalen und konservativen Milieus.10 Insofern
ist es sicherlich sinnvoll, als Ausschnitt die Teilnahme von eher traditionellen zivilgesellschaftlichen Akteuren bei den Gemeindewahlen 2019 abzubilden und im hier vorgelegten
Kontext den Zusammenhang zum lokalen Fehlen von AfD-Kandidaturen sowie zu sonstigen
AfD-Aktivitäten herzustellen. Es geht also um
eine akteurszentrierte Bewertung11 und nicht
um die normative Perspektive auf den Zusammenhang von AfD-Erfolg und defizitärer Zivilgesellschaft.
Die Bedeutung lokal antretender zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure ist hoch.
Bei den Kommunalwahlen 2019 in Thüringen
erzielten in 50 Gemeinden Schützen- und
Sportvereine bis hin zum Bauernverband usw.
Ergebnisse von bis zu 99 Prozent – in 12 Gemeinden sogar mehr als die Hälfte der Stimmen. In 165 Gemeinden erzielte die (Freiwillige) Feuerwehr12 Ergebnisse, in 72 davon
10
beispielhaft: F. Hillebrand: Keine Protestwähler. Der Soziologe
Matthias Quent über die Wahlergebnisse der AfD und die fehlende Zivilgesellschaft im Osten. ND, 05.09.2019
11
vgl. dazu A. Zimmer: Die verschiedenen Dimensionen der Zivilgesellschaft. BpB, 31.5.2012
12
U. Steinbeiß, T. Weidlich: „Ohne Blaulicht“. Feuerwehren als
zivilgesellschaftliche Akteure, in: Kohlstruck, M. (Hg.), Wilking,
D. Einblicke IV. Ein Werkstattbuch. Potsdam: Demos 2012
13
siehe T. Jordan: Feuerwehrmann und Bürgermeister, SZ,
20.5.2019
9
mehr als 50 Prozent der Stimmen. Nur in acht
dieser 165 Gemeinden war die AfD überhaupt
angetreten. In Sachsen-Anhalt war bereits bei
der Kommunalwahl 2015 in jeder dritten Gemeinde die Freiwillige Feuerwehr die einzige
Liste.13 Dort war in den Gemeinden Ahlsdorf
(28,7 %) und Klostermansfeld (45,5 %) die
Wählergruppe der Freiwilligen Feuerwehr
stärkste Kraft.14 Dort, wo bei den Gemeinderatswahlen in Thüringen die Schützen- und
Sportvereine mehr als 10 Prozent erzielten,
kam die AfD bei den Landtagswahlen 2019
auf knapp 28 Prozent. Dort, wo die Feuerwehr
bei den Gemeinderatswahlen mehr als 30 Prozent erreichte, kam die AfD sogar auf mehr als
28 Prozent.
Insofern kompensieren in manchen Gebieten
die Wählerinnen und Wähler auf der kommunalen Ebene ihre AfD-Entscheidung auf Landes- oder Bundesebene in nicht unerheblichem Maße durch die Wahl traditioneller zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure,
welche dort oft langfristig verankert sind. Parallel wird der Partei vorgeworfen, zivilgesellschaftliche Organisationen gezielt zu unterwandern, bis hin zur Bereitstellung finanzieller
Mittel.15 Im Deutschen Feuerwehrverband
führte dieses Vorgehen im Herbst 2019 zu einer Führungskrise, bei der der Vorsitzende seinen Rücktritt ankündigte.16
14
https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/landespolitik/kommunalwahl-partei-hochburgen-gemeinden-100.html In Thüringen gibt
es u.a. 849 Freiwillige Feuerwehren mit 1.498 Ortsteilwehren sowie 87 Stützpunktfeuerwehren, neun Berufsfeuerwehren und sieben behördlich anerkannte Werkfeuerwehren mit insgesamt
59.357 Feuerwehrangehörigen sowie 11.548 Jugendfeuerwehrleuten.
15
dazu D. Torebko: In der Mitte der Gesellschaft. Lausitzer Rundschau, 3.9.2019
16
vgl. K. Frigelj: Der unrühmliche Rückzug des deutschen Feuerwehr-Chefs, Welt-Online, 19.12.2019
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020
Abschließende Bemerkungen
Das Ausmaß der Streuung der AfD-Ergebnisse
innerhalb von Großstädten und Kreisen zeigt,
dass die in Teil 1 behandelten Strukturmerkmale und -perspektiven auf der Kreisebene –
wie etwa die regionale Peripherisierung – zwar
notwendige, keineswegs jedoch hinreichende
Erklärungen zur Höhe der Stimmanteile der
Rechtspopulisten liefern können.
Im dritten Teil wird nun erweiternd die Milieuund Milieuraumanalyse herangezogen, um die
sichtbaren Ergebnisunterschiede über lebensweltliche Bewohnerinnen und Bewohneranteile und -strukturen erweitert erklären zu
können. Der Aspekt der zivilgesellschaftlichen
Aktivitäten und Entwicklungen vor Ort bedarf
sicherlich einer vertieften Betrachtung die hier
nicht vorgenommen werden kann.
Impressum
vhw werkSTADT
ISSN 2367-0819
Erscheinungsort: Berlin
Autor
Bernd Hallenberg
Stellvertreter des Vorstandes vhw e. V.
Herausgeber
vhw-Bundesverband für Wohnen und
Stadtentwicklung e. V.
Vorstand: Prof. Dr. Jürgen Aring
Fritschestraße 27/28
10585 Berlin
Telefon: +49 30 390473-230
Telefax: +49 30 390473-190
werkstadt@vhw.de
www.vhw.de
Grundlayout
DCM Druck Center Meckenheim GmbH
www.druckcenter.de
Erscheinungsweise
unregelmäßig
Bezug
Alle Ausgaben der vhw werkSTADT sind
unter: http://www.vhw.de/publikationen/
kostenfrei herunterzuladen.
Titelbild
© vhw e. V.
10
vhw werkSTADT, Nummer 37, Januar 2020