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Full text: Maldekstra (Rights reserved) Ausgabe 2022,16 (Rights reserved)

maldekstra #16 september 2022 Globale Perspektiven von links: das Auslandsjournal Wirtschaft im Krieg Foto: picture alliance / Andreas Franke Widerstreitende politische und wirtschaftliche Interessen bestimmen seit jeher die Kriegsökonomie. Im Zeitalter der Globalisierung betrifft das alle und alles. Kriegsökonomien enthalten in dieser weltumspannenden Wirtschaftsweise Kapitalismus immer auch ein Prosperitätsversprechen. Der Krieg selbst und die Nachkriegszeiten generieren Nachfrage, ermöglichen geopolitische Neuordnung, bauen Überschusskapazitäten ab. Obwohl die Grauen eines jeden Krieges und das singuläre Elend zweier Weltkriege eine andere Sprache zu sprechen scheinen: Es ist wichtig, über den Zusammenhang von Kriegsökonomie und Wirtschaftswachstum zu reden. Denn wenn es nicht um die vollständige Vernichtung von allen und allem geht, bedeuten Kriege für bestimmte Interessengruppen immer auch geldwerte und Machtvorteile. Die Tragik der Gegenwart, die nun schon lange andauert, besteht darin, dass der Eroberungskrieg seitens Russlands und der Unabhängigkeitskrieg seitens der Ukraine zugleich ein globalisierter Krieg sind, aus dem niemand desertieren kann und der zugleich einen anderen, globalen Krieg, den es zu beenden gälte, noch weiter in den Hintergrund rückt: den Krieg, den wir mit unserer Art, zu wirtschaften, die damit einhergehenden stetig wachsenden Ungleichheiten in Kauf nehmend, gegen die Lebensgrundlage aller Menschen führen, indem nach und nach alle planetaren Grenzen überschritten werden. 2 3 Wie die Sache endet, ist nicht ausgemacht Real ist durch Krieg seit Beginn der 1990er Jahre nichts mehr gewonnen worden. Gespräch mit Lutz Brangsch 8 Kriegsökonomie Afghanistan Mehr als 40 Jahre Krieg haben eine parasitäre Profiteursschicht und Massenarmut geschaffen 10 Geißel und Brotgeber zugleich Über den systematischen Zusammenhang von Krieg und Ökonomie 11 Neuer Systemkonflikt oder alter Ideologiestreit? Die Länder Osteuropas und weit darüber hinaus wurden Opfer westlicher Hybris und westlichen Geschäftssinns. 14 (Alb-)Traum der Entwicklung Gefährliche Abhängigkeiten, kalkulierte globale Ausbeutung – Hunger hat viele Gründe 16 Scheiß auf Kunstdünger! Ressourcenschonende DüngerAlternativen auf Basis menschlicher Fäkalien sind erforscht und erprobt – aber vom geltenden Recht nicht vorgesehen 17 Haitis ewige Schuld Ein Teufelskreis, der bis ins 20. Jahrhundert reicht 18 Lebend, frei und schuldenfrei Es braucht dringend eine feministische Perspektive auf Verschuldung. 20 Wirtschaft als Waffe Erklärtes Kriegsziel ist es, Russland dauerhaft ökonomisch in die Knie zu zwingen 22 Ökonomischer Kollateralschaden, diplomatischer Seiltanz Der Ukrainekrieg könnte dazu führen, dass sich politische Loyalitäten im postsowjetischen Raum verschieben Impressum maldekstra ­wird herausgegeben von der common Verlagsgenossenschaft eG, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, in Kooperation mit der Beirat Hana Pfennig, Boris Kanzleiter Redaktion Julia Funcke (Korrektorat), Kathrin Gerlof (V.i.S.d.P.), Anne Schindler, Mitarbeit: Karin Gabbert Gestaltung Michael Pickardt Kontakt Tel. 030.2978.4678 kontakt@common.berlin Druck BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin Druckauflage 52.000 „maldekstra“ steht für „links“ in der Weltsprache Esperanto. „maldekstra“ kann kostenfrei bezogen werden über bestellung.rosalux.de. Anfragen und Leser*innenbriefe bitte an maldekstra@rosalux.org „maldekstra“ wird finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. maldekstra #16September 2022 Neue Wirtschafts(un)ordnung Die Gegenwart kennt verschiedene Logiken. Der Begriff der multipolaren Welt ist zwar gesetzt, das Bestreben jedoch, Problemlagen auf möglichst klare Zuschreibungen einzudampfen, groß. Hier die Ursache, da die Folgen – normative Verlässlichkeit vorspiegeln, Handlungsfähigkeit proklamieren, Eindeutigkeit versus Vielstimmigkeit. In Zeiten tiefgreifender Umbrüche ist dies das Rezept noch jeder Politik der Gegenwart. Globalisierung, Klimakatastrophe, die zunehmende Verschiebung von Reichtum in die Verfügungsgewalt weniger – weder die nationalen Politiken noch die internationale „Gemeinschaft“, worin auch immer sich dieser nebulöse Begriff manifestiert, sind der Komplexität dieser Umbrüche gewachsen, die durch einen Schock, wie der Ukrainekrieg ihn darstellt, noch verstärkt und verzerrt werden. In dem Roman „Das Ministerium für die Zukunft“ erfindet der Autor Kim Stanley Robinson den Begriff der „Monocausotaxophilie“ – der Liebe zu EINER Idee, die ALLES erklärt. Ein wenig scheint dies ein Problem dieser Zeit zu sein. Obwohl wir die Frage, um was für einen Krieg es sich handelt, nicht umfassend beantworten können. Und wollen? Der französische Philosoph Étienne Balibar unternahm den Versuch, die aus seiner Sicht vier großen Dimensionen des Krieges zu beschreiben, und nennt als dritte, dass dieser Krieg im Begriff sei, ein globalisierter Krieg zu werden. Da ist schon allein deshalb etwas dran, weil die Kriege seit Beginn der 1990er Jahre (nimmt man den Jugoslawienkrieg als Ausgangspunkt) sozusagen einpreist wurden. Einschließlich all der Opfer, die sie forderten. Zwischen 100.000 und 200.000 Tote haben Schätzungen zufolge beide Ttschetschenienkriege (zwischen Russland und der Republik Tschetschenien) gefordert, was zu keinen allzu großen Verwerfungen und Reaktionen anderswo in der Welt geführt hat. Es waren auch, das ist trotz des zynischen Klangs sachlich zu konstatieren, anderswo nicht ausreichend wirtschaftliche Interessen berührt. Die Gleichzeitigkeit säkularer Umbrüche und externer Schocks, wie dieses Krieges, habe Folgen für die Politik, schrieb der Sozialwissenschaftler Hans-Jürgen Urban in der Juliausgabe der „Blätter“: „Strukturell überfordert steht sie vor Problempanoramen, in denen unterschiedliche Logiken wirken, die kaum zu managen sind. Dabei wächst das Risiko in dem Maße, in dem sich die Problemdeutungen von ökonomischen Gewinn- und politischen Machtinteressen entfernen.“ Ökonomische Gewinn- und politische Machtinteressen? Das mag kaum jemand ehrlich zugeben, obwohl nur dieser Blick die Möglichkeit einer komplexen Problemanalyse eröffnen würde und vielleicht die Chance böte, einer zunehmend militarisierten öffentlichen Debatte etwas entgegenzusetzen. Der Wunsch nach moralischer Eindeutigkeit verträgt sich nicht mit der Frage nach den sehr unterschiedlichen geopolitischen und ökonomischen Interessen, die in der Kriegs-Gegenwart wichtige Rollen spielen. Dass ein Teil der Länder des afrikanischen Kontinents zurückhaltend ist, wenn es um die Positionierung gegenüber dem Aggressor Russland geht, wird moralisch für verwerflich befunden, ohne dass die Frage gestellt wird, welche – auch ökonomischen – Entwicklungen der Vergangenheit denn zu genau dieser Haltung geführt haben mögen. Wir sind doch die Guten mit unseren monotonen Rezepten neoliberaler Schocktherapien in Kombination mit einem nie enden wollenden Neokolonialismus. Dass im Schatten dieses Krieges der schon lange währende Handelskrieg zwischen den USA und China, in dem es auch um die Neuaufteilung von wirtschaftlichen Einflusssphären geht, alle in Haftung nimmt, die sich gegenwärtig zu diesem Krieg zu verhalten haben, bleibt wesentlich unter der alles übertünchenden Geste der Empörung verborgen. Dass Rüstungskonzerne wie Raytheon Technologies (USA) schon vor diesem Krieg darüber flohlockten, was für große Geschäfte ihnen militärische Konflikte – egal wo auf der Welt – bescheren würden, was der CEO Greg Hayes bereits einen Tag nach Beginn des Ukrainekrieges freudig bestätigte, wird nicht als wirtschaftliche Dimension thematisiert. Dabei hat noch jeder Krieg Absatzmärkte sowohl temporär zerstört als auch neue geschaffen, Rendite an der einen Stelle beschnitten und an anderen Stellen in die Höhe schnellen lassen. Darüber nicht zu reden läuft auf die „langsame Löschung der Zukunft“ (Franco Berardi, marxistischer Schriftsteller) hinaus. Kathrin Gerlof Fortlaufend nachdenken: Ein Dossier „Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns wieder einmal gezeigt, wie verletzlich die Friedensordnung in Europa ist. Und dass auch die Linke neue Antworten auf die Frage braucht, wie ein stabiler, positiver Frieden erreicht werden.“ Ein Dossier auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung öffnet den Raum für eine Diskussion über mögliche wirtschaftliche und diplomatische Mittel als Alternative zu Waffenlieferungen und Auslandseinsätzen. „Auch in Zeiten des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges in der Ukraine ist das langfristige Ziel eines kooperativen Sicherheitssystems in Europa immer noch richtig“, heißt es da. Streitbar und kritisch das Buch über die Geschichte und die Hintergründe einer sich mehr und mehr militarisierenden Europäischen Union, verfasst von Autor*innen des Europäischen Netzwerks gegen Waffenhandel. Ebenso spannend der Beitrag von Lucas Maaser und Stephanie Verlaan „Pentagon goes Silicon Valley“. kg https://www.rosalux.de/die-waffen-nieder September 2022 maldekstra #16 3 Krater durch einen Raketenbeschuss, Charkiv, August 2022 Foto: picture alliance Gigantische Umverteilung Seit Beginn der 1990er Jahre ist durch Krieg nichts mehr gewonnen worden, sagt Lutz Brangsch Lu m xe Ist es der Versuch, das zu verschleiern, oder mangelnde Erkenntnisfähigkeit, die man auch bei Linken verorten könnte? Wir sind Teil des Problems. Auch in radikalster Opposition und erst recht als sozialdemokratische Linke leben wir global gesehen gut mit der Situ- sa- fonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation haben dazu geführt, dass die wirtschaftliche und soziale Basis einer nachhaltigen Entwicklung gar nicht gestaltet werden konnte. Die Art der Einordnung dieser Staaten in die internationale Arbeitsteilung hat die politischen und wirtschaftlichen Systeme völlig deformiert. Die Versuche Russlands, durch staatliche Programme Innovationen und volkswirtschaftliche Strukturveränderungen durchzusetzen, scheiterten an dem so gesetzten Rahmen. Freihandel und Freiheit des Kapitalverkehrs erwiesen sich als Grenzen. Hinsichtlich der Neugestaltung der Weltwirtschaftsordnung fallen daher die Interessen Russlands mit denen Chinas und anderer Länder durchaus zusammen. Da liegt der ökonomische Hintergrund dieses Krieges. Viele andere Gründe kommen natürlich dazu. Fo t o : R o Ich bin – in einem System, das abgeschlossene Vergangenheit ist – mit sehr einfachen Wahrheiten groß geworden. Eine lautete: Jedem Krieg liegen ökonomische Interessen zugrunde. Die galten als Ausgangspunkt für das, was der entfesselte Kapitalismus in wiederkehrenden Mustern zur Realisierung seiner Profitraten anrichtet. Dass es so einfach nicht ist, wissen wir längst. Aber interessant ist doch, dass viel über Ursachen und Gründe für diesen neuen Krieg, den Russland im Februar begann, geredet und geschrieben wird, jedoch vergleichsweise wenig darüber, welche ökomischen Interessen und Begehren es gibt. Es geht um nichts Geringeres als den Charakter der zukünftigen Weltwirtschaftsordnung. Bisher stand vor allem die Auseinandersetzung mit China im Mittelpunkt. Das war aber nur die erste Etappe des Kampfes um Dominanz in der Weltwirtschaft. Der Krieg um die und in der Ukraine hat ihn auf völlig neue und so weitgehend unerwartete Weise eskaliert. Das große Versprechen gegenüber den Nachfolgestaaten der UdSSR, dass die perfekte Neoliberalisierung den Wohlstand bringen wird, erwies sich als uneinlösbar. Die Vorschläge der westlichen Ratgeber, des Internationalen Währungs- bu rgSt if tu ng Lutz Brangsch ist Ökonom und wissenschaftlicher Referent für Staat und Demokratie im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er arbeitet unter anderem zu Fragen der Transformation von Staatlichkeit und Demokratie im 21. Jahrhundert. 4 maldekstra #16September 2022 ation, wie sie ist. So ist eine Identifikation mit dem politischen System entstanden, die die Schattenseiten der westeuropäisch-atlantischen „Wertegemeinschaft“ zum Teil wegdrückt. Nun zeigt sich, dass wir in unserer Kapitalismuskritik offensichtlich zu flach und selektiv geblieben sind. Die Erosion des jetzt oft beschworenen Wertehaushalts, wie sie etwa in dem jährlich erscheinenden Grundrechte-Report nachzuvollziehen ist, und die Kritik der Weltwirtschaftsordnung werden meist getrennt betrachtet. Die Konsequenzen der „Vielfalt der Kapitalismen“ sind nicht erfasst. Wir sind solidarisch mit Argentinien, wenn dort die Staatsschuldenkrise eskaliert und die Angriffe der Neoliberalen komDieser Krieg men. Gegenüber Russland, genauer ist Teil einer den Linken in Russland, ist solch eine umfassenderen Sicht kaum entwickelt. Russland Krise des Weltwirt- und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren für die Linken in den schaftssystems. letzten Jahren nicht sonderlich von Interesse. Die Solidarität mit den Gewerkschaften hält sich in Grenzen, bei aller Anerkennung der Bemühungen einzelner Organisationen. Dass sich bei den Dimensionen, die Russland in jeder Hinsicht darstellt, Probleme viel schärfer artikulieren und zuspitzen müssen, wird auch jetzt noch verdrängt. Dazu kommen sicher aus historischen Gründen noch latent vorhandene antisowjetische Einstellungen, die auf Russland übertragen werden – unberechtigt, denn Russland war nicht die Sowjetunion. Wir sind in einer Haftungsgemeinschaft? Aus der man nicht rauskommt. Die Vorstellung, dass „unser“ System auf Russland, die Ukraine oder Kasachstan ohne Weiteres übertragen werden könnte, ist angesichts der völlig anderen politischen Konstellationen immer illusorisch gewesen, erst recht heute. Das dort entstandene Bürgertum hat einen völlig anderen Charakter, ist zum Beispiel viel skupelloser als das in Westeuropa oder den USA. Die Linken sind noch schwächer als hier, die Gewerkschaftsbewegung ist nicht stark genug, um die Neoliberalisierung zu bändigen. Diese Seite des westlichen Wirtschaftssystems stand ja auch nie auf der Tagesordnung der Reformberaterinnen und -berater, die in den nachsowjetischen Staaten aktiv waren. Diese Konstellation macht die Fixierung auf eine militärische Lösung des Konflikts auch so fragwürdig. Selbst eine Niederlage Russlands, wie immer man sich das auch vorstellt, würde nicht plötzlich die Probleme lösen und eine sozialstaatlich und demokratisch geläuterte Oberschicht hervorzaubern. Auch die Putsch-Option, die von der liberalen Opposition in Russland verfolgt wird, könnte das nicht. Beides würde vielleicht zu einer zeitweise tragenden Lösung führen, was die Ukraine betrifft, aber völlig neue und noch schärfere Widersprüche hervorbringen, die eine damit gewonnene Atempause zunichtemachen und in neue Kriege münden würden. Was ist denn in der Gegenwart ökonomisch mit und durch diesen Krieg zu gewinnen? Wir haben eine lange Phase hinter uns, in der der Neoliberalismus alle möglichen Formen gefunden hat, seine Interessen in die ganze Welt zu tragen. Auch der russische Neoliberalismus. Real ist durch Kriege seit Beginn der 1990er Jahre nichts mehr gewonnen worden. Es konnte (fast) nirgendwo Stabilität gesichert werden, man denke nur an den Nahen Osten oder Afghanistan. Die in den vergangenen Jahrzehnten angeführten ökonomischen Ziele, wie die Sicherung von Lieferketten und Handelsrouten oder der Zugang zu Rohstoffen, sind kaum erreicht worden. Die meisten Staaten, die von Kriegen betroffen waren, sind extrem instabil oder autoritär regiert. Sie sind oft auf internationale Hilfen angewiesen, kosten also weiter Geld. Die Einzigen, die dabei ökonomisch gewonnen haben, sind die Waffenproduzenten und die mit der Kriegführung verbundenen Unternehmen. Allerdings sollte man auch die indirekten Effekte, wie sie sich auf den Finanzmärkten unter Kriegsbedingungen realisieren lassen, nicht vergessen. All das ist eine gigantische Umverteilung, die die Welt nicht sicherer gemacht hat. Das klingt, als wäre das ökonomische Kalkül, wären die wirtschaftlichen Begehren des sogenannten globalen Nordens nicht aufgegangen. Soweit man die Stabilität der Weltwirtschaftsordnung betrachtet, ist das Kalkül nicht aufgegangen. Der Krieg in der Ukraine ist Teil des Versuchs Russlands, eine „andere“, eine zweite Weltwirtschaft zu etablieren, die die eigenen Interessen in Rechnung stellt. Die Regulierungsfähigkeit der Weltwirtschaftsordnung, die auf den Prämissen beruhte, die der neoliberale Umsturz in den 1970er und 1980er Jahren setzte, hat sich als außerstande erwiesen, die Probleme zu lösen, die sie, wie im Fall Russlands, hervorbringt. Mehr noch – sie könnte diese Probleme nicht lösen, ohne das eigene Fundament, verkürzt gesagt die strikte Marktorientierung, in Frage zu stellen. Mit dem Aufstieg Chinas, Indiens, aber auch der Türkei oder des Iran, also völlig neuer Formen des Kapitalismus, ist die Integrationsfähigkeit des alten Modells erschöpft. Die Wirtschaftsmacht, die am Ende durch diesen Krieg, mit diesem Krieg wiedererstarken wird, sind die USA. Eine These – der Beweis ist noch nicht erbracht. Als Weltmacht, Leitland. Hat so ein Krieg am Ende dann doch die Auswirkung, dass sich ökonomische Machtverteilung noch einmal viel klarer sortieren wird? Machtzentren gestärkt werden? Das ist völlig offen. Dieser Krieg ist Teil einer umfassenderen Krise des Weltwirtschaftssystems. Wenn sich China zum Beispiel im Spiegel der Sanktionen gegen Russland der Schwächen seiner eigenen Struktur bewusst wird und mit dem Potenzial, das es aufgebaut hat, diese Schwächen auch angeht, dann kann das natürlich bei den Ressourcen, die das Land hat, dazu führen, dass die Vorteile, die die USA jetzt noch auf technologischem Gebiet haben, sehr schnell verloren gehen. Für Russland geht es um Modernisierung durch Importsubstitution, gerade und auch bei innovativen Produkten, und um neue Absatzmärkte. Dabei ist die Welt im Verhältnis zu diesem Krieg nach wie vor gespalten. Viele Länder des globalen Südens, die als Rohstofflieferanten oder Lieferanten intelligen- September 2022 ter Arbeitskraft für den „Westen“ interessant sind, sehen eine Chance, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien und eine gewisse Eigenständigkeit im Rahmen einer anderen Weltordnung zu erlangen. Das ist auch das Kalkül eines Teils der russländischen Eliten. Sie setzen auf Multipolarität – China, die BRICS-Staaten generell, die Türkei und der Iran als anerkannte Regionalmächte, Russland als zwar China nicht ebenbürtiger, aber eigenständiger Spieler. Das ist nicht unrealistisch, wenn man in Rechnung stellt, dass die Unterstützung des Rests der Welt für den westlichen Kurs nicht so nachdrücklich ist, wie suggeriert wird. Dafür sind die Wunden viel zu tief. Es ist im Augenblick nicht ausgemacht, wie die Sache endet. Dazu sind auch die USA zu stark von außenwirtschaftlichen Beziehungen abhängig. Sie können sich auf ihren Binnenmarkt zurückziehen, aber diese Stärke hat China genauso. Das Argument, China bleibe davon abhängig, dass es seine Waren exportieren kann, heißt ja nicht, dass das so bleiben muss und dass die USA der entscheidende Markt sein müssen. Die hier vorherrschende Sicht, dass China Peripherie sei, ist nicht mehr zeitgemäß. Aus Sicht Chinas ist die EU die Peripherie. Aber all das ist völlig offen, denn es hängt viel davon ab, wie sich bei allen Akteuren die innenpolitischen Konstellationen entwickeln. maldekstra #16 Die neue Qualität der gegenwärtigen Situation besteht also vielleicht doch darin, dass am Ende eine andere Weltordnung, Weltwirtschaftsordnung stehen kann. Diese Deutungsmacht hatten die Kriege der jüngeren Vergangenheit seit Beginn der 1990er Jahre nicht. Das stimmt. Es geht nicht um den Wechsel einer Führungsmacht, es geht um eine grundsätzlich andere Machtkonstellation. Das ist der erste Krieg des 21. Jahrhunderts, und der kann nicht mit den Kriegen davor verglichen werden. In Syrien oder im Irak haben die USA in den Angriff viel mehr investiert als Russland bislang im Fall der Ukraine. Wenn Putin sagt, Russland habe noch gar nicht richtig mit einem Krieg begonnen, dann ist das, so pervers es ist, wohl richtig. Hier ist ein völlig neues und anderes Eskalationspotenzial auf allen Gebieten möglich. Als „Rausch des Gleichschritts mit dem Zeitgeist“ wurde die Gegenwart mal in den „Blättern“ beschrieben. Der Tabubruch dieses Krieges ist gut dafür geeignet, ihm alle multiplen Krisen in die Schuhe zu schieben. Es ist eine Frage des Selbstbildes des „Westens“, um mal die hässliche Verallgemeinerung zu nehmen. Alles, was nicht funktioniert, erscheint als überwindbare Episode, generell funktioniert 5 Zerstörte russische Militärfahrzeuge werden in Kiew ausgestellt, August 2022 Foto: Maxym Marusenko/NurPhoto/ picture alliance 6 maldekstra #16September 2022 Armin Papperger, Vorstand Rheinmetall, vor einer Fahrerkabine für Logistikfahrzeuge der HX-Serie, Rheinmetall-Werk Unterlüß, Juli 2022, Foto: picture alliance/dpa Neutralität passé Schweden und Finnland werden dem Militärbündnis NATO beitreten. Damit ist die Ära politischer Neutralität für beide Länder zu Ende. Beiden Staaten gelang es im 20. Jahrhundert, in Teilen noch darüber hinaus, gut funktionierende soziale Wohlfahrtsstaaten aufzubauen, geprägt von Wirtschaftswachstum, dem Abbau sozialer Ungleichheiten, technischem Fortschritt. Wechselvoll alles auch aufgrund wechselnder politischer Machtverhältnisse. Trotzdem beschrieb der sogenannte „Dritte Weg“ Schwedens einen Kompromiss zwischen komplett neoliberaler Globalisierung und einer stärker sozial und demokratisch verfassten Wirtschaft. Die selbstverordnete Neutralität nach einer langen Vor-Geschichte, die viele Jahrhunderte lang eine gemeinsame war (als Finnland zum schwedischen Königreich gehörte), ist vorbei. Damit einhergehen werden ganz sicher weitere Umschichtungen von Geldern in den militärischen Sektor, um den Verpflichtungen, die mit einer NATO-Mitgliedschaft verbunden sind, gerecht zu werden. Schweden hatte sich seit 1814 konsequent aus allen Kriegen herausgehalten, Finnland, das ab 1941 auf der Seite der deutschen Wehrmacht kämpfte, später die Deutschen aus dem Land vertrieb und territoriale Zugeständnisse an die Sowjetunion machen musste, schloss 1948 das „Abkommen über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ mit der Sowjetunion, entschied sich gegen Hilfen aus dem Marshallplan der USA. 1952 hielt der finnische Staatspräsident Urho Kekkonen (Zentrumspartei) eine große Rede, in der er begründete, warum er Neutralität als Teil nordischer Identität ansah. 1995 wurden beide Länder Mitglieder der EU, das nordische, neutrale Selbstverständnis wurde ergänzt und vielleicht zunehmend verdrängt durch ein europäisches und westliches. Der russische Angriffskrieg hat geschafft, was bis dahin zwar durch viele Entwicklungen bereits vorbereitet, aber nie vollzogen worden war: Finnland und Schweden werden Teil der atlantischen Allianz. Diese Ausweitung hat weltgeschichtliche Bedeutung, die Idee der Blockfreien ist Geschichte. Der finnische Politökonom Heikki Patomäki schrieb im Juni diesen Jahres in der Zeitung „Le Monde diplomatique“: „Diese Entscheidung wird auch die Abhängigkeit der Europäischen Union von Washington verstärken. Noch gravierender ist, dass sie den globalen Prozess beschleunigt, der immer mehr auf eine zweigeteilte Weltwirtschaft zuläuft, in der Handelskriege zur Regel und gegenseitige Abhängigkeiten zur Waffe werden.“ kg September 2022 das System. Fundamentale Widersprüche werden als situationsbedingte Schwierigkeiten dargestellt. Und das ist genau der Hintergrund dafür, dass der Rest der Welt ausgeplündert werden kann – in dem Glauben, dass alle damit verbundenen Probleme zu managen seien. Jetzt wird eine Form der Suffizienz erzwungen, könnte man sagen – das macht sich am Gas fest –, die „by disaster“ laufen wird, obwohl man die Chance hätte, es trotz des Krieges „by design“ zu gestalten. Diese aufgezwungene Ressourcennot böte ja tatsächlich die Möglichkeit, umzusteuern. Dafür allerdings gibt es keine Basis. Die EU und die USA wollen das Problem lösen, ohne an die Wurzeln zu gehen. Auch die Unternehmen suggerieren, dass mit Subventionierungen und der Lockerung von Gesetzen alles möglich ist. Genau so geht man auch in Russland an die Sache heran. Beide Seiten versuchen die Quadratur des Kreises. Sie wissen, sie sind in einer Krise des Reproduktionsprozesses ihres Wirtschaftssystems. Beide versuchen, ausschließlich im Rahmen des marktwirtschaftlichen Systems zu bleiben. Bis heute ist das Finanzsystem Russlands überhaupt nicht auf die neuen Bedingungen eingestellt. Die Zentralbank folgt einer ganz konservativen Geld- und Finanzpolitik, die einen Teil der Blockade der entwicklungsfähigen innovativen Bereiche der Wirtschaft ausmacht. Der Zeitfaktor ist in beiden Systemen, die sich jetzt gegenüberstehen, der entscheidende Punkt. Natürlich wird jede Krisensituation dazu führen, dass man Kreativität bei der Entwicklung neuer Formen an den Tag legt. Die Frage ist, ob man dabei bereit ist, auf einen Militär-keynesianischen Kurs einzuschwenken, oder ob man die Dinge laufen lässt und gegen die Wand fährt. Wir hatten diese Ausgabe ursprünglich mit dem Arbeitstitel „Wachstumsmaschine Krieg“ überschrieben. Dann dachten wir, das ist vielleicht zu platt und zu kurz gesprungen, weil die Dinge nicht mehr so einfach sind. Trotzdem stimmt: Es wird bereits am Wiederaufbauplan für die Ukraine gestrickt, es werden Gelder aufgerufen, versprochen. In diesem Sinne ist der Arbeitstitel doch irgendwie gerechtfertigt. Krieg ist für einige immer noch eine Wachstumsmaschine. Aber wichtiger ist die Frage der Stabilität der Verhältnisse als Garant zukünftigen Wachstums – wie immer man es definiert. Es geht um unterschiedliche Zukunftsbilder. Dafür sind alle Seiten bereit, viel zu riskieren. Im Fall Russlands ist der Angelpunkt das Jahr 2024, in dem die Neuwahl des Präsidenten ansteht. Der Versuch der Neubestimmung von Russlands Platz in der Weltwirtschaft soll das entstandene Akkumulationsregime durch Modernisierung stabilisieren, der Krieg die Modernisierung erzwingen. maldekstra #16 7 Fundamentale Widersprüche werden als situationsbedingte Schwierigkeiten dargestellt. Die russländischen Wachstumsprognosen scheinen mir recht hoch gegriffen. Aber selbst die bedeuten Stagnation in den sozialen Verhältnissen. Und mit mehr rechnet auch niemand. Alles auf einem gewissen Niveau halten und darauf achten, dass man nicht zu tief rutscht. Das wird hier über kurz oder lang auch eintreten. Bei der ohnehin gegebenen Einkommens- und Vermögensungleichheit wird der Krieg also bestenfalls für die Oberschicht profitabel sein. Und das wird beim Wiederaufbau der Ukraine, egal in welchem Gebiet und unter wessen Hoheit, genauso sein. Aber auch der muss ja im Voraus finanziert werden, bevor Mittel zurückfließen. Wenn es nicht gelingt, eine Demilitarisierung der Region zu erreichen, wird hier ein beständiger Punkt der Instabilität liegen. Möglicherweise besteht das Geschäft dann darin, dass beide Seiten die immer wieder neu gebaute Infrastruktur zerschießen. Das wird irgendwann nicht mehr wachstumstreibend sein. Mit allen Folgen, über die im Augenblick kaum gesprochen wird. Zum Beispiel die ökologischen Folgen. Wenn da Tausende Tonnen von Metallen, Elektronikschrott und anderen Materialien in einem relativ kleinen Gebiet rumliegen, wo ja in der Vergangenheit schon andere Schlachten stattgefunden haben, ist die Dekontaminierung nur noch Verbrauch von Ressourcen, um die Bewohnbarkeit der Region einigermaßen zu sichern. Wir denken viel darüber nach, wie die Gegenwart ist und welche katastrophalen Szenarien eintreten könnten. Hast du eine zumindest nicht völlig aus der Luft gegriffene optimistischere Variante, wie es auch weitergehen könnte? Die optimistischste Variante scheint das Einfrieren des Konflikts zu sein. Alles andere ist gegenwärtig illusorisch. Wenn die Verluste auf beiden Seiten zu groß werden, könnte eine militärische Lösung wegen der Unzufriedenheit im Innern und der damit verbundenen sozialen Risiken unmöglich werden. Auch Nationalismus und Patriotismus haben ihre Grenzen. Die Interessen in der EU als indirekter Kriegspartei sind keinesfalls einheitlich. Polen, die baltischen Staaten, Frankreich, Deutschland, Rumänien, Ungarn, Griechenland usw. haben ganz eigene Interessen mit Blick auf den Ukrainekrieg und seine Begleitumstände. Auch für die USA wird ein anhaltender Krieg eine Belastung. Wenn klar wird, dass sie nicht mehr in der Lage sind, den Konflikt zu managen, heißt das gegenüber anderen, dass man die USA in derartigen Fällen nicht mehr in Rechnung zu stellen braucht. Alle müssen gesichtswahrend aus der Sache herauskommen. Und das wird auf Kosten der Masse der Ukrainer*innen und der Russ*innen ausgetragen. Vertagen also, eine Fast-Friedenslösung mit Kriegsoption. 8 maldekstra #16September 2022 In der nördlichen afghanischen Provinz Jawzjan werden von China gespendete Lebensmittel verteilt. Foto: picture alliance / Xinhua News Agency Kriegsökonomie Afghanistan Mehr als 40 Jahre Krieg haben eine parasitäre Profiteursschicht und Massenarmut geschaffen. Von Thomas Ruttig „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Brechts Zitat, auf den über 40 Jahre währenden Krieg in Afghanistan angewandt, könnte lauten: Was ist die Handhabung von Waffen gegen deren Herstellung? Afghanistans Kriegsökonomie in ihrer internationalen Dimension besteht vor allem aus der Rüstungsindustrie und dem relativ neuen Sektor der Sicherheitsdienstleister. In ihrer afghanischen Dimension geht es nicht nur um die Anwendung von Waffen zur Durchsetzung bestimmter Kriegs- oder politischer Ziele, sondern auch um die Bestreitung des Lebensunterhalts in einer vom Krieg ausgepowerten Wirtschaft. Der militärisch-industrielle Komplex: Das Costs-of-War-Projekt der Brown University im Staat Rhode Island beziffert die gesamten Kriegsausgaben für die USA von der Intervention gegen die Taliban im Jahr 2001 bis zum Truppenabzug im August 2021 auf 2.313.000.000.000 (2,313 Billionen) US-Dollar. Davon entfielen 145 Milliarden auf „Versuche, Afghanistan wieder aufzubauen“, wie es der zuständige US-Sonderinspekteur (SIGAR) 2021 in einem Resümee-Papier vorsichtig formulierte, also auf das, was gemeinhin als „Entwicklungshilfe“ bezeichnet wird. Das sind ganze sechs Prozent davon. Wiederum davon entfielen nur 55 Milliarden auf den zivilen Bereich; 90 flossen also in die afghanischen Streitkräfte. Der internationale Aspekt des Kriegsgewinnlertums aus den Afghanistan-Kriegen ist bisher nur in Ansätzen beleuchtet worden. Das Costs-of-War-Projekt errechnete, dass sich der Wert der Aktien der fünf größten USRüstungsfirmen seit Beginn der „Kriege gegen den Terror“ verzehnfacht hat. Seit 2001 erhielten sie Pentagon-Aufträge im Wert von 2,2 Billionen US-Dollar. Wie viele der so produzierten US-Waffen in Afghanistan eingesetzt wurden, ist unklar. Der Löwenanteil der US-Rüstungsausgaben für die Kriege gegen den Terror ging in den vergangenen 20 Jahren aber an das eigene Militär. Die afghanischen Streitkräfte erhielten einen vergleichsweise kleinen Teil. Ein neuer Bericht des Projekts legt offen, dass Sicherheitsdienstleister vom US-Verteidigungsministerium seit 2001 insgesamt 108 Milliarden US-Dollar für Aufträge in Afghanistan erhielten. Mehr als ein Drittel davon (37 Milliarden) ging an Auftragnehmer, deren Identität geheim gehalten wird. Laut SIGAR fielen fast 30 Prozent der USAusgaben für Afghanistan zwischen 2009 und 2019 „Verschwendung, Betrug und Missbrauch“ – also Korruption – zum Opfer. Einen Großteil davon steckten sich die afghanischen September 2022 Verbündeten des Westens in die Tasche. Einer der größten Brocken dabei war das Geschäft mit der Versorgung der NATO-Truppen, das vom US-Militär einem Konsortium aus sieben teilweise afghanischen Firmen übertragen wurde. Laut eines „Warlord Inc.“ betitelten Berichts des US-Kongresses von 2010 floss ein Großteil des Zwei-Milliarden-Dollar-Geschäfts als Schutzgelder an afghanische Warlords (die zum Teil die vom Konsortium subkontraktierten afghanischen Transportfirmen kontrollierten), korrupte Polizisten und die Taliban. Von der sogenannten Entwicklungshilfe blieb das meiste nicht in Afghanistan oder kam gar nicht erst dort an. Laut einem Bericht der Weltbank lag der „einheimische Wirtschaftsanteil“ der aggregierten Hilfsflüsse im Jahr 2014 bei lediglich 14 bis 25 Prozent. Sarkastisch gesagt, ist das eher Selbsthilfe für die Geberländer. Auch hier besteht mangels aktuellerer Zahlen deutlicher Forschungsbedarf. Allein bis 2009 wurden 17 Milliarden USDollar Entwicklungsgelder durch die internationalen Truppen in Afghanistan vergeben, damals 65 Prozent der Gesamtsumme. Damit wurde etwa versucht, die Loyalität lokaler Power Broker oder örtlicher Gemeinschaften zu kaufen, zumeist in Taliban-beeinflussten Gebieten. Sie kamen also vor allem militärpolitischen und nicht Entwicklungszwecken zugute. Man kann davon ausgehen, dass große Teile des von der Weltbank als „einheimischer Wirtschaftsanteil“ bezeichneten Teils der externen Entwicklungszahlungen (20 bis 36,25 Milliarden US-Dollar) in korrupte Kanäle flossen. Afghanische Konfliktparteien erhoben zudem „Steuern“ auf fast alle Wirtschafts- und Handelstätigkeiten – die Taliban „offiziell“ und Polizisten, Soldaten und Milizen der Regierung für die eigene Tasche. Es gab Geistersoldaten, -polizisten, -lehrer und -schulen, die in den Erfolgsstatistiken auftauchten, aber nicht wirklich existierten. Die maldekstra #169 dafür überwiesenen Entwicklungsgelder teilten korrupte Beamte und Machthaber auf lokaler wie nationaler Ebene unter sich auf. Dieselben Warlords, die mit den NATOTruppen gegen die Taliban kämpften, und ihre Firmen, die den Nachschub für sie transportierten, schafften auch die Ernte der explodierenden Drogenwirtschaft aus dem Land. Deutsche Diplomaten und Bundeswehr pflegten trotz Wissen um deren Verstrickung in den Drogenhandel intensive Beziehungen mit einigen der Warlords, zum Beispiel an ihrem damaligen Hauptstationierungsort Kundus. Warlords und Politiker-Newcomer wie Hamid Karsai reinvestierten ihre Korruptionsgewinne zunächst in die legitime Wirtschaft, neben dem Bau- und Transportwesen für das NATO-Militär in den Import/Export-Sektor, Immobilien, das Bankwesen und den Bergbau, und verwandelten sie schließlich in politisches Kapital. Sie stellten Milizen auf, um Wähler einzuschüchtern, oder kauften sie gleich, ließen Wahlergebnisse manipulieren und sicherten sich einflussreiche Posten in Regierung, Parlament und Verwaltung. Korrupte Geschäftsleute kauften Parlamentssitze, um politische Immunität zu erlangen, und Regierung und Opposition Stimmen, um wichtige Abstimmungen zu gewinnen. Im letzten, 2018 gewählten Parlament saßen fast nur noch Geschäftsleute ohne politisches Programm. Die aus der Kriegswirtschaft erwachsene systemische Korruption ist einer der Hauptgründe für den Systemzusammenbruch im August 2021. Die Folge ist laut UNO die „am schnellsten wachsende humanitäre Katastrophe weltweit“. Die Hälfte der Bevölkerung stehe kurz vor einer Hungerkatastrophe. Dafür ist auch die von Washington inszenierte Einstellung der langfristigen Entwicklungszahlungen verantwortlich. Solche Zahlungen deckten bis August 2021 etwa drei Viertel der afghanischen Staatsausgaben. Das ließ massenhaft Jobs in bisher regierungsgeführten Bereichen, wie dem Gesundheits- und Bildungswesen, sowie bei Nichtregierungsorganisationen verschwinden und die neu entstandene afghanische Mittelschicht fast völlig wegbrechen. Zudem drängten die Taliban und die Angst vor ihnen überdurchschnittlich viele Frauen aus der Lohnarbeit. Laut UNO verzeichneten seit August 2021 acht von zehn Haushalten „drastische“ Einkommensrückgänge. Die meisten ländlichen Haushalte werden wegen der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren ihre Nahrungsmittelreserven deutlich vor dem Winter aufgebraucht haben. Selbst viele ehemalige Kämpfer gehören zu den Verlierern. Bereits ein vom Westen finanziertes Programm nach dem Sieg über die Taliban 2001 scheiterte daran, dass nicht genügend Mittel zur Verfügung standen, um die Demobilisierten nachhaltig in die zivile Wirtschaft zu integrieren, und an massiver Korruption („Geisterdemobilisierte“). Vor allem die Unterkommandeure wollten nicht wieder Bauern werden. Die Warlords konnten viele der Demobilisierten für ihre Milizen remobilisieren und ließen sich dafür sogar vom Staat bezuschussen. Der Westen akzeptierte das in seiner Not, der wieder stärker werdenden Taliban Herr werden zu wollen. Diese Erfahrungen sind auch ein Grund dafür, dass die Taliban ihre Zehntausende von Kämpfern bisher nicht demobilisieren, sondern sie über „Polizeidienste“ bei der Stange halten. Damit winkt ihnen zumindest sporadische Weiterbezahlung. Thomas Ruttig betreibt seit vielen Jahren den Afghanistan-Blog https://thruttig. wordpress.com. Er ist Mitbegründer des unabhängigen Think-Tanks Afghanistan Analysts Network Kabul/Berlin (www.afghanistan-analysts.org/en/). Eine Langfassung dieses Textes finden Sie auf www.rosalux.de. Kriegerisches Innovationspotenzial Der Mainstream der Ökonomenzunft findet, der Markt soll das regeln, die progressive Minderheit sagt, der Staat muss investieren, um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern. So lässt sich ein Gros der wirtschaftspolitischen Debatten der jüngsten Vergangenheit zusammenfassen – bis da ein frisch zum Kanzler getaufter Sozialdemokrat ganz schön viel Geld fürs Militär in die Hand nehmen wollte, genauer: ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Dann stimmen selbst die penibelsten Haushaltbuchführer:innen von der CDU im Parlament der Staatsvöllerei zu. Und zerstören so einige wirtschaftspolitische Gewissheiten. Dabei sind staatliche Investitionen auch im Normalfall nicht prinzipiell positiv zu bewerten, wie es manch Progressive tun. Wenn man mit solch harten Bandagen dafür kämpfen muss, dass der Staat überhaupt was ausgibt, kann man schon mal vergessen, dass nicht all dieses Geld zum Aufbau des Sozialismus genutzt wird. Oder immerhin Wohlstand und Nachhaltigkeit für alle fördert, schraubt man die Ansprüche etwas nach unten. Heterodoxe, Post- oder (Links-) Keynesianer mit Hang zum makroökonomischen Denken übersehen diese kleinen Details der effektiven Ausgestaltung oft. Prominent führte Mariana Mazzucato das iPhone als Beispiel für privatwirtschaftliche Profite aus staatlichen Investitionsprogrammen an. Alle zentralen Technologien des Smartphone-Pioniers seien mit diesen in Verbindung zu bringen, zum Beispiel das GPS. Schaut man sich Mazzucatos Vorträge an oder liest ihre Bücher, läuft es für sie immer auf das Ungleichgewicht zwischen nötigen öffentlichen Investitionen, die private Gewinne abwerfen, hinaus. Dass viel dieser Innovation – auch beim iPhone – aus Militärprogrammen resultiert, verschweigt die Innovationsökonomin elegant. Forschung und Ausweitung des militärisch-industriellen Komplexes ist nach dieser Sichtweise etwas progressives, weil innovationsfördernd. Und vergrößert somit gar den Wohlstand. Doch dieser „Kriegskeynesianismus“, wie ihn Dietmar Dath einmal schmähte, – mag er bewusst oder unbewusst formuliert werden – kann für Linke keine Option sein. Wofür Geld ausgeben wird, ist eben doch relevant. Und ob mit dem GPS Panzer oder Pendler:innen navigiert werden auch. Ein Argument gegen Staatsausgaben generell ist das aber wiederum auch nicht. pb 10 maldekstra #16September 2022 Geißel und Brotgeber zugleich Interessen und Einflussnahme von Rüstungskonzernen sollten nicht unterschätzt werden. Von Ingar Solty „Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebro- systemen der westlichen Streitkräfte in der chen ist!“ Diesen Satz ruft an einer Stelle ent- Ukraine sind zweifellos ein willkommenes setzt die Mutter Courage in Bertolt Brechts Geschenk, ermöglichen sie es doch, altes 1941 in Zürich uraufgeführter Kriegsparabel Waffenmaterial loszuwerden und Bestände „Mutter Courage und ihre Kinder“. Die Cou- wieder aufzufüllen. Die Interessen und die rage lebt als fahrende Händlerin ökonomisch Einflussnahme von Rüstungskonzernen zu vom Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), in unterschätzen wäre ein Fehler. dem das Stück spielt, verliert aber zugleich Und dennoch: Wenn die deutsche Rüsnach und nach ihre Kinder an die Barbarei des tungsindustrie – großzügig berechnet – kaum Krieges. Brecht wollte mit seinem Stück die 300.000 Menschen beschäftigt, kann ihr Einunteren Klassen vor dem Glauben warnen, im fluss so groß nicht sein beziehungsweise ist es Zweiten Weltkrieg etwas gewinnen oder sich nicht. Dem Interesse an Krieg und Zerstörung schon irgendwie durchwurschteln zu können. von Rüstungsmaterial steht eben, je nach„Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebrochen dem, wo das Kriegsgeschehen stattfindet, ist“ ist ein Freud’scher Versprecher, der unter- auch die Zerstörung von ausländischen Distreicht, dass es im Krieg eben auch immer rektinvestitionen transnationalisierter KonGewinner gibt, vor denen man sich in Acht zerne entgegen. Der Aushandlungsprozess nehmen muss. für Aufrüstung entspringt einer komplexen Die einzelnen Kriegsgewinnler in Kriegen Gemengelage mit verschiedenen Logiken des sind schnell ausgemacht: Rüstungskonzerne, Politischen und Ökonomischen, verschiededie im Ersten Weltkrieg an alle Kriegsnatio- nen Interessen und verschiedenen Akteuren. nen Waffen lieferten und deren Aktienkurse Die Frage, die gestellt werden muss, ist also angesichts der 100 Milliarden Euro Sonder- die nach dem systematischen Zusammenhang schulden für die Bundeswehr in Rekordhöhen von Krieg und Ökonomie, nach der Logik des schnellen, Söldner, die vom Krieg leben, usw. Krieges. Manche führt dies zu der Annahme, EntVergegenwärtigen muss man sich, dass die scheidungen für Aufrüstung oder gar Kriege, Rüstungsindustrie ein wichtiger Innovationswie das neue globale Wettrüsten seit 2014 motor ist. Die neoliberale Ideologie hat vier oder die in diesem Jahr verkündete und ver- Jahrzehnte lang das Märchen vom ineffizienabschiedete Grundgesetzänderung für die ten Staat und vom dynamisch-innovativen 100 Milliarden Euro Sonderschulden, seien Markt und Privatsektor erzählt. Hiergegen hat das unmittelbare Ergebnis von Rüstungslob- die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem byismus. Bestseller „Das Kapital des Staates“ nachgeAls um das Jahr 2000 Politiker, Unterneh- wiesen, dass die Digitalisierungsinnovationen mer und Intellektuelle im „Project for the der letzten Jahrzehnte keineswegs in Garagen New American Century“ begründeten, an der US-Pazifikküste entstanden sind, warum die USA ihre militärisch-imsondern aus staatlicher Forschung periale Rolle in der Welt verstärresultieren. Erst danach wurden Vergegenken sollten, las sich dies in der sie von den Tech-Konzernen wärtigen muss Tat wie eine Einkaufsliste der des Silicon Valley angeeignet, großen US-Rüstungskonzerpatentiert, ausgeschlachtet man sich, dass die ne wie Raytheon, Northrop und als Milliardenvermögen Rüstungsindustrie Grumman, Lockheed Martin aufgehäuft. Die technischen ein wichtiger und Boeing. Solche Konzerne Neuerungen in einem iPhone betreiben unzählige ideoloInnovationsmotor etwa – Interfaces usw. – wurgische Vorfeldorganisationen, den alle durch öffentliche Forist. die die Politik davon zu überzeuschungsprogramme entwickelt, gen versuchen, dass es neue äußere nämlich in der und durch die RüsBedrohungen, Sicherheitslücken usw. gibt, tungsindustrie. Diese Zerstörungsindustrie auf die die Politik mit dem Einkauf immer ist paradoxerweise historisch immer wieder neuer Waffensysteme zu reagieren hat. Die Motor des technologischen Fortschritts gewequantitative Aufrüstung der Bundeswehr seit sen, weil hier gigantische staatliche Ressour2014 ging mit einem massiven ideologischen cen dafür eingesetzt werden, immens kostBegleitfeuerwerk einher, dem zufolge der IS, spielige Grundlagenforschung zu betreiben, die Ukraine und Ebola „neue Bedrohungssze- die von privatkapitalistischen Konzernen nienarien“ darstellten, auf die man mit Aufrüs- mals betrieben würde, weil unklar bleibt, ob tung zu reagieren habe. sich die Investitionen amortisieren. Zugleich müssen angeschaffte WaffenIn der Technikwissenschaft spricht man dasysteme sich auch abnutzen. Der Waffen- rum auch vom „Dual Use“, das heißt der dopRingtausch und der Verschleiß von Waffen- pelten Nutzbarkeit von Technologien, die in der Rüstungsforschung entwickelt wurden: dem militärischen Nutzen und der zivilen Nutzung. Freilich ließe sich staatliche Innovationspolitik auch ohne Rüstung denken. Die Aufrüstung jedenfalls ist vor diesem Hintergrund also auch im staatlichen Interesse. Dies gilt insbesondere für den heutigen geschichtlichen Moment. Der Neoliberalismus steckt in der Krise. China hat sich in den letzten 20 Jahren von der verlängerten Werkbank der Welt zum ernstzunehmenden Hochtechnologie-Rivalen entwickelt. Dieses historische Kunststück gelang (nur) durch einen starken Staatsinterventionismus. Die globale Finanzkrise nach 2007 hat gezeigt, dass Chinas Weg den Exitstrategien der kernkapitalistischen Staaten des „Westens“ stark überlegen war. Während der auf eine marktorientierte Politik der „inneren Abwertung“ von Kosten und Löhnen (Austeritätspolitik) setzte, plante China in großem Stil seine Entwicklung beziehungsweise die Entwicklung seiner transnationalisierten Staatsbetriebe. Auch die Aufrüstung hat in China, ausgehend von einem niedrigen Niveau allerdings, in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen und sich mehr als versechsfacht. Mittlerweile ist das frühere kolonisierte Entwicklungsland China bei Zukunftstechnologien wie der Künstlichen Intelligenz, der fünften Mobilfunkgeneration (mit allen Ableitungstechnologien wie „Smart City“, „autonomes Fahren“ usw.) und auch grünen Technologien den kernkapitalistischen Staaten im „Westen“ mindestens ebenbürtig, wenn nicht längst Weltmarktführer. Dort setzt sich deshalb allmählich die Einsicht durch, dass es gegen den Konkurrenten China nun ebenfalls eine stärker aktive Industriepolitik braucht. In der EU zeigt sich die Tendenz einer stärkeren „Symbiose von Industrie- und Rüstungspolitik“ (vgl. die Studie „Sicherheitspolitik contra Sicherheit“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom Februar 2020). Mit den Lieferkettenproblemen infolge des US-Wirtschaftskriegs gegen China einerseits und der Corona-Pandemie andererseits ergibt sich diese Tendenz zu einer neuen Renationalisierung von Politik. Die staatliche Förderung von privatem Kapital auch durch militärische Innovationspolitik, die Schaffung und der Erhalt von „Global Players“, Cybersicherheit und die Abwehr von Industriespionage werden bedeutsamer. Die neue europäische Industriestrategie fiel im März 2020 mit der Corona-Pandemie zusammen. Hinzu kommt, dass Rüstung in Zeiten global sinkender Lohnquoten, einer Überakkumulation von Kapital und damit schwächelnder binnenwirtschaftlicher Nachfrage auch ein Wachstumsmotor ist. Der Vorteil von Rüstung September 2022 maldekstra #1611 Neuer Systemkonflikt oder alter Ideologiestreit? Die Länder Osteuropas und weit darüber hinaus wurden Opfer westlicher Hybris und westlichen Geschäftssinns. Von Heiner Flassbeck Marshall-Plan-Hilfe für Deutschland, Plakat in West-Berlin 1948 ist, dass sich der Bedarf an Waffen zentral steuern lässt, weil hier der Staat der Nachfrager ist. Und weil es zudem politisch-ideologisch leichter ist, den Bedarf an neuen Waffensystemen durch Bedrohungsszenarien zu rechtfertigen, als die Nachfrage nach dezentralen Konsumgütern der Privathaushalte zu erhöhen. Es besteht also auch eine makroökonomische Funktion von Rüstung. Sie steht allerdings in einem Widerspruch zur neoliberalen Politik des ausgeglichenen Staatshaushalts. Denn ohne die Verschuldung entweder von Staat oder Privatwirtschaft lässt sich kapitalistische Ökonomie nicht denken. Ob der Ukrainekrieg und seine Folgen die neoliberale Orthodoxie der Austeritätspolitik im Namen des Notstands dauerhaft brechen und die marktradikalen Kräfte um Bundesfinanzminister Christian Lindner ihren Kampf für die Rückkehr zur „Schuldenbremse“ verlieren werden, ist noch unklar. Klar ist jedenfalls: Der Krieg, dies auch die Botschaft von Bertolt Brecht, ist die Geißel der Menschheit, aber er ist auch, so die Mutter Courage, „ein guter Brotgeber“. Ingar Solty ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung Man redet in diesen Tagen schnell und leichtfertig von einem neuen Systemkonflikt, von einer neuen Rivalität zwischen den demokratischen Staaten und den „Autokraten“. Was natürlich heißen soll: ein Konflikt zwischen den Guten und den Bösen. Das ist absolut lächerlich, und es ist kein Wunder, das nirgendwo auf der Welt, außer bei den selbsternannten Guten und ihren willfährigen Medien, ein solcher neuer Konflikt gesehen wird. Es sind nämlich die alten Konflikte, die in der sich entwickelnden Welt eine viel größere Rolle spielen als vom Westen ausgedachte neue Konflikte. Und bei diesen alten Konflikten spielten die „Guten“ des Westens eine Rolle, die sie selbst nicht wahrhaben wollen, die aber jedes Kind in einem Entwicklungsland beschreiben kann: Sie waren die Bösen. Der Westen, der gerne so tut, als sei seine Hilfe – im Gegensatz zu der Chinas – „wertebasiert“, hat in den vergangenen 70 Jahren vollkommen unabhängig von Demokratie und Menschenrechten Ländern in Not über den Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Wirtschaftsideologie aufgezwungen, die nicht nur grundsätzlich falsch und dumm war, sondern die Lage der betroffenen Länder in der Regel dramatisch verschlechtert hat. Der IWF unter Führung der großen Industriestaaten hat sich systematisch geweigert, über die wirklichen Probleme der betroffenen Länder auch nur nachzudenken, wenn man befürchten musste, eigene wirtschaftliche Interessen (der Wall Street, der Londoner City oder des Frankfurter Bankplatzes) könnten davon negativ berührt werden. Brasilien unter seinem ehemaligen Präsidenten Lula ist nur der bedeutendste dieser Fälle. Als Lulas Finanzminister zu Recht von einem Währungskrieg gegen sein Land sprach, hat man das in der westlichen Welt einfach ignoriert. Für all das sind die Industrieländer unmittelbar verantwortlich, weil sie im IWF das Sagen haben und von dort aus ihre wirtschaftliche Macht ohne jeden Skrupel ausüben. Jeder Mensch in den Entwicklungsländern weiß das und zieht seine Schlussfolgerungen daraus. Nur in den „demokratischen“ Nationen hat niemand eine Ahnung davon, weil es uns vollkommen egal ist, wie viel Elend es im Rest der Welt gibt und wie viel Schaden unsere Ideologien anrichten. Wer einen Schuldigen dafür sucht, dass im Rest der Welt die Bereitschaft, sich klar an die Seite des Westens zu stellen, heute verschwindend gering ist, muss sich an die eigene Nase fassen. China ist nicht deswegen mit seiner Art der Entwicklungspolitik erfolgreich, weil es konkrete Projekte finanziert, sondern weil es diese Projekte umsetzt, ohne sich in die Politik der Empfängerländer einzumischen. Der Westen dagegen, der über den IWF immer noch nahezu ein Monopol bei der Hilfestellung für Länder hat, die Fremdwährung brauchen, um ihre Rechnungen zu bezahlen, verbindet seine Hilfe immer und systematisch mit brutalem Neoliberalismus. Einem Neoliberalismus, den keines der Industrieländer bei sich selbst anwenden würde. Aus der Sicht der Regierung eines Entwicklungslandes, das womöglich vollkommen unverschuldet internationale Hilfe braucht, ist die Hilfe der „demokratischen“ Staaten via IWF ohne jeden Zweifel geistiger Kolonialismus, der ihnen von den Demokraten in die Feder diktiert wird, während die Hilfe der chinesischen Diktatoren erstaunlicherweise ganz ohne solche diktatorischen Elemente auskommt. Ohne eine vollständige Kehrtwende in Sachen Wirtschaftsdogma wird sich die Welt jenseits der etablierten Industrieländer neu orientieren. Schließlich hat China gezeigt, dass man wirtschaftlich erfolgreich sein kann, ohne sich dem Neoliberalismus zu verschreiben. Man kann nur hoffen, dass es den großen Ländern der sich entwickelnden Welt gelingt, baldmöglichst einen eigenen Währungsfonds zu schaffen, der dem IWF vollständig das Wasser abgräbt. Auch der Konflikt in der Ukraine, mit dem die Welt derzeit konfrontiert ist, kann maldekstra #16September 2022 Foto: Shutterstock 12 Protest gegen den IWF auf den Straßen von Buenos Aires, Februar 2020 nicht verstanden werden, wenn man igno- Westen leider stehen. Drei Jahrzehnte verstririert, auf welche Weise „der Westen“ nach chen weitgehend ungenutzt, wenn man sich dem Fall der Mauer Osteuropa einschließlich den ökonomischen Abstand anschaut, den die Russland mit einer Wirtschaftslehre überzo- meisten europäischen Regionen, die östlich gen hat, die nicht nur ungeeignet war, son- der Elbe liegen, zum „goldenen“ Westen hadern schlichtweg kontraproduktiv. ben. Das Ergebnis sind eine große Anzahl von Das beginnt bereits in Ostdeutschland, wo Staaten, die heute nur deswegen nicht zu trotz des sofortigen vollständigen Anschlusden „Failed States“ gezählt werden, weil sie ses an das Wirtschaftswunderland und unim Gefolge der Öffnung aller Märkte geheurer „Aufbauhilfen“ auch heute in der Lage waren, ihre Rohstoffe noch die Wirtschaft weit zurückNoch zu verschleudern. Frustration hängt und große Teile der Bevölund enttäuschte Hoffnungen kerung zu Recht den Eindruck schlimmer ist, betreffen nicht nur die polihaben, nicht wirklich dazuzudass der tischen Beziehungen zwigehören. Je weiter man nach Osten sich kollektiv Osten geht, umso schlimmer schen Ost und West. Noch schlimmer ist, dass der Oswird es. ökonomisch ten sich kollektiv ökonoDas russische Einkomverkauft misch verkauft fühlt, aber vor men pro Kopf der Bevölkefühlt. allem viele kleinere Länder imrung stagniert im Vergleich zu mer noch glauben, es gebe den einden USA auf einem niedrigen Nifachen Ausweg aus ihrer Misere, der veau. Die Ukraine fällt bei diesem entda heißt: Anschluss an den Westen. Dass der scheidenden Maßstab seit der Finanzkrise von Westen nie ein Konzept für Integration und 2008/2009 sogar deutlich zurück, auf einem Entwicklung hatte und bis heute nicht hat, noch viel tieferen Niveau als Russland. Dagewollen viele immer noch nicht wahrhaben. gen gelingt es China, sich gegenüber den USA Als vor 30 Jahren die Mauer aus Stein in stetig zu verbessern. Deutschland fiel, blieben die Mauern in den Das muss man sich deutlich vor Augen Köpfen vieler Politiker und Ökonomen im führen: Das Nachbarland Russlands, dessen Schicksal wir heute beklagen und mit dem wir uns jeden Tag solidarisch erklären, wurde von den westlichen Beratern unter Führung des IWF in eine ökonomische Lage gebracht, die für das Funktionieren einer jungen Demokratie und für die Lebensperspektiven der Menschen absolut fatal war und ist. Der von den Washingtoner Institutionen implementierte feste Glaube an die Segnungen der Marktwirtschaft, des freien Handels und freier Kapitalbewegungen hat sich auch in den Transformationsländern als Katastrophe erwiesen. Gekrönt wurde das Ganze vom Monetarismus, also der heute selbst in der herrschenden Lehre weitgehend überwundenen Überzeugung, man müsse mit einer strikten Geldmengenbegrenzung durch eine unabhängige Notenbank das Aufflackern von Inflation behindern. Fiskalisch schrieb der Konsens Frugalität vor, also den Versuch des Staates, mit möglichst geringen Steuersätzen und ohne Staatsverschuldung auszukommen. Gekrönt wurde auch die „Beratung“ der Transformationsländer von der vollkommen ungelösten Währungsfrage. In der Transformationsphase von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft war es für praktisch alle Länder die schwierigste Aufgabe, offene und andauernde Inflation zu verhindern, weil die in September 2022 maldekstra #1613 der Planwirtschaft unterdrückte Inflation of- rung Jelzin wäre Putin vermutlich nicht an fenbar wurde und in allen Ländern die Arbeit- die Macht gekommen. nehmer versuchten, das Aufholen gegenüber Feste Wechselkurse als Anker waren fatal dem Westen durch rasche Lohnsteigerungen für die realen Produktionsmöglichkeiten in gegenüber Unternehmen zu erreichen, die den entscheidenden Industrien der Transforüberhaupt nicht wussten, was ihnen auf dem mationsländer. Fast alles, was heimisch war, Weltmarkt blühte, wenn sich die Grenzen öff- verschwand, weil sich westliche Produzenten neten. mit ihren völlig unterbewerteten Währungen Weil für den IWF Löhne als „Marktpreise“ rasch und vollständig durchsetzten. Damit ein vollständiges Tabu für die Wirtschafts- war das Schicksal der wichtigsten Betriebe von politik waren und funktionierende GeOstdeutschland bis Wladiwostok besiegelt werkschaften mit einer gewissen – und zwar für immer. Wer einmal Einsicht in gesamtwirtschaftlials Transformationsbetrieb seine che Zusammenhänge zumeist wirtschaftliche Basis eingebüßt Ein politischer nicht existierten, kam es in hat, kann sie auch bei günstiNeuanfang den Jahren nach dem Fall der geren äußeren Bedingungen in ganz Europa Grenzen regelmäßig zu einer praktisch nie wiederherstelmuss auch die massiven Inflationierung. In len. Von einer eigenständigen der Ukraine war die besoneigene Haltung zu industriellen Entwicklung ders ausgeprägt. Das einzige der Länder und dem Aufbau China klären. Mittel, das dem IWF dagegen gesunder marktwirtschaftlicher einfiel, war natürlich geldpolitiStrukturen konnte von Anfang an sche Restriktion über hohe Zinsen nicht die Rede sein. und/oder die Festsetzung eines festen WechDie Länder Osteuropas und weit darüber selkurses gegenüber einer westlichen Wäh- hinaus wurden Opfer westlicher Hybris und rung (als Anker), womit über billige Impor- westlichen Geschäftssinns zugleich. Man bete die heimischen Produzenten diszipliniert hauptete mit leichter Hand, die Öffnung aller werden sollten. Märkte werde automatisch und sehr schnell In der Ukraine wurde der Wechselkurs zum neue Geschäftsfelder für die TransformatiDollar nach dem Ende der Hyperinflation zu onsländer schaffen, weil es ja das Prinzip der Beginn des Transformationsprozesses fixiert komparativen Vorteile gebe, das auch solchen und bis 2014 festgehalten. Das führte zu hor- Ländern weitgehende Teilhabe am internarendem Ungleichgewicht im Außenhandel tionalen Wirtschaftsgeschehen ermögliche, und schließlich einer starken Abwertung der die nicht sofort in der Lage seien, auf dem abWährung. Diese blieb aber auch danach Spiel- soluten Niveau des Westens zu konkurrieren. ball westlicher Währungsspekulation, wie Das ist einfach falsch. Das Prinzip der kompadie starken Schwankungen des Wechselkur- rativen Vorteile ist eine Schimäre, eine Fata ses zeigen. Russland war das größte und das Morgana, die immer hervorgeholt wird, wenn wichtigste Land, dessen vollkommen naive man nichts Substanzielles anzubieten hat. politische Führung man in den 1990er Jahren Grundlegend für einen Neuanfang muss in das eiskalte Wasser der internationalen Ka- die Einsicht sein, dass es vernünftigen Handel pitalmärkte geworfen hat. Ohne die russische zwischen Staaten nicht ohne ein vernünftiges Währungskrise und das Versagen der Regie- Währungssystem gibt. Währungsfragen dem Markt zu überlassen war der wichtigste der vielen wirtschaftspolitischen Fehler, die man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gemacht hat. Die Währungsrelationen aller Länder müssen so gesteuert werden, dass sich kein Land gegenüber einem anderen Land absolute Vorteile erschleichen kann, was bedeutet, dass die realen Wechselkurse konstant sein müssen, und heißt, dass kein Land als Ganzes international an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen oder verlieren kann. Das Prinzip des konstanten realen Wechselkurses muss außerhalb und innerhalb der Europäischen Währungsunion (EWU) gelten. Jedem Land, das beitritt oder das assoziiert wird, muss die Garantie gegeben werden, dass der Wechselkurs seiner Währung mit Hilfe der EZB vor Spekulation geschützt und so bewertet wird, dass die Inflationsdifferenzen gegenüber der EWU ausgeglichen sind. Ein politischer Neuanfang in ganz Europa muss auch die eigene Haltung zu China klären. Der amerikanische Hegemonialanspruch mit seiner Tendenz, China schon deswegen zum großen Gegner zu stilisieren, weil es eine wesentlich stärkere wirtschaftliche Dynamik zu erzeugen vermag als die USA, darf für Europa niemals Vorbild werden. China ist groß, es wird ökonomisch noch größer werden, und selbst wenn das Land noch viele Jahre von einer kommunistischen Partei diktatorisch regiert wird, muss man Wege finden, dauerhaft kooperativ und friedlich miteinander umzugehen. Heiner Flassbeck ist Ökonom und war unter anderem von 2003 bis 2012 Chef-Volkswirt bei der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung sowie bis 2019 Mitherausgeber der Online-Zeitschrift „Makroskop“. http://www.flassbeck.de/ Erinnerung an ein Desaster Pinochets Erbe – jener chilenische Diktator, der am 11. September 1973 bei einem von den USA unterstützten Militärputsch Salvador ­Allende stürzte – wirkt bis heute. Am 4. September stimmte eine Mehrheit der Chilen*innen trotzdem gegen eine neue Verfassung, so dass es bei der von Pinochet 1980 unter undemokratischen Zuständen verabschiedete Grundcharta (spanisch: Carta Fundamental) bleiben wird. Diese legitimierte nicht nur die Macht des Diktators nach innen und außen, sie schrieb und schreibt die praktizierte radikal marktorientierte, neoliberale Wirtschaftsform der sogenannten Chicago Boys auch fürderhin fest. Die Chicago Boys, eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler um Sergio de Castro und Sergio Undurraga, die ab Mitte der 1950er Jahre an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Chicago unter Leitung von Milton Friedman und Arnold Harberger in der ultraliberalen Schule Friedmans und Friedrich August von ­Hayeks ausgebildet wurden, gaben den ökonomischen Kurs der Pinochet-Diktatur vor. Die „Schockstrategie“ ihrer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin basierte auf der Studie „El ladrillo“, die Friedmans „Kapitalismus und Freiheit“-Konzepte von Deregulierungen, Privatisierungen, Kürzungen bei den Staats- und vor allem Sozialausgaben konkretisierte. Soziale und politische Überlegungen spielten nur eine untergeordnete Rolle. Die nahezu ausschließlich ökonomische Theorie sah Marktkräfte als zentrales Moment an, denen gesellschaftliche Regelungsprozesse zugeschrieben wurden. Der Staat sollte in seiner Nachtwächterfunktion nur die Rahmenbedingungen für das Wirken der Marktkräfte sichern. Der Chef der Zentralbank, Wirtschafts- und Finanzminister wurden aus den Reihen der Chicago Boys rekrutiert. Chile wurde zu einem Experimentierfeld für weitgehende Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte ohne demokratische Legitimierung oder die Beachtung von Menschenrechten und der Versorgungslage der Bevölkerung. Die Ausgaben staatlicher Investitionsprogramme, Sozialausgaben und Subventionen wurden stark gekürzt, Zollbarrieren abgebaut, Steuern gesenkt, die Märkte (mit Ausnahme des Arbeitsmarkts) stark dereguliert, staatliche Unternehmen wurden privatisiert und ausländische Direktinvestitionen erleichtert. Die seit 1980 geltende Verfassung verfestigt die institutionelle Neuordnung und schränkt die Möglichkeiten staatlicher Investitionen stark ein. Daran wird sich nun nichts ändern. Die Chicago Boys können weiter ihr Unwesen treiben. as 14 maldekstra #16September 2022 Hunger hat viele Gründe Gefährliche Abhängigkeiten, globale Ausbeutung und ein Krieg, in dem Weizen zur Waffe wird. Von Radwa Khaled-Ibrahim Es ist Mai 2022, ich bin in Kairo und gehe Brot kaufen. Ich sage dem Bäcker: „Für drei Pfund Brot, bitte“, bekomme aber weniger als normalerweise. Ich schaue verblüfft, er lächelt, ich lächle zurück: „Stimmt, ich habe vergessen, dass es sich verändert hat … die Macht der Gewohnheit.“ Ich lege nach. Auf dem Weg zurück erinnere ich mich daran, wie ich im libanesischen Restaurant in Deutschland nach „aish“ gefragt habe, nach Brot. Der Kellner schaute fragend, denn nur in Ägypten nennt man Brot auch „aish“, sonst bedeutet dieses Wort auf Arabisch „Leben“. Die Frage sollte deshalb lauten, warum Länder wie Ägypten, der Irak, Algerien, Tunesien oder der Libanon, die bereits von Dürre und Inflation betroffen waren, zwischen 60 und 85 Prozent ihres Weizens aus der Ukraine und Russland beziehen? Wie kann es sein, dass die Grundversorgung der Menschen in diesen Ländern so stark auf Importe angewiesen ist, während sie selbst große Anbauflächen haben? Wie konnten solch gefährliche Abhängigkeiten entstehen? Die globalen Lebensmittelpreise stiegen bereits vor dem Krieg und erreichten im Januar 2022 ihren historischen Höchststand (ITC 2022). Zurückzuführen ist diese Preissteigerung auf die hohe weltweite Nachfrage im Zuge des Handelsaufschwungs nach dem Abebben der Covid-19-Pandemie. Verstärkt wird die Entwicklung durch die zunehmende Verwendung landwirtschaftlicher Rohstoffe für Biodiesel, durch das derzeit aufgrund von Missernten geringere Weltmarkt-Angebot an Sojabohnen aus Südamerika, Weizen aus den USA, Kanada und der EU und Palmöl aus Malaysia. Die hohen Preise für energieintensive Betriebsmittel, insbesondere Düngemittel, und die steigenden internationalen Frachtkosten tun ihr Übriges. Einige Länder haben angesichts der Krise außerdem Ausfuhrbeschränkungen für Weizen, Rindfleisch, Palmöl, Düngemittel und andere Produkte verhängt, was die Preise weiter in die Höhe treibt. Bereits im Februar warnte der Zusammenschluss lokaler Kleinbäuer*innen auf dem afrikanischen Kontinent, ROPPA – Afrique Nourricière, im Rahmen des EU-Afrika-Gipfels vor einer drohenden Hungerkrise. Die Bäuer*innen prangerten an, dass aus bisherigen Hungerkrisen keine Schlussfolgerungen gezogen wurden. Auch UN-Generalsekretär António Guterres sprach von einem „Hurrikan des Hungers“, der sich abzeichne. Über Jahrzehnte wurden in vielen afrikanischen Ländern immer weniger Nahrungsmittel für die Versorgung der eigenen Bevölkerung angebaut. Stattdessen lag der Fokus auf exportgeeigneten Nutzpflanzen, Obst und Gemüse, deren Ausfuhr dem Bruttoinlandsprodukt zugutekommt. Obwohl Güter wie Baumwolle, Bohnen, Blumen und Beeren als Luxusgüter im internationalen Handelsmarkt eingestuft werden und damit weniger lukrativ sind, ist es für viele Länder sinnvoll, sie anzubauen. Selbstversorgung brächte schließlich gar keine Devisen, während ein höheres Bruttoinlandsprodukt infolge der Exporte mehr Möglichkeiten eröffnet, mit dem Internatio- nalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zu arbeiten. Im Zuge der Liberalisierung, mit dem Traum, Teil des internationalen Marktes zu sein, entzogen sich die Staaten zusehends ihrer regulativen Rolle. Viele Anbauflächen wurden an private Investor*innen vergeben, andere vermietet. So ging der Agrarsektor in großen Teilen in die Hände privater Banken über. Spekulation wurde Teil des täglichen Falafelbrotes. Diese Entwicklung begann in Afrika schon mit den Strukturanpassungsprogrammen der 1970er Jahre. Damals wurden die afrikanischen Märkte mit stark subventionierten europäischen Agrarüberschüssen überflutet. Lebensmittel waren so günstig wie nie. Mit den künstlich niedrigen Preisen konnten die heimischen Produkte aber nicht mithalten. Starke Abhängigkeiten und zerstörte lokale Märkte waren das Resultat. Seit den 2000er Jahren bekam dieses Verhältnis einen neuen Namen: Economic Partnership Agreements (EPAs) – von der EU geförderte Wirtschaftsabkommen über Freihandelszonen. Die heutigen Economic Partnership Agreements zwischen der EU und unterschiedlichen afrikanischen Ländern sind der modernisierte Arm dieser Form globaler Ausbeutung. „Freihandel“ ist ein Euphemismus für die Prämisse, die solchen Abkommen zugrunde liegt, die Abwesenheit von staatlicher Regulierung mit Freiheit verwechselt. Die Realität ist jedoch wilder Handel: Handel, der die Menschenrechtsstandards ignoriert und die Bedürfnisse transnationaler Konzerne und Investoren bedient. Grüne Umschuldung „Relief“, also Erleichterung oder Linderung, ist nicht das Gleiche wie Heilung. Das gilt nicht nur für Schmerzen und Krankheiten jeder Art, sondern auch für Schulden. Dies vorausgeschickt und im Hinterkopf behalten, ist es ein bedenkenswerter Vorschlag, den internationale Expert*innen im Sommer 2021 veröffentlicht haben. Kurz zusammengefasst lautet er: Weltbank und IWF sollten bei ihren Rückzahlungsforderungen an Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen die Auswirkungen der Klimakrise stärker als bisher berücksichtigen. Nur dann hätten diese von Überschuldung und Pandemie ohnehin schon überdurchschnittlich geschlagenen Staaten eine Chance, ihre Wirtschaftspolitik langfristig zu stabilisieren und an jenen UN-Nachhaltigkeitszielen auszurichten, die im globalen Wohlstandsnorden gerne mal ignoriert werden, wenn es um das Recht aufs SUV-Fahren geht. Zu einem solchen grünen Umschuldungsprogramm müssten, so das Konzept, alle 72 Staaten Zugang haben, die von der UN derzeit als hochgradig von Auslandsschulden bedroht eingestuft werden. Das wären 23 mehr, als von den aktuellen Entschuldungsmaßnahmen der G20 erfasst werden. Außerdem werden Weltbank und IWF aufgefordert, Risikobewertungen der Klimakrise, beispielsweise die von der Internationalen Energieagentur zum 1,5-Grad-Ziel entwickelte, stärker als bisher in die Schuldenanalyse einfließen zu lassen. Vor allem aber geht es darum, den privaten Finanzsektor in diese Umschuldungsmaßnahmen einzubeziehen. Denn um ihre internationalen Verbindlichkeiten zu bedienen, waren die jeweiligen Regierungen immer stärker auf Inlandskredite von Banken und anderen Finanzunternehmen angewiesen. Diese Kreditgeber sollen, so das Papier, mit einer „Zuckerbrotund-Peitsche-Strategie“ überzeugt werden, die grüne und nachhaltige Umschuldungsmaßnahme nicht zu torpedieren. Das Zuckerbrot besteht aus einer Weltbank-Garantie für die Investitionssumme sowie zusätzlich für die über eine Laufzeit von 18 Monaten fälligen Zinsen. Im Gegenzug für diese komfortabel abgesicherte und PR-taugliche Anlagemöglichkeit müssten die Gläubiger auf die sowieso unrealistische Rückzahlung bestehender Verbindlichkeiten verzichten. Peitsche? Mit einer derartigen Umschuldungsmaßnahme, so die Hoffnung, bleiben die Regierungen der unter Schuldenlast leidenden Staaten immerhin so weit handlungsfähig, dass sie versuchen könnten, den Bürger*innen ihrer Staaten ein Weiterleben in der multiplen Dauerkrise zu ermöglichen. Mehr ist vermutlich nicht drin in diesen Zeiten. Jedenfalls dann nicht, wenn die Maßnahme, wie in diesem Fall, von 23 ehemaligen Finanzministern und Zentralbankchefs unterstützt wird. sim https://drgr.org/ maldekstra #1615 Ein Widerspruch zum Traum von „Entwicklung“? Im Gegenteil. Die früheren „Millennium Development Goals“ der UN und die heutigen „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ unterstützen implizit und explizit diese Vorgänge. Denn auch hier geht es nicht primär um die Ernährungssouveränität der betroffenen Länder, sondern um deren bessere Einbindung in die globalen Wirtschaftsströme. Die jüngsten Strategien globaler Ernährungspolitik sehen kleinbäuerliche Landwirtschaft noch immer als überholte Praxis an. Lebensmittel für die internationalen Märkte sollen stattdessen von einer kleinen Zahl großer, intensiv betriebener Betriebe produziert werden, die wenige Menschen beschäftigen und oft durch Verträge für Saatgut und Düngemittel an globale Konzerne gebunden sind. Dieser Ansatz hat verheerende Folgen für den Zugang der Menschen zu Land, Wasser und Ressourcen, die für lokale Nahrungsmittelproduktion benötigt werden. Solche imperialistischen und (neo)kolonialistischen Politiken produzieren nicht erst seit dem Krieg am laufenden Band Hunger und Gewalt. Humanitäre Notlagen sind die normalen und zu erwartenden Ergebnisse dieser Prozesse. Hier kommt eine „Hilfe“ ins Spiel, die die Folgen dieser Prozesse lediglich abzufedern oder zu lindern versucht, nicht aber deren strukturelle Ursachen antastet. Hilfsprogramme sind damit nicht nur selektive Wohltäter, sondern bedeuten oft auch eine Verschleierung der Täterrolle. Die beschriebenen globalen Widersprüche spitzen sich durch die Situation des Krieges massiv zu. Die Politik des IWF, den Hunger mit „Resilience and Sustainability Trusts“ für besonders vulnerable Staaten abzufedern, wird scheitern. Denn neben den schon bestehenden Schulden kommen diese Trusts, ähnlich wie die EPAs, mit Strukturanpassungsvorgaben daher. Zum Beispiel der Aufhebung von Subventionen für wichtige Lebensmittel. Weitere Schritte weg von sinnvollem Protektionismus. Mit dem Krieg wird der Hunger massiv zunehmen. Hunger kommt selten allein. Oft wird er von (patriarchaler) Gewalt, neuen Schuldenkreisläufen, Binnenflucht, Schwächung der Infrastruktur sowie besonderen Gefahren für Kinder begleitet. Während auf Werbeplakaten kommuniziert wird, es brauche Spenden und Hilfe für diejenigen auf anderen Kontinenten, die vom Krieg betroffen sind, übersteigt der Bedarf an Hilfe schon jetzt die Möglichkeiten, dies über Spenden zu regeln. Statt mehr Hilfe braucht es politische Veränderungen, die die Abhängigkeiten beenden und soziale, wirtschaftliche und politische Transformationen ermöglichen. Foto: Shutterstock September 2022 Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international. www.medico.de 16 maldekstra #16September 2022 Scheiß auf Kunstdünger! In den aktuellen Debatten um Einsparmöglichkeiten und Versorgungsprioritäten bei der knappen Ressource Erdgas ist immer wieder von Kunstdünger die Rede, ohne den die Weltbevölkerung nicht zu ernähren sei. Für die Produktion von Kunstdünger ist Ammoniak unersetzlich, ein Stoff, der wiederum ohne Erdgas nicht hergestellt werden kann. Deshalb, so argumentieren Vertreter*innen der großen deutschen Chemiekonzerne, sei ihre Ammoniak- und Stickstoffdüngerproduktion systemrelevant und bei der Gaszuteilung entsprechend bevorzugt zu behandeln. Ausgeblendet wird bei dieser Argumentation, dass ebenjener Kunstdünger, ebenso wie die von ihm abhängige industrialisierte Landwirtschaft, andere lebenswichtige planetarische Ressourcen massiv schädigt. Laut Umweltbundesamt legte „die künstliche Fixierung von Stickstoff […] den Grundstein für den heute herrschenden Stickstoffüberschuss“ im globalen Umweltsystem, wovon vor allem Flüsse, Seen und Meere betroffen sind. Außerdem braucht es für die Produktion von konventionellen Stickstoffdüngern nicht nur Erdgas, sondern auch sehr viel Energie. 2015 errechnete eine Studie, dass schätzungsweise zwei Prozent des Weltenergieverbrauchs zwischen 1900 und 2014 für die Erzeugung von Ammoniakdüngern aufgewendet wurden. Dieser große Energiebedarf wurde vor allem fossil gedeckt, womit CO2 freigesetzt wurde. Dabei ließe sich der Einsatz von Kunstdünger – korrekter: synthetisch-mineralischem Dünger – schon jetzt, ohne eine grundlegende Umgestaltung von Ernährung und Landwirtschaft, deutlich reduzieren, indem auch menschliche Ausscheidungen ins Konzept der Kreislaufwirtschaft einbezogen würden. Denn menschliche Fäkalien enthalten Nährstoffe, die als Recyclingdünger das Pflanzenwachstum fördern. Korrekt aufbereitet und qualitätsgesichert, könnten so in Deutschland bis zu 25 Prozent der konventionellen synthetisch-mineralischen Dünger ersetzt werden. Kombiniert mit einer Agrarwende, das heißt der Reduktion von Tierhaltung und Futteranbau, wäre sogar noch weniger Kunstdünger vonnöten. Bis vor circa 70 Jahren wurde in ländlichen Gebieten Deutschlands noch von der Düngewirkung menschlicher Fäkalien Gebrauch gemacht. Zwischenzeitlich haben sich Spültoiletten, Schwemmkanalisation und Kläranlagen selbst in abgelegenen Regionen Europas durchgesetzt und leisten einen wichtigen Beitrag zur Hygiene. Doch es zeigt sich eben auch, dass ein Großteil der Nährstoffe in unserem Abwasser aus menschlichen Fäkalien Foto: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt Ressourcenschonende Dünger-Alternativen auf Basis menschlicher Fäkalien sind erforscht und erprobt – aber vom geltenden Recht nicht vorgesehen. Von Ariane Krause Von der Raumfahrt zur nachhaltigen Kreislaufwirtschaft auf der Erde: Der C.R.O.P.®-Biofilter stellt in einem einfachen biologischen Verfahren Dünger aus Urin her und trägt so zu einer ressourcenschonenden Landwirtschaft bei. stammt. Urin zum Beispiel macht hierzulande weniger als ein Prozent des gesamten Abwasservolumens aus, trägt jedoch 70–80 Prozent des Stickstoffs und 45–60 Prozent des Phosphors zum Abwasser bei. Trotz der technisch hochgerüsteten Abwasserreinigung werden diese Nährstoffe bisher kaum aus dem Abwasser recycelt, sondern gelangen in unsere Gewässer. Dort tragen sie zum Überangebot an Nährstoffen bei, das Eutrophierung begünstigt und so die Vielfalt des Ökosystems beeinträchtigt. Nach der Spültoilette folgt der Weg durch die Schwemmkanalisation zur Kläranlage. Dort werden die in menschlichen Fäkalien enthaltenen Nährstoffe jedoch nicht verwertet, sondern unter hohem Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen aus dem Abwasser entfernt. Während der Aufbereitung des Abwassers sinken größere feste Bestandteile aus dem Wasser auf den Boden ab und bilden den Klärschlamm. Um die darin enthaltenen Keime und Spurenstoffe zu behandeln, wird er verbrannt. Doch diese Verbrennung eines Substrats mit bis zu 95 Prozent Wassergehalt erfordert zunächst einen sehr hohen EnergieInput für die Trocknung und muss unter dem Aspekt einer nachhaltigen Ressourcennutzung in Frage gestellt werden. Außerdem verbleiben Schadstoffe, die entweder während der Verbrennung in die Luft freigesetzt werden oder eine Deponierung erfordern. Phosphor, neben Ammoniak ein anderer wichtiger Ausgangsstoff für Kunstdünger, wird mittlerweile weltweit knapp. Deshalb ist seine Rückgewinnung aus Klärschlamm seit 2018 gesetzlich vorgeschrieben. Stickstoff dagegen wird in Kläranlagen bisher nicht recycelt, sondern lediglich entfernt. Die Abläufe geklärter Abwässer sind zunehmend auch ein Haupteintragspfad für pharmazeutische Rückstände, wie zum Beispiel Antibiotika, in Gewässer. Untersuchungen des Bundesumweltamtes konnten in der Folge bereits multiresistente Keime in Oberflächengewässern nachweisen. Eine Entfernung dieser Spurenstoffe ist technisch mit der sogenannten „4. Reinigungsstufe“ und dem Einsatz von Aktivkohle als Filtermaterial möglich. Allerdings ist eine Aufrüstung der existierenden Klärwerke um diese Stufe laut Einschätzung des Bundesumweltamtes in den meisten Fällen aufgrund der großen Volumen an Abwasser, die behandelt werden müssten, nicht wirtschaftlich. Technische Systeme mit einer Trennung von Wasser- und Nährstoffkreislauf könnten Leckströme effektiv und effizient unterbinden und Recycling ermöglichen. Die getrennte und wassersparende Erfassung menschlicher Fäkalien ermöglicht eine spezifische Behandlung der unverdünnten Stoffströme mit dem Ziel, Krankheitserreger abzutöten, Schadstoffe zu entfernen und Nährstoffe si- September 2022 cher wiederzuverwerten. Die Ausbreitung von Nähr-, Schad- und Spurenstoffen in Boden und Wasser wird so, anders als in Kläranlagen, verhindert. Seit rund zehn Jahren entsteht weltweit ein aktives Netzwerk, das aus wissenschaftlicher wie auch privatwirtschaftlicher Motivation die Weiterentwicklung zukunftsfähiger Sanitärsysteme verfolgt – die Sanitärwende. Sein Anliegen ist es nicht, flächendeckend zentrale Kläranlagen und angeschlossene Sanitärsysteme abzuschaffen: Es geht vielmehr darum, dort, wo es ökologisch, wirtschaftlich und technisch sinnvoll und/oder nötig ist, die Abwassersysteme weiterzuentwickeln und fit für die Zukunft zu machen. Neuartige dezentrale und wassersparende Recyclingsysteme würden dann die zentralen und linearen Infrastrukturen individuell und flexibel ergänzen. Es gibt viele spannende Beispiele, die zeigen, wie es anders geht: So wird in Schweden im Rahmen des EU-Forschungsprojekts REWAISE die Produktion eines pulvrigen Feststoffdüngers aus Urin erprobt. Ein Verfahren, das in ähnlicher Form schon von Wasserbehörden in den Niederlanden angewendet wird. Ein Schweizer Unternehmen produziert den ersten zugelassenen Flüssigdünger aus getrennt erfasstem Urin. Auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickelt mit dem C.R.O.P.®-Biofilter ein Verfahren zur Herstellung eines flüssigen Mehrnährstoff-Recyclingdüngers durch Aufbereitung von Urin. All diese Verfahren entsprechen den Anforderungen an die gesundheitliche Unbedenklichkeit und leisten sogar die Entfernung von Medikamentenrückständen. Sie könnten auch zur Behandlung von tierischer Gülle oder Gärresten aus Biogasanlagen eingesetzt werden. Start-ups wie „Finizio“ und „Goldeimer“ aus Deutschland, „Kompotoi“ aus der Schweiz oder „Sanergy“ in Kenia veredeln die Feststoffe aus Trockentoiletten zu einem organischen Recyclingdünger, der wegen der positiven Wirkung auf die Boden-Humusbildung zusätzlich klimarelevant ist. Allerdings fehlen weiterhin passende rechtliche Rahmenbedingungen, die eine Anwendung von qualitätsgesicherten Recyclingdüngern aus menschlichen Fäkalien zulassen. Hier schnell Fortschritte zu erzielen, um die Sanitär- und Nährstoffwende zu beschleunigen, wäre angesichts der drängenden Notwendigkeit, den Gasverbrauch drastisch zu reduzieren, das Gebot der Stunde. Ariane Krause ist Wirtschaftsingenieurin und koordiniert das Forschungsprojekt „zirkulierBAR“ am Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau (IGZ) e. V. Sie setzt sich für die Anerkennung von Recyclingdüngern aus Trockentoiletten ein, und der Ruf „Fäkalien zu Dünger“ steht für sie auch symbolisch für den Umgang der Menschen mit Ressourcen – denn die Natur kennt keinen Abfall. www.naehrstoffwende.org www.zirkulierbar.de maldekstra #1617 Haitis ewige Schuld Ein Teufelskreis, der bis ins 20. Jahrhundert reicht Von Tobias Lambert Als erstes Land in Lateinamerika und der Karibik erlangte Haiti bereits 1804 die Unabhängigkeit. Doch wirtschaftlich hatte der Inselstaat, wo Kolumbus 1492 erstmals amerikanischen Boden betrat, nie eine Chance. Inspiriert durch die Französische Revolution begann 1791 der erste Aufstand von in Freiheit geborenen und dann versklavten Menschen. 13 Jahre später befreiten sie sich von der Kolonialmacht Frankreich. Die Vorreiterrolle kam das postkoloniale Haiti allerdings teuer zu stehen. Aus Sicht der Kolonialmächte galt es, jegliche Unabhängigkeitsbestrebung auf dem amerikanischen Kontinent zu unterbinden. Eine militärische Rückeroberung Haitis glückte nicht. Doch Frankreich fand einen Weg, um seine einstige Kolonie für ihre Unabhängigkeit zahlen zu lassen. Im Jahr 1825 trafen der damalige haitianische Präsident Jean-Pierre Boyer und der französische König Charles X. unter militärischen Drohungen Frankreichs eine Vereinbarung, wonach die Kolonialmacht für den durch die Unabhängigkeit verlorenen Besitz inklusive der Versklavten und ihrer Arbeit mit 150 Millionen Gold-Francs entschädigt werden sollte. Die Summe entsprach dem 300-fachen Wert der damaligen Staatseinnahmen Haitis und wurde 1838 auf 90 Millionen reduziert. Im Gegenzug erkannte Frankreich die Unabhängigkeit Haitis offiziell an. Die immense Verschuldung verunmöglichte in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich die wirtschaftliche Entwicklung des Karibiklandes. Bereits um die erste Rate zu tilgen, musste Haiti weitere Schulden bei einer französischen Bank aufnehmen und begab sich in einen Teufelskreis aus Verschuldung und hohen Zinsen, der bis ins 20. Jahrhundert reichte. Die Schuldenzahlungen finanzierte das Land maßgeblich durch Exportzölle auf Rohstoffexporte. Als 1890 die Kaffeepreise fielen, holzte das Land den Großteil seiner Waldbestände ab, um Tropenhölzer exportieren zu können, schwächte landwirtschaftliche Ansätze und vergrößerte die Rohstoffwirtschaft. Ein Erdbeben 1842 verschlimmerte die Situation zusätzlich. Zwar konnte das Land die ursprüngliche Schuld gegenüber Frankreich beziehungsweise internationalen Banken, die diese Schulden mittlerweile übernommen hatten, Mitte des 20. Jahrhunderts abbezahlen. Doch aus der Abhängigkeit konnte sich Haiti nie befreien, sei es von Frankreich, den USA oder jüngst der Verwaltung durch die UN. Ab 1915 besetzten die USA Haiti 19 Jahre lang und unterstützten ab 1957 die Duvalier-Diktatur, die mitten im Kalten Krieg massiv neue günstige Kredite erhielt und in die eigenen Taschen umleitete. 2003 verlangte der damalige Präsident JeanBertrand Aris­tide, der intern stark unter Druck stand, von Frankreich eine Rückzahlung der illegitimen Schulden samt Zins und Zinseszins in Höhe von mehr als 21 Milliarden US-Dollar. Nach dem von Frankreich und den USA unterstützten Sturz Aristides 2004 verschwand die Forderung wieder aus der haitianischen Politik. Aktivist*innen blieben jedoch an dem Thema dran. Trotz teilweiser Schuldenerlasse im Rahmen der Initiative für hochverschuldete arme Länder (HIPC) und infolge des verheerenden Erdbebens 2010 bleibt Haiti bis heute hochverschuldet. Als mit Nicolas Sarkozy nach dem Erdbeben erstmals seit der Unabhängigkeit ein französischer Präsident (für vier Stunden!) Haiti besuchte, hatte er einen Schuldenerlass von 56 Millionen Euro sowie weitere 270 Millionen Euro an Hilfszahlungen im Gepäck. An der historischen Ungerechtigkeit änderte dies freilich nichts. Sarkozys Nachfolger François Hollande besuchte den Inselstaat 2015 und sprach davon, die „moralische Schuld“ zu begleichen. 2016 hob das französische Parlament das Abkommen von 1825 als symbolische Geste auf. Von einer Rückzahlung der illegitimen Schulden indes will Frankreich bis heute nichts wissen. Zur widerständigen Geschichte Haitis siehe: Katja Maurer/Andrea Pollmeier: Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation, Brandes & Apsel, Frankfurt/M. 2020 18 maldekstra #16September 2022 Lebend, frei und schuldenfrei Es braucht dringend eine feministische Perspektive auf Verschuldung. Von Luci Cavallero und Verónica Gago Im Jahr 2017 formulierte das argentinische feministische Kollektiv Ni Una Menos den Slogan „¡Vivas, libres y desendeudadas nos queremos!“ (Wir wollen leben, frei und schuldenfrei sein!) und schuf damit eine Möglichkeit, das Problem patriarchaler Gewalt mit dem der ökonomischen zu verknüpfen. Diese Intersektion ist zu einem mächtigen Analyseinstrument für die soziale Bewegung geworden. Was hat die Verschuldung auf Makro- und Mikroebene mit der Zunahme machistischer Gewalt zu tun? Warum ermöglicht eine feministische Lesart des Finanzkapitalismus eine bessere Diagnose der alltäglichen Gewalt gegen Frauen, Lesben, trans und nichtbinäre Personen? Inwiefern stellt es ein politisches Novum in der feministischen Bewegung dar, den Slogan „Wir wollen uns lebendig und frei“ mit dem Thema der Entschuldung zu verbinden? In Argentinien wurde der Ruf nach und nach von Gewerkschaften, aber auch von Erwerbslosen und Studierenden, Migrantinnenkollektiven und informell Beschäftigten, Rentnerinnen und queeren Communitys übernommen. Ihre spezifischen Kämpfe und die feministischen Streiks haben uns erkennen lassen, was wir „finanzielle Gewalt“ nennen: die Art und Weise, wie das Finanzwesen durch Verschuldung eine spezifische Art von Gewalt provoziert und verstärkt. Auf diese Weise werden die massiven Auswirkungen von abstrakten „Finanzen“ auf das Alltagsleben greifbar. Finanzielle Gewalt ist die Fähigkeit, bestimmte Körper auszubeuten und kollektive Ressourcen zu plündern. Wir wollen den Finanzen einen Körper und einen konkreten Raum geben, um die Sprache der Fi- nanzströme, die Experten vorbehalten ist und unverständlich scheint, „auf den Boden der Tatsachen“ zu holen. Aber mehr noch hat diese feministische Lesart der Verschuldung neue Forschungsperspektiven eröffnet. Was heißt, sich der Eroberung unserer Körper und Territorien durch „die Finanzen“ zu widersetzen? Was bedeutet es, uns zu ent-schulden? Welche Instrumente können wir nutzen, um einer Idee entgegenzutreten, die Verschuldung als „Lösung“ für die Armut darstellt? Können wir die Ausbeutung anprangern, indem wir die Schulden als reale Form der Beherrschung begreifen? Und uns real wehren? Durch Aktionen wie Streiks, Suppenküchen, Debatten über Lebensmittelproduktion, Mieter*innenversammlungen und Demonstrationen für eine Rente? Die Art und Weise, wie die Spar- und Austeritätsmaßnahmen, die der Internationale Währungsfonds Argentinien erneut in Form von Auslandsschulden auferlegt hat, interpretiert und entlarvt werden, hat sich durch diese aktivistische Dynamik radikal verändert. Verschuldung wurde politisiert! Die antikoloniale Tradition unseres Kontinents wird so in den feministischen Debatten und Demonstrationen neu erfunden. Der Slogan „Raus mit dem IWF“ stammt noch aus der Zeit, in der die Militärdiktatur (1976–1983) die Verschuldung zusammen mit dem Staatsterrorismus eingeführt hatte. Das setzte sich unter den Bedingungen der Auslandsverschuldung im Übergang zur Demokratie und dann im Neoliberalismus fort. Mit dem heutigen „Lebend, frei und schuldenfrei“ ist es uns gelungen, die Zurückweisung dieser Politik neu zu erfinden und sie hörbarer und verständlicher zu machen. In diesem Sinne hat die feministische Perspektive einen Beitrag zur „Pädagogik gegen die Auslandsverschuldung“ geleistet, die meistens darauf ausgerichtet war, über deren makroökonomische Auswirkungen zu unterrichten, ohne auf Aspekte wie Gender und Race einzugehen und ohne konkrete Bezüge zum Alltagsleben herzustellen. Diese Bildungsarbeit hat auch die Kreisläufe beschrieben, die Auslandsverschuldung mit der Verschuldung der armen Haushalte verbindet. Es ist also kein Zufall, dass der Internationale Feministische Streik 2020 in Argentinien einen Slogan gewählt hat, der den langen Weg zusammenfasst, mit dem die feministische Bewegung die Regierung angeklagt hat: „Die Schulden habt ihr bei uns!“ Dieser Slogan kehrt das Verhältnis von Gläubiger*innen und Schuldner*innen um und öffnet einen Horizont für Ungehorsam und Widerstand. Im Jahr 2022 lautete der Slogan des 8. März: „Die Schulden habt ihr bei uns. Zahlen sollen sie diejenigen, die sie durch die Kapitalflucht verursacht haben!“ In Argentinien und anderen Teilen der Welt haben die Feminismen mit ihrem alltäglichen, revolutionären Widerstand die Art und Weise deutlich gemacht, auf die das Kapital heute eine spezifische Gewalt gegen die Erde und die Arbeitskraft ausübt. Wir, im Inneren der feministischen Bewegung, haben das auf den Straßen, in den Häusern und auf den Plätzen gezeigt und dabei auch Räume, in denen Politik gemacht wird, neu erfunden, indem wir die Unterscheidung zwischen Öffentli- Gegen gottgleiche Gläubiger Eigentlich hätte es schnell gehen sollen. So jedenfalls hatten es sich die unterschiedlichen linken, entwicklungspolitischen und kirchennahen Gruppen gedacht, die 1992 die „Initiative Erlassjahr 2000“ gründeten. Ihre Idee: das damals noch mystisch-futuristisch imaginierte Millennium für eine groß angelegte Kampagne zur Entschuldung des globalen Südens zu nutzen, nach dem Vorbild einer im Alten Testament erzählten göttlichen Intervention. Doch verglichen mit den Repräsentant*innen der jeweiligen Geberstaaten ist eben auch Gott nur ein kleines Licht. Das erwies sich schon 1999, als immerhin 35.000 Menschen den damaligen G8-Gipfel in Köln mit ihrer Entschuldungsforderung einkreisten – und sich die amtierende SPD-Entwicklungshilfeministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, sehr aufgeschlossen gab. Es folgte eine lange Geschichte der Enttäuschungen, Teilerfolge und Rückschläge, die auf der Website des Bündnisses anschaulich erzählt wird. Umso vorbildlicher die Hartnäckigkeit, mit der die Initiative darauf beharrt, ihr Anliegen immer wieder auf die Agenda zu setzen. Gerade weil aus G8 inzwischen G20 geworden ist. Weil mit China ein weiterer Gläubiger seine Schuldner drangsaliert und es nicht genügt, immer ein paar Staaten ein bisschen Luft zu verschaffen, um dann andere nach den jeweils geltenden Casino-Regeln umso härter ranzunehmen. Also fordert „erlassjahr.de“, jetzt sicherheitshalber ohne Jahreszahl im Namen, weiterhin, was schon zu biblischen Zeiten keine selbstverständliche Geschäftspraxis war: faire und transparente Verfahren für Schuldenerlasse in Krisen. Die Streichung von Schulden, die unter Missachtung internationaler Rechtsstandards zustande gekommen sind und das Erreichen von international vereinbarten Entwicklungszielen verhindern. Standards für verantwortliche Kreditvergabe und Kreditaufnahme, um die gemeinsame Verantwortung von Gläubigern und Schuldnern festzuschreiben. Über 500 Organisationen unterstützen mittlerweile diese Forderung. Auf der Website finden sich alle Argumente, Erklärungen und Beweise vorbildlich aufbereitet in jeder erdenklichen Form. Dass es schnell gehen könnte, glaubt niemand mehr. Und die Kriegswirtschaft der Gegenwart, gekennzeichnet durch Umschichtung vieler Mittel in der Rüstung und den Ausbau eines Gleichgewichts des Schreckens, tut ihr Übriges. sim erlassjahr.de September 2022 maldekstra #1619 Parole auf der Bühne des Internationalen Feministischen Streiks 2018 Foto: Jose Nico/ www.pagina12.com.ar chem und Privatem aufgehoben haben. All dies fließt in andere Themen ein, die wir analysiert und miteinander verbunden haben: Verschuldung durch immer mehr unbezahlte Care-Arbeit, Anstieg der Lebensmittelpreise, Kosten für informelle Abtreibungen vor deren Legalisierung. Wie sich Schulden im Raum der sozialen Reproduktion auswirken, steht im Zusammenhang damit, was die feministische Historikerin und Philosophin Silvia Federici als historische Ausbeutung und Abwertung des häuslichen Raums beschrieben hat: ein Ort, an dem vor allem die Arbeit von Frauen und feminisierten Körpern eingesetzt und der gleichzeitig als privater Raum eingegrenzt und verachtet wird. Dies haben wir mit Federici die „finanzielle Kolonisierung der sozialen Reproduktion“ genannt. Während der Covid-19-Pandemie hat sich diese Realität verschärft: Es kam zu einer Diversifizierung und einem Anstieg der Verschuldung, sodass die Schulden außerhalb der Banken – für Zahlungsrückstände bei Steuern, Strom-, Wasser- und Gasrechnungen – rasant zugenommen haben. Bei unseren Untersuchungen in diesem Zeitraum haben wir einen Anstieg der Schulden für informelle Vermietungen festgestellt, der Zwangsräumungen beschleunigte. Diese Schulden koexistieren mit anderen Verschuldungsquellen wie Familiendarlehen und Darlehen innerhalb von Nachbarschaften. Wir haben auch die Entstehung von Schulden durch Financial-Technology-, kurz: Fintech-Unternehmen untersucht, die technologische Innovationen für finanzielle Aktivitäten auf den Markt bringen, von virtuellen Geldbörsen bis hin zu verschiedenen kontaktlosen Zahlungsmöglichkeiten. Fintech ist eine neue Branche, die sich derzeit in Argentinien ausbreitet, insbesondere angesichts der durch die globale Pandemie ausgelösten Krise, die unter anderem den Prozess der Digitalisierung der Währung stark intensiviert. Eine weitere wichtige Dimension ist, die unbezahlte, meist feminisierte Arbeit im Haushalt aktuell neu zu überdenken. Dies ist ein methodischer Schlüssel, der unsere feministische Perspektive auf die Verschuldung ergänzt und für das Verständnis der Auswirkungen der Pandemie auf den häuslichen Raum von grundlegender Bedeutung ist. Neue Schulden entstanden durch die wachsenden Schwierigkeiten, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern, die Bewältigung des Alltags und die Zunahme der Betreuungsaufgaben. Der häusliche Raum wurde bei feministischen Demonstrationen als ein Raum herausgestellt, in dem sich Formen der Ausbeutung und Unterdrückung verbinden. In der Pandemie war er zugleich ein Rückzugsort, um die Möglichkeit einer Ansteckung zu minimieren. Das Paradoxe daran ist, dass dieser „sichere“ Raum gleichzeitig zu einem Eroberungsgebiet für das Finanzkapital wurde (die Zunahme der Mietschulden ist nur ein Beweis dafür). Bemerkenswert war, dass immer mehr Menschen ihre Lebensmitteleinkäufe, ihre Strom-, Wasser- und Gasrechnun- gen und ihre Medikamente per Ratenzahlung mit hohen Zinssätzen bezahlt haben. Der alltägliche Raum des Zuhauses wurde so zu einem Finanzzentrum (wohin die Instrumente der Verschuldung, der Einnahmen- und Ausgabenbalance und der Mieteinnahmen gelenkt werden). Er ist zudem verstärkt Ort der Produktion von Wert durch Reproduktionsarbeit, intensivierte Care-Aufgaben und Home­ office, mit denen spekuliert wird. Die Überschuldung greift mit einer eminent politischen Funktion in das Leben von Frauen ein: Sie erzeugt eine Häuslichkeit, die an die Tilgung der Schulden gebunden ist. Frauen müssen mehr und mehr arbeiten, um ihre finanziellen Verpflichtungen einzuhalten. Das führt zu Überausbeutung von historisch abgewerteter Arbeit und zu einer Verarmung auch derjenigen, die eine bezahlte Arbeit haben. Die Verschuldung ist zum vorherrschenden Element der politischen Konjunktur geworden, was die Herausforderung für die sozialen und feministischen Organisationen verdoppelt, sie zum Zentrum einer übergreifenden und zusammenführenden Artikulation zu machen. Verónica Gago und Lucia Cavallero gehören zu den wichtigsten Vertreterinnen der lateinamerikanischen Frauenbewegung, schreiben und forschen über geschlechtsspezifische Gewalt und Finanzialisierung der sozialen Reproduktion. Dieser Text wurde übersetzt von Caroline Kim. 20 maldekstra #16September 2022 Wirtschaft als Waffe Erklärtes Kriegsziel ist es, Russland dauerhaft ökonomisch in die Knie zu zwingen. Von Stephan Kaufmann Der russische Überfall auf die Ukraine bedeute eine „Zeitenwende“, so Bundeskanzler Olaf Scholz, und damit sei „nichts mehr so, wie es war“. Aus ökonomischer Perspektive scheint dies einerseits zutreffend, tatsächlich verändert sich das Gesicht der Weltwirtschaft, und zwar auf Dauer. Andererseits wurde diese Wende schon vor Jahren eingeleitet und erhält durch den Ukrainekrieg bloß neuen Schwung. Im Kern geht es bei diesem Kampf der etablierten Weltwirtschaftsmächte darum, wer die Regeln der Globalisierung setzt, wer von ihr profitiert und wer sie als politisches Druckmittel benutzen kann. „Wende“ bedeutet Umkehr oder zumindest eine dauerhafte Änderung des eingeschlagenen Kurses. In diesem Sinne handelt es sich bei den Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland tatsächlich um eine Wende. Denn üblicherweise haben insbesondere die USA und die EU in der Vergangenheit ökonomische Maßnahmen gegen Regierungen ergriffen, um deren Handeln zu ändern oder einen Regimewechsel herbeizuführen. Es waren begrenzte Maßnahmen für einen begrenzten Zweck. Bei den Sanktionen gegen Russland allerdings sowie dem Versuch, sich in Sachen Rohstofflieferungen unabhängig zu machen, geht es um weit mehr, zumindest wenn man den Äußerungen der Politik Glauben schenkt. Es geht um eine dauerhafte Ausschaltung Russlands als geopolitischer Akteur. „Wir werden den Kollaps der russischen Wirtschaft provozieren“, beschrieb im Februar Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire das Ziel der Sanktionen. Laut EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wolle man „Stück für Stück die industrielle Basis Russlands abtragen“. Gerade die Sanktionen im Finanzbereich „werden Russland ruinieren“, versprach Außenministerin Annalena Baerbock. Dadurch soll das Land laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin so geschwächt werden, dass es künftig nicht mehr zu Invasionen fähig sei. Zu diesem Zweck werden Sanktionen in einem Umfang eingesetzt, wie es sie seit jenen gegen die Achsenmächte in den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hat, stellt der Ökonom Nicholas Mulder im Blog des Internationalen Währungsfonds (IWF) fest. Sie markieren damit ein neues weltwirtschaftliches Regime, das allerdings schon seit einiger Zeit im Werden ist. Kennzeichnend für dieses Regime ist die Benutzung der heimischen Wirtschaft als Waffe, eine „Politisierung der Lieferketten“ zur „geopolitischen Neuordnung der Welt“, so Günther Maihold von der Berliner Denkfabrik SWP. Nachdem viele Jahre das Loblied auf die Globalisierung und freie Weltmärkte gesungen wurde, setzte, von den USA ausgehend, ein Stimmungswandel ein. Schon 2012 startete US-Präsident Barack Obama eine „Nationale Strategie zur Sicherung der globalen Lieferketten“, um die USA ökonomisch unabhängiger vom Ausland zu machen und sich die notwendigen Zulieferungen zu sichern. Unter Obamas Nachfolger Donald Trump kam es zum US-chinesischen Handelskrieg, der vor allem mit Zöllen ausgetragen wurde. Auch die EU hat China zum „systemischen Rivalen“ ernannt. Bereits 2019 fand daher das Weltwirtschaftsforum in Davos laut Veranstaltern „in einem Kontext nie dagewesener Unsicherheit und Kontroversen“ statt. Es sei eine Zeit „strategischer geopolitischer Verschiebungen“, die mit ökonomischen Mitteln vorangetrieben wurden. Sanktionen: In den vergangenen Jahren sind Wirtschaftssanktionen „zum Mittel der Wahl geworden“, stellte bereits vor zwei Jahren eine Forschergruppe um Gabriel Felbermayr, Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, fest. Die von ihm mitkonzipierte Global Sanctions Data Base, die allerdings nur bis 2016 reicht, zeigt eine Zunahme der Maßnahmen von 50 in den 1970er Jahren auf etwa 180. Inzwischen sieht er eine größere „zweite Sanktionswelle“ rollen. Gründe hierfür seien unter anderem der „neue Kalte Krieg“ zwischen den USA und China, die Konfrontationen mit Russland (vor dem Ukrainekrieg) sowie die verstärkte Neigung der Regierungen, Handel als „strategisches Feld“ zu betrachten. Im Fall der USA und zunehmend auch der EU kommt es dabei immer mehr zu einer Vermischung von Sanktionen und Handelspolitik. Handel: „Bemerkenswert ist die zuvor ungekannte Nutzung von Zöllen als Wirtschaftssanktionen, um die Politik des ‚America First‘ durchzusetzen“, schrieben John Forrer und Kathleen Harrington von der George Washington University 2020. Das Peterson Institute in Washington listet allein sechs „Schlachten“ auf, die Washington mit Zöllen gegen Länder Europas, Lateinamerikas und Asiens geschlagen hat: vom Schutz der US-Hersteller von Solarpaneelen und Waschmaschinen vor asiatischen Importen über die Definition von Autos und Stahl aus Europa als Gefahr für die nationale Sicherheit bis hin zur Verhinderung illegaler Migration aus Mexiko und zum Kampf gegen „unfaire Handelspraktiken“ Chinas. Insbesondere das Ziel der Maßnahmen gegen China ist jedoch ausgeweitet worden. Es geht inzwischen – ähnlich wie im Fall Russlands – um die dauerhafte Schwächung eines geopolitischen Konkurrenten. Zentrales Schlachtfeld ist hier die Technologie. maldekstra #1621 Foto: Shutterstock September 2022 Waffe, funktioniert in beide Richtungen Technologie: Zwischen Europa, den USA und China läuft ein Wettrennen um die „Technologieführerschaft“. Die US-Regierung unterstützt dabei ihre Marktführer Apple, Amazon, Google und Co. China zielt mit seiner Strategie „Made in China 2025“ darauf, seine Marktanteile in zehn Schlüsselindustrien zu erhöhen und seine Abhängigkeit von ausländischer Technologie abzubauen. China verfolge eine „aktive staatliche Industrieund Innovationspolitik zur Erlangung von Technologievorherrschaft“, so der deutsche Industrieverband BDI. Im Fokus des „Technologiekriegs“ steht unter anderem die Halbleiterproduktion. „Speicherchips und Prozessoren sind eine Grundlagentechnologie“, erklärt die Stiftung Neue Verantwortung, eine Denkfabrik in Berlin. Wer Chips herstellt, macht andere von sich abhängig. Die US-Regierung lockt daher große Chip-Produzenten in die USA. Die EU will zur Erreichung ihrer „technologischen Souveränität“ bis zum Ende der Dekade weltweit ein Fünftel der modernsten Halbleiter produzieren. Infrastruktur: Um sich gegen Chinas Infrastrukturprojekt „Neue Seidenstraße“ zu positionieren, haben einige G7-Staaten vor einem Jahr eine Reihe „wertebasierter Infrastruktur-Partnerschaften“ initiiert: die US-Initia- tive Build Back Better World und der Global Gateway der EU, der Milliarden mobilisieren soll für Verkehrsinfrastruktur, digitale Netze, Gesundheit und Bildung in Osteuropa, Afrika, Asien und Lateinamerika. So wird auch per Kapitalexport um Einfluss gerungen. Die ohnehin bestehenden Spannungen auf dem Weltmarkt wurden ab 2020 durch die Corona-Krise verschärft, auf die ein weltwirtschaftlicher Boom inklusive Lieferengpässen und Materialmangel folgte. Abermals verschärft wurden Letztere durch den Überfall auf die Ukraine und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Mit ihnen und den Maßnahmen gegen China will der Westen laut Aussagen von Politikern die „regelbasierte Weltordnung“ erhalten. „Letztlich geht es aber nicht darum, ob die USA eine regelbasierte Ordnung haben wollen und China nicht“, erklärt Harvard-Politologe Stephen M. Walt. „Im Kern konkurrieren die USA und China darum, wer festlegt, was Recht ist.“ Dies sei die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts, und sie wird schon seit einiger Zeit gestellt. „Still und leise ist der Kampf für eine ‚regelbasierte Weltordnung‘ zum höchsten und letzten Zweck der deutschen Außenpolitik avanciert“, schrieb schon 2020 Jörg Lau in der Zeitschrift „Internationale Politik“. In der Konkurrenz um den Status der Recht setzenden Autorität schmiedet der Westen neue Allianzen. „Es ist an der Zeit, ungesunde Abhängigkeiten zu beenden“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Weltwirtschaftsforum 2022. Zu diesem Zweck wird versucht, die Produktion strategischer Güter heimzuholen oder in politisch verlässliche Länder zu verlagern. EZB-Chefin Christine Lagarde erwartet eine Konzentration von Regionen „auf einen kleineren Pool potenzieller Zulieferer, die als zuverlässig gelten und im Einklang mit unseren strategischen Interessen stehen“. Damit droht allerdings eine neue Gefahr, die als „Fragmentierung“ bezeichnet wird, also der Zerfall des einen Weltmarkts in verschiedene Einflusssphären. Dem Westen stehen nicht nur China und Russland, sondern tendenziell die ganze Gruppe der BRICS-Staaten gegenüber, die sich als Alternative zur G7 positionieren und daher zur BRICS+ erweitern will. Algerien, der Iran und Argentinien haben bereits um Aufnahme gebeten. „Die Weltwirtschaft steht vor ihrer größten Herausforderung“, warnte IWF-Chefin Kristalina Georgieva im April. „Das Risiko einer geoökonomischen Fragmentierung ist stark gestiegen.“ Fatale Geschichte 1975 begannen die „Kamingespräche“ – inoffizielle Treffen sechs führender industrieller Nationen in Gestalt ihrer jeweiligen Regierungschefs. Mit Kanada wurde aus G6 (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien) G7. Außen- und Finanzminister gesellten sich dazu, seit 1977 gilt die G7 als Lobbyorganisation der großen Industrienationen und wichtiges Instrument der Weltpolitik. Auch wenn die Wirtschaftsleistung der beteiligten Länder sinkt (2006 zwei Drittel des Welt-BIP, 2020 45 Prozent), sind sie ein Machtfaktor. An wechselnden Orten finden jährliche Gipfeltreffen statt. 1997 bekam Russland einen „Platz am Katzentisch“ (isw München) zugesprochen, nach der Annexion der Krim 2014 flog der Bär wieder raus. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die G7 Interessenlobby der Reichen dieser Welt ist, auch wenn zu den ersten 15 Wirtschaftsnatio- nen, wo immer sie sich tummeln, inzwischen China, Brasilien, Indien, Russland (nun wahrscheinlich nicht mehr) und Indonesien gehören. Der relativ größte Teil des globalen Reichtums gehört ihnen, ganz zu schweigen von der Deutungsmacht, die diese Länder und ihr wirtschafts- und geopolitisch adressierter exklusiver Zusammenschluss innehaben. Trotz sinkenden Einflusses und einer Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt kann sich die sogenannte westliche sozioökonomische Ordnung (Kapitalismus ist es überall) noch behaupten, denn auch wenn aus Kamingesprächen offizielle Treffen an bombastischen Orten geworden sind, es bleiben protektionistische Deals und Abwehrschlachten, die da getroffen und gefochten werden. kg www.isw-muenchen.de 22 maldekstra #16September 2022 Ökonomischer Kollateralschaden, diplomatischer Seiltanz Der Ukrainekrieg könnte dazu führen, dass sich politische Loyalitäten im postsowjetischen Raum verschieben. Von Leonie Schiffauer Infolge der engen ökonomischen, sicherheitspolitischen und kulturellen Verzahnung der ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens mit Russland erschüttert der Ukrainekrieg die Region in besonderem Maße. Zum einen zieht vor allem die Sanktionspolitik des Westens gegenüber Russland die Region in Mitleidenschaft, zum anderen stellt der Krieg die Länder Zentralasiens vor diplomatische Herausforderungen mit Blick auf Russland. Die Regierungen der zentralasiatischen Staaten sind darum bemüht, eine neutrale Haltung einzunehmen, aber zunehmend wird deutlich, wie schwierig dies ist. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich durch den Krieg langfristig sowohl ökonomische Beziehungen als auch außenpolitische Allianzen der zentralasiatischen Staaten verschieben – auch ohne dass sie sich klar für oder gegen den Krieg positionieren. Russland ist einer der Hauptinvestoren in der Region und wichtigster Handelspartner. Durch ihre Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion sind Kasachstan und Kirgistan wirtschaftlich besonders eng an Russland gebunden. Allein zwischen Russland und Kasachstan betrug das Handelsvolumen im letzten Jahr 25,6 Milliarden US-Dollar; in Kasachstan kommt mehr als ein Drittel der Importe aus Russland, in Kirgistan ist es knapp ein Drittel. Aufgrund dieser engen wirtschaftlichen Beziehungen hängt die finanzielle Stabilität der zentralasiatischen Staaten unmittelbar vom Zustand der russischen Wirtschaft ab. Somit haben die Sanktionen auch direkte Folgen für Zentralasien. Infolge des Kursverfalls des Rubels im März büßten auch die Währungen Kasachstans, Kirgistans und Ta- dschikistans deutlich an Wert ein, haben sich jedoch mittlerweile mit dem Rubel wieder stabilisiert. Ebenfalls zu beobachten war ein starker Anstieg der Inflation. Gerade wegen ihrer Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion sind Kasachstan und Kirgistan hier besonders stark betroffen. Die Preise für Lebensmittel stiegen im Durchschnitt um 15,4, die für Waren und Dienstleistungen um 12 Prozent. Zusätzlich zur Inflation sind die Länder Zentralasiens auch von Lieferengpässen betroffen. Besonders gravierend aber sind die Folgen westlicher Sanktionen für die Arbeitsmigration, die ein wesentlicher wirtschaftlicher Faktor in der Region ist. 2021 waren mehr als 7,8 Millionen Menschen aus Zentralasien in Russland als Arbeitsmigrant*innen registriert, davon 4,5 Millionen aus Usbekistan, 2,4 Millionen aus Tadschikistan und 900.000 aus Kirgistan. Nach Angaben der Weltbank machten Geldüberweisungen aus dem Ausland (hauptsächlich Russland) im letzten Jahr mehr als ein Viertel des kirgisischen und tadschikischen Bruttoinlandsprodukts aus. Oft sind ganze Familien wirtschaftlich von der Unterstützung ihrer in Russland arbeitenden Verwandten abhängig. Die westlichen Sanktionen treffen die zentralasiatischen Staaten empfindlich, die Internationale Organisation für Migration prognostiziert einen deutlichen Rückgang der Rücküberweisungen. Der Einsturz des Rubels hatte zur Folge, dass die Geldüberweisungen weitaus weniger wert waren, was zu großen Schwierigkeiten führte, Grundbedürfnisse zu decken – gerade in den ärmsten Teilen Zentralasiens. Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine haben zudem viele Arbeitsmigrant*innen ihre Jobs verloren oder müssen befürchten, keine Folgebeschäftigung mehr zu finden, denn die Arbeitsmärkte in ihren Herkunftsländern bieten ihnen in der Regel keine Alternative. Insbesondere in Kasachstan könnte sich die ökonomische Situation noch dadurch verschärfen, dass die Ölexporte des Landes, die 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 57 Prozent der Exportwirtschaft ausmachen, hauptsächlich über Russland abgewickelt werden. Die CPC-Pipeline, durch die der Großteil der Exporte transportiert wird, verläuft vom Westen Kasachstans durch den Süden Russlands zum Schwarzmeer-Terminal in Noworossijsk. Aufgrund der Nähe zum Kriegsgebiet werden die Energieexporte nun durch logistische Risiken im Schwarzen Meer sowie durch steigende Versicherungskosten erschwert. Hinzu kommt, dass Russland Kasachstan zunehmend Probleme bereitet, das Öl Richtung Westen zu transportieren. Im Juli hat Russland nun bereits zum dritten Mal – sehr wahrscheinlich aus politischen Gründen und um Kasachstan in die Schranken zu weisen – den Export kasachischen Öls für einen längeren Zeitraum blockiert. Die EU hat zwar großes Interesse daran, künftig Öl aus der Region zu beziehen, es bleibt allerdings die Frage, wie schnell alternative Transportrouten ausgebaut werden können. Auf institutioneller Ebene kooperieren unter anderem Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan mit Russland auch über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), ein von Russland geführtes Militärbündnis. Erst im Januar dieses Jahres rief der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew die Geld fürs Fossile Erdgas aus Westafrika. Das soll helfen. Der Senegal ist in der krisengeplagten Sahelzone ein Stabilitätsfaktor. Und bald, so will es die Bundesregierung, und dafür reiste Bundeskanzler Olaf Scholz in den Senegal, soll das Land Flüssigerdgas (LNG) nach Europa exportieren. Ein Lückenfüller für ausfallendes russisches Erdgas. Dafür kann man schon mal einen Freundschaftsbesuch machen. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und senegalesische Klimaaktivist*innen, wie Yero Sarr, finden, diese Pläne sollten sofort auf Eis gelegt werden. Sie halten die damit verbundenen Investitionen für fehlgeleitet, klimaschädlich und der regionalen Entwicklung nicht förderlich. Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der DUH, sagt: „Mit Energiesicherheit und nachhaltiger Entwicklung haben die Pläne der Bundesregierung im Senegal nichts zu tun.“ Mit dem Bau einer neuen Plattform vor der Küste des Senegals und von Mauretanien entstünde eine Infrastruktur, die die Abhängigkeit von fossiler Energie langfristig festschreiben und die Erschließung weiterer Gasquellen erfordern würde. Dies sei weder mit Klimazielen vereinbar noch volkswirtschaftlich für das Land sinnvoll. Entstünden doch pro Megawattstunde Strom bei erneuerbaren Energien mehr als viermal so viele Jobs wie im Vergleich zur Gasindustrie. Aber bereits im Dezember 2023 soll ein schwimmendes Terminal für Flüssigerdgas mit einer Laufzeit von 20 Jahren in Betrieb gehen und 3,4 Milliarden Kubikmeter jährlich liefern. In einer Region, deren Pflanzen- und Tierreichtum heute noch groß ist, und in unmittelbarer Nachbarschaft zu drei Nationalparks sowie einem Meeresschutzgebiet, einem Reservat und dem größten Korallenriff der Welt. Yero Sarr, der ein Aktivist der Fridays-for-Future-Bewegung ist: „Das Projekt wird die bereits unternommenen Anstrengungen zur Energiewende im Senegal zunichtemachen und vor allem die bereits sichtbaren negativen Auswirkungen der Klimakrise beschleunigen. Die Bundesrepublik Deutschland darf sich nicht an diesem Projekt beteiligen, das Tausenden von Menschen und der Biodiversität schaden könnte.“ Tut sie aber doch. kg September 2022 maldekstra #1623 Plakat des Kriegsausschusses für Öle und Fette, Berlin, 1915/18, Auf der Rückseite die Aufforderung, das Plakat an einer gut sichtbaren Stelle auszuhängen Abb: wikimedia Truppen der OVKS zu Hilfe, um die Regierung während der Unruhen im Land zu stabilisieren. Dies warf angesichts der sicherheitspolitischen Abhängigkeiten von Russland und einer möglichen Ausweitung des russischen Einflusses in der Region viele Fragen auf. Nun werden allerdings die Beziehungen der zentralasiatischen Staaten zu Russland durch den Krieg in vielerlei Hinsicht auf die Probe gestellt. Das Abstimmungsverhalten der zentralasiatischen Länder bei den UN-Voten im März und April zeigt die schwierige diplomatische Situation, in der sie sich gegenüber Russland befinden, und ihre Bemühungen, eine neutrale Position zu beziehen. Keines der Länder hat beim März-Votum für die Verurteilung des russischen Angriffs gestimmt, und am 7. April haben Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan dagegengestimmt, Russland aus dem UN-Menschenrechtsrat auszuschließen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Russland im Vorfeld gewarnt hatte, man werde sowohl die Nicht-Teilnahme an der Abstimmung als auch eine Enthaltung als „unfreundliche Geste“ bewerten. Kurz davor hatte Russland vereinfachte Visaprozesse für Länder beendet, die es als „unfreundlich“ einstuft. Für die Länder Zentralasiens, die aufgrund der Arbeitsmigration auf genau diese einfachen Verfahren ökonomisch stark angewiesen sind, hätte also ein anderes Abstimmungsverhalten zu großen Schwierigkeiten führen können. Auf der anderen Seite hat auch keines der zentralasiatischen Länder Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt, Kasachstan und Usbekistan haben dies sogar explizit zum Ausdruck gebracht. Bemerkenswert ist auch, dass die Regierungen Kasachs- tans, Kirgistans und Usbekistans verschiedene Antikriegsproteste sowie Hilfssendungen in die Ukraine zugelassen haben. In Kasachstan wurde die humanitäre Hilfe klar von der Regierung getragen, während sie in Usbekistan und Kirgistan eher von zivilgesellschaftlichen Initiativen mobilisiert wurde. Tadschikistan und Turkmenistan haben nicht offiziell Stellung zu dem Krieg bezogen, vielleicht war es daher auch kein Zufall, dass Putins erste Auslandsreise nach der russischen Invasion in diese Länder führte. Auch auf symbolischer Ebene haben einige der zentralasiatischen Staaten ihre subtile Kritik an Russlands Angriff auf die Ukraine zum Ausdruck gebracht. Zum Beispiel verhängten die kasachischen Behörden Geldstrafen für das Anbringen von „Z“-Symbolen, welche die Unterstützung für Russland zum Ausdruck bringen sollen. Andererseits wurden in Kirgistan zivilgesellschaftlich organisierte pro-ukrainische Demonstrationen von den Sicherheitsbehörden unterdrückt. Selbst in Usbekistan wurden an zentralen Orten in Taschkent und Samarkand ukrainische Flaggen gezeigt, was in dem autoritären Land ohne Akzeptanz von staatlicher Seite nicht möglich wäre. Gerade zwischen Kasachstan und Russland scheint der diplomatische Ton zunehmend rauer zu werden. Im Juni hat Präsident Tokajew die Nicht-Anerkennung der Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg, auf einer Bühne mit Putin sitzend, noch einmal unterstrichen – ebenfalls ein diplomatischer Schlag gegen Moskau. Hierbei spielen vermutlich auch die mittlerweile wiederholten Äußerungen von russischer Seite eine Rolle, welche die kasachische Staatlichkeit in Frage stellen. Im Rahmen ebenjenes Wirtschaftsforums hatte Putin öffentlich geäußert, die ehemalige Sowjetunion sei Teil des „historischen Russlands“ gewesen und auch anderen Ländern könne es ähnlich wie der Ukraine ergehen, wenn sie sich offen gegen Moskau stellten. Gerade aufgrund der Grenze mit Russland dürfte sich Kasachstan hier direkt angesprochen gefühlt haben. Der Ukrainekrieg könnte dazu führen, dass sich politische Loyalitäten im postsowjetischen Raum verschieben und man zumindest in Teilen Zentralasiens versuchen wird, die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren und die Beziehungen zu China, zum Westen, aber auch zum Beispiel zur Türkei oder zum Iran weiter zu stärken. Bereits jetzt ist deutlich, dass die Länder der Region mit Blick auf die Beziehungen zu Russland nicht immer einheitlich agieren, sondern dass es verschiedene Interessen, Möglichkeiten und Handlungspfade gibt, die ohnehin die postsowjetische Entwicklung der zentralasiatischen Staaten charakterisieren. Leonie Schiffauer ist Referentin für Südasien, Ostasien und Zentralasien bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Foto: https://fetia.org.ar maldekstra S A LO N Wer schuldet uns was? Feministischer Blick auf private, staatliche und globale Schulden Mit Luci Cavallero und Veronica Gago NN zur sozialen Lage und Verschuldung in Deutschland Moderation: Karin Gabbert 22. SEPTEMBER 2022 19 UHR ORT: SALON, FMP1, 10243 BERLIN ___ WWW.ROSALUX.DE Hinweis zum Veranstaltungsort: Vor dem Gebäude (FMP1) ist zurzeit eine Baustelle. Der Eingang ist daher nur von einer Seite erreichbar: Weg zum Eingang über die Straße „Am Wriezener bhf“.
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