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darin nicht schon die Gewähr, daß sie es nicht über—
treiben könne und bald wiederkehren werde? Sie dachte:
einmal ist keinmal, und unternahm eine Pfingstfahrt
nach der sächsischen Schweiz. Dort traf sie Leute, die
schon weiter gereist waren, als sie. Die fragten: ob sie
die wirkliche, die große, die Schweizer Schweiz schon ge—
jehen? N—ein! Tante Mi wurde rot und stotierte, als
sie das sagte.
Sie waren noch nicht in der Schweiz? Gab es noch
Menschen, welche die wirkliche Schweiz nicht kannten?
Unglaublich! Eine Dame, die den Tell gelesen und noch
nicht auf dem Rütli gestanden? — Tante mußte sich
schuldig bekennen.
O, dann sei es ihre heiligste Pflicht, gleich hinzu—
reisen. Im August und September wäre überdies die
klarste Aussichtszeit.
Mi kehrte mit ihrem harmlosen Rückfahrschein heim
und hatte einen aufrührerischen Entschluß gefaßt. Er rief
einen Sturm der Entrüstung hervor: „Du, du willst
eine so weite Reise unternehmen? In deinem Alter!
Dir wird sicher etwas zustoßen. Im vergangenen Jahre
herrschte die Influenza in Luzern, vor einigen Jahren
war ein Erdbeben in Nizza, vor noch längerer Zeit
wurden in der Schweiz ganze Ortschaften verschüttet,
durch Bergrutsch; Lawinen kommen überhaupt jeden
Augenblick von der Jungfrau herabgerollt, wie sich
Perlen vom Halsband einer Schönen lösen. Wir wer—
den wahrscheinlich im Sommer Krieg bekommen mit
Rußland, mit Frankreich, einen Weltkrieg, dazu Revo—
lution und die Cholera.“