maldekstra #16
september 2022
Globale Perspektiven von links: das Auslandsjournal
Wirtschaft im Krieg
Foto: picture alliance / Andreas Franke
Widerstreitende politische und wirtschaftliche Interessen
bestimmen seit jeher die Kriegsökonomie.
Im Zeitalter der Globalisierung betrifft das alle und alles.
Kriegsökonomien enthalten in
dieser weltumspannenden
Wirtschaftsweise Kapitalismus
immer auch ein Prosperitätsversprechen. Der Krieg selbst und die
Nachkriegszeiten generieren
Nachfrage, ermöglichen geopolitische Neuordnung, bauen Überschusskapazitäten ab. Obwohl die
Grauen eines jeden Krieges und
das singuläre Elend zweier Weltkriege eine andere Sprache zu
sprechen scheinen: Es ist wichtig,
über den Zusammenhang von
Kriegsökonomie und Wirtschaftswachstum zu reden. Denn
wenn es nicht um die vollständige Vernichtung von allen und
allem geht, bedeuten Kriege für
bestimmte Interessengruppen
immer auch geldwerte und Machtvorteile.
Die Tragik der Gegenwart, die
nun schon lange andauert, besteht darin, dass der Eroberungskrieg seitens Russlands und der
Unabhängigkeitskrieg seitens der
Ukraine zugleich ein globalisierter Krieg sind, aus dem niemand
desertieren kann und der zugleich einen anderen, globalen
Krieg, den es zu beenden gälte,
noch weiter in den Hintergrund
rückt: den Krieg, den wir mit
unserer Art, zu wirtschaften, die
damit einhergehenden stetig
wachsenden Ungleichheiten in
Kauf nehmend, gegen die Lebensgrundlage aller Menschen
führen, indem nach und nach
alle planetaren Grenzen überschritten werden.
2
3 Wie die Sache endet, ist nicht
ausgemacht Real ist durch Krieg
seit Beginn der 1990er Jahre
nichts mehr gewonnen worden.
Gespräch mit Lutz Brangsch
8 Kriegsökonomie Afghanistan
Mehr als 40 Jahre Krieg haben
eine parasitäre Profiteursschicht
und Massenarmut geschaffen
10 Geißel und Brotgeber zugleich
Über den systematischen
Zusammenhang von Krieg und
Ökonomie
11 Neuer Systemkonflikt oder
alter Ideologiestreit? Die
Länder Osteuropas und weit
darüber hinaus wurden Opfer
westlicher Hybris und westlichen Geschäftssinns.
14 (Alb-)Traum der Entwicklung
Gefährliche Abhängigkeiten,
kalkulierte globale Ausbeutung
– Hunger hat viele Gründe
16 Scheiß auf Kunstdünger!
Ressourcenschonende DüngerAlternativen auf Basis menschlicher Fäkalien sind erforscht und
erprobt – aber vom geltenden
Recht nicht vorgesehen
17 Haitis ewige Schuld Ein Teufelskreis, der bis ins 20. Jahrhundert
reicht
18 Lebend, frei und schuldenfrei
Es braucht dringend eine
feministische Perspektive auf
Verschuldung.
20 Wirtschaft als Waffe Erklärtes
Kriegsziel ist es, Russland dauerhaft ökonomisch in die Knie zu
zwingen
22 Ökonomischer Kollateralschaden, diplomatischer Seiltanz
Der Ukrainekrieg könnte dazu
führen, dass sich politische
Loyalitäten im postsowjetischen
Raum verschieben
Impressum
maldekstra wird herausgegeben
von der common Verlagsgenossenschaft eG, Franz-Mehring-Platz 1,
10243 Berlin, in Kooperation mit der
Beirat Hana Pfennig, Boris Kanzleiter
Redaktion Julia Funcke (Korrektorat),
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„maldekstra“ steht für „links“ in der
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„maldekstra“ wird finanziert aus
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wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung.
maldekstra #16September 2022
Neue Wirtschafts(un)ordnung
Die Gegenwart kennt verschiedene Logiken. Der
Begriff der multipolaren Welt ist zwar gesetzt, das
Bestreben jedoch, Problemlagen auf möglichst klare
Zuschreibungen einzudampfen, groß. Hier die
Ursache, da die Folgen – normative Verlässlichkeit
vorspiegeln, Handlungsfähigkeit proklamieren,
Eindeutigkeit versus Vielstimmigkeit.
In Zeiten tiefgreifender Umbrüche ist dies das
Rezept noch jeder Politik der Gegenwart. Globalisierung, Klimakatastrophe, die zunehmende Verschiebung von Reichtum in die Verfügungsgewalt
weniger – weder die nationalen Politiken noch die
internationale „Gemeinschaft“, worin auch immer
sich dieser nebulöse Begriff manifestiert, sind der
Komplexität dieser Umbrüche gewachsen, die
durch einen Schock, wie der Ukrainekrieg ihn
darstellt, noch verstärkt und verzerrt werden.
In dem Roman „Das Ministerium für die Zukunft“ erfindet der Autor Kim Stanley Robinson
den Begriff der „Monocausotaxophilie“ – der Liebe
zu EINER Idee, die ALLES erklärt. Ein wenig scheint
dies ein Problem dieser Zeit zu sein. Obwohl wir die
Frage, um was für einen Krieg es sich handelt, nicht
umfassend beantworten können. Und wollen? Der
französische Philosoph Étienne Balibar unternahm
den Versuch, die aus seiner Sicht vier großen
Dimensionen des Krieges zu beschreiben, und
nennt als dritte, dass dieser Krieg im Begriff sei, ein
globalisierter Krieg zu werden. Da ist schon allein
deshalb etwas dran, weil die Kriege seit Beginn der
1990er Jahre (nimmt man den Jugoslawienkrieg als
Ausgangspunkt) sozusagen einpreist wurden.
Einschließlich all der Opfer, die sie forderten.
Zwischen 100.000 und 200.000 Tote haben
Schätzungen zufolge beide Ttschetschenienkriege
(zwischen Russland und der Republik Tschetschenien) gefordert, was zu keinen allzu großen Verwerfungen und Reaktionen anderswo in der Welt
geführt hat. Es waren auch, das ist trotz des
zynischen Klangs sachlich zu konstatieren,
anderswo nicht ausreichend wirtschaftliche
Interessen berührt.
Die Gleichzeitigkeit säkularer Umbrüche und
externer Schocks, wie dieses Krieges, habe Folgen
für die Politik, schrieb der Sozialwissenschaftler
Hans-Jürgen Urban in der Juliausgabe der „Blätter“:
„Strukturell überfordert steht sie vor Problempanoramen, in denen unterschiedliche Logiken wirken,
die kaum zu managen sind. Dabei wächst das Risiko
in dem Maße, in dem sich die Problemdeutungen
von ökonomischen Gewinn- und politischen
Machtinteressen entfernen.“
Ökonomische Gewinn- und politische Machtinteressen? Das mag kaum jemand ehrlich zugeben,
obwohl nur dieser Blick die Möglichkeit einer
komplexen Problemanalyse eröffnen würde und
vielleicht die Chance böte, einer zunehmend
militarisierten öffentlichen Debatte etwas entgegenzusetzen.
Der Wunsch nach moralischer Eindeutigkeit
verträgt sich nicht mit der Frage nach den sehr
unterschiedlichen geopolitischen und ökonomischen Interessen, die in der Kriegs-Gegenwart
wichtige Rollen spielen. Dass ein Teil der Länder des
afrikanischen Kontinents zurückhaltend ist, wenn
es um die Positionierung gegenüber dem Aggressor
Russland geht, wird moralisch für verwerflich
befunden, ohne dass die Frage gestellt wird, welche
– auch ökonomischen – Entwicklungen der
Vergangenheit denn zu genau dieser Haltung
geführt haben mögen. Wir sind doch die Guten mit
unseren monotonen Rezepten neoliberaler
Schocktherapien in Kombination mit einem nie
enden wollenden Neokolonialismus. Dass im
Schatten dieses Krieges der schon lange währende
Handelskrieg zwischen den USA und China, in dem
es auch um die Neuaufteilung von wirtschaftlichen
Einflusssphären geht, alle in Haftung nimmt, die
sich gegenwärtig zu diesem Krieg zu verhalten
haben, bleibt wesentlich unter der alles übertünchenden Geste der Empörung verborgen. Dass
Rüstungskonzerne wie Raytheon Technologies
(USA) schon vor diesem Krieg darüber flohlockten,
was für große Geschäfte ihnen militärische Konflikte – egal wo auf der Welt – bescheren würden, was
der CEO Greg Hayes bereits einen Tag nach Beginn
des Ukrainekrieges freudig bestätigte, wird nicht als
wirtschaftliche Dimension thematisiert. Dabei hat
noch jeder Krieg Absatzmärkte sowohl temporär
zerstört als auch neue geschaffen, Rendite an der
einen Stelle beschnitten und an anderen Stellen in
die Höhe schnellen lassen.
Darüber nicht zu reden läuft auf die „langsame
Löschung der Zukunft“ (Franco Berardi, marxistischer Schriftsteller) hinaus.
Kathrin Gerlof
Fortlaufend nachdenken: Ein Dossier
„Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns wieder einmal gezeigt, wie verletzlich die Friedensordnung in Europa ist. Und dass auch die Linke neue Antworten auf die Frage braucht, wie ein stabiler,
positiver Frieden erreicht werden.“ Ein Dossier auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung öffnet
den Raum für eine Diskussion über mögliche wirtschaftliche und diplomatische Mittel als Alternative
zu Waffenlieferungen und Auslandseinsätzen. „Auch in Zeiten des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges in der Ukraine ist das langfristige Ziel eines kooperativen Sicherheitssystems in Europa immer noch richtig“, heißt es da. Streitbar und kritisch das Buch über die Geschichte und die Hintergründe
einer sich mehr und mehr militarisierenden Europäischen Union, verfasst von Autor*innen des Europäischen Netzwerks gegen Waffenhandel. Ebenso spannend der Beitrag von Lucas Maaser und Stephanie
Verlaan „Pentagon goes Silicon Valley“. kg
https://www.rosalux.de/die-waffen-nieder
September 2022
maldekstra #16
3
Krater durch einen
Raketenbeschuss,
Charkiv,
August 2022
Foto: picture alliance
Gigantische Umverteilung
Seit Beginn der 1990er Jahre ist durch Krieg nichts mehr gewonnen
worden, sagt Lutz Brangsch
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Ist es der Versuch, das zu verschleiern, oder mangelnde
Erkenntnisfähigkeit, die man auch bei Linken verorten
könnte?
Wir sind Teil des Problems. Auch in radikalster
Opposition und erst recht als sozialdemokratische
Linke leben wir global gesehen gut mit der Situ-
sa-
fonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation haben dazu geführt, dass die wirtschaftliche
und soziale Basis einer nachhaltigen Entwicklung
gar nicht gestaltet werden konnte. Die Art der
Einordnung dieser Staaten in die internationale
Arbeitsteilung hat die politischen und wirtschaftlichen Systeme völlig deformiert. Die Versuche
Russlands, durch staatliche Programme Innovationen und volkswirtschaftliche Strukturveränderungen durchzusetzen, scheiterten an dem so
gesetzten Rahmen. Freihandel und Freiheit des
Kapitalverkehrs erwiesen sich als Grenzen.
Hinsichtlich der Neugestaltung der Weltwirtschaftsordnung fallen daher die Interessen
Russlands mit denen Chinas und anderer Länder
durchaus zusammen. Da liegt der ökonomische
Hintergrund dieses Krieges. Viele andere Gründe
kommen natürlich dazu.
Fo t o : R o
Ich bin – in einem System, das abgeschlossene Vergangenheit ist – mit sehr einfachen Wahrheiten
groß geworden. Eine lautete: Jedem Krieg liegen ökonomische Interessen zugrunde. Die galten als Ausgangspunkt für das, was der entfesselte Kapitalismus
in wiederkehrenden Mustern zur Realisierung
seiner Profitraten anrichtet. Dass es so einfach nicht
ist, wissen wir längst. Aber interessant ist doch,
dass viel über Ursachen und Gründe für diesen neuen
Krieg, den Russland im Februar begann, geredet
und geschrieben wird, jedoch vergleichsweise wenig
darüber, welche ökomischen Interessen und Begehren es gibt.
Es geht um nichts Geringeres als den Charakter der
zukünftigen Weltwirtschaftsordnung. Bisher
stand vor allem die Auseinandersetzung mit China
im Mittelpunkt. Das war aber nur die erste Etappe
des Kampfes um Dominanz in der Weltwirtschaft.
Der Krieg um die und in der Ukraine hat ihn auf
völlig neue und so weitgehend unerwartete Weise
eskaliert. Das große Versprechen gegenüber
den Nachfolgestaaten der UdSSR, dass die perfekte
Neoliberalisierung den Wohlstand bringen wird,
erwies sich als uneinlösbar. Die Vorschläge der westlichen Ratgeber, des Internationalen Währungs-
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Lutz Brangsch ist Ökonom
und wissenschaftlicher
Referent für Staat und Demokratie im Institut für
Gesellschaftsanalyse der
Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Er arbeitet unter anderem
zu Fragen der Transformation von Staatlichkeit und
Demokratie im 21. Jahrhundert.
4
maldekstra #16September 2022
ation, wie sie ist. So ist eine Identifikation mit dem
politischen System entstanden, die die Schattenseiten der westeuropäisch-atlantischen „Wertegemeinschaft“ zum Teil wegdrückt. Nun zeigt sich,
dass wir in unserer Kapitalismuskritik offensichtlich zu flach und selektiv geblieben sind. Die
Erosion des jetzt oft beschworenen Wertehaushalts,
wie sie etwa in dem jährlich erscheinenden
Grundrechte-Report nachzuvollziehen ist, und die
Kritik der Weltwirtschaftsordnung werden
meist getrennt betrachtet. Die Konsequenzen der
„Vielfalt der Kapitalismen“ sind nicht erfasst.
Wir sind solidarisch mit Argentinien, wenn
dort die Staatsschuldenkrise eskaliert
und die Angriffe der Neoliberalen komDieser Krieg
men. Gegenüber Russland, genauer
ist Teil einer
den Linken in Russland, ist solch eine
umfassenderen
Sicht kaum entwickelt. Russland
Krise des Weltwirt- und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren für die Linken in den
schaftssystems.
letzten Jahren nicht sonderlich von Interesse. Die Solidarität mit den Gewerkschaften hält sich in Grenzen, bei aller Anerkennung der Bemühungen einzelner Organisationen. Dass sich bei den Dimensionen, die Russland in jeder Hinsicht darstellt, Probleme viel
schärfer artikulieren und zuspitzen müssen, wird
auch jetzt noch verdrängt. Dazu kommen sicher
aus historischen Gründen noch latent vorhandene
antisowjetische Einstellungen, die auf Russland
übertragen werden – unberechtigt, denn Russland
war nicht die Sowjetunion.
Wir sind in einer Haftungsgemeinschaft?
Aus der man nicht rauskommt. Die Vorstellung,
dass „unser“ System auf Russland, die Ukraine
oder Kasachstan ohne Weiteres übertragen werden
könnte, ist angesichts der völlig anderen politischen Konstellationen immer illusorisch gewesen,
erst recht heute. Das dort entstandene Bürgertum
hat einen völlig anderen Charakter, ist zum Beispiel
viel skupelloser als das in Westeuropa oder den
USA. Die Linken sind noch schwächer als hier, die
Gewerkschaftsbewegung ist nicht stark genug,
um die Neoliberalisierung zu bändigen. Diese Seite
des westlichen Wirtschaftssystems stand ja auch
nie auf der Tagesordnung der Reformberaterinnen
und -berater, die in den nachsowjetischen Staaten
aktiv waren. Diese Konstellation macht die Fixierung auf eine militärische Lösung des Konflikts
auch so fragwürdig. Selbst eine Niederlage Russlands, wie immer man sich das auch vorstellt,
würde nicht plötzlich die Probleme lösen und eine
sozialstaatlich und demokratisch geläuterte
Oberschicht hervorzaubern. Auch die Putsch-Option, die von der liberalen Opposition in Russland verfolgt wird, könnte das nicht. Beides würde
vielleicht zu einer zeitweise tragenden Lösung
führen, was die Ukraine betrifft, aber völlig neue
und noch schärfere Widersprüche hervorbringen,
die eine damit gewonnene Atempause zunichtemachen und in neue Kriege münden würden.
Was ist denn in der Gegenwart ökonomisch mit und
durch diesen Krieg zu gewinnen? Wir haben eine lange
Phase hinter uns, in der der Neoliberalismus alle
möglichen Formen gefunden hat, seine Interessen in
die ganze Welt zu tragen. Auch der russische Neoliberalismus.
Real ist durch Kriege seit Beginn der 1990er Jahre
nichts mehr gewonnen worden. Es konnte (fast)
nirgendwo Stabilität gesichert werden, man denke
nur an den Nahen Osten oder Afghanistan.
Die in den vergangenen Jahrzehnten angeführten
ökonomischen Ziele, wie die Sicherung von
Lieferketten und Handelsrouten oder der Zugang
zu Rohstoffen, sind kaum erreicht worden. Die
meisten Staaten, die von Kriegen betroffen waren,
sind extrem instabil oder autoritär regiert. Sie
sind oft auf internationale Hilfen angewiesen, kosten also weiter Geld. Die Einzigen, die dabei
ökonomisch gewonnen haben, sind die Waffenproduzenten und die mit der Kriegführung
verbundenen Unternehmen. Allerdings sollte
man auch die indirekten Effekte, wie sie sich auf
den Finanzmärkten unter Kriegsbedingungen
realisieren lassen, nicht vergessen. All das ist eine
gigantische Umverteilung, die die Welt nicht
sicherer gemacht hat.
Das klingt, als wäre das ökonomische Kalkül,
wären die wirtschaftlichen Begehren des sogenannten
globalen Nordens nicht aufgegangen.
Soweit man die Stabilität der Weltwirtschaftsordnung betrachtet, ist das Kalkül nicht aufgegangen.
Der Krieg in der Ukraine ist Teil des Versuchs
Russlands, eine „andere“, eine zweite Weltwirtschaft zu etablieren, die die eigenen Interessen
in Rechnung stellt. Die Regulierungsfähigkeit der
Weltwirtschaftsordnung, die auf den Prämissen
beruhte, die der neoliberale Umsturz in den 1970er
und 1980er Jahren setzte, hat sich als außerstande
erwiesen, die Probleme zu lösen, die sie, wie im Fall
Russlands, hervorbringt. Mehr noch – sie könnte
diese Probleme nicht lösen, ohne das eigene Fundament, verkürzt gesagt die strikte Marktorientierung, in Frage zu stellen. Mit dem Aufstieg Chinas,
Indiens, aber auch der Türkei oder des Iran, also
völlig neuer Formen des Kapitalismus, ist die Integrationsfähigkeit des alten Modells erschöpft.
Die Wirtschaftsmacht, die am Ende durch diesen
Krieg, mit diesem Krieg wiedererstarken wird, sind
die USA. Eine These – der Beweis ist noch nicht
erbracht. Als Weltmacht, Leitland. Hat so ein Krieg
am Ende dann doch die Auswirkung, dass sich
ökonomische Machtverteilung noch einmal viel klarer
sortieren wird? Machtzentren gestärkt werden?
Das ist völlig offen. Dieser Krieg ist Teil einer umfassenderen Krise des Weltwirtschaftssystems.
Wenn sich China zum Beispiel im Spiegel der Sanktionen gegen Russland der Schwächen seiner
eigenen Struktur bewusst wird und mit dem Potenzial, das es aufgebaut hat, diese Schwächen auch
angeht, dann kann das natürlich bei den Ressourcen, die das Land hat, dazu führen, dass die Vorteile, die die USA jetzt noch auf technologischem
Gebiet haben, sehr schnell verloren gehen. Für
Russland geht es um Modernisierung durch Importsubstitution, gerade und auch bei innovativen
Produkten, und um neue Absatzmärkte. Dabei ist
die Welt im Verhältnis zu diesem Krieg nach wie
vor gespalten. Viele Länder des globalen Südens, die
als Rohstofflieferanten oder Lieferanten intelligen-
September 2022
ter Arbeitskraft für den „Westen“ interessant sind,
sehen eine Chance, sich aus dieser Abhängigkeit zu
befreien und eine gewisse Eigenständigkeit im
Rahmen einer anderen Weltordnung zu erlangen.
Das ist auch das Kalkül eines Teils der russländischen Eliten. Sie setzen auf Multipolarität – China,
die BRICS-Staaten generell, die Türkei und der
Iran als anerkannte Regionalmächte, Russland als
zwar China nicht ebenbürtiger, aber eigenständiger Spieler. Das ist nicht unrealistisch, wenn man
in Rechnung stellt, dass die Unterstützung des
Rests der Welt für den westlichen Kurs nicht so
nachdrücklich ist, wie suggeriert wird. Dafür sind
die Wunden viel zu tief. Es ist im Augenblick nicht
ausgemacht, wie die Sache endet. Dazu sind auch
die USA zu stark von außenwirtschaftlichen
Beziehungen abhängig. Sie können sich auf ihren
Binnenmarkt zurückziehen, aber diese Stärke hat
China genauso. Das Argument, China bleibe davon
abhängig, dass es seine Waren exportieren kann,
heißt ja nicht, dass das so bleiben muss und dass die
USA der entscheidende Markt sein müssen. Die hier
vorherrschende Sicht, dass China Peripherie sei, ist
nicht mehr zeitgemäß. Aus Sicht Chinas ist die EU
die Peripherie. Aber all das ist völlig offen, denn es
hängt viel davon ab, wie sich bei allen Akteuren die
innenpolitischen Konstellationen entwickeln.
maldekstra #16
Die neue Qualität der gegenwärtigen Situation besteht
also vielleicht doch darin, dass am Ende eine andere
Weltordnung, Weltwirtschaftsordnung stehen kann.
Diese Deutungsmacht hatten die Kriege der jüngeren
Vergangenheit seit Beginn der 1990er Jahre nicht.
Das stimmt. Es geht nicht um den Wechsel einer
Führungsmacht, es geht um eine grundsätzlich
andere Machtkonstellation. Das ist der erste Krieg
des 21. Jahrhunderts, und der kann nicht mit den
Kriegen davor verglichen werden. In Syrien oder
im Irak haben die USA in den Angriff viel mehr
investiert als Russland bislang im Fall der Ukraine.
Wenn Putin sagt, Russland habe noch gar nicht
richtig mit einem Krieg begonnen, dann ist das, so
pervers es ist, wohl richtig. Hier ist ein völlig
neues und anderes Eskalationspotenzial auf allen
Gebieten möglich.
Als „Rausch des Gleichschritts mit dem Zeitgeist“
wurde die Gegenwart mal in den „Blättern“ beschrieben. Der Tabubruch dieses Krieges ist gut dafür
geeignet, ihm alle multiplen Krisen in die Schuhe zu
schieben.
Es ist eine Frage des Selbstbildes des „Westens“,
um mal die hässliche Verallgemeinerung zu
nehmen. Alles, was nicht funktioniert, erscheint
als überwindbare Episode, generell funktioniert
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Zerstörte russische Militärfahrzeuge werden in Kiew ausgestellt,
August 2022
Foto: Maxym Marusenko/NurPhoto/
picture alliance
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maldekstra #16September 2022
Armin Papperger,
Vorstand Rheinmetall, vor
einer Fahrerkabine für
Logistikfahrzeuge der HX-Serie,
Rheinmetall-Werk Unterlüß,
Juli 2022,
Foto: picture alliance/dpa
Neutralität passé
Schweden und Finnland werden dem Militärbündnis NATO beitreten.
Damit ist die Ära politischer Neutralität für beide Länder zu Ende. Beiden Staaten gelang es im 20. Jahrhundert, in Teilen noch darüber hinaus, gut funktionierende soziale Wohlfahrtsstaaten aufzubauen, geprägt von Wirtschaftswachstum, dem Abbau sozialer Ungleichheiten,
technischem Fortschritt. Wechselvoll alles auch aufgrund wechselnder politischer Machtverhältnisse. Trotzdem beschrieb der sogenannte „Dritte Weg“ Schwedens einen Kompromiss zwischen komplett
neoliberaler Globalisierung und einer stärker sozial und demokratisch
verfassten Wirtschaft.
Die selbstverordnete Neutralität nach einer langen Vor-Geschichte, die viele Jahrhunderte lang eine gemeinsame war (als Finnland zum
schwedischen Königreich gehörte), ist vorbei. Damit einhergehen werden ganz sicher weitere Umschichtungen von Geldern in den militärischen Sektor, um den Verpflichtungen, die mit einer NATO-Mitgliedschaft verbunden sind, gerecht zu werden.
Schweden hatte sich seit 1814 konsequent aus allen Kriegen herausgehalten, Finnland, das ab 1941 auf der Seite der deutschen Wehrmacht kämpfte, später die Deutschen aus dem Land vertrieb und territoriale Zugeständnisse an die Sowjetunion machen musste, schloss
1948 das „Abkommen über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ mit der Sowjetunion, entschied sich gegen Hilfen aus dem Marshallplan der USA.
1952 hielt der finnische Staatspräsident Urho Kekkonen (Zentrumspartei) eine große Rede, in der er begründete, warum er Neutralität als
Teil nordischer Identität ansah.
1995 wurden beide Länder Mitglieder der EU, das nordische, neutrale Selbstverständnis wurde ergänzt und vielleicht zunehmend verdrängt durch ein europäisches und westliches. Der russische Angriffskrieg hat geschafft, was bis dahin zwar durch viele Entwicklungen
bereits vorbereitet, aber nie vollzogen worden war: Finnland und
Schweden werden Teil der atlantischen Allianz. Diese Ausweitung hat
weltgeschichtliche Bedeutung, die Idee der Blockfreien ist Geschichte. Der finnische Politökonom Heikki Patomäki schrieb im Juni diesen
Jahres in der Zeitung „Le Monde diplomatique“: „Diese Entscheidung
wird auch die Abhängigkeit der Europäischen Union von Washington
verstärken. Noch gravierender ist, dass sie den globalen Prozess beschleunigt, der immer mehr auf eine zweigeteilte Weltwirtschaft zuläuft, in der Handelskriege zur Regel und gegenseitige Abhängigkeiten
zur Waffe werden.“ kg
September 2022
das System. Fundamentale Widersprüche werden
als situationsbedingte Schwierigkeiten dargestellt.
Und das ist genau der Hintergrund dafür, dass der
Rest der Welt ausgeplündert werden kann – in dem
Glauben, dass alle damit verbundenen Probleme
zu managen seien.
Jetzt wird eine Form der Suffizienz erzwungen, könnte
man sagen – das macht sich am Gas fest –, die „by
disaster“ laufen wird, obwohl man die Chance hätte, es
trotz des Krieges „by design“ zu gestalten. Diese
aufgezwungene Ressourcennot böte ja tatsächlich die
Möglichkeit, umzusteuern. Dafür allerdings gibt es
keine Basis.
Die EU und die USA wollen das Problem lösen, ohne
an die Wurzeln zu gehen. Auch die Unternehmen
suggerieren, dass mit Subventionierungen und der
Lockerung von Gesetzen alles möglich ist. Genau
so geht man auch in Russland an die Sache heran.
Beide Seiten versuchen die Quadratur des Kreises.
Sie wissen, sie sind in einer Krise des Reproduktionsprozesses ihres Wirtschaftssystems. Beide versuchen, ausschließlich im Rahmen des marktwirtschaftlichen Systems zu bleiben. Bis heute ist
das Finanzsystem Russlands überhaupt nicht
auf die neuen Bedingungen eingestellt. Die Zentralbank folgt einer ganz konservativen Geld- und
Finanzpolitik, die einen Teil der Blockade der entwicklungsfähigen innovativen Bereiche der
Wirtschaft ausmacht. Der Zeitfaktor ist in beiden
Systemen, die sich jetzt gegenüberstehen, der
entscheidende Punkt. Natürlich wird jede Krisensituation dazu führen, dass man Kreativität bei
der Entwicklung neuer Formen an den Tag legt. Die
Frage ist, ob man dabei bereit ist, auf einen Militär-keynesianischen Kurs einzuschwenken, oder ob
man die Dinge laufen lässt und gegen die Wand
fährt.
Wir hatten diese Ausgabe ursprünglich mit
dem Arbeitstitel „Wachstumsmaschine Krieg“ überschrieben. Dann dachten wir, das ist vielleicht zu
platt und zu kurz gesprungen, weil die Dinge nicht
mehr so einfach sind. Trotzdem stimmt: Es wird
bereits am Wiederaufbauplan für die Ukraine gestrickt, es werden Gelder aufgerufen, versprochen. In diesem Sinne ist der Arbeitstitel doch irgendwie gerechtfertigt.
Krieg ist für einige immer noch eine Wachstumsmaschine. Aber wichtiger ist die Frage der Stabilität
der Verhältnisse als Garant zukünftigen Wachstums
– wie immer man es definiert. Es geht um unterschiedliche Zukunftsbilder. Dafür sind alle Seiten
bereit, viel zu riskieren. Im Fall Russlands ist der
Angelpunkt das Jahr 2024, in dem die Neuwahl des
Präsidenten ansteht. Der Versuch der Neubestimmung von Russlands Platz in der Weltwirtschaft
soll das entstandene Akkumulationsregime durch
Modernisierung stabilisieren, der Krieg die Modernisierung erzwingen.
maldekstra #16
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Fundamentale
Widersprüche
werden als
situationsbedingte
Schwierigkeiten
dargestellt.
Die russländischen Wachstumsprognosen scheinen mir recht hoch
gegriffen. Aber selbst die bedeuten
Stagnation in den sozialen Verhältnissen. Und mit mehr rechnet auch niemand. Alles auf einem gewissen Niveau
halten und darauf achten, dass man nicht zu tief
rutscht. Das wird hier über kurz oder lang auch
eintreten. Bei der ohnehin gegebenen Einkommens- und Vermögensungleichheit wird der Krieg
also bestenfalls für die Oberschicht profitabel
sein. Und das wird beim Wiederaufbau der Ukraine,
egal in welchem Gebiet und unter wessen Hoheit,
genauso sein. Aber auch der muss ja im Voraus finanziert werden, bevor Mittel zurückfließen. Wenn
es nicht gelingt, eine Demilitarisierung der Region
zu erreichen, wird hier ein beständiger Punkt
der Instabilität liegen. Möglicherweise besteht das
Geschäft dann darin, dass beide Seiten die immer
wieder neu gebaute Infrastruktur zerschießen. Das
wird irgendwann nicht mehr wachstumstreibend
sein. Mit allen Folgen, über die im Augenblick kaum
gesprochen wird. Zum Beispiel die ökologischen
Folgen. Wenn da Tausende Tonnen von Metallen,
Elektronikschrott und anderen Materialien in
einem relativ kleinen Gebiet rumliegen, wo ja in
der Vergangenheit schon andere Schlachten
stattgefunden haben, ist die Dekontaminierung
nur noch Verbrauch von Ressourcen, um die
Bewohnbarkeit der Region einigermaßen zu
sichern.
Wir denken viel darüber nach, wie die Gegenwart ist
und welche katastrophalen Szenarien eintreten
könnten. Hast du eine zumindest nicht völlig aus der
Luft gegriffene optimistischere Variante, wie es auch
weitergehen könnte?
Die optimistischste Variante scheint das Einfrieren
des Konflikts zu sein. Alles andere ist gegenwärtig
illusorisch. Wenn die Verluste auf beiden Seiten zu
groß werden, könnte eine militärische Lösung
wegen der Unzufriedenheit im Innern und der damit
verbundenen sozialen Risiken unmöglich werden.
Auch Nationalismus und Patriotismus haben ihre
Grenzen. Die Interessen in der EU als indirekter
Kriegspartei sind keinesfalls einheitlich. Polen, die
baltischen Staaten, Frankreich, Deutschland,
Rumänien, Ungarn, Griechenland usw. haben ganz
eigene Interessen mit Blick auf den Ukrainekrieg
und seine Begleitumstände. Auch für die USA wird
ein anhaltender Krieg eine Belastung. Wenn klar
wird, dass sie nicht mehr in der Lage sind, den Konflikt zu managen, heißt das gegenüber anderen,
dass man die USA in derartigen Fällen nicht mehr in
Rechnung zu stellen braucht. Alle müssen gesichtswahrend aus der Sache herauskommen. Und das
wird auf Kosten der Masse der Ukrainer*innen und
der Russ*innen ausgetragen. Vertagen also, eine
Fast-Friedenslösung mit Kriegsoption.
8
maldekstra #16September 2022
In der nördlichen afghanischen Provinz Jawzjan werden von China gespendete Lebensmittel verteilt.
Foto: picture alliance / Xinhua News Agency
Kriegsökonomie Afghanistan
Mehr als 40 Jahre Krieg haben eine parasitäre Profiteursschicht und Massenarmut geschaffen.
Von Thomas Ruttig
„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die
Gründung einer Bank?“ Brechts Zitat, auf
den über 40 Jahre währenden Krieg in Afghanistan angewandt, könnte lauten: Was ist die
Handhabung von Waffen gegen deren Herstellung? Afghanistans Kriegsökonomie in
ihrer internationalen Dimension besteht vor
allem aus der Rüstungsindustrie und dem relativ neuen Sektor der Sicherheitsdienstleister. In ihrer afghanischen Dimension geht es
nicht nur um die Anwendung von Waffen zur
Durchsetzung bestimmter Kriegs- oder politischer Ziele, sondern auch um die Bestreitung
des Lebensunterhalts in einer vom Krieg ausgepowerten Wirtschaft.
Der militärisch-industrielle Komplex: Das
Costs-of-War-Projekt der Brown University im Staat Rhode Island beziffert die gesamten Kriegsausgaben für die USA von der Intervention gegen die Taliban im Jahr 2001
bis zum Truppenabzug im August 2021 auf
2.313.000.000.000 (2,313 Billionen) US-Dollar. Davon entfielen 145 Milliarden auf „Versuche, Afghanistan wieder aufzubauen“, wie
es der zuständige US-Sonderinspekteur (SIGAR) 2021 in einem Resümee-Papier vorsichtig formulierte, also auf das, was gemeinhin
als „Entwicklungshilfe“ bezeichnet wird. Das
sind ganze sechs Prozent davon. Wiederum
davon entfielen nur 55 Milliarden auf den zivilen Bereich; 90 flossen also in die afghanischen Streitkräfte.
Der internationale Aspekt des Kriegsgewinnlertums aus den Afghanistan-Kriegen
ist bisher nur in Ansätzen beleuchtet worden.
Das Costs-of-War-Projekt errechnete, dass
sich der Wert der Aktien der fünf größten USRüstungsfirmen seit Beginn der „Kriege gegen den Terror“ verzehnfacht hat. Seit 2001
erhielten sie Pentagon-Aufträge im Wert von
2,2 Billionen US-Dollar. Wie viele der so produzierten US-Waffen in Afghanistan eingesetzt wurden, ist unklar. Der Löwenanteil der
US-Rüstungsausgaben für die Kriege gegen
den Terror ging in den vergangenen 20 Jahren
aber an das eigene Militär. Die afghanischen
Streitkräfte erhielten einen vergleichsweise
kleinen Teil.
Ein neuer Bericht des Projekts legt offen,
dass Sicherheitsdienstleister vom US-Verteidigungsministerium seit 2001 insgesamt
108 Milliarden US-Dollar für Aufträge in Afghanistan erhielten. Mehr als ein Drittel davon (37 Milliarden) ging an Auftragnehmer,
deren Identität geheim gehalten wird.
Laut SIGAR fielen fast 30 Prozent der USAusgaben für Afghanistan zwischen 2009
und 2019 „Verschwendung, Betrug und Missbrauch“ – also Korruption – zum Opfer. Einen
Großteil davon steckten sich die afghanischen
September 2022
Verbündeten des Westens in die Tasche. Einer
der größten Brocken dabei war das Geschäft
mit der Versorgung der NATO-Truppen, das
vom US-Militär einem Konsortium aus sieben teilweise afghanischen Firmen übertragen wurde. Laut eines „Warlord Inc.“ betitelten Berichts des US-Kongresses von 2010 floss
ein Großteil des Zwei-Milliarden-Dollar-Geschäfts als Schutzgelder an afghanische Warlords (die zum Teil die vom Konsortium subkontraktierten afghanischen Transportfirmen
kontrollierten), korrupte Polizisten und die
Taliban.
Von der sogenannten Entwicklungshilfe blieb das meiste nicht in Afghanistan oder
kam gar nicht erst dort an. Laut einem Bericht
der Weltbank lag der „einheimische Wirtschaftsanteil“ der aggregierten Hilfsflüsse im
Jahr 2014 bei lediglich 14 bis 25 Prozent. Sarkastisch gesagt, ist das eher Selbsthilfe für die
Geberländer. Auch hier besteht mangels aktuellerer Zahlen deutlicher Forschungsbedarf.
Allein bis 2009 wurden 17 Milliarden USDollar Entwicklungsgelder durch die internationalen Truppen in Afghanistan vergeben,
damals 65 Prozent der Gesamtsumme. Damit
wurde etwa versucht, die Loyalität lokaler Power Broker oder örtlicher Gemeinschaften zu
kaufen, zumeist in Taliban-beeinflussten Gebieten. Sie kamen also vor allem militärpolitischen und nicht Entwicklungszwecken zugute. Man kann davon ausgehen, dass große Teile
des von der Weltbank als „einheimischer Wirtschaftsanteil“ bezeichneten Teils der externen
Entwicklungszahlungen (20 bis 36,25 Milliarden US-Dollar) in korrupte Kanäle flossen.
Afghanische Konfliktparteien erhoben zudem „Steuern“ auf fast alle Wirtschafts- und
Handelstätigkeiten – die Taliban „offiziell“
und Polizisten, Soldaten und Milizen der Regierung für die eigene Tasche.
Es gab Geistersoldaten, -polizisten, -lehrer
und -schulen, die in den Erfolgsstatistiken auftauchten, aber nicht wirklich existierten. Die
maldekstra #169
dafür überwiesenen Entwicklungsgelder teilten korrupte Beamte und Machthaber auf lokaler wie nationaler Ebene unter sich auf.
Dieselben Warlords, die mit den NATOTruppen gegen die Taliban kämpften, und ihre
Firmen, die den Nachschub für sie transportierten, schafften auch die Ernte der explodierenden Drogenwirtschaft aus dem Land.
Deutsche Diplomaten und Bundeswehr pflegten trotz Wissen um deren Verstrickung in
den Drogenhandel intensive Beziehungen mit
einigen der Warlords, zum Beispiel an ihrem
damaligen Hauptstationierungsort Kundus.
Warlords und Politiker-Newcomer wie Hamid Karsai reinvestierten ihre Korruptionsgewinne zunächst in die legitime Wirtschaft,
neben dem Bau- und Transportwesen für das
NATO-Militär in den Import/Export-Sektor,
Immobilien, das Bankwesen und den Bergbau, und verwandelten sie schließlich in politisches Kapital. Sie stellten Milizen auf, um
Wähler einzuschüchtern, oder kauften sie
gleich, ließen Wahlergebnisse manipulieren
und sicherten sich einflussreiche Posten in Regierung, Parlament und Verwaltung. Korrupte
Geschäftsleute kauften Parlamentssitze, um
politische Immunität zu erlangen, und Regierung und Opposition Stimmen, um wichtige
Abstimmungen zu gewinnen. Im letzten, 2018
gewählten Parlament saßen fast nur noch Geschäftsleute ohne politisches Programm.
Die aus der Kriegswirtschaft erwachsene
systemische Korruption ist einer der Hauptgründe für den Systemzusammenbruch im
August 2021. Die Folge ist laut UNO die „am
schnellsten wachsende humanitäre Katastrophe weltweit“. Die Hälfte der Bevölkerung
stehe kurz vor einer Hungerkatastrophe. Dafür ist auch die von Washington inszenierte
Einstellung der langfristigen Entwicklungszahlungen verantwortlich. Solche Zahlungen
deckten bis August 2021 etwa drei Viertel der
afghanischen Staatsausgaben. Das ließ massenhaft Jobs in bisher regierungsgeführten
Bereichen, wie dem Gesundheits- und Bildungswesen, sowie bei Nichtregierungsorganisationen verschwinden und die neu entstandene afghanische Mittelschicht fast völlig
wegbrechen.
Zudem drängten die Taliban und die Angst
vor ihnen überdurchschnittlich viele Frauen aus der Lohnarbeit. Laut UNO verzeichneten seit August 2021 acht von zehn Haushalten „drastische“ Einkommensrückgänge. Die
meisten ländlichen Haushalte werden wegen
der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren ihre
Nahrungsmittelreserven deutlich vor dem
Winter aufgebraucht haben.
Selbst viele ehemalige Kämpfer gehören
zu den Verlierern. Bereits ein vom Westen finanziertes Programm nach dem Sieg über die
Taliban 2001 scheiterte daran, dass nicht genügend Mittel zur Verfügung standen, um die
Demobilisierten nachhaltig in die zivile Wirtschaft zu integrieren, und an massiver Korruption („Geisterdemobilisierte“). Vor allem
die Unterkommandeure wollten nicht wieder
Bauern werden. Die Warlords konnten viele
der Demobilisierten für ihre Milizen remobilisieren und ließen sich dafür sogar vom Staat
bezuschussen. Der Westen akzeptierte das in
seiner Not, der wieder stärker werdenden Taliban Herr werden zu wollen.
Diese Erfahrungen sind auch ein Grund dafür, dass die Taliban ihre Zehntausende von
Kämpfern bisher nicht demobilisieren, sondern sie über „Polizeidienste“ bei der Stange
halten. Damit winkt ihnen zumindest sporadische Weiterbezahlung.
Thomas Ruttig betreibt seit vielen Jahren
den Afghanistan-Blog https://thruttig.
wordpress.com. Er ist Mitbegründer des
unabhängigen Think-Tanks Afghanistan
Analysts Network Kabul/Berlin
(www.afghanistan-analysts.org/en/).
Eine Langfassung dieses Textes finden Sie auf
www.rosalux.de.
Kriegerisches Innovationspotenzial
Der Mainstream der Ökonomenzunft findet, der Markt soll das regeln,
die progressive Minderheit sagt, der Staat muss investieren, um die
gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern. So lässt sich ein
Gros der wirtschaftspolitischen Debatten der jüngsten Vergangenheit
zusammenfassen – bis da ein frisch zum Kanzler getaufter Sozialdemokrat ganz schön viel Geld fürs Militär in die Hand nehmen wollte,
genauer: ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Dann stimmen
selbst die penibelsten Haushaltbuchführer:innen von der CDU im Parlament der Staatsvöllerei zu. Und zerstören so einige wirtschaftspolitische Gewissheiten. Dabei sind staatliche Investitionen auch im Normalfall nicht prinzipiell positiv zu bewerten, wie es manch Progressive
tun. Wenn man mit solch harten Bandagen dafür kämpfen muss, dass
der Staat überhaupt was ausgibt, kann man schon mal vergessen, dass
nicht all dieses Geld zum Aufbau des Sozialismus genutzt wird. Oder
immerhin Wohlstand und Nachhaltigkeit für alle fördert, schraubt
man die Ansprüche etwas nach unten. Heterodoxe, Post- oder (Links-)
Keynesianer mit Hang zum makroökonomischen Denken übersehen
diese kleinen Details der effektiven Ausgestaltung oft.
Prominent führte Mariana Mazzucato das iPhone als Beispiel für privatwirtschaftliche Profite aus staatlichen Investitionsprogrammen an.
Alle zentralen Technologien des Smartphone-Pioniers seien mit diesen in Verbindung zu bringen, zum Beispiel das GPS. Schaut man sich
Mazzucatos Vorträge an oder liest ihre Bücher, läuft es für sie immer
auf das Ungleichgewicht zwischen nötigen öffentlichen Investitionen,
die private Gewinne abwerfen, hinaus. Dass viel dieser Innovation –
auch beim iPhone – aus Militärprogrammen resultiert, verschweigt
die Innovationsökonomin elegant. Forschung und Ausweitung des
militärisch-industriellen Komplexes ist nach dieser Sichtweise etwas
progressives, weil innovationsfördernd. Und vergrößert somit gar den
Wohlstand.
Doch dieser „Kriegskeynesianismus“, wie ihn Dietmar Dath einmal
schmähte, – mag er bewusst oder unbewusst formuliert werden –
kann für Linke keine Option sein. Wofür Geld ausgeben wird, ist eben
doch relevant. Und ob mit dem GPS Panzer oder Pendler:innen navigiert werden auch. Ein Argument gegen Staatsausgaben generell ist
das aber wiederum auch nicht. pb
10
maldekstra #16September 2022
Geißel und Brotgeber zugleich
Interessen und Einflussnahme von Rüstungskonzernen sollten nicht unterschätzt
werden. Von Ingar Solty
„Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebro- systemen der westlichen Streitkräfte in der
chen ist!“ Diesen Satz ruft an einer Stelle ent- Ukraine sind zweifellos ein willkommenes
setzt die Mutter Courage in Bertolt Brechts Geschenk, ermöglichen sie es doch, altes
1941 in Zürich uraufgeführter Kriegsparabel Waffenmaterial loszuwerden und Bestände
„Mutter Courage und ihre Kinder“. Die Cou- wieder aufzufüllen. Die Interessen und die
rage lebt als fahrende Händlerin ökonomisch Einflussnahme von Rüstungskonzernen zu
vom Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), in unterschätzen wäre ein Fehler.
dem das Stück spielt, verliert aber zugleich
Und dennoch: Wenn die deutsche Rüsnach und nach ihre Kinder an die Barbarei des tungsindustrie – großzügig berechnet – kaum
Krieges. Brecht wollte mit seinem Stück die 300.000 Menschen beschäftigt, kann ihr Einunteren Klassen vor dem Glauben warnen, im fluss so groß nicht sein beziehungsweise ist es
Zweiten Weltkrieg etwas gewinnen oder sich nicht. Dem Interesse an Krieg und Zerstörung
schon irgendwie durchwurschteln zu können. von Rüstungsmaterial steht eben, je nach„Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebrochen dem, wo das Kriegsgeschehen stattfindet,
ist“ ist ein Freud’scher Versprecher, der unter- auch die Zerstörung von ausländischen Distreicht, dass es im Krieg eben auch immer rektinvestitionen transnationalisierter KonGewinner gibt, vor denen man sich in Acht zerne entgegen. Der Aushandlungsprozess
nehmen muss.
für Aufrüstung entspringt einer komplexen
Die einzelnen Kriegsgewinnler in Kriegen Gemengelage mit verschiedenen Logiken des
sind schnell ausgemacht: Rüstungskonzerne, Politischen und Ökonomischen, verschiededie im Ersten Weltkrieg an alle Kriegsnatio- nen Interessen und verschiedenen Akteuren.
nen Waffen lieferten und deren Aktienkurse Die Frage, die gestellt werden muss, ist also
angesichts der 100 Milliarden Euro Sonder- die nach dem systematischen Zusammenhang
schulden für die Bundeswehr in Rekordhöhen von Krieg und Ökonomie, nach der Logik des
schnellen, Söldner, die vom Krieg leben, usw.
Krieges.
Manche führt dies zu der Annahme, EntVergegenwärtigen muss man sich, dass die
scheidungen für Aufrüstung oder gar Kriege, Rüstungsindustrie ein wichtiger Innovationswie das neue globale Wettrüsten seit 2014 motor ist. Die neoliberale Ideologie hat vier
oder die in diesem Jahr verkündete und ver- Jahrzehnte lang das Märchen vom ineffizienabschiedete Grundgesetzänderung für die ten Staat und vom dynamisch-innovativen
100 Milliarden Euro Sonderschulden, seien Markt und Privatsektor erzählt. Hiergegen hat
das unmittelbare Ergebnis von Rüstungslob- die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem
byismus.
Bestseller „Das Kapital des Staates“ nachgeAls um das Jahr 2000 Politiker, Unterneh- wiesen, dass die Digitalisierungsinnovationen
mer und Intellektuelle im „Project for the der letzten Jahrzehnte keineswegs in Garagen
New American Century“ begründeten,
an der US-Pazifikküste entstanden sind,
warum die USA ihre militärisch-imsondern aus staatlicher Forschung
periale Rolle in der Welt verstärresultieren. Erst danach wurden
Vergegenken sollten, las sich dies in der
sie von den Tech-Konzernen
wärtigen muss
Tat wie eine Einkaufsliste der
des Silicon Valley angeeignet,
großen US-Rüstungskonzerpatentiert, ausgeschlachtet
man sich, dass die
ne wie Raytheon, Northrop
und als Milliardenvermögen
Rüstungsindustrie
Grumman, Lockheed Martin
aufgehäuft. Die technischen
ein wichtiger
und Boeing. Solche Konzerne
Neuerungen in einem iPhone
betreiben unzählige ideoloInnovationsmotor etwa – Interfaces usw. – wurgische Vorfeldorganisationen,
den alle durch öffentliche Forist.
die die Politik davon zu überzeuschungsprogramme entwickelt,
gen versuchen, dass es neue äußere
nämlich in der und durch die RüsBedrohungen, Sicherheitslücken usw. gibt,
tungsindustrie. Diese Zerstörungsindustrie
auf die die Politik mit dem Einkauf immer ist paradoxerweise historisch immer wieder
neuer Waffensysteme zu reagieren hat. Die Motor des technologischen Fortschritts gewequantitative Aufrüstung der Bundeswehr seit sen, weil hier gigantische staatliche Ressour2014 ging mit einem massiven ideologischen cen dafür eingesetzt werden, immens kostBegleitfeuerwerk einher, dem zufolge der IS, spielige Grundlagenforschung zu betreiben,
die Ukraine und Ebola „neue Bedrohungssze- die von privatkapitalistischen Konzernen nienarien“ darstellten, auf die man mit Aufrüs- mals betrieben würde, weil unklar bleibt, ob
tung zu reagieren habe.
sich die Investitionen amortisieren.
Zugleich müssen angeschaffte WaffenIn der Technikwissenschaft spricht man dasysteme sich auch abnutzen. Der Waffen- rum auch vom „Dual Use“, das heißt der dopRingtausch und der Verschleiß von Waffen- pelten Nutzbarkeit von Technologien, die in
der Rüstungsforschung entwickelt wurden:
dem militärischen Nutzen und der zivilen
Nutzung. Freilich ließe sich staatliche Innovationspolitik auch ohne Rüstung denken.
Die Aufrüstung jedenfalls ist vor diesem
Hintergrund also auch im staatlichen Interesse. Dies gilt insbesondere für den heutigen
geschichtlichen Moment. Der Neoliberalismus steckt in der Krise. China hat sich in den
letzten 20 Jahren von der verlängerten Werkbank der Welt zum ernstzunehmenden Hochtechnologie-Rivalen entwickelt. Dieses historische Kunststück gelang (nur) durch einen
starken Staatsinterventionismus. Die globale
Finanzkrise nach 2007 hat gezeigt, dass Chinas Weg den Exitstrategien der kernkapitalistischen Staaten des „Westens“ stark überlegen
war. Während der auf eine marktorientierte Politik der „inneren Abwertung“ von Kosten und Löhnen (Austeritätspolitik) setzte,
plante China in großem Stil seine Entwicklung beziehungsweise die Entwicklung seiner
transnationalisierten Staatsbetriebe. Auch die
Aufrüstung hat in China, ausgehend von einem niedrigen Niveau allerdings, in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen und sich
mehr als versechsfacht. Mittlerweile ist das
frühere kolonisierte Entwicklungsland China bei Zukunftstechnologien wie der Künstlichen Intelligenz, der fünften Mobilfunkgeneration (mit allen Ableitungstechnologien wie
„Smart City“, „autonomes Fahren“ usw.) und
auch grünen Technologien den kernkapitalistischen Staaten im „Westen“ mindestens ebenbürtig, wenn nicht längst Weltmarktführer.
Dort setzt sich deshalb allmählich die Einsicht durch, dass es gegen den Konkurrenten
China nun ebenfalls eine stärker aktive Industriepolitik braucht. In der EU zeigt sich die
Tendenz einer stärkeren „Symbiose von Industrie- und Rüstungspolitik“ (vgl. die Studie
„Sicherheitspolitik contra Sicherheit“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom Februar 2020).
Mit den Lieferkettenproblemen infolge des
US-Wirtschaftskriegs gegen China einerseits
und der Corona-Pandemie andererseits ergibt
sich diese Tendenz zu einer neuen Renationalisierung von Politik. Die staatliche Förderung
von privatem Kapital auch durch militärische
Innovationspolitik, die Schaffung und der Erhalt von „Global Players“, Cybersicherheit
und die Abwehr von Industriespionage werden bedeutsamer. Die neue europäische Industriestrategie fiel im März 2020 mit der Corona-Pandemie zusammen.
Hinzu kommt, dass Rüstung in Zeiten global
sinkender Lohnquoten, einer Überakkumulation von Kapital und damit schwächelnder
binnenwirtschaftlicher Nachfrage auch ein
Wachstumsmotor ist. Der Vorteil von Rüstung
September 2022
maldekstra #1611
Neuer Systemkonflikt
oder alter Ideologiestreit?
Die Länder Osteuropas und weit darüber hinaus wurden
Opfer westlicher Hybris und westlichen Geschäftssinns.
Von Heiner Flassbeck
Marshall-Plan-Hilfe für Deutschland,
Plakat in West-Berlin 1948
ist, dass sich der Bedarf an Waffen zentral steuern lässt, weil hier der Staat der Nachfrager ist.
Und weil es zudem politisch-ideologisch leichter ist, den Bedarf an neuen Waffensystemen
durch Bedrohungsszenarien zu rechtfertigen,
als die Nachfrage nach dezentralen Konsumgütern der Privathaushalte zu erhöhen.
Es besteht also auch eine makroökonomische Funktion von Rüstung. Sie steht allerdings in einem Widerspruch zur neoliberalen
Politik des ausgeglichenen Staatshaushalts.
Denn ohne die Verschuldung entweder von
Staat oder Privatwirtschaft lässt sich kapitalistische Ökonomie nicht denken. Ob der Ukrainekrieg und seine Folgen die neoliberale Orthodoxie der Austeritätspolitik im Namen des
Notstands dauerhaft brechen und die marktradikalen Kräfte um Bundesfinanzminister
Christian Lindner ihren Kampf für die Rückkehr zur „Schuldenbremse“ verlieren werden,
ist noch unklar.
Klar ist jedenfalls: Der Krieg, dies auch die
Botschaft von Bertolt Brecht, ist die Geißel
der Menschheit, aber er ist auch, so die Mutter
Courage, „ein guter Brotgeber“.
Ingar Solty ist Referent für Friedens- und
Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Man redet in diesen Tagen schnell und
leichtfertig von einem neuen Systemkonflikt, von einer neuen Rivalität zwischen
den demokratischen Staaten und den „Autokraten“. Was natürlich heißen soll: ein
Konflikt zwischen den Guten und den Bösen. Das ist absolut lächerlich, und es ist
kein Wunder, das nirgendwo auf der Welt,
außer bei den selbsternannten Guten und
ihren willfährigen Medien, ein solcher
neuer Konflikt gesehen wird.
Es sind nämlich die alten Konflikte, die
in der sich entwickelnden Welt eine viel
größere Rolle spielen als vom Westen ausgedachte neue Konflikte. Und bei diesen
alten Konflikten spielten die „Guten“ des
Westens eine Rolle, die sie selbst nicht
wahrhaben wollen, die aber jedes Kind
in einem Entwicklungsland beschreiben
kann: Sie waren die Bösen.
Der Westen, der gerne so tut, als sei seine
Hilfe – im Gegensatz zu der Chinas – „wertebasiert“, hat in den vergangenen 70 Jahren vollkommen unabhängig von Demokratie und Menschenrechten Ländern in
Not über den Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Wirtschaftsideologie aufgezwungen, die nicht nur grundsätzlich
falsch und dumm war, sondern die Lage der
betroffenen Länder in der Regel dramatisch
verschlechtert hat.
Der IWF unter Führung der großen Industriestaaten hat sich systematisch geweigert, über die wirklichen Probleme der
betroffenen Länder auch nur nachzudenken, wenn man befürchten musste, eigene wirtschaftliche Interessen (der Wall
Street, der Londoner City oder des Frankfurter Bankplatzes) könnten davon negativ berührt werden. Brasilien unter seinem
ehemaligen Präsidenten Lula ist nur der bedeutendste dieser Fälle. Als Lulas Finanzminister zu Recht von einem Währungskrieg gegen sein Land sprach, hat man das
in der westlichen Welt einfach ignoriert.
Für all das sind die Industrieländer unmittelbar verantwortlich, weil sie im IWF
das Sagen haben und von dort aus ihre
wirtschaftliche Macht ohne jeden Skrupel
ausüben. Jeder Mensch in den Entwicklungsländern weiß das und zieht seine
Schlussfolgerungen daraus. Nur in den „demokratischen“ Nationen hat niemand eine
Ahnung davon, weil es uns vollkommen
egal ist, wie viel Elend es im Rest der Welt
gibt und wie viel Schaden unsere Ideologien anrichten. Wer einen Schuldigen dafür sucht, dass im Rest der Welt die Bereitschaft, sich klar an die Seite des Westens
zu stellen, heute verschwindend gering ist,
muss sich an die eigene Nase fassen.
China ist nicht deswegen mit seiner Art
der Entwicklungspolitik erfolgreich, weil
es konkrete Projekte finanziert, sondern
weil es diese Projekte umsetzt, ohne sich
in die Politik der Empfängerländer einzumischen. Der Westen dagegen, der über den
IWF immer noch nahezu ein Monopol bei
der Hilfestellung für Länder hat, die Fremdwährung brauchen, um ihre Rechnungen
zu bezahlen, verbindet seine Hilfe immer
und systematisch mit brutalem Neoliberalismus. Einem Neoliberalismus, den keines
der Industrieländer bei sich selbst anwenden würde. Aus der Sicht der Regierung eines Entwicklungslandes, das womöglich
vollkommen unverschuldet internationale
Hilfe braucht, ist die Hilfe der „demokratischen“ Staaten via IWF ohne jeden Zweifel geistiger Kolonialismus, der ihnen von
den Demokraten in die Feder diktiert wird,
während die Hilfe der chinesischen Diktatoren erstaunlicherweise ganz ohne solche
diktatorischen Elemente auskommt.
Ohne eine vollständige Kehrtwende in
Sachen Wirtschaftsdogma wird sich die
Welt jenseits der etablierten Industrieländer neu orientieren. Schließlich hat
China gezeigt, dass man wirtschaftlich
erfolgreich sein kann, ohne sich dem Neoliberalismus zu verschreiben. Man kann
nur hoffen, dass es den großen Ländern der
sich entwickelnden Welt gelingt, baldmöglichst einen eigenen Währungsfonds zu
schaffen, der dem IWF vollständig das Wasser abgräbt.
Auch der Konflikt in der Ukraine, mit
dem die Welt derzeit konfrontiert ist, kann
maldekstra #16September 2022
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Protest gegen den IWF auf den Straßen von Buenos Aires, Februar 2020
nicht verstanden werden, wenn man igno- Westen leider stehen. Drei Jahrzehnte verstririert, auf welche Weise „der Westen“ nach chen weitgehend ungenutzt, wenn man sich
dem Fall der Mauer Osteuropa einschließlich den ökonomischen Abstand anschaut, den die
Russland mit einer Wirtschaftslehre überzo- meisten europäischen Regionen, die östlich
gen hat, die nicht nur ungeeignet war, son- der Elbe liegen, zum „goldenen“ Westen hadern schlichtweg kontraproduktiv.
ben.
Das Ergebnis sind eine große Anzahl von
Das beginnt bereits in Ostdeutschland, wo
Staaten, die heute nur deswegen nicht zu trotz des sofortigen vollständigen Anschlusden „Failed States“ gezählt werden, weil sie ses an das Wirtschaftswunderland und unim Gefolge der Öffnung aller Märkte
geheurer „Aufbauhilfen“ auch heute
in der Lage waren, ihre Rohstoffe
noch die Wirtschaft weit zurückNoch
zu verschleudern. Frustration
hängt und große Teile der Bevölund enttäuschte Hoffnungen
kerung zu Recht den Eindruck
schlimmer ist,
betreffen nicht nur die polihaben, nicht wirklich dazuzudass der
tischen Beziehungen zwigehören. Je weiter man nach
Osten sich kollektiv Osten geht, umso schlimmer
schen Ost und West. Noch
schlimmer ist, dass der Oswird es.
ökonomisch
ten sich kollektiv ökonoDas russische Einkomverkauft
misch verkauft fühlt, aber vor
men pro Kopf der Bevölkefühlt.
allem viele kleinere Länder imrung stagniert im Vergleich zu
mer noch glauben, es gebe den einden USA auf einem niedrigen Nifachen Ausweg aus ihrer Misere, der
veau. Die Ukraine fällt bei diesem entda heißt: Anschluss an den Westen. Dass der scheidenden Maßstab seit der Finanzkrise von
Westen nie ein Konzept für Integration und 2008/2009 sogar deutlich zurück, auf einem
Entwicklung hatte und bis heute nicht hat, noch viel tieferen Niveau als Russland. Dagewollen viele immer noch nicht wahrhaben.
gen gelingt es China, sich gegenüber den USA
Als vor 30 Jahren die Mauer aus Stein in stetig zu verbessern.
Deutschland fiel, blieben die Mauern in den
Das muss man sich deutlich vor Augen
Köpfen vieler Politiker und Ökonomen im führen: Das Nachbarland Russlands, dessen
Schicksal wir heute beklagen und mit dem wir
uns jeden Tag solidarisch erklären, wurde von
den westlichen Beratern unter Führung des
IWF in eine ökonomische Lage gebracht, die
für das Funktionieren einer jungen Demokratie und für die Lebensperspektiven der Menschen absolut fatal war und ist.
Der von den Washingtoner Institutionen
implementierte feste Glaube an die Segnungen der Marktwirtschaft, des freien Handels
und freier Kapitalbewegungen hat sich auch
in den Transformationsländern als Katastrophe erwiesen. Gekrönt wurde das Ganze vom
Monetarismus, also der heute selbst in der
herrschenden Lehre weitgehend überwundenen Überzeugung, man müsse mit einer
strikten Geldmengenbegrenzung durch eine
unabhängige Notenbank das Aufflackern von
Inflation behindern. Fiskalisch schrieb der
Konsens Frugalität vor, also den Versuch des
Staates, mit möglichst geringen Steuersätzen
und ohne Staatsverschuldung auszukommen.
Gekrönt wurde auch die „Beratung“ der
Transformationsländer von der vollkommen
ungelösten Währungsfrage. In der Transformationsphase von der Planwirtschaft zur
Marktwirtschaft war es für praktisch alle Länder die schwierigste Aufgabe, offene und andauernde Inflation zu verhindern, weil die in
September 2022
maldekstra #1613
der Planwirtschaft unterdrückte Inflation of- rung Jelzin wäre Putin vermutlich nicht an
fenbar wurde und in allen Ländern die Arbeit- die Macht gekommen.
nehmer versuchten, das Aufholen gegenüber
Feste Wechselkurse als Anker waren fatal
dem Westen durch rasche Lohnsteigerungen für die realen Produktionsmöglichkeiten in
gegenüber Unternehmen zu erreichen, die den entscheidenden Industrien der Transforüberhaupt nicht wussten, was ihnen auf dem mationsländer. Fast alles, was heimisch war,
Weltmarkt blühte, wenn sich die Grenzen öff- verschwand, weil sich westliche Produzenten
neten.
mit ihren völlig unterbewerteten Währungen
Weil für den IWF Löhne als „Marktpreise“ rasch und vollständig durchsetzten. Damit
ein vollständiges Tabu für die Wirtschafts- war das Schicksal der wichtigsten Betriebe von
politik waren und funktionierende GeOstdeutschland bis Wladiwostok besiegelt
werkschaften mit einer gewissen
– und zwar für immer. Wer einmal
Einsicht in gesamtwirtschaftlials Transformationsbetrieb seine
che Zusammenhänge zumeist
wirtschaftliche Basis eingebüßt
Ein politischer
nicht existierten, kam es in
hat, kann sie auch bei günstiNeuanfang
den Jahren nach dem Fall der
geren äußeren Bedingungen
in ganz Europa
Grenzen regelmäßig zu einer
praktisch nie wiederherstelmuss auch die
massiven Inflationierung. In
len. Von einer eigenständigen
der Ukraine war die besoneigene Haltung zu industriellen Entwicklung
ders ausgeprägt. Das einzige
der Länder und dem Aufbau
China klären.
Mittel, das dem IWF dagegen
gesunder marktwirtschaftlicher
einfiel, war natürlich geldpolitiStrukturen konnte von Anfang an
sche Restriktion über hohe Zinsen
nicht die Rede sein.
und/oder die Festsetzung eines festen WechDie Länder Osteuropas und weit darüber
selkurses gegenüber einer westlichen Wäh- hinaus wurden Opfer westlicher Hybris und
rung (als Anker), womit über billige Impor- westlichen Geschäftssinns zugleich. Man bete die heimischen Produzenten diszipliniert hauptete mit leichter Hand, die Öffnung aller
werden sollten.
Märkte werde automatisch und sehr schnell
In der Ukraine wurde der Wechselkurs zum neue Geschäftsfelder für die TransformatiDollar nach dem Ende der Hyperinflation zu onsländer schaffen, weil es ja das Prinzip der
Beginn des Transformationsprozesses fixiert komparativen Vorteile gebe, das auch solchen
und bis 2014 festgehalten. Das führte zu hor- Ländern weitgehende Teilhabe am internarendem Ungleichgewicht im Außenhandel tionalen Wirtschaftsgeschehen ermögliche,
und schließlich einer starken Abwertung der die nicht sofort in der Lage seien, auf dem abWährung. Diese blieb aber auch danach Spiel- soluten Niveau des Westens zu konkurrieren.
ball westlicher Währungsspekulation, wie Das ist einfach falsch. Das Prinzip der kompadie starken Schwankungen des Wechselkur- rativen Vorteile ist eine Schimäre, eine Fata
ses zeigen. Russland war das größte und das Morgana, die immer hervorgeholt wird, wenn
wichtigste Land, dessen vollkommen naive man nichts Substanzielles anzubieten hat.
politische Führung man in den 1990er Jahren
Grundlegend für einen Neuanfang muss
in das eiskalte Wasser der internationalen Ka- die Einsicht sein, dass es vernünftigen Handel
pitalmärkte geworfen hat. Ohne die russische zwischen Staaten nicht ohne ein vernünftiges
Währungskrise und das Versagen der Regie- Währungssystem gibt. Währungsfragen dem
Markt zu überlassen war der wichtigste der
vielen wirtschaftspolitischen Fehler, die man
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gemacht
hat.
Die Währungsrelationen aller Länder müssen so gesteuert werden, dass sich kein Land
gegenüber einem anderen Land absolute Vorteile erschleichen kann, was bedeutet, dass
die realen Wechselkurse konstant sein müssen, und heißt, dass kein Land als Ganzes
international an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen oder verlieren kann. Das Prinzip des
konstanten realen Wechselkurses muss außerhalb und innerhalb der Europäischen Währungsunion (EWU) gelten. Jedem Land, das
beitritt oder das assoziiert wird, muss die Garantie gegeben werden, dass der Wechselkurs
seiner Währung mit Hilfe der EZB vor Spekulation geschützt und so bewertet wird, dass
die Inflationsdifferenzen gegenüber der EWU
ausgeglichen sind.
Ein politischer Neuanfang in ganz Europa
muss auch die eigene Haltung zu China klären. Der amerikanische Hegemonialanspruch
mit seiner Tendenz, China schon deswegen
zum großen Gegner zu stilisieren, weil es eine
wesentlich stärkere wirtschaftliche Dynamik
zu erzeugen vermag als die USA, darf für Europa niemals Vorbild werden. China ist groß, es
wird ökonomisch noch größer werden, und
selbst wenn das Land noch viele Jahre von einer kommunistischen Partei diktatorisch regiert wird, muss man Wege finden, dauerhaft
kooperativ und friedlich miteinander umzugehen.
Heiner Flassbeck ist Ökonom und war unter
anderem von 2003 bis 2012 Chef-Volkswirt bei
der Konferenz der Vereinten Nationen für
Handel und Entwicklung sowie bis 2019
Mitherausgeber der Online-Zeitschrift
„Makroskop“.
http://www.flassbeck.de/
Erinnerung an ein Desaster
Pinochets Erbe – jener chilenische Diktator, der am 11. September 1973
bei einem von den USA unterstützten Militärputsch Salvador Allende
stürzte – wirkt bis heute. Am 4. September stimmte eine Mehrheit
der Chilen*innen trotzdem gegen eine neue Verfassung, so dass es
bei der von Pinochet 1980 unter undemokratischen Zuständen verabschiedete Grundcharta (spanisch: Carta Fundamental) bleiben wird.
Diese legitimierte nicht nur die Macht des Diktators nach innen und
außen, sie schrieb und schreibt die praktizierte radikal marktorientierte, neoliberale Wirtschaftsform der sogenannten Chicago Boys auch
fürderhin fest.
Die Chicago Boys, eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler um Sergio de Castro und Sergio Undurraga, die ab Mitte der 1950er
Jahre an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität von
Chicago unter Leitung von Milton Friedman und Arnold Harberger in
der ultraliberalen Schule Friedmans und Friedrich August von Hayeks
ausgebildet wurden, gaben den ökonomischen Kurs der Pinochet-Diktatur vor. Die „Schockstrategie“ ihrer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin
basierte auf der Studie „El ladrillo“, die Friedmans „Kapitalismus und
Freiheit“-Konzepte von Deregulierungen, Privatisierungen, Kürzungen
bei den Staats- und vor allem Sozialausgaben konkretisierte. Soziale und
politische Überlegungen spielten nur eine untergeordnete Rolle. Die nahezu ausschließlich ökonomische Theorie sah Marktkräfte als zentrales
Moment an, denen gesellschaftliche Regelungsprozesse zugeschrieben
wurden. Der Staat sollte in seiner Nachtwächterfunktion nur die Rahmenbedingungen für das Wirken der Marktkräfte sichern.
Der Chef der Zentralbank, Wirtschafts- und Finanzminister wurden
aus den Reihen der Chicago Boys rekrutiert. Chile wurde zu einem Experimentierfeld für weitgehende Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte ohne demokratische Legitimierung oder die Beachtung von
Menschenrechten und der Versorgungslage der Bevölkerung. Die Ausgaben staatlicher Investitionsprogramme, Sozialausgaben und Subventionen wurden stark gekürzt, Zollbarrieren abgebaut, Steuern gesenkt, die Märkte (mit Ausnahme des Arbeitsmarkts) stark dereguliert,
staatliche Unternehmen wurden privatisiert und ausländische Direktinvestitionen erleichtert. Die seit 1980 geltende Verfassung verfestigt
die institutionelle Neuordnung und schränkt die Möglichkeiten staatlicher Investitionen stark ein. Daran wird sich nun nichts ändern. Die
Chicago Boys können weiter ihr Unwesen treiben. as
14
maldekstra #16September 2022
Hunger hat viele Gründe
Gefährliche Abhängigkeiten, globale Ausbeutung und ein Krieg, in dem Weizen zur Waffe wird.
Von Radwa Khaled-Ibrahim
Es ist Mai 2022, ich bin in Kairo und gehe Brot
kaufen. Ich sage dem Bäcker: „Für drei Pfund
Brot, bitte“, bekomme aber weniger als normalerweise. Ich schaue verblüfft, er lächelt,
ich lächle zurück: „Stimmt, ich habe vergessen, dass es sich verändert hat … die Macht der
Gewohnheit.“ Ich lege nach. Auf dem Weg zurück erinnere ich mich daran, wie ich im libanesischen Restaurant in Deutschland nach
„aish“ gefragt habe, nach Brot. Der Kellner
schaute fragend, denn nur in Ägypten nennt
man Brot auch „aish“, sonst bedeutet dieses
Wort auf Arabisch „Leben“.
Die Frage sollte deshalb lauten, warum Länder wie Ägypten, der Irak, Algerien, Tunesien
oder der Libanon, die bereits von Dürre und
Inflation betroffen waren, zwischen 60 und
85 Prozent ihres Weizens aus der Ukraine und
Russland beziehen? Wie kann es sein, dass
die Grundversorgung der Menschen in diesen
Ländern so stark auf Importe angewiesen ist,
während sie selbst große Anbauflächen haben? Wie konnten solch gefährliche Abhängigkeiten entstehen?
Die globalen Lebensmittelpreise stiegen
bereits vor dem Krieg und erreichten im Januar 2022 ihren historischen Höchststand
(ITC 2022). Zurückzuführen ist diese Preissteigerung auf die hohe weltweite Nachfrage
im Zuge des Handelsaufschwungs nach dem
Abebben der Covid-19-Pandemie. Verstärkt
wird die Entwicklung durch die zunehmende
Verwendung landwirtschaftlicher Rohstoffe
für Biodiesel, durch das derzeit aufgrund von
Missernten geringere Weltmarkt-Angebot an
Sojabohnen aus Südamerika, Weizen aus den
USA, Kanada und der EU und Palmöl aus Malaysia. Die hohen Preise für energieintensive
Betriebsmittel, insbesondere Düngemittel,
und die steigenden internationalen Frachtkosten tun ihr Übriges. Einige Länder haben
angesichts der Krise außerdem Ausfuhrbeschränkungen für Weizen, Rindfleisch, Palmöl, Düngemittel und andere Produkte verhängt, was die Preise weiter in die Höhe treibt.
Bereits im Februar warnte der Zusammenschluss lokaler Kleinbäuer*innen auf dem
afrikanischen Kontinent, ROPPA – Afrique
Nourricière, im Rahmen des EU-Afrika-Gipfels vor einer drohenden Hungerkrise. Die
Bäuer*innen prangerten an, dass aus bisherigen Hungerkrisen keine Schlussfolgerungen
gezogen wurden. Auch UN-Generalsekretär
António Guterres sprach von einem „Hurrikan des Hungers“, der sich abzeichne.
Über Jahrzehnte wurden in vielen afrikanischen Ländern immer weniger Nahrungsmittel für die Versorgung der eigenen Bevölkerung angebaut. Stattdessen lag der Fokus
auf exportgeeigneten Nutzpflanzen, Obst und
Gemüse, deren Ausfuhr dem Bruttoinlandsprodukt zugutekommt. Obwohl Güter wie
Baumwolle, Bohnen, Blumen und Beeren als
Luxusgüter im internationalen Handelsmarkt
eingestuft werden und damit weniger lukrativ
sind, ist es für viele Länder sinnvoll, sie anzubauen. Selbstversorgung brächte schließlich
gar keine Devisen, während ein höheres Bruttoinlandsprodukt infolge der Exporte mehr
Möglichkeiten eröffnet, mit dem Internatio-
nalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zu arbeiten. Im Zuge der Liberalisierung, mit dem Traum, Teil des internationalen
Marktes zu sein, entzogen sich die Staaten zusehends ihrer regulativen Rolle. Viele Anbauflächen wurden an private Investor*innen
vergeben, andere vermietet. So ging der Agrarsektor in großen Teilen in die Hände privater
Banken über. Spekulation wurde Teil des täglichen Falafelbrotes.
Diese Entwicklung begann in Afrika schon
mit den Strukturanpassungsprogrammen der
1970er Jahre. Damals wurden die afrikanischen Märkte mit stark subventionierten europäischen Agrarüberschüssen überflutet. Lebensmittel waren so günstig wie nie. Mit den
künstlich niedrigen Preisen konnten die heimischen Produkte aber nicht mithalten. Starke Abhängigkeiten und zerstörte lokale Märkte waren das Resultat. Seit den 2000er Jahren
bekam dieses Verhältnis einen neuen Namen:
Economic Partnership Agreements (EPAs) –
von der EU geförderte Wirtschaftsabkommen
über Freihandelszonen. Die heutigen Economic Partnership Agreements zwischen der
EU und unterschiedlichen afrikanischen Ländern sind der modernisierte Arm dieser Form
globaler Ausbeutung. „Freihandel“ ist ein Euphemismus für die Prämisse, die solchen Abkommen zugrunde liegt, die Abwesenheit
von staatlicher Regulierung mit Freiheit verwechselt. Die Realität ist jedoch wilder Handel: Handel, der die Menschenrechtsstandards
ignoriert und die Bedürfnisse transnationaler
Konzerne und Investoren bedient.
Grüne Umschuldung
„Relief“, also Erleichterung oder Linderung, ist nicht das Gleiche wie
Heilung. Das gilt nicht nur für Schmerzen und Krankheiten jeder Art,
sondern auch für Schulden. Dies vorausgeschickt und im Hinterkopf
behalten, ist es ein bedenkenswerter Vorschlag, den internationale
Expert*innen im Sommer 2021 veröffentlicht haben. Kurz zusammengefasst lautet er: Weltbank und IWF sollten bei ihren Rückzahlungsforderungen an Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen die
Auswirkungen der Klimakrise stärker als bisher berücksichtigen. Nur
dann hätten diese von Überschuldung und Pandemie ohnehin schon
überdurchschnittlich geschlagenen Staaten eine Chance, ihre Wirtschaftspolitik langfristig zu stabilisieren und an jenen UN-Nachhaltigkeitszielen auszurichten, die im globalen Wohlstandsnorden gerne mal
ignoriert werden, wenn es um das Recht aufs SUV-Fahren geht.
Zu einem solchen grünen Umschuldungsprogramm müssten, so
das Konzept, alle 72 Staaten Zugang haben, die von der UN derzeit
als hochgradig von Auslandsschulden bedroht eingestuft werden. Das
wären 23 mehr, als von den aktuellen Entschuldungsmaßnahmen der
G20 erfasst werden. Außerdem werden Weltbank und IWF aufgefordert, Risikobewertungen der Klimakrise, beispielsweise die von der Internationalen Energieagentur zum 1,5-Grad-Ziel entwickelte, stärker
als bisher in die Schuldenanalyse einfließen zu lassen. Vor allem aber
geht es darum, den privaten Finanzsektor in diese Umschuldungsmaßnahmen einzubeziehen. Denn um ihre internationalen Verbindlichkeiten zu bedienen, waren die jeweiligen Regierungen immer stärker auf
Inlandskredite von Banken und anderen Finanzunternehmen angewiesen. Diese Kreditgeber sollen, so das Papier, mit einer „Zuckerbrotund-Peitsche-Strategie“ überzeugt werden, die grüne und nachhaltige
Umschuldungsmaßnahme nicht zu torpedieren. Das Zuckerbrot besteht aus einer Weltbank-Garantie für die Investitionssumme sowie
zusätzlich für die über eine Laufzeit von 18 Monaten fälligen Zinsen.
Im Gegenzug für diese komfortabel abgesicherte und PR-taugliche Anlagemöglichkeit müssten die Gläubiger auf die sowieso unrealistische
Rückzahlung bestehender Verbindlichkeiten verzichten. Peitsche?
Mit einer derartigen Umschuldungsmaßnahme, so die Hoffnung,
bleiben die Regierungen der unter Schuldenlast leidenden Staaten immerhin so weit handlungsfähig, dass sie versuchen könnten, den Bürger*innen ihrer Staaten ein Weiterleben in der multiplen Dauerkrise zu
ermöglichen. Mehr ist vermutlich nicht drin in diesen Zeiten. Jedenfalls dann nicht, wenn die Maßnahme, wie in diesem Fall, von 23 ehemaligen Finanzministern und Zentralbankchefs unterstützt wird. sim
https://drgr.org/
maldekstra #1615
Ein Widerspruch zum Traum von „Entwicklung“? Im Gegenteil. Die früheren „Millennium Development Goals“ der UN und
die heutigen „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ unterstützen implizit und explizit diese Vorgänge. Denn auch hier geht es nicht
primär um die Ernährungssouveränität der
betroffenen Länder, sondern um deren bessere Einbindung in die globalen Wirtschaftsströme. Die jüngsten Strategien globaler
Ernährungspolitik sehen kleinbäuerliche
Landwirtschaft noch immer als überholte
Praxis an. Lebensmittel für die internationalen Märkte sollen stattdessen von einer kleinen Zahl großer, intensiv betriebener Betriebe produziert werden, die wenige Menschen
beschäftigen und oft durch Verträge für Saatgut und Düngemittel an globale Konzerne
gebunden sind. Dieser Ansatz hat verheerende Folgen für den Zugang der Menschen zu
Land, Wasser und Ressourcen, die für lokale
Nahrungsmittelproduktion benötigt werden.
Solche imperialistischen und (neo)kolonialistischen Politiken produzieren nicht erst seit
dem Krieg am laufenden Band Hunger und
Gewalt. Humanitäre Notlagen sind die normalen und zu erwartenden Ergebnisse dieser
Prozesse. Hier kommt eine „Hilfe“ ins Spiel,
die die Folgen dieser Prozesse lediglich abzufedern oder zu lindern versucht, nicht aber
deren strukturelle Ursachen antastet. Hilfsprogramme sind damit nicht nur selektive
Wohltäter, sondern bedeuten oft auch eine
Verschleierung der Täterrolle.
Die beschriebenen globalen Widersprüche spitzen sich durch die Situation des Krieges massiv zu. Die Politik des IWF, den Hunger mit „Resilience and Sustainability Trusts“
für besonders vulnerable Staaten abzufedern,
wird scheitern. Denn neben den schon bestehenden Schulden kommen diese Trusts, ähnlich wie die EPAs, mit Strukturanpassungsvorgaben daher. Zum Beispiel der Aufhebung
von Subventionen für wichtige Lebensmittel.
Weitere Schritte weg von sinnvollem Protektionismus.
Mit dem Krieg wird der Hunger massiv zunehmen. Hunger kommt selten allein. Oft
wird er von (patriarchaler) Gewalt, neuen
Schuldenkreisläufen, Binnenflucht, Schwächung der Infrastruktur sowie besonderen Gefahren für Kinder begleitet. Während auf Werbeplakaten kommuniziert wird, es brauche
Spenden und Hilfe für diejenigen auf anderen
Kontinenten, die vom Krieg betroffen sind,
übersteigt der Bedarf an Hilfe schon jetzt die
Möglichkeiten, dies über Spenden zu regeln.
Statt mehr Hilfe braucht es politische Veränderungen, die die Abhängigkeiten beenden
und soziale, wirtschaftliche und politische
Transformationen ermöglichen.
Foto: Shutterstock
September 2022
Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für
Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit
von medico international.
www.medico.de
16
maldekstra #16September 2022
Scheiß auf Kunstdünger!
In den aktuellen Debatten um Einsparmöglichkeiten und Versorgungsprioritäten bei
der knappen Ressource Erdgas ist immer wieder von Kunstdünger die Rede, ohne den die
Weltbevölkerung nicht zu ernähren sei. Für
die Produktion von Kunstdünger ist Ammoniak unersetzlich, ein Stoff, der wiederum ohne
Erdgas nicht hergestellt werden kann. Deshalb, so argumentieren Vertreter*innen der
großen deutschen Chemiekonzerne, sei ihre
Ammoniak- und Stickstoffdüngerproduktion
systemrelevant und bei der Gaszuteilung entsprechend bevorzugt zu behandeln.
Ausgeblendet wird bei dieser Argumentation, dass ebenjener Kunstdünger, ebenso
wie die von ihm abhängige industrialisierte
Landwirtschaft, andere lebenswichtige planetarische Ressourcen massiv schädigt. Laut
Umweltbundesamt legte „die künstliche Fixierung von Stickstoff […] den Grundstein
für den heute herrschenden Stickstoffüberschuss“ im globalen Umweltsystem, wovon
vor allem Flüsse, Seen und Meere betroffen
sind. Außerdem braucht es für die Produktion von konventionellen Stickstoffdüngern
nicht nur Erdgas, sondern auch sehr viel Energie. 2015 errechnete eine Studie, dass schätzungsweise zwei Prozent des Weltenergieverbrauchs zwischen 1900 und 2014 für die
Erzeugung von Ammoniakdüngern aufgewendet wurden. Dieser große Energiebedarf
wurde vor allem fossil gedeckt, womit CO2
freigesetzt wurde.
Dabei ließe sich der Einsatz von Kunstdünger – korrekter: synthetisch-mineralischem
Dünger – schon jetzt, ohne eine grundlegende Umgestaltung von Ernährung und Landwirtschaft, deutlich reduzieren, indem auch
menschliche Ausscheidungen ins Konzept
der Kreislaufwirtschaft einbezogen würden.
Denn menschliche Fäkalien enthalten Nährstoffe, die als Recyclingdünger das Pflanzenwachstum fördern. Korrekt aufbereitet und
qualitätsgesichert, könnten so in Deutschland
bis zu 25 Prozent der konventionellen synthetisch-mineralischen Dünger ersetzt werden.
Kombiniert mit einer Agrarwende, das heißt
der Reduktion von Tierhaltung und Futteranbau, wäre sogar noch weniger Kunstdünger
vonnöten.
Bis vor circa 70 Jahren wurde in ländlichen
Gebieten Deutschlands noch von der Düngewirkung menschlicher Fäkalien Gebrauch
gemacht. Zwischenzeitlich haben sich Spültoiletten, Schwemmkanalisation und Kläranlagen selbst in abgelegenen Regionen Europas durchgesetzt und leisten einen wichtigen
Beitrag zur Hygiene. Doch es zeigt sich eben
auch, dass ein Großteil der Nährstoffe in unserem Abwasser aus menschlichen Fäkalien
Foto: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt
Ressourcenschonende Dünger-Alternativen auf Basis menschlicher Fäkalien sind erforscht und
erprobt – aber vom geltenden Recht nicht vorgesehen. Von Ariane Krause
Von der Raumfahrt zur nachhaltigen Kreislaufwirtschaft auf der Erde: Der C.R.O.P.®-Biofilter stellt in
einem einfachen biologischen Verfahren Dünger aus Urin her und trägt so zu einer ressourcenschonenden
Landwirtschaft bei.
stammt. Urin zum Beispiel macht hierzulande
weniger als ein Prozent des gesamten Abwasservolumens aus, trägt jedoch 70–80 Prozent
des Stickstoffs und 45–60 Prozent des Phosphors zum Abwasser bei. Trotz der technisch
hochgerüsteten Abwasserreinigung werden
diese Nährstoffe bisher kaum aus dem Abwasser recycelt, sondern gelangen in unsere Gewässer. Dort tragen sie zum Überangebot an
Nährstoffen bei, das Eutrophierung begünstigt und so die Vielfalt des Ökosystems beeinträchtigt.
Nach der Spültoilette folgt der Weg durch
die Schwemmkanalisation zur Kläranlage.
Dort werden die in menschlichen Fäkalien
enthaltenen Nährstoffe jedoch nicht verwertet, sondern unter hohem Energieverbrauch
und Treibhausgasemissionen aus dem Abwasser entfernt. Während der Aufbereitung des
Abwassers sinken größere feste Bestandteile
aus dem Wasser auf den Boden ab und bilden
den Klärschlamm. Um die darin enthaltenen
Keime und Spurenstoffe zu behandeln, wird
er verbrannt. Doch diese Verbrennung eines
Substrats mit bis zu 95 Prozent Wassergehalt
erfordert zunächst einen sehr hohen EnergieInput für die Trocknung und muss unter dem
Aspekt einer nachhaltigen Ressourcennutzung in Frage gestellt werden. Außerdem verbleiben Schadstoffe, die entweder während
der Verbrennung in die Luft freigesetzt werden oder eine Deponierung erfordern.
Phosphor, neben Ammoniak ein anderer
wichtiger Ausgangsstoff für Kunstdünger,
wird mittlerweile weltweit knapp. Deshalb ist
seine Rückgewinnung aus Klärschlamm seit
2018 gesetzlich vorgeschrieben. Stickstoff dagegen wird in Kläranlagen bisher nicht recycelt, sondern lediglich entfernt.
Die Abläufe geklärter Abwässer sind zunehmend auch ein Haupteintragspfad für
pharmazeutische Rückstände, wie zum Beispiel Antibiotika, in Gewässer. Untersuchungen des Bundesumweltamtes konnten in der
Folge bereits multiresistente Keime in Oberflächengewässern nachweisen. Eine Entfernung dieser Spurenstoffe ist technisch mit
der sogenannten „4. Reinigungsstufe“ und
dem Einsatz von Aktivkohle als Filtermaterial möglich. Allerdings ist eine Aufrüstung der
existierenden Klärwerke um diese Stufe laut
Einschätzung des Bundesumweltamtes in den
meisten Fällen aufgrund der großen Volumen
an Abwasser, die behandelt werden müssten,
nicht wirtschaftlich.
Technische Systeme mit einer Trennung
von Wasser- und Nährstoffkreislauf könnten
Leckströme effektiv und effizient unterbinden und Recycling ermöglichen. Die getrennte und wassersparende Erfassung menschlicher Fäkalien ermöglicht eine spezifische
Behandlung der unverdünnten Stoffströme
mit dem Ziel, Krankheitserreger abzutöten,
Schadstoffe zu entfernen und Nährstoffe si-
September 2022
cher wiederzuverwerten. Die Ausbreitung
von Nähr-, Schad- und Spurenstoffen in Boden
und Wasser wird so, anders als in Kläranlagen,
verhindert.
Seit rund zehn Jahren entsteht weltweit
ein aktives Netzwerk, das aus wissenschaftlicher wie auch privatwirtschaftlicher Motivation die Weiterentwicklung zukunftsfähiger
Sanitärsysteme verfolgt – die Sanitärwende.
Sein Anliegen ist es nicht, flächendeckend
zentrale Kläranlagen und angeschlossene Sanitärsysteme abzuschaffen: Es geht vielmehr
darum, dort, wo es ökologisch, wirtschaftlich
und technisch sinnvoll und/oder nötig ist, die
Abwassersysteme weiterzuentwickeln und
fit für die Zukunft zu machen. Neuartige dezentrale und wassersparende Recyclingsysteme würden dann die zentralen und linearen Infrastrukturen individuell und flexibel
ergänzen. Es gibt viele spannende Beispiele, die zeigen, wie es anders geht: So wird in
Schweden im Rahmen des EU-Forschungsprojekts REWAISE die Produktion eines pulvrigen Feststoffdüngers aus Urin erprobt. Ein
Verfahren, das in ähnlicher Form schon von
Wasserbehörden in den Niederlanden angewendet wird. Ein Schweizer Unternehmen
produziert den ersten zugelassenen Flüssigdünger aus getrennt erfasstem Urin. Auch das
Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt
(DLR) entwickelt mit dem C.R.O.P.®-Biofilter
ein Verfahren zur Herstellung eines flüssigen
Mehrnährstoff-Recyclingdüngers durch Aufbereitung von Urin. All diese Verfahren entsprechen den Anforderungen an die gesundheitliche Unbedenklichkeit und leisten sogar
die Entfernung von Medikamentenrückständen. Sie könnten auch zur Behandlung von
tierischer Gülle oder Gärresten aus Biogasanlagen eingesetzt werden. Start-ups wie „Finizio“ und „Goldeimer“ aus Deutschland,
„Kompotoi“ aus der Schweiz oder „Sanergy“
in Kenia veredeln die Feststoffe aus Trockentoiletten zu einem organischen Recyclingdünger, der wegen der positiven Wirkung auf die
Boden-Humusbildung zusätzlich klimarelevant ist. Allerdings fehlen weiterhin passende
rechtliche Rahmenbedingungen, die eine Anwendung von qualitätsgesicherten Recyclingdüngern aus menschlichen Fäkalien zulassen.
Hier schnell Fortschritte zu erzielen, um die
Sanitär- und Nährstoffwende zu beschleunigen, wäre angesichts der drängenden Notwendigkeit, den Gasverbrauch drastisch zu reduzieren, das Gebot der Stunde.
Ariane Krause ist Wirtschaftsingenieurin und
koordiniert das Forschungsprojekt „zirkulierBAR“ am Leibniz-Institut für Gemüse- und
Zierpflanzenbau (IGZ) e. V. Sie setzt sich für die
Anerkennung von Recyclingdüngern aus
Trockentoiletten ein, und der Ruf „Fäkalien zu
Dünger“ steht für sie auch symbolisch für den
Umgang der Menschen mit Ressourcen – denn
die Natur kennt keinen Abfall.
www.naehrstoffwende.org
www.zirkulierbar.de
maldekstra #1617
Haitis ewige Schuld
Ein Teufelskreis, der bis ins 20. Jahrhundert reicht
Von Tobias Lambert
Als erstes Land in Lateinamerika und der
Karibik erlangte Haiti bereits 1804 die Unabhängigkeit. Doch wirtschaftlich hatte der Inselstaat, wo Kolumbus 1492 erstmals amerikanischen Boden betrat, nie
eine Chance. Inspiriert durch die Französische Revolution begann 1791 der erste Aufstand von in Freiheit geborenen und dann
versklavten Menschen. 13 Jahre später befreiten sie sich von der Kolonialmacht
Frankreich. Die Vorreiterrolle kam das
postkoloniale Haiti allerdings teuer zu stehen. Aus Sicht der Kolonialmächte galt es,
jegliche Unabhängigkeitsbestrebung auf
dem amerikanischen Kontinent zu unterbinden.
Eine militärische Rückeroberung Haitis glückte nicht. Doch Frankreich fand
einen Weg, um seine einstige Kolonie für
ihre Unabhängigkeit zahlen zu lassen. Im
Jahr 1825 trafen der damalige haitianische
Präsident Jean-Pierre Boyer und der französische König Charles X. unter militärischen Drohungen Frankreichs eine Vereinbarung, wonach die Kolonialmacht für
den durch die Unabhängigkeit verlorenen
Besitz inklusive der Versklavten und ihrer
Arbeit mit 150 Millionen Gold-Francs entschädigt werden sollte. Die Summe entsprach dem 300-fachen Wert der damaligen Staatseinnahmen Haitis und wurde
1838 auf 90 Millionen reduziert. Im Gegenzug erkannte Frankreich die Unabhängigkeit Haitis offiziell an. Die immense
Verschuldung verunmöglichte in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich die wirtschaftliche Entwicklung des Karibiklandes.
Bereits um die erste Rate zu tilgen, musste
Haiti weitere Schulden bei einer französischen Bank aufnehmen und begab sich in
einen Teufelskreis aus Verschuldung und
hohen Zinsen, der bis ins 20. Jahrhundert
reichte. Die Schuldenzahlungen finanzierte das Land maßgeblich durch Exportzölle
auf Rohstoffexporte. Als 1890 die Kaffeepreise fielen, holzte das Land den Großteil
seiner Waldbestände ab, um Tropenhölzer
exportieren zu können, schwächte landwirtschaftliche Ansätze und vergrößerte
die Rohstoffwirtschaft. Ein Erdbeben 1842
verschlimmerte die Situation zusätzlich.
Zwar konnte das Land die ursprüngliche
Schuld gegenüber Frankreich beziehungsweise internationalen Banken, die diese
Schulden mittlerweile übernommen hatten, Mitte des 20. Jahrhunderts abbezahlen. Doch aus der Abhängigkeit konnte sich
Haiti nie befreien, sei es von Frankreich,
den USA oder jüngst der Verwaltung durch
die UN.
Ab 1915 besetzten die USA Haiti 19 Jahre
lang und unterstützten ab 1957 die Duvalier-Diktatur, die mitten im Kalten Krieg
massiv neue günstige Kredite erhielt und
in die eigenen Taschen umleitete. 2003
verlangte der damalige Präsident JeanBertrand Aristide, der intern stark unter
Druck stand, von Frankreich eine Rückzahlung der illegitimen Schulden samt
Zins und Zinseszins in Höhe von mehr als
21 Milliarden US-Dollar. Nach dem von
Frankreich und den USA unterstützten
Sturz Aristides 2004 verschwand die Forderung wieder aus der haitianischen Politik. Aktivist*innen blieben jedoch an dem
Thema dran. Trotz teilweiser Schuldenerlasse im Rahmen der Initiative für hochverschuldete arme Länder (HIPC) und infolge des verheerenden Erdbebens 2010
bleibt Haiti bis heute hochverschuldet. Als
mit Nicolas Sarkozy nach dem Erdbeben
erstmals seit der Unabhängigkeit ein französischer Präsident (für vier Stunden!) Haiti besuchte, hatte er einen Schuldenerlass
von 56 Millionen Euro sowie weitere 270
Millionen Euro an Hilfszahlungen im Gepäck. An der historischen Ungerechtigkeit
änderte dies freilich nichts. Sarkozys Nachfolger François Hollande besuchte den Inselstaat 2015 und sprach davon, die „moralische Schuld“ zu begleichen. 2016 hob das
französische Parlament das Abkommen
von 1825 als symbolische Geste auf. Von
einer Rückzahlung der illegitimen Schulden indes will Frankreich bis heute nichts
wissen.
Zur widerständigen Geschichte Haitis siehe:
Katja Maurer/Andrea Pollmeier: Haitianische
Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation, Brandes & Apsel,
Frankfurt/M. 2020
18
maldekstra #16September 2022
Lebend, frei und schuldenfrei
Es braucht dringend eine feministische Perspektive auf Verschuldung.
Von Luci Cavallero und Verónica Gago
Im Jahr 2017 formulierte das argentinische feministische Kollektiv Ni Una Menos den Slogan „¡Vivas, libres y desendeudadas nos queremos!“ (Wir wollen leben, frei und schuldenfrei
sein!) und schuf damit eine Möglichkeit, das
Problem patriarchaler Gewalt mit dem der
ökonomischen zu verknüpfen. Diese Intersektion ist zu einem mächtigen Analyseinstrument für die soziale Bewegung geworden. Was
hat die Verschuldung auf Makro- und Mikroebene mit der Zunahme machistischer Gewalt
zu tun? Warum ermöglicht eine feministische
Lesart des Finanzkapitalismus eine bessere Diagnose der alltäglichen Gewalt gegen Frauen,
Lesben, trans und nichtbinäre Personen? Inwiefern stellt es ein politisches Novum in der
feministischen Bewegung dar, den Slogan „Wir
wollen uns lebendig und frei“ mit dem Thema
der Entschuldung zu verbinden?
In Argentinien wurde der Ruf nach und
nach von Gewerkschaften, aber auch von Erwerbslosen und Studierenden, Migrantinnenkollektiven und informell Beschäftigten, Rentnerinnen und queeren Communitys
übernommen. Ihre spezifischen Kämpfe und
die feministischen Streiks haben uns erkennen lassen, was wir „finanzielle Gewalt“ nennen: die Art und Weise, wie das Finanzwesen
durch Verschuldung eine spezifische Art von
Gewalt provoziert und verstärkt. Auf diese
Weise werden die massiven Auswirkungen
von abstrakten „Finanzen“ auf das Alltagsleben greifbar. Finanzielle Gewalt ist die Fähigkeit, bestimmte Körper auszubeuten und kollektive Ressourcen zu plündern. Wir wollen
den Finanzen einen Körper und einen konkreten Raum geben, um die Sprache der Fi-
nanzströme, die Experten vorbehalten ist und
unverständlich scheint, „auf den Boden der
Tatsachen“ zu holen.
Aber mehr noch hat diese feministische Lesart der Verschuldung neue Forschungsperspektiven eröffnet. Was heißt, sich der Eroberung unserer Körper und Territorien durch
„die Finanzen“ zu widersetzen? Was bedeutet
es, uns zu ent-schulden? Welche Instrumente
können wir nutzen, um einer Idee entgegenzutreten, die Verschuldung als „Lösung“ für
die Armut darstellt? Können wir die Ausbeutung anprangern, indem wir die Schulden als
reale Form der Beherrschung begreifen? Und
uns real wehren? Durch Aktionen wie Streiks,
Suppenküchen, Debatten über Lebensmittelproduktion,
Mieter*innenversammlungen
und Demonstrationen für eine Rente?
Die Art und Weise, wie die Spar- und Austeritätsmaßnahmen, die der Internationale
Währungsfonds Argentinien erneut in Form
von Auslandsschulden auferlegt hat, interpretiert und entlarvt werden, hat sich durch diese
aktivistische Dynamik radikal verändert. Verschuldung wurde politisiert!
Die antikoloniale Tradition unseres Kontinents wird so in den feministischen Debatten
und Demonstrationen neu erfunden. Der Slogan „Raus mit dem IWF“ stammt noch aus der
Zeit, in der die Militärdiktatur (1976–1983)
die Verschuldung zusammen mit dem Staatsterrorismus eingeführt hatte. Das setzte sich
unter den Bedingungen der Auslandsverschuldung im Übergang zur Demokratie und dann
im Neoliberalismus fort. Mit dem heutigen
„Lebend, frei und schuldenfrei“ ist es uns gelungen, die Zurückweisung dieser Politik neu
zu erfinden und sie hörbarer und verständlicher zu machen. In diesem Sinne hat die feministische Perspektive einen Beitrag zur
„Pädagogik gegen die Auslandsverschuldung“
geleistet, die meistens darauf ausgerichtet
war, über deren makroökonomische Auswirkungen zu unterrichten, ohne auf Aspekte
wie Gender und Race einzugehen und ohne
konkrete Bezüge zum Alltagsleben herzustellen. Diese Bildungsarbeit hat auch die Kreisläufe beschrieben, die Auslandsverschuldung
mit der Verschuldung der armen Haushalte
verbindet.
Es ist also kein Zufall, dass der Internationale Feministische Streik 2020 in Argentinien einen Slogan gewählt hat, der den langen
Weg zusammenfasst, mit dem die feministische Bewegung die Regierung angeklagt hat:
„Die Schulden habt ihr bei uns!“ Dieser Slogan
kehrt das Verhältnis von Gläubiger*innen und
Schuldner*innen um und öffnet einen Horizont für Ungehorsam und Widerstand. Im
Jahr 2022 lautete der Slogan des 8. März: „Die
Schulden habt ihr bei uns. Zahlen sollen sie
diejenigen, die sie durch die Kapitalflucht verursacht haben!“
In Argentinien und anderen Teilen der Welt
haben die Feminismen mit ihrem alltäglichen, revolutionären Widerstand die Art und
Weise deutlich gemacht, auf die das Kapital
heute eine spezifische Gewalt gegen die Erde
und die Arbeitskraft ausübt. Wir, im Inneren
der feministischen Bewegung, haben das auf
den Straßen, in den Häusern und auf den Plätzen gezeigt und dabei auch Räume, in denen
Politik gemacht wird, neu erfunden, indem
wir die Unterscheidung zwischen Öffentli-
Gegen gottgleiche Gläubiger
Eigentlich hätte es schnell gehen sollen. So jedenfalls hatten es sich
die unterschiedlichen linken, entwicklungspolitischen und kirchennahen Gruppen gedacht, die 1992 die „Initiative Erlassjahr 2000“ gründeten. Ihre Idee: das damals noch mystisch-futuristisch imaginierte
Millennium für eine groß angelegte Kampagne zur Entschuldung des
globalen Südens zu nutzen, nach dem Vorbild einer im Alten Testament erzählten göttlichen Intervention. Doch verglichen mit den
Repräsentant*innen der jeweiligen Geberstaaten ist eben auch Gott
nur ein kleines Licht. Das erwies sich schon 1999, als immerhin 35.000
Menschen den damaligen G8-Gipfel in Köln mit ihrer Entschuldungsforderung einkreisten – und sich die amtierende SPD-Entwicklungshilfeministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, sehr aufgeschlossen gab.
Es folgte eine lange Geschichte der Enttäuschungen, Teilerfolge und
Rückschläge, die auf der Website des Bündnisses anschaulich erzählt
wird.
Umso vorbildlicher die Hartnäckigkeit, mit der die Initiative darauf
beharrt, ihr Anliegen immer wieder auf die Agenda zu setzen. Gerade
weil aus G8 inzwischen G20 geworden ist. Weil mit China ein weiterer Gläubiger seine Schuldner drangsaliert und es nicht genügt, immer
ein paar Staaten ein bisschen Luft zu verschaffen, um dann andere
nach den jeweils geltenden Casino-Regeln umso härter ranzunehmen.
Also fordert „erlassjahr.de“, jetzt sicherheitshalber ohne Jahreszahl
im Namen, weiterhin, was schon zu biblischen Zeiten keine selbstverständliche Geschäftspraxis war: faire und transparente Verfahren
für Schuldenerlasse in Krisen. Die Streichung von Schulden, die unter
Missachtung internationaler Rechtsstandards zustande gekommen
sind und das Erreichen von international vereinbarten Entwicklungszielen verhindern. Standards für verantwortliche Kreditvergabe und
Kreditaufnahme, um die gemeinsame Verantwortung von Gläubigern
und Schuldnern festzuschreiben. Über 500 Organisationen unterstützen mittlerweile diese Forderung. Auf der Website finden sich alle Argumente, Erklärungen und Beweise vorbildlich aufbereitet in jeder erdenklichen Form. Dass es schnell gehen könnte, glaubt niemand mehr.
Und die Kriegswirtschaft der Gegenwart, gekennzeichnet durch Umschichtung vieler Mittel in der Rüstung und den Ausbau eines Gleichgewichts des Schreckens, tut ihr Übriges. sim
erlassjahr.de
September 2022
maldekstra #1619
Parole auf der Bühne des Internationalen Feministischen Streiks 2018
Foto: Jose Nico/ www.pagina12.com.ar
chem und Privatem aufgehoben haben. All
dies fließt in andere Themen ein, die wir analysiert und miteinander verbunden haben:
Verschuldung durch immer mehr unbezahlte
Care-Arbeit, Anstieg der Lebensmittelpreise,
Kosten für informelle Abtreibungen vor deren
Legalisierung. Wie sich Schulden im Raum
der sozialen Reproduktion auswirken, steht
im Zusammenhang damit, was die feministische Historikerin und Philosophin Silvia Federici als historische Ausbeutung und Abwertung des häuslichen Raums beschrieben hat:
ein Ort, an dem vor allem die Arbeit von Frauen und feminisierten Körpern eingesetzt und
der gleichzeitig als privater Raum eingegrenzt
und verachtet wird. Dies haben wir mit Federici die „finanzielle Kolonisierung der sozialen Reproduktion“ genannt.
Während der Covid-19-Pandemie hat sich
diese Realität verschärft: Es kam zu einer Diversifizierung und einem Anstieg der Verschuldung, sodass die Schulden außerhalb der
Banken – für Zahlungsrückstände bei Steuern,
Strom-, Wasser- und Gasrechnungen – rasant
zugenommen haben. Bei unseren Untersuchungen in diesem Zeitraum haben wir einen
Anstieg der Schulden für informelle Vermietungen festgestellt, der Zwangsräumungen beschleunigte. Diese Schulden koexistieren mit
anderen Verschuldungsquellen wie Familiendarlehen und Darlehen innerhalb von Nachbarschaften. Wir haben auch die Entstehung
von Schulden durch Financial-Technology-,
kurz: Fintech-Unternehmen untersucht, die
technologische Innovationen für finanzielle
Aktivitäten auf den Markt bringen, von virtuellen Geldbörsen bis hin zu verschiedenen
kontaktlosen Zahlungsmöglichkeiten. Fintech
ist eine neue Branche, die sich derzeit in Argentinien ausbreitet, insbesondere angesichts
der durch die globale Pandemie ausgelösten
Krise, die unter anderem den Prozess der Digitalisierung der Währung stark intensiviert.
Eine weitere wichtige Dimension ist, die
unbezahlte, meist feminisierte Arbeit im
Haushalt aktuell neu zu überdenken. Dies ist
ein methodischer Schlüssel, der unsere feministische Perspektive auf die Verschuldung ergänzt und für das Verständnis der Auswirkungen der Pandemie auf den häuslichen Raum
von grundlegender Bedeutung ist.
Neue Schulden entstanden durch die wachsenden Schwierigkeiten, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern, die Bewältigung des
Alltags und die Zunahme der Betreuungsaufgaben. Der häusliche Raum wurde bei feministischen Demonstrationen als ein Raum
herausgestellt, in dem sich Formen der Ausbeutung und Unterdrückung verbinden. In
der Pandemie war er zugleich ein Rückzugsort, um die Möglichkeit einer Ansteckung zu
minimieren. Das Paradoxe daran ist, dass dieser „sichere“ Raum gleichzeitig zu einem Eroberungsgebiet für das Finanzkapital wurde
(die Zunahme der Mietschulden ist nur ein
Beweis dafür). Bemerkenswert war, dass immer mehr Menschen ihre Lebensmitteleinkäufe, ihre Strom-, Wasser- und Gasrechnun-
gen und ihre Medikamente per Ratenzahlung
mit hohen Zinssätzen bezahlt haben. Der alltägliche Raum des Zuhauses wurde so zu einem Finanzzentrum (wohin die Instrumente
der Verschuldung, der Einnahmen- und Ausgabenbalance und der Mieteinnahmen gelenkt werden). Er ist zudem verstärkt Ort der
Produktion von Wert durch Reproduktionsarbeit, intensivierte Care-Aufgaben und Home
office, mit denen spekuliert wird.
Die Überschuldung greift mit einer eminent politischen Funktion in das Leben von
Frauen ein: Sie erzeugt eine Häuslichkeit,
die an die Tilgung der Schulden gebunden ist.
Frauen müssen mehr und mehr arbeiten, um
ihre finanziellen Verpflichtungen einzuhalten. Das führt zu Überausbeutung von historisch abgewerteter Arbeit und zu einer Verarmung auch derjenigen, die eine bezahlte
Arbeit haben. Die Verschuldung ist zum vorherrschenden Element der politischen Konjunktur geworden, was die Herausforderung
für die sozialen und feministischen Organisationen verdoppelt, sie zum Zentrum einer
übergreifenden und zusammenführenden Artikulation zu machen.
Verónica Gago und Lucia Cavallero gehören zu
den wichtigsten Vertreterinnen der lateinamerikanischen Frauenbewegung, schreiben und
forschen über geschlechtsspezifische Gewalt
und Finanzialisierung der sozialen Reproduktion. Dieser Text wurde übersetzt von Caroline
Kim.
20
maldekstra #16September 2022
Wirtschaft als Waffe
Erklärtes Kriegsziel ist es, Russland dauerhaft ökonomisch in die Knie zu zwingen. Von Stephan Kaufmann
Der russische Überfall auf die Ukraine bedeute eine „Zeitenwende“, so Bundeskanzler Olaf
Scholz, und damit sei „nichts mehr so, wie es
war“. Aus ökonomischer Perspektive scheint
dies einerseits zutreffend, tatsächlich verändert sich das Gesicht der Weltwirtschaft,
und zwar auf Dauer. Andererseits wurde diese Wende schon vor Jahren eingeleitet und
erhält durch den Ukrainekrieg bloß neuen
Schwung. Im Kern geht es bei diesem Kampf
der etablierten Weltwirtschaftsmächte darum, wer die Regeln der Globalisierung setzt,
wer von ihr profitiert und wer sie als politisches Druckmittel benutzen kann.
„Wende“ bedeutet Umkehr oder zumindest
eine dauerhafte Änderung des eingeschlagenen Kurses. In diesem Sinne handelt es sich
bei den Wirtschaftssanktionen des Westens
gegen Russland tatsächlich um eine Wende.
Denn üblicherweise haben insbesondere die
USA und die EU in der Vergangenheit ökonomische Maßnahmen gegen Regierungen ergriffen, um deren Handeln zu ändern oder
einen Regimewechsel herbeizuführen. Es
waren begrenzte Maßnahmen für einen begrenzten Zweck. Bei den Sanktionen gegen
Russland allerdings sowie dem Versuch, sich
in Sachen Rohstofflieferungen unabhängig
zu machen, geht es um weit mehr, zumindest
wenn man den Äußerungen der Politik Glauben schenkt. Es geht um eine dauerhafte Ausschaltung Russlands als geopolitischer Akteur.
„Wir werden den Kollaps der russischen
Wirtschaft provozieren“, beschrieb im Februar Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire
das Ziel der Sanktionen. Laut EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wolle man
„Stück für Stück die industrielle Basis Russlands abtragen“. Gerade die Sanktionen im Finanzbereich „werden Russland ruinieren“,
versprach Außenministerin Annalena Baerbock. Dadurch soll das Land laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin so geschwächt
werden, dass es künftig nicht mehr zu Invasionen fähig sei.
Zu diesem Zweck werden Sanktionen in einem Umfang eingesetzt, wie es sie seit jenen
gegen die Achsenmächte in den 1930er Jahren
nicht mehr gegeben hat, stellt der Ökonom
Nicholas Mulder im Blog des Internationalen
Währungsfonds (IWF) fest. Sie markieren damit ein neues weltwirtschaftliches Regime,
das allerdings schon seit einiger Zeit im Werden ist. Kennzeichnend für dieses Regime ist
die Benutzung der heimischen Wirtschaft als
Waffe, eine „Politisierung der Lieferketten“
zur „geopolitischen Neuordnung der Welt“, so
Günther Maihold von der Berliner Denkfabrik
SWP.
Nachdem viele Jahre das Loblied auf die Globalisierung und freie Weltmärkte gesungen
wurde, setzte, von den USA ausgehend, ein
Stimmungswandel ein. Schon 2012 startete
US-Präsident Barack Obama eine „Nationale
Strategie zur Sicherung der globalen Lieferketten“, um die USA ökonomisch unabhängiger
vom Ausland zu machen und sich die notwendigen Zulieferungen zu sichern. Unter Obamas
Nachfolger Donald Trump kam es zum US-chinesischen Handelskrieg, der vor allem mit Zöllen ausgetragen wurde. Auch die EU hat China
zum „systemischen Rivalen“ ernannt. Bereits
2019 fand daher das Weltwirtschaftsforum in
Davos laut Veranstaltern „in einem Kontext
nie dagewesener Unsicherheit und Kontroversen“ statt. Es sei eine Zeit „strategischer geopolitischer Verschiebungen“, die mit ökonomischen Mitteln vorangetrieben wurden.
Sanktionen: In den vergangenen Jahren
sind Wirtschaftssanktionen „zum Mittel der
Wahl geworden“, stellte bereits vor zwei Jahren eine Forschergruppe um Gabriel Felbermayr, Chef des Instituts für Weltwirtschaft
in Kiel, fest. Die von ihm mitkonzipierte Global Sanctions Data Base, die allerdings nur bis
2016 reicht, zeigt eine Zunahme der Maßnahmen von 50 in den 1970er Jahren auf etwa
180. Inzwischen sieht er eine größere „zweite Sanktionswelle“ rollen. Gründe hierfür
seien unter anderem der „neue Kalte Krieg“
zwischen den USA und China, die Konfrontationen mit Russland (vor dem Ukrainekrieg)
sowie die verstärkte Neigung der Regierungen, Handel als „strategisches Feld“ zu betrachten. Im Fall der USA und zunehmend
auch der EU kommt es dabei immer mehr zu
einer Vermischung von Sanktionen und Handelspolitik.
Handel: „Bemerkenswert ist die zuvor ungekannte Nutzung von Zöllen als Wirtschaftssanktionen, um die Politik des ‚America First‘
durchzusetzen“, schrieben John Forrer und Kathleen Harrington von der George Washington
University 2020. Das Peterson Institute in Washington listet allein sechs „Schlachten“ auf,
die Washington mit Zöllen gegen Länder Europas, Lateinamerikas und Asiens geschlagen
hat: vom Schutz der US-Hersteller von Solarpaneelen und Waschmaschinen vor asiatischen
Importen über die Definition von Autos und
Stahl aus Europa als Gefahr für die nationale
Sicherheit bis hin zur Verhinderung illegaler
Migration aus Mexiko und zum Kampf gegen
„unfaire Handelspraktiken“ Chinas. Insbesondere das Ziel der Maßnahmen gegen China ist
jedoch ausgeweitet worden. Es geht inzwischen – ähnlich wie im Fall Russlands – um die
dauerhafte Schwächung eines geopolitischen
Konkurrenten. Zentrales Schlachtfeld ist hier
die Technologie.
maldekstra #1621
Foto: Shutterstock
September 2022
Waffe, funktioniert in beide Richtungen
Technologie: Zwischen Europa, den USA
und China läuft ein Wettrennen um die
„Technologieführerschaft“. Die US-Regierung
unterstützt dabei ihre Marktführer Apple,
Amazon, Google und Co. China zielt mit seiner Strategie „Made in China 2025“ darauf,
seine Marktanteile in zehn Schlüsselindustrien zu erhöhen und seine Abhängigkeit von
ausländischer Technologie abzubauen. China verfolge eine „aktive staatliche Industrieund Innovationspolitik zur Erlangung von
Technologievorherrschaft“, so der deutsche
Industrieverband BDI. Im Fokus des „Technologiekriegs“ steht unter anderem die Halbleiterproduktion. „Speicherchips und Prozessoren sind eine Grundlagentechnologie“, erklärt
die Stiftung Neue Verantwortung, eine Denkfabrik in Berlin. Wer Chips herstellt, macht
andere von sich abhängig. Die US-Regierung
lockt daher große Chip-Produzenten in die
USA. Die EU will zur Erreichung ihrer „technologischen Souveränität“ bis zum Ende der
Dekade weltweit ein Fünftel der modernsten
Halbleiter produzieren.
Infrastruktur: Um sich gegen Chinas Infrastrukturprojekt „Neue Seidenstraße“ zu positionieren, haben einige G7-Staaten vor einem
Jahr eine Reihe „wertebasierter Infrastruktur-Partnerschaften“ initiiert: die US-Initia-
tive Build Back Better World und der Global
Gateway der EU, der Milliarden mobilisieren
soll für Verkehrsinfrastruktur, digitale Netze,
Gesundheit und Bildung in Osteuropa, Afrika, Asien und Lateinamerika. So wird auch per
Kapitalexport um Einfluss gerungen.
Die ohnehin bestehenden Spannungen
auf dem Weltmarkt wurden ab 2020 durch
die Corona-Krise verschärft, auf die ein weltwirtschaftlicher Boom inklusive Lieferengpässen und Materialmangel folgte. Abermals
verschärft wurden Letztere durch den Überfall auf die Ukraine und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Mit ihnen und den
Maßnahmen gegen China will der Westen
laut Aussagen von Politikern die „regelbasierte Weltordnung“ erhalten. „Letztlich geht es
aber nicht darum, ob die USA eine regelbasierte Ordnung haben wollen und China nicht“,
erklärt Harvard-Politologe Stephen M. Walt.
„Im Kern konkurrieren die USA und China
darum, wer festlegt, was Recht ist.“ Dies sei
die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts,
und sie wird schon seit einiger Zeit gestellt.
„Still und leise ist der Kampf für eine ‚regelbasierte Weltordnung‘ zum höchsten und
letzten Zweck der deutschen Außenpolitik
avanciert“, schrieb schon 2020 Jörg Lau in der
Zeitschrift „Internationale Politik“.
In der Konkurrenz um den Status der Recht
setzenden Autorität schmiedet der Westen
neue Allianzen. „Es ist an der Zeit, ungesunde
Abhängigkeiten zu beenden“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
beim Weltwirtschaftsforum 2022. Zu diesem
Zweck wird versucht, die Produktion strategischer Güter heimzuholen oder in politisch
verlässliche Länder zu verlagern. EZB-Chefin
Christine Lagarde erwartet eine Konzentration von Regionen „auf einen kleineren Pool
potenzieller Zulieferer, die als zuverlässig
gelten und im Einklang mit unseren strategischen Interessen stehen“.
Damit droht allerdings eine neue Gefahr,
die als „Fragmentierung“ bezeichnet wird,
also der Zerfall des einen Weltmarkts in verschiedene Einflusssphären. Dem Westen stehen nicht nur China und Russland, sondern
tendenziell die ganze Gruppe der BRICS-Staaten gegenüber, die sich als Alternative zur G7
positionieren und daher zur BRICS+ erweitern will. Algerien, der Iran und Argentinien
haben bereits um Aufnahme gebeten. „Die
Weltwirtschaft steht vor ihrer größten Herausforderung“, warnte IWF-Chefin Kristalina
Georgieva im April. „Das Risiko einer geoökonomischen Fragmentierung ist stark gestiegen.“
Fatale Geschichte
1975 begannen die „Kamingespräche“ – inoffizielle Treffen sechs führender industrieller Nationen in Gestalt ihrer jeweiligen Regierungschefs. Mit Kanada wurde aus G6 (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien) G7. Außen- und Finanzminister gesellten
sich dazu, seit 1977 gilt die G7 als Lobbyorganisation der großen Industrienationen und wichtiges Instrument der Weltpolitik. Auch wenn
die Wirtschaftsleistung der beteiligten Länder sinkt (2006 zwei Drittel
des Welt-BIP, 2020 45 Prozent), sind sie ein Machtfaktor.
An wechselnden Orten finden jährliche Gipfeltreffen statt. 1997 bekam Russland einen „Platz am Katzentisch“ (isw München) zugesprochen, nach der Annexion der Krim 2014 flog der Bär wieder raus.
Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die G7 Interessenlobby der
Reichen dieser Welt ist, auch wenn zu den ersten 15 Wirtschaftsnatio-
nen, wo immer sie sich tummeln, inzwischen China, Brasilien, Indien,
Russland (nun wahrscheinlich nicht mehr) und Indonesien gehören.
Der relativ größte Teil des globalen Reichtums gehört ihnen, ganz zu
schweigen von der Deutungsmacht, die diese Länder und ihr wirtschafts- und geopolitisch adressierter exklusiver Zusammenschluss
innehaben. Trotz sinkenden Einflusses und einer Entwicklung hin zu
einer multipolaren Welt kann sich die sogenannte westliche sozioökonomische Ordnung (Kapitalismus ist es überall) noch behaupten, denn
auch wenn aus Kamingesprächen offizielle Treffen an bombastischen
Orten geworden sind, es bleiben protektionistische Deals und Abwehrschlachten, die da getroffen und gefochten werden. kg
www.isw-muenchen.de
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maldekstra #16September 2022
Ökonomischer Kollateralschaden,
diplomatischer Seiltanz
Der Ukrainekrieg könnte dazu führen, dass sich politische Loyalitäten im postsowjetischen Raum
verschieben. Von Leonie Schiffauer
Infolge der engen ökonomischen, sicherheitspolitischen und kulturellen Verzahnung der
ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens
mit Russland erschüttert der Ukrainekrieg die
Region in besonderem Maße. Zum einen zieht
vor allem die Sanktionspolitik des Westens
gegenüber Russland die Region in Mitleidenschaft, zum anderen stellt der Krieg die Länder
Zentralasiens vor diplomatische Herausforderungen mit Blick auf Russland. Die Regierungen der zentralasiatischen Staaten sind darum
bemüht, eine neutrale Haltung einzunehmen,
aber zunehmend wird deutlich, wie schwierig
dies ist. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass
sich durch den Krieg langfristig sowohl ökonomische Beziehungen als auch außenpolitische Allianzen der zentralasiatischen Staaten
verschieben – auch ohne dass sie sich klar für
oder gegen den Krieg positionieren.
Russland ist einer der Hauptinvestoren in
der Region und wichtigster Handelspartner.
Durch ihre Mitgliedschaft in der Eurasischen
Wirtschaftsunion sind Kasachstan und Kirgistan wirtschaftlich besonders eng an Russland gebunden. Allein zwischen Russland und
Kasachstan betrug das Handelsvolumen im
letzten Jahr 25,6 Milliarden US-Dollar; in Kasachstan kommt mehr als ein Drittel der Importe aus Russland, in Kirgistan ist es knapp
ein Drittel. Aufgrund dieser engen wirtschaftlichen Beziehungen hängt die finanzielle Stabilität der zentralasiatischen Staaten unmittelbar vom Zustand der russischen Wirtschaft ab.
Somit haben die Sanktionen auch direkte Folgen für Zentralasien. Infolge des Kursverfalls des Rubels im März büßten auch die
Währungen Kasachstans, Kirgistans und Ta-
dschikistans deutlich an Wert ein, haben sich
jedoch mittlerweile mit dem Rubel wieder stabilisiert. Ebenfalls zu beobachten war ein starker Anstieg der Inflation. Gerade wegen ihrer
Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion sind Kasachstan und Kirgistan hier besonders stark betroffen. Die Preise für Lebensmittel stiegen im Durchschnitt um 15,4, die für
Waren und Dienstleistungen um 12 Prozent.
Zusätzlich zur Inflation sind die Länder Zentralasiens auch von Lieferengpässen betroffen.
Besonders gravierend aber sind die Folgen
westlicher Sanktionen für die Arbeitsmigration, die ein wesentlicher wirtschaftlicher
Faktor in der Region ist. 2021 waren mehr als
7,8 Millionen Menschen aus Zentralasien in
Russland als Arbeitsmigrant*innen registriert,
davon 4,5 Millionen aus Usbekistan, 2,4 Millionen aus Tadschikistan und 900.000 aus Kirgistan. Nach Angaben der Weltbank machten
Geldüberweisungen aus dem Ausland (hauptsächlich Russland) im letzten Jahr mehr als
ein Viertel des kirgisischen und tadschikischen Bruttoinlandsprodukts aus. Oft sind
ganze Familien wirtschaftlich von der Unterstützung ihrer in Russland arbeitenden Verwandten abhängig.
Die westlichen Sanktionen treffen die zentralasiatischen Staaten empfindlich, die Internationale Organisation für Migration prognostiziert einen deutlichen Rückgang der
Rücküberweisungen. Der Einsturz des Rubels
hatte zur Folge, dass die Geldüberweisungen
weitaus weniger wert waren, was zu großen
Schwierigkeiten führte, Grundbedürfnisse zu
decken – gerade in den ärmsten Teilen Zentralasiens. Seit Beginn der russischen Invasion der
Ukraine haben zudem viele Arbeitsmigrant*innen ihre Jobs verloren oder müssen befürchten,
keine Folgebeschäftigung mehr zu finden, denn
die Arbeitsmärkte in ihren Herkunftsländern
bieten ihnen in der Regel keine Alternative.
Insbesondere in Kasachstan könnte sich
die ökonomische Situation noch dadurch verschärfen, dass die Ölexporte des Landes, die
14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und
57 Prozent der Exportwirtschaft ausmachen,
hauptsächlich über Russland abgewickelt werden. Die CPC-Pipeline, durch die der Großteil
der Exporte transportiert wird, verläuft vom
Westen Kasachstans durch den Süden Russlands zum Schwarzmeer-Terminal in Noworossijsk. Aufgrund der Nähe zum Kriegsgebiet
werden die Energieexporte nun durch logistische Risiken im Schwarzen Meer sowie durch
steigende Versicherungskosten erschwert. Hinzu kommt, dass Russland Kasachstan zunehmend Probleme bereitet, das Öl Richtung Westen zu transportieren. Im Juli hat Russland nun
bereits zum dritten Mal – sehr wahrscheinlich
aus politischen Gründen und um Kasachstan
in die Schranken zu weisen – den Export kasachischen Öls für einen längeren Zeitraum blockiert. Die EU hat zwar großes Interesse daran,
künftig Öl aus der Region zu beziehen, es bleibt
allerdings die Frage, wie schnell alternative
Transportrouten ausgebaut werden können.
Auf institutioneller Ebene kooperieren unter
anderem Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan mit Russland auch über die Organisation
des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS),
ein von Russland geführtes Militärbündnis.
Erst im Januar dieses Jahres rief der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew die
Geld fürs Fossile
Erdgas aus Westafrika. Das soll helfen. Der Senegal ist in der krisengeplagten Sahelzone ein Stabilitätsfaktor. Und bald, so will es die Bundesregierung, und dafür reiste Bundeskanzler Olaf Scholz in den Senegal, soll das Land Flüssigerdgas (LNG) nach Europa exportieren. Ein
Lückenfüller für ausfallendes russisches Erdgas. Dafür kann man schon
mal einen Freundschaftsbesuch machen. Die Deutsche Umwelthilfe
(DUH) und senegalesische Klimaaktivist*innen, wie Yero Sarr, finden,
diese Pläne sollten sofort auf Eis gelegt werden. Sie halten die damit
verbundenen Investitionen für fehlgeleitet, klimaschädlich und der regionalen Entwicklung nicht förderlich. Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der DUH, sagt: „Mit Energiesicherheit und nachhaltiger Entwicklung haben die Pläne der Bundesregierung im Senegal
nichts zu tun.“ Mit dem Bau einer neuen Plattform vor der Küste des
Senegals und von Mauretanien entstünde eine Infrastruktur, die die
Abhängigkeit von fossiler Energie langfristig festschreiben und die Erschließung weiterer Gasquellen erfordern würde. Dies sei weder mit
Klimazielen vereinbar noch volkswirtschaftlich für das Land sinnvoll.
Entstünden doch pro Megawattstunde Strom bei erneuerbaren Energien mehr als viermal so viele Jobs wie im Vergleich zur Gasindustrie.
Aber bereits im Dezember 2023 soll ein schwimmendes Terminal
für Flüssigerdgas mit einer Laufzeit von 20 Jahren in Betrieb gehen
und 3,4 Milliarden Kubikmeter jährlich liefern. In einer Region, deren
Pflanzen- und Tierreichtum heute noch groß ist, und in unmittelbarer
Nachbarschaft zu drei Nationalparks sowie einem Meeresschutzgebiet, einem Reservat und dem größten Korallenriff der Welt. Yero Sarr,
der ein Aktivist der Fridays-for-Future-Bewegung ist: „Das Projekt
wird die bereits unternommenen Anstrengungen zur Energiewende im
Senegal zunichtemachen und vor allem die bereits sichtbaren negativen Auswirkungen der Klimakrise beschleunigen. Die Bundesrepublik
Deutschland darf sich nicht an diesem Projekt beteiligen, das Tausenden von Menschen und der Biodiversität schaden könnte.“ Tut sie aber
doch. kg
September 2022
maldekstra #1623
Plakat des Kriegsausschusses für Öle und Fette, Berlin, 1915/18,
Auf der Rückseite die Aufforderung, das Plakat an einer gut sichtbaren Stelle auszuhängen
Abb: wikimedia
Truppen der OVKS zu Hilfe, um die Regierung
während der Unruhen im Land zu stabilisieren.
Dies warf angesichts der sicherheitspolitischen
Abhängigkeiten von Russland und einer möglichen Ausweitung des russischen Einflusses in
der Region viele Fragen auf. Nun werden allerdings die Beziehungen der zentralasiatischen
Staaten zu Russland durch den Krieg in vielerlei Hinsicht auf die Probe gestellt.
Das Abstimmungsverhalten der zentralasiatischen Länder bei den UN-Voten im März und
April zeigt die schwierige diplomatische Situation, in der sie sich gegenüber Russland befinden, und ihre Bemühungen, eine neutrale
Position zu beziehen. Keines der Länder hat
beim März-Votum für die Verurteilung des russischen Angriffs gestimmt, und am 7. April haben Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und
Usbekistan dagegengestimmt, Russland aus
dem UN-Menschenrechtsrat auszuschließen.
In diesem Zusammenhang ist interessant,
dass Russland im Vorfeld gewarnt hatte, man
werde sowohl die Nicht-Teilnahme an der Abstimmung als auch eine Enthaltung als „unfreundliche Geste“ bewerten. Kurz davor hatte
Russland vereinfachte Visaprozesse für Länder
beendet, die es als „unfreundlich“ einstuft. Für
die Länder Zentralasiens, die aufgrund der Arbeitsmigration auf genau diese einfachen Verfahren ökonomisch stark angewiesen sind,
hätte also ein anderes Abstimmungsverhalten
zu großen Schwierigkeiten führen können.
Auf der anderen Seite hat auch keines der
zentralasiatischen Länder Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt,
Kasachstan und Usbekistan haben dies sogar
explizit zum Ausdruck gebracht. Bemerkenswert ist auch, dass die Regierungen Kasachs-
tans, Kirgistans und Usbekistans verschiedene Antikriegsproteste sowie Hilfssendungen
in die Ukraine zugelassen haben. In Kasachstan wurde die humanitäre Hilfe klar von der
Regierung getragen, während sie in Usbekistan und Kirgistan eher von zivilgesellschaftlichen Initiativen mobilisiert wurde. Tadschikistan und Turkmenistan haben nicht offiziell
Stellung zu dem Krieg bezogen, vielleicht war
es daher auch kein Zufall, dass Putins erste
Auslandsreise nach der russischen Invasion in
diese Länder führte.
Auch auf symbolischer Ebene haben einige
der zentralasiatischen Staaten ihre subtile Kritik an Russlands Angriff auf die Ukraine zum
Ausdruck gebracht. Zum Beispiel verhängten
die kasachischen Behörden Geldstrafen für das
Anbringen von „Z“-Symbolen, welche die Unterstützung für Russland zum Ausdruck bringen sollen. Andererseits wurden in Kirgistan
zivilgesellschaftlich organisierte pro-ukrainische Demonstrationen von den Sicherheitsbehörden unterdrückt. Selbst in Usbekistan
wurden an zentralen Orten in Taschkent und
Samarkand ukrainische Flaggen gezeigt, was
in dem autoritären Land ohne Akzeptanz von
staatlicher Seite nicht möglich wäre.
Gerade zwischen Kasachstan und Russland
scheint der diplomatische Ton zunehmend
rauer zu werden. Im Juni hat Präsident Tokajew die Nicht-Anerkennung der Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg,
auf einer Bühne mit Putin sitzend, noch einmal unterstrichen – ebenfalls ein diplomatischer Schlag gegen Moskau. Hierbei spielen
vermutlich auch die mittlerweile wiederholten Äußerungen von russischer Seite eine Rolle, welche die kasachische Staatlichkeit in
Frage stellen. Im Rahmen ebenjenes Wirtschaftsforums hatte Putin öffentlich geäußert, die ehemalige Sowjetunion sei Teil des
„historischen Russlands“ gewesen und auch
anderen Ländern könne es ähnlich wie der
Ukraine ergehen, wenn sie sich offen gegen
Moskau stellten. Gerade aufgrund der Grenze
mit Russland dürfte sich Kasachstan hier direkt angesprochen gefühlt haben.
Der Ukrainekrieg könnte dazu führen, dass
sich politische Loyalitäten im postsowjetischen Raum verschieben und man zumindest
in Teilen Zentralasiens versuchen wird, die
Abhängigkeit von Russland zu reduzieren und
die Beziehungen zu China, zum Westen, aber
auch zum Beispiel zur Türkei oder zum Iran
weiter zu stärken. Bereits jetzt ist deutlich,
dass die Länder der Region mit Blick auf die
Beziehungen zu Russland nicht immer einheitlich agieren, sondern dass es verschiedene
Interessen, Möglichkeiten und Handlungspfade gibt, die ohnehin die postsowjetische Entwicklung der zentralasiatischen Staaten charakterisieren.
Leonie Schiffauer ist Referentin für Südasien,
Ostasien und Zentralasien bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Foto: https://fetia.org.ar
maldekstra
S A LO N
Wer schuldet uns was?
Feministischer Blick auf private, staatliche und globale Schulden
Mit
Luci Cavallero und Veronica Gago
NN zur sozialen Lage und Verschuldung in Deutschland
Moderation: Karin Gabbert
22. SEPTEMBER 2022
19 UHR
ORT: SALON, FMP1, 10243 BERLIN ___ WWW.ROSALUX.DE
Hinweis zum Veranstaltungsort: Vor dem Gebäude (FMP1) ist zurzeit eine Baustelle. Der Eingang ist daher
nur von einer Seite erreichbar: Weg zum Eingang über die Straße „Am Wriezener bhf“.