MIGRATION UND
EUROPA
JAHRESBERICHT
2019
ISSN 2626-515X
Herausgeber:
Prof. Dr. Hans Vorländer, Direktor
Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM)
Redaktion:
Dr. Oliviero Angeli
Katja Solbrig
TU Dresden
Institut für Politikwissenschaft/
Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung
Philosophische Fakultät
01062 Dresden
Gestaltung:
Vollblut GmbH & Co. KG
Tel.: +49 351 463 35811
midem@mailbox.tu-dresden.de
www.forum-midem.de
MIDEM ist ein Forschungszentrum der Technischen
Universität Dresden in Kooperation mit der Universität
Duisburg-Essen, gefördert durch die Stiftung Mercator.
© MIDEM 2019
Zitiervorschlag:
MIDEM 2019: Migration und Europa. Jahresbericht 2019, Dresden.
MERCATOR FORUM MIGRATION UND DEMOKRATIE
MIGRATION UND
EUROPA
MIDEM JAHRESBERICHT 2019
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
7
ERGEBNISSE
9
A
MIGRATION UND EUROPA
B
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
C
11
1
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
19
2
Der Konflikt um Migration in der Zivilgesellschaft
43
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
1
Gehört Ostdeutschland zu Osteuropa? Einstellungen zu Migration im Ost-West-Vergleich
2
Zunahme von Migration – Stärkung der AfD? Der Zusammenhang zwischen
Ausländeranteilen und AfD-Wahlergebnissen auf regionaler Ebene
63
D
93
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
81
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
108
AUTORINNEN UND AUTOREN
112
IMPRESSUM
113
VORWORT
Spätestens mit der ‚Flüchtlingskrise‘ von 2015 hat das Thema Migration in
den Gesellschaften Europas zu neuen politischen Verwerfungen und Polarisierungen geführt. Zum einen hat der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien die Situation in vielen Parlamenten fundamental verändert, Mehrheiten lassen sich schwieriger finden und Regierungen sind
labiler geworden. Zum anderen sind sich die Staaten Europas uneiniger
denn je über die Fragen von Asyl und Migration. Zwischen den Regionen
Europas gibt es geopolitische Risse. Und doch: Nie war Europa aktueller.
Die Bürgerinnen und Bürger verbinden die Migrationsthematik mit Europa,
sie erwarten eine europäische Problemlösung. Die Europawahl des Jahres
2019 hat insofern auch die Diskussionen über Migration und Asyl europäisiert. Eine europäische Öffentlichkeit ist entstanden.
Im vorliegenden Jahresbericht des Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) wird eine Bilanz gezogen – für die einzelnen Länder
und Regionen Europas. In der vergleichenden Perspektive werden die
Unterschiede und die Gemeinsamkeiten in Einstellungen, Diskursen und
Politiken der Migration deutlich. Zudem wird in einer Analyse der Frage
nachgegangen, wo Ostdeutschland in der Migrationsthematik steht, mehr
zu West- oder mehr zu Mittel- und Osteuropa gehörend. Das Ergebnis ist
überraschend – und ambivalent. Überhaupt sind die Ergebnisse dieser Bilanz nie so eindeutig, als dass sich hieraus immer klare politische Schlussfolgerungen ableiten ließen. Aber sie markieren Differenzen in den Gesellschaften und in Europa, die in Rechnung gestellt werden müssen, um zu
einer neuen und gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik
zu kommen, die eine realistische Chance auf Implementierung haben soll.
An diesem Bericht haben alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Forschungszentrums MIDEM mitgewirkt. Die Expertise für die einzelnen Teile
wurde von den Autorinnen und Autoren eingebracht. Ihnen allen und dem
Redaktionsteam gilt großer Dank.
Besonderer Dank gilt der Stiftung Mercator, die in großzügiger und effizienter Weise das Forschungszentrum fördert. Den Geschäftsführern und dem
Beirat der Stiftung ist für das Vertrauen, dem Leiter des Bereichs Wissenschaft und dem Projektmanager für die stets angenehme Zusammenarbeit
sowie der TU Dresden und der Universität Duisburg-Essen für die Unterstützung herzlich zu danken.
Prof. Dr. Hans Vorländer
Direktor
Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM)
TU Dresden
7
ERGEBNISSE
8
ERGEBNISSE
Nach wie vor gehört Migration zu den Topthemen in
Europa. Auch wenn Migration nicht überall als das dringlichste Problem angesehen wird, sorgen sich heute mehr
Menschen um das Thema als vor 2015.
Die Beurteilung von Migration ist im Osten und im
Westen Europas höchst unterschiedlich. Vor allem in den
ehemals sozialistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa
werden die Folgen von Zuwanderung im Schnitt deutlich
negativer beurteilt, stoßen Zugewanderte auf mehr Ablehnung und sind Bedrohungswahrnehmungen gegenüber
‚Fremden‘ stärker ausgeprägt als in Westeuropa.
Ostdeutschland und Westdeutschland kommt bei den
Einstellungen zu Migration gleichermaßen eine Sonderrolle
zu. So sind die Einstellungen der Ostdeutschen gegenüber
Zugewanderten deutlich positiver als in anderen ehemals
sozialistischen Regionen Europas und entsprechen teilweise dem typischen Niveau Westeuropas. Stärker ausgeprägt
als im Westen Europas sind jedoch die Angst vor migrationsbedingter Kriminalität und insbesondere Vorbehalte gegen
Muslime. Die Einstellungen der Westdeutschen gegenüber
Migranten sind hingegen im Durchschnitt deutlich positiver
als die der anderen Westeuropäer.
Wer an Migration denkt, denkt zumeist auch an die Europäische Union. In den Augen europäischer Bürger und
Bürgerinnen ist kaum ein Thema so eng mit der EU verbunden wie das der Migration. Damit unterstreicht Migration
zwar die Bedeutung der EU, erlegt ihr zugleich aber auch
die Verpflichtung auf, Wege zu einer Lösung zu finden.
In Europa ist das Beharren auf nationalstaatlicher Souveränität im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik nach
wie vor stark ausgeprägt. Auch deshalb gab es in den letzten Jahren nur Einigungen im Bereich des Grenzschutzes.
Gegen die Ausarbeitung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gibt es dagegen starke Widerstände.
Auch bei der Frage der Verteilung von Geflüchteten kam
die EU kaum voran. Ein Fortschritt könnte die von der
Bundesregierung mitinitiierte Bildung einer „Koalition von
Aufnahmewilligen“ zur Verteilung von aus dem Mittelmeer
Geretteten sein.
Dort, wo das Thema Migration von anderen Themen
überlagert wurde, wurde die Politisierung von Migrationsfragen von rechtspopulistischen Strömungen gezielt vorangetrieben. Im Europawahlkampf 2019, auch in nationalen Wahlen, setzten sie deshalb insbesondere auf Polarisierungs- und Skandalisierungsstrategien.
Nicht nur die hohe Salienz von Migration beschert den
Rechtspopulisten Wählerstimmen. Es gibt auch einen direkten Zusammenhang zwischen Migration und den Wahlergebnissen rechtspopulistischer Parteien. So erhöht ein
abrupter und starker Anstieg des Anteils an Nicht-EU-Ausländern das AfD-Wahlergebnis - vor allem dort, wo zuvor
nur wenige Nicht-EU-Ausländer lebten.
Die AfD schneidet vor allem in ethnisch homogenen
Landkreisen gut ab. Dort, wo ein höherer Anteil an ethnischen Minderheiten zu verzeichnen ist, bleiben AfD-Ergebnisse unterdurchschnittlich. Auffallend auch: In dünn
besiedelten Gemeinden mit hohem Anteil an Migranten
und Migrantinnen erfährt die AfD weniger Zuspruch als in
dichter besiedelten Städten mit vergleichbarem Anteil.
In der Zivilgesellschaft spiegelt die Auseinandersetzung
um Migration eine kulturelle Konfliktlinie zwischen liberalen bzw. kosmopolitischen und ethnonationalen Einstellungen wider. Dabei konnten in den letzten Jahren zivilgesellschaftliche Akteure von Rechtsaußen verstärkt mediale
Sichtbarkeit erlangen. Auch diese Akteure beziehen sich
zumeist positiv auf Europa. Dabei ist deren Verständnis
von Europa kulturell-religiös konnotiert und erfolgt in Abgrenzung gegenüber der Einwanderung von Musliminnen
und Muslimen.
Die Zunahme an migrationspolitischen Auseinandersetzungen, wie etwa über die Verteilung von Geflüchteten
oder die Seenotrettung, hat zu einer Verdichtung der grenzüberschreitenden Kommunikation in der EU geführt. In
diesem Sinne trug das Thema Migration zu einer Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten bei.
Seit der ‚Flüchtlingskrise‘ ist Migration zum Mobilisierungsthema rechtspopulistischer Parteien und zugleich zu deren
Erfolgsgarant geworden. Wo Migration den politischen Diskurs beherrscht, verzeichnen Rechtspopulisten Zulauf.
9
A
MIGRATION UND EUROPA
MIGRATION UND EUROPA
MIGRATION UND EUROPA
MIGRATION UND EUROPA
Der Höhepunkt der ‚Flüchtlingskrise‘ liegt vier Jahre zurück. Im Vergleich zur
damaligen Situation hat sich die Lage entspannt. Die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge ist im Laufe der letzten Jahre deutlich zurückgegangen. Auch haben sich die Einstellungen der Bevölkerung zu Migration vielerorts wieder zum Positiven gewendet. In einigen Ländern Westeuropas wird
Migration heute sogar positiver gesehen als noch vor 2015 (Eurobarometer
2019). Und doch hat die ‚Flüchtlingskrise‘ tiefe Spuren hinterlassen. Gerade in
der Migrationsfrage ist die politische Auseinandersetzung in vielen Ländern Europas hitziger und erbitterter geworden. Die Parteienlandschaft ist vielerorts
fragmentierter und polarisierter. Auch innerhalb und zwischen Gesellschaften
sind tiefe Spaltungen sichtbar geworden. Treiber und zugleich Hauptprofiteure
dieser Entwicklung sind rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien, die es
verstanden haben, mit dem Thema Migration erfolgreich zu mobilisieren. Vor
allem die hohe öffentliche Bedeutung bzw. Salienz des Themas Migration hat
den europäischen Rechtspopulisten dabei in die Karten gespielt (MIDEM 2018).
Wer heute an Migration denkt, denkt meist auch an die EU. Migration wird
als europäisches Thema wahrgenommen. In Umfragen gibt ein Großteil der
Bürgerinnen und Bürger an, dass Migration die wichtigste Herausforderung
für die EU ist (vgl. Abb. 1). Zwar wird Migration nicht überall als das dringlichste Problem benannt, doch sorgen sich weiterhin mehr Menschen um
das Thema als vor 2015 (Mudde 2019). Der Prozentsatz der Europäer, die
Migration als eines der beiden wichtigsten Probleme ihres Landes bezeichnen, liegt 2019 bei 21 Prozent gegenüber ca. elf Prozent im Jahr 2013. Dabei
fallen signifikante regionale Unterschiede ins Auge: In Nord- und Westeuropa hat sich die Bedeutung der Migrationsfrage seit einigen Jahren auf einem
relativ hohen Niveau stabilisiert. Dagegen ist in Mittel- und Ost- sowie in Südeuropa der Trend uneinheitlich, sehr stark abhängig von situativen Faktoren. Einerseits konnte beobachtet werden, dass die Bedeutung des Themas
Migration rund um die ‚Flüchtlingskrise‘ und wegen des Streits um die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der Europäischen Union hier, genauso wie
in den west- und nordeuropäischen Ländern, stark anstieg, dann aber fiel die
Salienz wieder hinter andere – zumeist soziale und ökonomische – Themen
zurück. Und doch erfuhr das Problem der Migration immer dann wieder eine
hohe Beachtung, wenn es so wie in Italien und Ungarn in politischen Kampagnen zum öffentlichen Thema gemacht wurde.
MIGRATION:
DAS EUROPÄISCHE THEMA
Abb. 1: Übersicht der wichtigsten Themen für die EU im Zeitverlauf
Migration
60 %
Klimawandel
Wirtschaftliche Lage
Terrorismus
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0%
Frühling Herbst Frühling Herbst Frühling Herbst Frühling Herbst Frühling Herbst Frühling Herbst Frühling Herbst Frühling
2012
2012
2013
2013
2014
2014
2015
2015
2016
2016
2017
2017
2018
2018
2019
Quelle: Europäische Kommission / Eigene Darstellung
11
MIGRATION UND EUROPA
ERFOLG DER
RECHTSPOPULISTEN HÄNGT VOM
THEMA MIGRATION AB
So ist es eine der zentralen Erkenntnisse des Europawahljahres 2019:
Rechtspopulistische Parteien sind dort erfolgreich, wo es ihnen gelingt,
die öffentliche Aufmerksamkeit auf Fragen der Zuwanderungs-, Asyl- und
Flüchtlingspolitik zu lenken (MIDEM 2019). Um es auf eine einfache Formel
zu bringen: Ist die Salienz des Themas Migration hoch, so werden latent
vorhandene Ängste und Vorbehalte gegen kulturelle und religiöse Vielfalt
geweckt – was sich wiederum in Stimmen für rechtspopulistische Parteien
niederschlägt (siehe auch Dennison/Geddes 2019). Der Aufstieg der spanischen Vox-Partei ist das jüngste Beispiel. Zwar profitiert sie auch vom
eskalierenden Katalonienkonflikt und ihrer harten Haltung gegenüber den
Separatisten, doch hat sich Vox beim Thema Migration in den letzten Monaten vor der nationalen Parlamentswahl im November 2019 ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet (Mendes 2019a; 2019b). Mit migrationsfeindlichen
Äußerungen adressiert sie die Sorgen einer Minderheit von Spaniern, die
insbesondere die Einwanderung aus mehrheitlich muslimischen Ländern
mit Argwohn betrachten. Mit Erfolg: Ein halbes Jahr nach der letzten Parlamentswahl konnte Vox seinen Wähleranteil noch einmal um fünf Prozent
steigern und wurde damit drittstärkste Kraft im spanischen Parlament.
MIGRATION LEGT SPALTUNGEN
INNERHALB EUROPAS OFFEN
Sieht man einmal von der englischen Brexit-Kampagne ab, so richten sich
rechtspopulistische Kampagnen in der Regel nicht gegen EU-Binnenmigration. Nicht ohne Grund: Tatsächlich haben in Europa deutlich mehr Menschen eine negativere Haltung zu Migration von außerhalb der EU als zur
Binnenmigration. Doch auch bei den Einstellungen gegenüber Migration
von außerhalb der EU gibt es Unterschiede innerhalb Europas: Während
die Hälfte der Nord- und Westeuropäer diese überwiegend positiv sieht,
betrachten nur etwas mehr als 40 Prozent der Südeuropäer die Zuwanderung von Menschen aus Nicht-EU-Staaten als etwas Positives. Bürger
und Bürgerinnen aus Mittel- und Osteuropa sind nochmals deutlich skeptischer: Weniger als 30 Prozent können der Migration aus Nicht-EU-Ländern etwas Positives abgewinnen. Diese Sonderstellung von Mittel- und
Osteuropa hinsichtlich der Einstellungen zu Migration wird auch durch
Erhebungen der European Values Study untermauert. So neigten Befragte
aus Ländern Mittel- und Osteuropas im Allgemeinen stärker dazu, Zugewanderte mit einer höheren Kriminalitätsrate, strapazierten Sozialkassen
und einer Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt in Verbindung
zu bringen.1 Dies kann vor allem auf zwei Faktoren zurückgeführt werden:
Zum einen sind ethno-nationalistische Haltungen in mittel- und osteuropäischen Gesellschaften stärker verwurzelt und als Legitimationsquelle der
wiedererlangten Souveränität zumeist auch positiver konnotiert (MIDEM
2019). Zum anderen haben Mittel- und Osteuropäer kaum Erfahrung mit
Migranten aus dem Nahen Osten oder Afrika. Viele osteuropäische Staaten
sind ethnisch nahezu homogen, was die Angst vor dem ‚Fremden‘ bestärkt
(Krastev 2017).
OSTDEUTSCHE ‚WESTLICHER‘
ALS OSTEUROPÄER BEIM THEMA
MIGRATION
Wie steht es um Ostdeutschland in diesem Kontext? Die Stärke der AfD
könnte vermuten lassen, dass sich hierin auch eine große Skepsis, wenn
nicht gar Ablehnung gegenüber Zugewanderten zum Ausdruck bringt.
Mit Blick auf die Einstellungen zur Migrationsfrage würde sich die Unterscheidung zwischen West- und Mittel-/Osteuropa auch im Kleinen innerhalb Deutschlands widerspiegeln. Ostdeutsche würden demnach eher zu
Ost- und Mitteleuropa, Westdeutsche dagegen zu Westeuropa gehören.
Der hier vorliegende MIDEM-Jahresbericht kann diese These nicht bestätigen. Daten der European Values Study belegen, dass die Einstellungen der
Ostdeutschen gegenüber Migranten deutlich positiver sind als in anderen
ehemals sozialistischen Regionen. Etwas anders stellt sich der Befund dar,
1 Nur vereinzelt weisen westeuropäische Länder wie Österreich, Italien und Dänemark vergleichbare
negative Einschätzungen auf.
12
MIGRATION UND EUROPA
wenn es um Muslime geht. Die Ablehnung von Muslimen ist in Ostdeutschland deutlich ausgeprägter als im Westen Europas. Vielleicht noch bemerkenswerter sind allerdings die Einstellungen der Westdeutschen – sie fallen
beim Thema Migration teilweise deutlich positiver aus als in den meisten
westeuropäischen Staaten. So gesehen ist die relative Migrationsskepsis im
Osten Deutschlands aus empirischer Perspektive genauso außergewöhnlich wie die im westeuropäischen Vergleich überdurchschnittlich migrationsfreundliche Haltung der Westdeutschen.
Migrationskritische Einstellungen sind freilich nicht der einzige Erklärungsfaktor für Aufstieg und Erfolge rechtspopulistischer Parteien. Auch
die schiere Anzahl von ankommenden Zuwanderern und Flüchtlingen
kann sich auf die Wahlergebnisse dieser Parteien auswirken. Dieser Zusammenhang ist allerdings weitaus komplexer als vielfach angenommen.
Diese Studie analysiert ihn statistisch am Beispiel der AfD und zeigt zunächst, dass ein höherer Anteil an ethnischen Minderheiten in einem
Landkreis oder einer kreisfreien Stadt in der Regel mit einem niedrigeren Wahlergebnis der AfD einhergeht. Anders stellt sich der Zusammenhang dar, wenn die zeitliche Dimension der Migration berücksichtigt wird.
Denn tatsächlich erhöht ein abrupter und starker Anstieg des Anteils an
Nicht-EU-Ausländern das AfD-Wahlergebnis. Will heißen: In Gegenden, in
denen sich in kurzer Zeit eine große Anzahl an Ausländern von außerhalb
der EU niederließ, schnitt die AfD besonders gut ab, wobei dieser Zusammenhang besonders stark in Orten ist, in denen nur wenige Ausländer
leben. Dieser Befund scheint die Erklärung zu stützen, wonach die Interaktion zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen ausschlaggebend
für migrationsfreundliches oder migrationsfeindliches Wahlverhalten
sein kann. Genauer: Die Sichtbarkeit von Migranten und Flüchtlingen im
eigenen Wohngebiet wird durch die Schnelligkeit ihres Anstiegs von den
Einheimischen als Bedrohung aufgefasst.
RAPIDER ANSTIEG DER
MIGRATION VERHILFT DER AFD ZU
WAHLERFOLGEN
Neben den Einstellungen zu Migration und der Geschwindigkeit des Anstiegs von Migration stellen schließlich auch Politisierungsstrategien zur
Erhöhung der Salienz von Migration einen Schlüssel zum Erfolg rechtspopulistischer Parteien dar. Die starke Fokussierung auf Migration ist eine
dieser Strategien. Tatsächlich nimmt das Thema deutlich mehr Raum in
den Wahlprogrammen rechtspopulistischer Parteien ein als bei anderen
Parteien. Teilweise bilden Migration und Flüchtlinge den Schwerpunkt gezielter Kampagnen, die sich zumeist gegen vermeintlich migrationsfreundliche Eliten richten. Entscheidend ist auch das Framing: Migration wird als
gesellschaftliches Konfliktfeld dargestellt und mit Problemen wie Arbeitslosigkeit und Kriminalität sowie mit der Krise des Sozialstaates eng verknüpft.
Damit können Rechtspopulisten auch die Art beeinflussen, wie in öffentlichen Debatten und Talkshows über Migration geredet wird. Die Folge ist
eine Diskursverschiebung, die sich auf das Gesamtklima in der Gesellschaft
auswirkt und zu Lasten der Zugewanderten geht.
MIGRATION:
DAS VORHERRSCHENDE THEMA
IN DEN WAHLPROGRAMMEN DER
RECHTSPOPULISTEN
Auch Polarisierung gehört zum festen Repertoire rechtspopulistischer
Strategien. Im Kontext der Migrationspolitik bedeutet dies: Vorschläge
müssen stark vom programmatischen Mainstream der anderen Parteien
abweichen. So kann Migration als Identitätsmarker rechtspopulistischer
Parteien dienen. Als migrationsfeindliche Parteien können sie sich politisch
vom Rest klar abgrenzen und ihrem homogenen Gesellschaftsbild Ausdruck
verleihen. Am effektivsten geschieht dies durch die Formulierung radikaler
Angebote, die von einem Kopftuchverbot bis hin zur Forderung nach einer groß angelegten ‚Remigration‘ reichen können. Doch auch durch ihre
souveränistische Sichtweise heben sich Rechtspopulisten von den anderen
Parteien deutlich ab. Ein Blick in die Europawahlprogramme deutscher Parteien zeigt zum Beispiel, dass nur die AfD Asyl- und Migrationspolitik fast
ausschließlich als nationales Problem thematisiert.
RADIKALE VORSCHLÄGE
ZAHLEN SICH AUS
13
MIGRATION UND EUROPA
SKANDALISIERUNG IST EINE
BEWÄHRTE STRATEGIE DER
RECHTSPOPULISTEN
Ein weiteres Mittel zur Erhöhung von Salienz liegt in der wiederholten
Skandalisierung migrationspolitischer Ereignisse. Dabei geht es um das
gezielte Herbeiführen eines politischen Skandals durch die Enthüllung eines vermeintlichen Missstandes oder Fehlverhaltens der politischen Gegner. Skandale werden gezielt inszeniert, um oberhalb der medialen Aufmerksamkeitsschwelle zu gelangen oder zu verbleiben. Beispielsweise ist
es Italiens ehemaligem Innenminister Matteo Salvini gelungen, sich während seiner Amtszeit mit Provokationen und medienwirksamen Aktionen
gegen Rettungsschiffe im Mittelmeer, denen er beispielsweise untersagte,
in italienische Häfen einzulaufen, dauerhaft in den Schlagzeilen zu halten
(Abb. 2). Folglich blieb auch die Salienz von Migration auf hohem Niveau
– zugunsten von Salvinis Lega, die in den Umfragen stets mit großem Abstand vorne liegt.
2015−01−01 / 2019−10−01
Aggregierte Schlagworthäufigkeit: La Repubblica und La Stampa
Sea Watch 3
Rettungsschiff Aquarius
Höhepunkt
der Flüchtlingskrise
800
Artikel pro Monat
Parlamentswahlen
Abb. 2: Medienberichterstattung über Matteo Salvini
800
600
600
La Repubblica
La Stampa
400
400
200
200
Jan
2015
Apr
2015
Jul
2015
Okt
2015
Jan
2016
Apr
2016
Jul
2016
Okt
2016
Jan
2017
Apr
2017
Jul
2017
Okt
2017
Jan
2018
Apr
2018
Jul
2018
Okt
2018
Jan
2019
Apr
2019
Jul
2019
Okt
2019
Quelle: La Repubblica und La Stampa / Eigene Darstellung
Politische Verarbeitung von Migration hat Spaltungen erzeugt und tiefe
politische und kulturelle Trennlinien verstärkt. Auch in der Zivilgesellschaft
lässt sich eine Spaltung beobachten, die sich in verschiedenen Formen der
Mobilisierung für und gegen die Aufnahme von Geflüchteten und Migranten
zum Ausdruck bringt. Migrationsfreundliche Positionen beruhen dabei auf
liberalen und kosmopolitischen Wertvorstellungen, die sich insbesondere
in der Betonung der Menschenrechte und des Humanismus kristallisieren.
Migrationsfeindliche Positionen spiegeln dagegen oft ein nationalistisches
Weltbild wider, das aus geschlossenen, homogenen Kulturkreisen besteht.
Dabei sind migrationsfeindliche Positionen vor allem in den mittel- bzw.
osteuropäischen Gesellschaften verankert, in denen die Aufnahme von
Geflüchteten aus Syrien oder anderen Krisengebieten im Nahen Osten in
breiten Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Auch deswegen zeigen sich die Regierungen der meisten mittel- und osteuropäischen Staaten
für den Vorschlag eines festen Verteilungsmechanismus von Geflüchteten in der EU bislang wenig empfänglich. Eine Zuteilung von Flüchtlingsquoten ist zudem als Beschränkung der Souveränität wahrgenommen
worden. So kam es bislang nicht zu einer grundlegenden Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAM). Maßnahmen beschränkten
sich auf die Sicherung von Grenzen auf dem Balkan und im Mittelmeer.
14
MIGRATION UND EUROPA
Die Fortführung des Status quo aber ist – schon wegen der nach wie vor
angespannten Flüchtlingssituation in der Türkei, in Griechenland, auf dem
Balkan und im Mittelmeer – keine Option. Etwas Positives kann der derzeit
verfahrenen Situation trotzdem abgewonnen werden: Die Auseinandersetzungen über die Verteilung von Geflüchteten und die Seenotrettung haben zu einer grenzüberschreitenden Kommunikation in der EU und somit
auch zu einer Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten beigetragen.
Migration ist ein europäisches Thema geworden.
15
MIGRATION UND EUROPA
LITERATUR
Dennison, James / Geddes, Andrew 2019: A Rising Tide? The
Salience of Immigration and the Rise of Anti-Immigration
Political Parties in Western Europe; in: The Political Quarterly
90 (1), S. 107-116.
Europäische Kommission 2019: Eurobarometer Interactive;
verfügbar unter: http://ec.europa.eu/commfrontoffice/
publicopinion/index.cfm/Chart/index
(letzter Zugriff: 13.11.2019).
Krastev, Ivan 2017: Europadämmerung: ein Essay. Suhrkamp
Verlag.
Mendes, Mariana 2019a: The General Elections in Spain
2019, MIDEM-Report 2019-2, Dresden.
Mendes, Mariana 2019b: Explaining the surge of the far-right
ahead of Spain’s election; verfügbar unter: https://blogs.lse.
ac.uk/europpblog/2019/11/08/explaining-the-surge-of-thefar-right-ahead-of-spains-election/
(letzter Zugriff: 12.11.2019).
MIDEM 2018: Migration und Populismus. Jahresbericht
2018; MIDEM, Dresden.
MIDEM 2019: Europa vor den Wahlen, Dresden.
Mudde, Cas 2019: The 2019 EU Elections: Moving the Center.
Journal of Democracy, 30 (4), S. 20-34.
16
MIGRATION UND EUROPA
17
B
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
DER KONFLIKT UM MIGRATION
IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
1 DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Zusammenfassung
Migration wird zunehmend als genuin europäisches Thema wahrgenommen.
In unterschiedlicher Intensität war Migration insbesondere in West-, Süd- und
Nordeuropa Gegenstand polarisierter Debatten.
Rechtspopulistische Parteien schnitten bei den diesjährigen Europa- und nationalen Wahlen in den Ländern besonders gut ab, in denen die Salienz des
Themas Migration überdurchschnittlich hoch war.
Dort, wo das Thema Migration von anderen Themen überlagert war, wurde
die Politisierung von Migrationsfragen gezielt vorangetrieben. Rechtspopulistische Parteien versuchten so, die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen. Zu unterscheiden sind hierbei Strategien der Fokussierung, der Skandalisierung und
der Polarisierung.
Ein Blick auf die Europawahlprogramme nationaler Parteien zeigt, dass das
Thema Migration bei rechtspopulistischen Parteien einen deutlich größeren
Raum einnahm als bei anderen Parteien.
Die Zunahme an migrationspolitischen Auseinandersetzungen, wie etwa über
die Verteilung von Flüchtlingen oder die Seenotrettung, führte zu einer Verdichtung der grenzüberschreitenden Kommunikation in der EU. In diesem
Sinne trug das Thema Migration zu einer Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten bei.
MIGRATION ALS EUROPÄISCHES THEMA
Migration wird zunehmend als europäisches Thema wahrgenommen. Laut
Erhebungen des Eurobarometers steht Migration bei der Frage nach den
wichtigsten Herausforderungen Europas mit 39 Prozent an erster Stelle
(Abb. 1). Die seit 2015 geführten Kontroversen um die Verteilung von Geflüchteten haben den Stellenwert der EU deutlich erhöht: Die Erwartungshaltungen richten sich beim Thema Migration stark an Europa. Zugleich
ist Migration weiterhin ein überaus strittiges Thema: Aus der Analyse der
inhaltlichen Positionierung von über 270 in den EU-Mitgliedsstaaten zur
Wahl angetretenen Parteien geht hervor, dass die parteiprogrammatische
Spaltung entlang der Migrationsfrage am stärksten war. Auf die Frage nach
einer proportionalen Verteilung von Asylsuchenden auf die Mitgliedsstaaten beispielsweise vertraten 60 Prozent der untersuchten Parteien eine eindeutige Position, wobei ca. die Hälfte von ihnen den Vorschlag grundsätzlich ablehnte und die andere Hälfte ihn grundsätzlich befürwortete (Reiljan
2019: 19). Bei anderen Themen wie Wirtschaft oder Finanzen hingegen war
eine größere Kompromissbereitschaft zwischen den Parteien zu erkennen.
An der Migrationsfrage wurden aber auch die regionalen Gegensätze sichtbar: So waren 72 Prozent der Parteien in Osteuropa grundsätzlich gegen
den Vorschlag einer quotierten Verteilung, wohingegen ihn 81 Prozent der
südeuropäischen Parteien grundsätzlich befürworteten (Reiljan 2019: 19).
Von rechtspopulistischer Seite wurde die Migrationsfrage auch bei den Europawahlen gezielt instrumentalisiert. Obwohl Rechtspopulisten Migration ablehnen, benötigen sie sie gleichzeitig als mobilisierendes Thema, um
ihre öffentliche Sichtbarkeit und damit ihre Wählerschaft nicht zu verlieren.
Tatsächlich hat nicht die Zahl der Migrantinnen und Migranten als solche,
MIT MIGRATION
MOBILISIERTEN VOR ALLEM
RECHTSPOPULISTISCHE PARTEIEN
19
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
Abb. 1: Salienz des Themas Migration im Zeitverlauf
EU
60 %
eigenes Land
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
Frühluing 2019
Herbst 2018
Frühluing 2018
Herbst 2017
Frühluing 2017
Herbst 2016
Frühluing 2016
Herbst 2015
Frühluing 2015
Herbst 2014
Frühluing 2014
0%
Quelle: Europäische Kommission 2019a / Eigene Darstellung
sondern die öffentliche Bedeutung (Salienz) des Themas Migration einen
nachweisbaren Einfluss auf die Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien (MIDEM 2018; Dennison/Geddes 2018). Auch deshalb waren Politiker wie der ungarische Premier Viktor Orbán sichtlich darum bemüht, die
Europawahl in ein Referendum über Migration zu verwandeln. Das gelang
ihnen nur zum Teil, da sich die Europäerinnen und Europäer zunehmend
um andere Themen wie den Klimawandel sorgen. Entsprechend waren
die Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien sehr unterschiedlich.
Gut schnitten in Frankreich Marine Le Pens Rassemblement National (23,3
Prozent), ebenso wie die rechtspopulistische Lega in Italien (34,3 Prozent)
und Orbáns Fidesz in Ungarn (52,3 Prozent) ab. Auch im Vereinigten Königreich erhielt Nigel Farages neugegründete Brexit Party aus dem Stand
heraus fast 32 Prozent der Stimmen. In Österreich, Belgien, der Slowakei
und Schweden landeten die Rechtspopulisten jeweils an zweiter oder dritter Stelle. Anderswo blieben sie dagegen hinter ihren Erwartungen zurück:
Die Dänische Volkspartei beispielweise verlor drei ihrer Sitze im Parlament,
in Spanien kam Vox gerade mal auf sechs Prozent und verlor damit gegenüber den Nationalwahlen an Zustimmung. Auch in den Niederlanden
waren rechtspopulistische Parteien nicht so erfolgreich wie erwartet. Die
Partei für die Freiheit (PVV) verlor alle Mandate und ist nicht mehr im Europaparlament vertreten;1 das Forum für Demokratie lieferte sich in den
Umfragen noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die meisten Mandate mit den
Liberalen, wurde am Ende jedoch nur viertstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten, den Liberalen und dem CDA.
UNTERSCHIEDLICHE
WAHRNEHMUNG VON MIGRATION
Ein Blick auf die Länder Europas zeigt, dass das Thema Migration im Vorfeld der Europawahlen teils sehr unterschiedlich wahrgenommen wurde.
In Mittel- und Osteuropa beispielsweise hielten nur zehn Prozent der Befragten Migration für ein wichtiges nationales Thema, während es etwa
20 Prozent in den anderen Regionen Europas waren. Umgekehrt war für
die osteuropäische Bevölkerung mit knapp 37 Prozent das Thema Migration die wichtigste europäische Herausforderung (vgl. Abb. 2). Gleichzeitig
spielt das Thema Auswanderung dort oftmals eine weitaus größere Rolle
1 Jedoch hofft die PVV auf eines der Mandate, die nach dem Brexit neu verteilt werden.
20
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Abb. 2: Salienz des Themas Migration in den Ländergruppen
40 %
30 %
20 %
10 %
0%
EU
eigenes Land
Westen
EU
eigenes Land
Süden
EU
eigenes Land
Norden
EU
eigenes Land
Mittel- und Osteuropa
EU
eigenes Land
EU28
Quelle: Europäische Kommission 2019b / Eigene Darstellung
als das Thema Einwanderung, da die Emigrationszahlen insbesondere in
Bulgarien und Rumänien deutlich zugenommen haben (Judah 2019). Dass
Migration nicht gleich Migration ist, konnte man schließlich auch daran erkennen, dass beispielsweise in Südeuropa die EU-Binnenmigration weitaus
kritischer betrachtet wurde als in Nordeuropa und den mittel- und osteuropäischen Staaten, wo die Sorgen vor außereuropäischer Migration überwogen. Auch andere soziodemografische Unterschiede wurden deutlich:
In Nordeuropa war die Stadtbevölkerung positiver gegenüber Migration
eingestellt, in Südeuropa hingegen die Landbevölkerung.
Eine Gemeinsamkeit ließ sich durchaus beobachten: Rechtspopulistische
Parteien und ‚Politikunternehmer‘ waren in den meisten europäischen Ländern darauf bedacht, die Politisierung von Migrationsfragen gezielt voranzutreiben – mit wiederum ganz verschiedene Strategien. Zu unterscheiden
sind mindestens drei:
DREI STRATEGIEN ZUR
POLITISIERUNG DER
MIGRATIONSFRAGE
• Fokussierung: In Wahlprogrammen und Reden nahm das Thema Migra-
tion oftmals einen überaus großen Raum ein. Das zeigte sich beispielsweise im Wahlprogramm der AfD, das zu 14 Prozent aus migrationspolitischen Themen bestand. Bei der CDU/CSU hingegen waren es nur
acht Prozent. Die in der AfD zu beobachtende Gewichtsverschiebung zu
migrationspolitischen Themen zeigt sich vor allem im Vergleich zu ihrem
EU-Wahlprogramm von 2014: Dort lag der Schwerpunkt auf der Eurorettungspolitik, gerade einmal sechs Prozent des Programms enthielten
Bezüge zu Migration (MIDEM 2019: 29). Ähnliche thematische Schwerpunktverlagerungen waren auch anderswo, beispielsweise in Frankreich,
Finnland oder Tschechien, zu erkennen.
• Polarisierung: Oft ist zu beobachten, dass rechtspopulistische Parteien
in ihren migrationspolitischen Positionen weit vom programmatischen
Mainstream der anderen Parteien abweichen, um sich selbst zu profilieren und die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen. So sprach sich beispielsweise die AfD in ihrem Wahlprogramm dafür aus, dauerhafte Kontrollen
an den EU-Binnengrenzen einzuführen, Leistungen für Asylsuchende auf
Sachleistungen zu reduzieren und selbst anerkannte Flüchtlinge in ihre
Heimatländer zurückzuführen – und stellte sich damit weitab von den
anderen Parteien auf. Ähnliches war in Frankreich zu beobachten, wo
der Rassemblement National Migrationspolitik in den Mittelpunkt seines
Europawahlkampfes rückte und sich von anderen Parteien vor allem mit
zwei radikalen Vorschlägen abgrenzte: mit dem Ende des Familiennachzugs und der Streichung von Sozialhilfen für Zugewanderte.
21
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
• Skandalisierung: Nicht nur durch die inhaltliche Positionierung, sondern
auch durch die Art und Weise ihrer Kommunikation zeichnen sich rechtspopulistische Parteien regelmäßig gegenüber anderen Parteien aus. Das
zeigte sich vor und nach den Europawahlen: Mit gezielten Schlagworten
wie „Bevölkerungstausch“ (Heinz-Christian Strache) oder Sprachbildern
wie „Migrantenüberflutung“ (Marine Le Pen) wurde im Vorfeld der Wahlen
versucht, Migration ins Zentrum des politischen Diskurses zu katapultieren. Vor allem aber bot die erst nach den Europawahlen auffrischende Debatte um die zivile Seenotrettung Anlass zu Skandalisierungen. Nachdem
das Seenotrettungsschiff Sea-Watch 3 im Juni 2019 gegen die Erlaubnis der
italienischen Regierung im Hafen von Lampedusa anlegte und dabei ein
Schiff der Finanzpolizei streifte, beschuldigte Innenminister Matteo Salvini
die Besatzung des Menschenschmuggels und bezeichnete die Kapitänin
Carola Rackete als „Verbrecherin“, „Piratin“ und „potenzielle Mörderin“.
PARADOXER EFFEKT:
DIE EUROPÄISIERUNG DER
MIGRATIONSFRAGE
Die Übergänge zwischen diesen drei Strategien des Agenda-Settings
und der Salienzerhöhung von Migration sind zumeist fließend. Zugleich
machen sie deutlich, dass die Präsenz des Themas in den öffentlichen
Debatten Europas oftmals das Resultat politikunternehmerischer Anstrengungen ist. Wo das Thema Migration abzuflauen droht, wird es von
rechtspopulistischen Parteien immer wieder reaktiviert, um Wählerinnen
und Wähler zu mobilisieren. Die damit verbundenen Konjunkturzyklen
des europäischen Migrationsdiskurses haben dabei einen paradoxen Effekt: Obwohl das Thema Migration meist in europakritischer Absicht auf
die politische Tagesordnung gelangt, wird es zunehmend über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg diskutiert und trägt so zu einer Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten bei. Exemplarisch lässt sich dies
anhand des Diskurses um die private Seenotrettung beobachten, wo das
Thema Migration sowohl Spaltungen sichtbar macht als auch Europäisierungsmotor der Europäisierung ist.
Im Folgenden wird für die vier Regionen Europas nachgezeichnet, welche
Rolle das Thema Migration vor und nach dem Europawahlkampf gespielt
hat und an welchen Stellen es zu Interaktionen zwischen den Migrationsdiskursen einzelner Mitgliedstaaten kam.
WESTEUROPA
In Westeuropa setzten vor allem rechtspopulistische und -extreme Parteien
auf das Thema Migration. Während es dabei in Österreich sowohl bei den
europäischen als auch bei den nationalen Wahlen ganz oben auf der Agenda stand, unterlag es in den meisten anderen westeuropäischen Staaten
jedoch einer deutlichen anlassbezogenen Konjunktur: In Frankreich, Belgien
und den Niederlanden wurde Migration immer wieder in integrations-, asylund sicherheitspolitischen Kontexten aufgegriffen. Dazu war zu beobachten,
dass nicht mehr Migration als solche die öffentliche Aufmerksamkeit lenkte,
sondern die vermeintlichen gesellschaftlichen Folgen von und politischen
Reaktionen auf Migration. In Österreich, Frankreich und den Niederlanden
beispielweise betrachtet eine relative Mehrheit der Befragten islamischen
Radikalismus als größte Gefahr – gefolgt von Migration und Nationalismus
mit jeweils ungefähr gleichen Werten (Krastev et al. 2019: 10).
IN FRANKREICH WURDE
MIGRATION AM STÄRKSTEN VOM
RASSEMBLEMENT NATIONAL
INSTRUMENTALISIERT
22
In Frankreich stand das Thema Migration im Zentrum des Wahlkampfes
der konservativen Partei Les Républicains und deutlicher noch von Marine
Le Pens Rassemblement National. In skandalisierendem Tonfall sprach die
Partei von „Masseneinwanderungen“ und „Migrantenüberflutungen“ (submersion migratoire) und polarisierte durch die Forderung nach einer radikalen Verschärfung des Asylrechts. Auch war das Europawahlprogramm
von Rassemblement National auffallend deutlich auf das Thema Migration
zugeschnitten, wie Abbildung 3 zeigt.
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Glossar: Abkürzungen der im Text genannten politischen Parteien
Belgien
VB
N-VA
sp.a
Open
VLD
PvdA
Groen
CD&V
Frankreich
LR
Vlaams Belang
(Flämische Interessen)
Nieuw-Vlaamse Alliantie
(Neu-Flämische Allianz)
Socialistische Partij Anders
(Andere Sozialistische Partei)
Open Vlaamse Liberalen en Democraten (Flämische Liberale und Demokraten)
Partij van de Arbeid
(Partei der Arbeit)
Groen (Grün)
Christen-Democratisch en Vlaams
(Christlich-Demokratisch und Flämisch)
RN
FI
LREM
Österreich
FPÖ
Brexit
Party
UKIP
Forum voor Democratie
(Forum für Demokratie)
Partij voor de Vrijheid
(Partei für die Freiheit)
PVV
Freiheitliche Partei Österreichs
Vereinigtes Königreich
Niederlande
FvD
Les Républicains
(Die Republikaner)
Rassemblement National
(Nationale Versammlung)
La France insoumise
(Unbeugsames Frankreich)
La République en Marche
(Die Republik in Bewegung)
Brexit Party
(Brexit-Partei)
UK Independence Party
(Partei für die Unabhängigkeit des
Vereinigten Königreichs)
Abb. 3: Frankreich – Anteil migrationsbezogener Themen in den Europawahlprogrammen
30 %
25 %
20 %
15 %
10 %
5%
Europe Écologie Les Verts
Parti Socialiste
France Insoumise
La République en Marche
Debout la France
Les Républicains
Rassemblement national
0%
Quelle: Europawahlprogramme / Eigene Darstellung
Migration wurde hierbei sowohl in wirtschaftlichen wie in kulturellen Kontexten thematisiert: Sie wird als Bedrohung für den Arbeitsmarkt ebenso
wie für die laizistisch geprägte Identität Frankreichs dargestellt. Le Pen
versuchte auch, die Gelbwestenproteste für sich zu vereinnahmen und sie
in einen Zusammenhang mit den migrationspolitischen Entwicklungen zu
bringen – durchaus mit Erfolg, da der Rassemblement National von den
Gelbwestenprotesten weit mehr profitierte als die französische Linke. So
zeigen Umfragen, dass 44 Prozent der befragten Gelbwestenanhänger Le
Pen vertrauen, hingegen nur 27 Prozent Jean-Luc Mélenchon, dem Chef der
linken Partei La France insoumise (Vogel 2019: 92).
23
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
2015−01−01 / 2019−10−01
Aggregierte Schlagworthäufigkeit (pro Monat): Le Figaro, Le Monde und Libération
Artikel pro Monat
Le Figaro
Le Monde
Liberation
Asylrechtsreform
Präsidentschaftswahlen
800
Anschläge in Paris
Höhepunkt der
Flüchtlingskrise
Abb. 4: Medienberichterstattung über Migration in Frankreich
800
600
600
400
400
200
200
Jan
2015
Apr
2015
Jul
2015
Okt
2015
Jan
2016
Apr
2016
Jul
2016
Okt
2016
Jan
2017
Apr
2017
Jul
2017
Okt
2017
Jan
2018
Apr
2018
Jul
2018
Okt
2018
Jan
2019
Apr
2019
Jul
2019
Okt
2019
Quelle: Le Figaro, Le Monde, Libération / Eigene Darstellung
PRÄSIDENT MACRON
ARGUMENTIERT ZUNEHMEND
MIGRATIONSKRITISCHER
Präsident Emmanuel Macron reagierte auf diese Vereinnahmungstaktiken
Le Pens und versuchte seinerseits, mit Hilfe des Themas Migration bei der
Wählerschaft zu punkten. So spielte es zwar in der Nationalen Debatte2
vom Januar 2019 kaum eine Rolle, wurde aber in der bilanzierenden Rede
Macrons gezielt aufgegriffen. Macron verlangte die Einführung einheitlicher
europäischer Regeln für die Anerkennung und Ablehnung von Asylsuchenden und kritisierte den mangelhaften Schutz der EU-Außengrenzen. Noch
deutlicher wurde der migrationspolitische Richtungswechsel Macrons im
September 2019 während eines Gesprächs mit En Marche-Abgeordneten
zu den Schwerpunktsetzungen in der zweiten Legislaturperiode: Deutlich
sprach er sich hier für eine Senkung der Asylzahlen und eine härtere Bekämpfung von Asylmissbrauch aus. Die zweite Hälfte der Regierungszeit
solle sich demzufolge den Themen Einwanderung, Sicherheit und Kriminalität widmen.
Nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung zwischen Macron und Le Pen
erhielten die Europawahlen eine weitaus stärkere Bedeutung als 2014,
weshalb sie nicht (mehr) als nachrangige Wahlen (second order elections) bezeichnet werden können. Jenseits der traditionellen Konfliktlinie zwischen
Rechts und Links standen hier liberale und Pro-EU-Kräfte einem rechtsnationalen und rechtspopulistischen Lager gegenüber (Maarek 2019: 36). Entsprechend hoch lag die Wahlbeteiligung bei 50,12 Prozent.
Dass das Thema Migration nicht nur Konfliktlinien aufzeigte, sondern den
politischen Diskurs ein Stück weit europäisiert hat, zeigte sich insbesondere in der Zeit nach den Europawahlen, als Migrationsdiskurse auch in
Frankreich um das Thema der privaten Seenotrettung kreisten. Der Rassemblement National machte sich die Anschuldigungen Matteo Salvinis
gegen Carola Rackete zu eigen und verurteilte die Kapitänin als „kriminelle
Straftäterin“, wohingegen die andere Seite des politischen Spektrums sie
als Capitaine courage bezeichnete. Auch in anderen Ländern zeigte sich die
2 Als Antwort auf die Gelbwestenproteste startete Emmanuel Macron im Januar 2019 den „Grand
débat national“, die große nationale Debatte, in der er sich in großen Dialogformaten den Fragen der
Bürgerinnen und Bürger stellte. Darüber hinaus fanden im ganzen Land Dialogveranstaltungen in
Rathäusern statt. Auf einer Website konnten Kritik und Handlungsvorschläge formuliert werden.
24
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Öffentlichkeit beim Thema Seenotrettung gespalten. Die Intensität der Medienberichterstattung über Migration stieg in diesem Zeitraum leicht an,
erreichte allerdings nicht mehr das Hoch des Jahres 2015 (vgl. Abb. 4).
Nicht nur für den Rassemblement National in Frankreich, auch für die FPÖ
in Österreich oder das niederländische Forum für Demokratie blieb die
Migrationsfrage der zentrale Hebel für Mobilisierungsstrategien. Die Dynamiken, die das Brexit-Referendum von 2016 freigesetzt und das Land in
Remainers und Leavers gespalten hat, überdecken im Vereinigten Königreich aber das Thema Migration und waren für den Erfolg der Brexit Party
maßgeblich. In Irland wiederum hatte die Dominanz des Brexits in der öffentlichen Diskussion die Folge, dass EU-bezogene Themen stärker denn je
die Wählerschaft motivierten (Costello 2019: 49).
In Österreich hingegen stand das Thema Migration ganz oben auf der nationalen und der europäischen Agenda. Die Wahlplakate und Stellungnahmen
der FPÖ sprachen gezielt asylpolitische Themen an. Auch im Nachgang der
Wahl und der Debatte um die Besetzung der EU-Spitzenpositionen war das
Thema präsent: Ein Regionalverband der FPÖ beispielsweise kritisierte die
Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin mit dem Argument, sie stehe für eine „zwangsweise Verteilung“ von Geflüchteten nach
Österreich (Uchann 2019).
IN ÖSTERREICH STAND
MIGRATION IM MITTELPUNKT
DER WAHLEN
Abgelehnt wurde von der Leyen auch vom niederländischen FvD, dessen Parteiführer Thierry Baudet im Verlauf des Europawahlkampfes beständig darum
bemüht war, migrationspolitische Skandale zu schaffen3. Trotz der öffentlichen
Sichtbarkeit, die er hierdurch zeitweise erlangte, blieb der Erfolg Baudets hinter
den Erwartungen zurück: Mit 10,9 Prozent wurde das FvD nur viertstärkste Kraft.
Das mag einerseits an der stark fragmentierten niederländischen Parteienlandschaft liegen. Anderseits führte Baudets seit den Provinzwahlen deutlich gestiegene Präsenz in der Öffentlichkeit dazu, dass seine kulturkonservativen und
oftmals frauenfeindlichen Positionen weitaus intensiver und kritischer diskutiert
wurden als zuvor.4
Der Erfolg der rechtspopulistischen Vlaams Belang in Belgien – sie erhielt
als zweitstärkste Kraft drei Sitze im EU-Parlament – hing nicht zuletzt mit
ihrer starken Präsenz in den sozialen Medien zusammen, wo sie gezielt
migrationspolitische Themen adressierte. In den traditionellen Medien
hingegen wurde das Thema Migration weniger prominent diskutiert, als es
anfangs erwartet worden war (Close 2019: 72). Vlaams Belang investierte
daher mehr als alle anderen Parteien in ihre Social-Media-Kampagne (vgl.
Abb. 5), wo insbesondere das Thema irreguläre Migration im Vordergrund
stand. Gezielt wurden hierbei junge männliche Wähler im Alter zwischen
18 und 34 Jahren angesprochen. Eine Woche vor den Wahlen zirkulierte
beispielsweise ein Wahlvideo mit Parteiführer Tom Van Grieken auf Facebook, in dem er vorwiegend gegen Migration und eine vermeintliche Untergrabung traditioneller flämischer Werte argumentierte. Das Video erreichte
allein in diesem Zeitraum ca. eine Million Menschen (Cerulus 2019).
BELGISCHE RECHTSPOPULISTEN
MOBILISIERTEN VOR ALLEM
DURCH SOZIALE MEDIEN
3 So twitterte Baudet Mitte Mai ein Video, in dem Mitglieder der Identitären Bewegung in Deutschland
vermeintliche sexuelle Übergriffe von Migranten anprangerten. Bilder führender niederländischer
Politiker wurden anschließend unter der Überschrift „Ich habe es gewusst“ eingeblendet – eine Anspielung
auf die Reaktion vieler Deutscher auf den Holocaust. Insbesondere durch die thematische Verknüpfung
zwischen Migration und Holocaust stieß das Video auf deutliche Kritik und erlangte auch deswegen
große Sichtbarkeit. Ein vom niederländischen Minister für Migration Mark Harbers kurz vor den Wahlen
veröffentlichter umstrittener Bericht zur Flüchtlingskriminalität spielte Baudet zusätzlich in die Hände:
Schwere Delikte wie Mord, Vergewaltigung und Totschlag seien dort verschleiert worden; nach scharfer
Kritik aller Parteien reichte Harbers seinen Rücktritt ein.
4 Das zeigte sich auch im Fernsehduell zwischen Ministerpräsident Rutte und Baudet am Vorabend der
Wahl, in der sich Baudet mit dem Vorwurf des Sexismus auseinanderzusetzen hatte. Baudet wurde somit
gewissermaßen Opfer seiner öffentlichen Sichtbarkeit, zu der ihm nicht zuletzt die Instrumentalisierung
des Migrationsthemas verholfen hatte (Ross 2019).
25
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
Abb. 5: Kosten für Social-Media-Kampagnen von Vlaams Belang im Vergleich zu anderen Parteien in Belgien (Ausgaben in €)
400.000
300.000
200.000
100.000
0
Vlaams
Belang
N-VA
SPA
Open VLD
PVDA
Groen
CD & V
Quelle: Cerulus 2019 / Eigene Darstellung
Die starke Präsenz rechtspopulistischer Themen im Social-Media-Diskurs
vor den Europawahlen zeigt auch eine ländervergleichende Analyse der
digitalen Debatten in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Polen im Zeitraum zwischen Dezember 2018 und Mai 2019 (Alto Analytics
2019). So gelang es verhältnismäßig kleinen Gruppen rechter Nutzer regelmäßig, durch gezieltes Agenda-Setting ihre eigenen Themen ins Zentrum der Debatten zu rücken. Der Studie zufolge haben durchschnittlich
ca. 0,2 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer in den analysierten Ländern
bis zu elf Prozent der Debatteninhalte während des Untersuchungszeitraumes generiert. Zugleich zeigt die Studie, dass das Thema Migration
– neben dem Islam, dem Brexit und den Gelbwestenprotesten – dadurch
zu den ‚pan-europäischen Narrativen‘ der Social-Media-Debatte im Vorfeld der Europawahlen gehörte. Das bedeutet: Zu diesen Themen wurde
besonders deutlich über nationalstaatliche Grenzen hinweg diskutiert.
BRITISCHE RECHTSPOPULISTEN:
EUROPAWAHLKAMPF OHNE
MIGRATIONSTHEMA
In der rechtspopulistischen Parteienfamilie Westeuropas bildete die Brexit
Party insofern eine bemerkenswerte Ausnahme, als sie in Großbritannien vorführte, wie man auch ohne das Thema Migration Wahlerfolge
verzeichnen kann. Mit 31,7 Prozent ging die Brexit Party als Siegerin aus
der Europawahl hervor, obwohl sie erst Ende Januar von Nigel Farage in
Reaktion auf die Verzögerung des Brexits gegründet wurde. Dabei wurde
das Thema Migration im Verlauf des gesamten Wahlkampfes bewusst
umgangen – nicht zuletzt, um sich von der sich zunehmend radikalisierenden UKIP abzugrenzen, aus der Farage im Vorjahr ausgetreten war.
Die Brexit Party ließ das Thema Migration aus und konzentrierte sich
darauf, die Legitimität des Parlaments, die moralische Integrität der politischen Eliten und die Funktionsfähigkeit des Zweiparteiensystems anzuzweifeln.5
5 Farages Partei präsentierte sich zudem auffallend diversitätsbewusst: In den Wahlkampagnenvideos
kamen auch Einwanderer zu Wort und einige der Kandidaten hatten einen Migrationshintergrund.
Das muss durchaus nicht heißen, dass die Brexit Party frei von jeglichen migrations- und
islamfeindlichen Tendenzen war – die Parteimitgründerin Catherine Blaiklock beispielsweise
musste ihren Parteivorsitz nach islamfeindlichen Äußerungen auf Twitter im Verlauf der Kampagne
aufgeben. Deutlich wurde aber, dass die Brexit Party bei der Mobilisierung ihrer Anhängerschaft
ganz auf das Thema Migration verzichten konnte.
26
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
SÜDEUROPA
Glossar: Abkürzungen der im Text genannten politischen Parteien
Spanien
PSOE
Griechenland
Partido Socialista Obrero Español
(Spanische Sozialistische Arbeiterpartei)
Unidos Podemos
(Vereint können wir)
Ciudadanos
(Bürger)
Partido Popular
(Volkspartei)
UP
C’s
PP
KINAL
Κίνημα Αλλαγής
(Bewegung für den Wandel)
KKE
Κομμουνιστικό Κόμμα Ελλάδας
(Kommunistische Partei Griechenlands)
MeRA25 Μέτωπο Ευρωπαϊκής Ρεαλιστικής Ανυπακοής
(Bündnis für realistischen europäischen Ungehorsam)
Italien
Lega
Lega
(Liga, ehemals Separatisten-Partei Liga Nord)
Movimento 5 Stelle
(Fünf-Sterne-Bewegung)
M5S
Traditionell mobilisieren sozioökonomische Themen wie Arbeitslosigkeit oder
Wachstum in südeuropäischen Staaten am stärksten die Wählerschaft. Das Thema Migration war bei den diesjährigen Europawahlen dagegen von nachrangiger
Bedeutung. Daran hat auch die ‚Flüchtlingskrise‘ wenig geändert – mit einer Ausnahme: Immer wieder gelang es der italienischen Lega und insbesondere ihrem
Chef Matteo Salvini, Migration durch Mobilisierungs- und Skandalisierungskampagnen in den Mittelpunkt politischer Debatten zu rücken, um daraus politisches
Kapital zu schlagen. Tatsächlich ist in den letzten Jahren nur in Italien die Salienz
von Migration im Vergleich zu anderen Themenfeldern stark angestiegen und
auf relativ hohem Niveau verblieben.
ITALIEN: ESKALATIONSSTRATEGIE
VON SALVINI
Innenminister und Lega-Chef Salvini setzte Migration bereits vor Beginn des Europawahlkampfes mit Eskalationsstrategien ganz oben auf die politische Agenda:
2015−01−01 / 2019−10−01
Aggregierte Schlagworthäufigkeit: La Repubblica und La Stampa
800
Artikel pro Monat
La Repubblica
La Stampa
Sea Watch 3
Rettungsschiff Aquarius
Höhepunkt
der Flüchtlingskrise
Parlamentswahlen
Abb. 6: Medienberichterstattung über Migration in Italien
800
600
600
400
400
200
200
Jan
2015
Apr
2015
Jul
2015
Okt
2015
Jan
2016
Apr
2016
Jul
2016
Okt
2016
Jan
2017
Apr
2017
Jul
2017
Okt
2017
Jan
2018
Apr
2018
Jul
2018
Okt
2018
Jan
2019
Apr
2019
Jul
2019
Okt
2019
Quelle: La Repubblica, La Stampa / Eigene Darstellung
27
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
So ließ er erstmals im Juni 2018 die italienischen Häfen für ein Schiff der privaten
Seenotrettung sperren und löste dadurch eine breite Debatte über den Umgang
mit Flüchtlingsbooten aus. Um die Fokussierung auf Migration zu verstärken,
setzte Salvini im Verlauf des Wahlkampfes selbst vor allem auf digitale Kommunikationsstrategien: Im Vergleich zu den anderen Parteichefs verfügte er über
die größte Anhängerschaft in den sozialen Netzwerken. Im Vorfeld der Wahlen
verzeichnete seine Facebook-Seite einen 40-prozentigen Zuwachs an Aktivitäten
(Cepernich 2019: 82).
DIE AUSEINANDERSETZUNG UM
DIE SEENOTRETTUNG
Die mit dem Anlegeverbot für Schiffe der privaten Seenotrettung eingeleitete Eskalationsstrategie Salvinis erzeugte eine starke Resonanz für seine Person. Eine
medienanalytische Studie zeigt, dass er in knapp 20 Prozent der Berichte über
die Anlegeverbote zitiert wurde, während andere Regierungsmitglieder nur in einem oder zwei Artikeln genannt wurden (Povia 2019). Trotzdem gelang es Salvini
nicht, die mediale Aufmerksamkeit für Migration auf konstant hohem Niveau zu
halten. Zwar stiegen im Juni 2018, als Salvini erstmals die italienischen Häfen für
Seenotrettungsschiffe sperren ließ, die migrationsbezogenen Beiträge stark an
(s. Abb. 6). Seitdem hat sich die Intensität der Medienberichterstattung allerdings
wieder etwas verringert.
Die Eskalationsstrategie Salvinis war darüber hinaus auch deshalb erfolgreich,
weil sich die italienische Bevölkerung überwiegend mit seinem Kurs einverstanden zeigte. Datenerhebungen veranschaulichen, dass Salvinis Umfragewerte im
Zeitraum des Sea-Watch-Vorfalls um knapp 37 Prozent anstiegen (Di Cottone
2019). Anderen Erhebungen zufolge stimmten 49 Prozent der Befragten den
migrationspolitischen Positionen Salvinis zu, wohingegen nur 25 Prozent die Position der Kapitänin Carola Rackete verteidigten (Demos & Pi 2019). Die Fünf-Sterne-Bewegung konnte dagegen mit dem Thema Flüchtlinge kaum punkten. Zwar
übte auch Parteichef Luigi Di Maio Kritik an der privaten Seenotrettung und behauptete, Rettungsschiffe wie die Sea-Watch „pfeifen auf die italienischen Gesetze“ und „gefährden das italienische Sicherheitspersonal“ (Di Maio 2019). Das
brachte der Fünf-Sterne-Bewegung allerdings keinen zusätzlichen Schub in der
Wählergunst. Im Gegenteil: Bei der EU-Wahl büßte sie 0,8 Prozent ein und landete bei 17,2 Prozent.6 Offensichtlich verortete die Mehrzahl der Wähler das Thema
Migration eher bei der Lega als bei der Fünf-Sterne-Bewegung.
SALVINIS RESTRIKTIVE
MIGRATIONSPOLITIK
Die Salienz des Themas Migration wurde von Salvini allerdings nicht allein durch
die Anlegeverbote, sondern auch durch zwei umstrittene Reformen hochgehalten. So wurden Ende 2018 und Mitte 2019 zwei restriktive Gesetzesverordnungen verabschiedet (die sogenannten Decreto Sicurezza und Decreto Sicurezza bis).
Die erste schaffte insbesondere den „Aufenthaltstitel für humanitären Schutz“
(protezione umanitaria) ab, der seit 1998 eine Aufnahmealternative für solche
Asylsuchende ermöglichte, die aus humanitären Gründen aus ihrem Heimatland geflohen waren, aber die Anforderungen für einen positiven Asylbescheid
nicht erfüllten. Die zweite begrenzte die Möglichkeit der NGOs, Seenotrettungen
durchzuführen und führte schwere Sanktionen für Personen oder Organisationen ein, die gegen die Verbote verstoßen und illegale Einreisen begünstigen.
DIE SPANISCHE VOX SCHAFFT
DEN EINZUG INS EUROPÄISCHE
PARLAMENT
Auch in Spanien versuchten die Rechtspopulisten von Vox mit dem Thema Migration zu mobilisieren: Vox zeigte sich bereits bei den spanischen Parlamentswahlen
im April 2019 als ausgesprochen migrationsfeindlich und errang ca. zehn Prozent
der Stimmen. Bei der Europawahl zog die Partei erstmals mit drei Abgeordneten
ins Europaparlament ein. Migration nahm einen vergleichsweise großen Raum in
ihrem Wahlprogramm ein (vgl. Abb. 7): 16,5 Prozent des Programms waren mit
diesem Thema verbunden, während der entsprechende Wert in allen anderen
6 Zugleich hatte der Sea-Watch-Vorfall aber auch den Effekt, dass die private Seenotrettung ein
zentrales Thema während der Diskussion um die Besetzung der EU-Spitzenposten war, einen der
Schwerpunkte der Bewerbungsrede Ursula von der Leyens ausmachte und in der am darauffolgenden
Tag geführten Plenardebatte des Europäischen Parlaments einen breiten Raum einnahm.
28
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Abb. 7: Spanien – Anteil migrationsbezogener Themen in den Europawahlprogrammen
18 %
16 %
14 %
12 %
10 %
8%
6%
4%
2%
0%
Vox
C‘s
UP
PP
PSOE
Quelle: Europawahlprogramme / Eigene Darstellung
Parteiprogrammen nur zwischen 1,5 Prozent (PSOE) und neun Prozent (C‘s) lag.
Dabei stellte Vox Migration überwiegend als europäisches Thema dar: So schreibt
die Partei im Programm für die EU-Wahlen, dass die äußere Grenze Europas eine
„undurchlässige Tür“ für Menschen sein sollte, die „am Rande der Legalität“ nach
Europa kommen wollen (Vox 2019: 11). Allerdings ist der Aufstieg von Vox nicht
ausschließlich auf das Thema Migration zurückzuführen. Im Wahlkampf stellte
sich Vox an die Spitze derer, die die Haltung der etablierten Parteien gegenüber
den katalanischen Separatisten als zu zaghaft empfanden (Mendes 2019a: 10).
Während die spanische Vox immerhin einen beachtlichen Erfolg einfuhr, konnten migrationsfeindliche Parteien in Griechenland und Portugal deutlich weniger
Stimmen auf sich vereinigen. Trotz der nach wie vor hohen Zahl der auf den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge war Migration in Griechenland allein
für die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte ein zentrales Thema. In der öffentlichen und politischen Diskussion spielte es eine nachgeordnete Rolle. Auch
dadurch lassen sich die überaus bescheidenen Wahlergebnisse der Goldenen
Morgenröte erklären: Sie erhielt bei der Europawahl nur 4,9 Prozent der Stimmen und scheiterte bei den nationalen Parlamentswahlen im Juli 2019 an der
Drei-Prozent-Hürde. Im Wahlkampf dominierten vor allem wirtschaftliche Themen die politische Auseinandersetzung. So fokussierte die konservative Neue
Demokratie und Gewinnerin der europäischen und nationalen Wahlen von Juli
2019 vor allem auf wirtschaftliche Themen, kritisierte die politisch-ökonomische
Ausrichtung der vorigen Regierung und setzte sich für einen wirtschaftsliberalen Kurs ein. In der Migrationsfrage vertrat die Neue Demokratie einen restriktiven Ansatz. Sie setzte im nationalen Wahlprogramm einen starken Akzent auf
Sicherheit und versprach mehr und schnellere Rückführungen von Immigranten.
Entsprechend sagte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis im Oktober 2019, bis
Ende 2020 rund 10.000 Geflüchtete rückführen zu wollen (Kögel 2019). Migrationsfreundliche Positionen vertraten bei den nationalen und europäischen Wahlen dagegen linke und Mitte-Links-Parteien (Syriza, KINAL, KKE, MeRA25).
RESTRIKTIVE MIGRATIONSPOLITIK
AUCH IN GRIECHENLAND
Portugal galt lange als immun gegen rechtspopulistische Parteien. Die neu gegründete Partei Chega! („Genug!“) könnte das ändern. Sie sprach im Wahlkampf
von „illegalen“ oder von „faulen“ Einwanderern, die auf Kosten des Aufnahmestaates lebten. Bei der Europawahl erhielt sie allerdings keinen Sitz im Europäischen Parlament. Anders bei den nationalen Wahlen im Oktober 2019: Mit 1,3
Prozent der Stimmen erlangte sie einen Sitz im Parlament. Die geringen Erfolge
der Rechtspopulisten spiegeln die geringe Politisierung des Themas Migration
sowie seine niedrige Salienz wider: Anders als bei allen anderen Gesellschaften
Südeuropas sehen seit 2015 weniger als fünf Prozent der Portugiesen Migration
als Problem (Mendes 2019b: 8).
29
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
MITTEL- UND OSTEUROPA
Glossar: Abkürzungen der im Text genannten politischen Parteien
Tschechien
Kroatien
SPD
Svoboda a přímá demokracie
(Freiheit und direkte Demokratie)
ANO
Akce nespokojených občanů
(Aktion unzufriedener Bürger)
ODS
Občanská demokratická strana
(Bürgerlich-Demokratische Partei)
Piráti
Piráti
Piraten
STAN + Starostové a nezávislí +
TOP09
Tradice, odpovědnost, prosperita
(Bürgermeister und Unabhängige +
Tradition, Verantwortung, Wohlstand)
KDU-ČSL Křesťanská a demokratická unie –
Československá strana lidová
(Christdemokratische Union –
Tschechoslowakische Volkspartei)
KSČM
Komunistická strana Čech a Moravy
(Kommunistische Partei Böhmens und Mährens)
Bulgarien
WMRO – Вътрешна Македонска Революционна
BND
Организация Watreschna Makedonska
Rewoljuzionna Organisazija – Българско
национално движение
(Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Bulgarische Nationale Bewegung)
HDZ
ŽZ
Hrvatska demokratska zajednica
(Kroatische Demokratische Union)
Živi zid
(Lebende Mauer)
Polen
PiS
Konfederacja
Prawo i Sprawiedliwość
(Recht und Gerechtigkeit)
Konfederacja Wolność i Niepodległość
(Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit)
Ungarn
FIDESZ
Fiatal Demokraták Szövetsége
(Bund der Jungen Demokraten)
Estland
EKRE
Eesti Konservatiivne Rahvaerakond
(Estnische Konservative Volkspartei)
Slowakei
SMER-SD
Smer – sociálna demokracia
(Richtung – Sozialdemokratie)
Besonders in den mittel- und osteuropäischen Staaten waren die Europawahlen
bislang klassische second order elections gewesen, die von einem Großteil der Wählerschaft weniger ernst genommen wurden als nationale Wahlen. Entsprechend
gering fiel bisher die Wahlbeteiligung aus und lag bei durchschnittlich 28 Prozent.
Bei der diesjährigen Wahl zum Europäischen Parlament vollzog sich eine Trendwende: Mit Ausnahme Bulgariens stieg die Wahlbeteiligung in allen mittel- und
osteuropäischen Staaten an, in Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien sogar
um mehr als zehn Prozentpunkte. Inwiefern Migration das verstärkte Interesse an
Europa bedingte, lässt sich schwer ermitteln. Fest steht, dass das Thema Migration
in den nationalen Wahlkämpfen und Parteiprogrammen vielerorts eine doppeldeutige Rolle spielte: Die meisten Parteien räumten dem Thema in ihren Programmen zwar relativ viel Raum ein, machten es aber nicht zum zentralen Gegenstand
ihres Wahlkampfes. Mit Ausnahme Ungarns und Sloweniens, wo parteiübergreifend mit Migration mobilisiert wurde, waren es sonst fast ausschließlich Rechtspopulisten und -radikale, die mit dem Thema zu polarisieren versuchten.
TSCHECHIEN: SKANDALISIERUNG
DURCH RECHTSRADIKALE SPD
DES THEMAS MIGRATION
30
In Tschechien mobilisierte die rechtsradikale SPD am stärksten – und mit einem
Wahlergebnis von 9,12 Prozent auch relativ erfolgreich – mit dem Thema Migration. Unter Führung von Tomio Okamura setzte sie auch nach den Wahlen im
Zuge der Debatte um private Seenotrettung auf Skandalisierungsstrategien:
Insbesondere in den Online-Medien fand sich immer wieder die explizite Verknüpfung des Wortes Skandal mit migrationsbezogenen Themen (SPD 2019a).
Der italienische Innenminister Salvini galt Okamura als „Freund und Verbündeter“ im Kampf gegen illegale Migration (SPD 2019b).
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Premierminister und ANO-Chef Andrej Babiš verwies im Europawahlkampf mit
dem Slogan „Wir schützen Tschechien mit Stärke und ohne Kompromisse“ durchaus auf das Migrationsthema. Denn mit „Schutz“ war unter anderem der Schutz
vor illegaler Migration und die Abwehr einer quotenbasierten Verteilung von Geflüchteten gemeint. Die Wahlkampfstrategie der stärksten Partei Tschechiens
zielte jedoch auf eine weit umfassendere Verteidigung nationaler Souveränität:
Medienwirksam zeigte sich Babiš mit einer roten Baseballkappe, die die Aufschrift
„Starkes Tschechien“ trug, und erinnerte damit an Donald Trump, der in seiner
Wahlkampagne ein „America First“-Cap trug. Tschechischen Interessen per se gelte es Gehör in Europa zu verschaffen. In ähnlicher Weise mobilisierten auch die
meisten anderen Parteien.
Zugleich offenbart die Analyse der Europawahlprogramme tschechischer
Parteien eine hohe Salienz migrationspolitischer Themen (vgl. Abb. 8). Fünf
von acht Parteien räumten Migration mehr als zehn Prozent ihres Wahlprogramms ein. Die rechtsradikale SPD sprach sogar in einem Drittel ihres Programms über nichts anderes, was mehr als doppelt so viel ist wie im Fall der AfD
(15 Prozent). Die hohe programmatische Salienz des Themas Migration lässt sich
vor allem dadurch erklären, dass die Tschechen zu den migrationskritischsten Gesellschaften nicht nur im europäischen, sondern auch im ost(mittel)europäischen
Vergleich gehören (Chmelar 2019). Die migrationsskeptischen Haltungen der Parteien kommen in großen Teilen der Bevölkerung gut an.
HERAUSRAGENDE ROLLE
VON MIGRATION IN DEN
PARTEIPROGRAMMEN
Auch in Polen fand das Thema Migration Eingang in die Parteiprogramme – allerdings erst im Rahmen der nationalen Parlamentswahlen, die am 13. Oktober
stattgefunden haben. Der Europawahlkampf wurde dagegen vor allem durch
Wirtschaftsthemen beherrscht. Migration bzw. die Kritik der Migration dient in
den polnischen Wahlprogrammen als Identitätsmarker. Rechte Parteien wie PiS
und Konfederacja nutzen das Thema, um sich politisch von den anderen Parteien
abzugrenzen und ihrem Gesellschaftsverständnis Ausdruck zu verleihen (Kozłowska 2019: 11). Das Thema bleibt daher latent vorhanden. Unter geänderten Umständen kann es schnell an Bedeutung gewinnen.
In Kroatien und Bulgarien, an der südöstlichen EU-Außengrenze gelegen, spielte Migration eine, wenngleich keine zentrale Rolle im Wahlkampf. Ähnlich wie
in Tschechien bezogen die Parteien in ihren Programmen klar Stellung: Die in
Kroatien regierende und aus der EU-Wahl schließlich siegreich hervorgehende
BEGRENZTES
MOBILISIERUNGSPOTENZIAL IN
KROATIEN UND BULGARIEN
Abb. 8: Tschechien - Anteil migrationsbezogener Themen in den Europawahlprogrammen
40 %
35 %
30 %
25 %
20 %
15 %
10 %
5%
0%
SPD
ANO
KSČM
ČSSD
STAN+
TOP09
KDU-ČSL
ODS
Piraten
Quelle: Europawahlprogramme / Eigene Darstellung
31
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
HDZ unterstrich dabei die Notwendigkeit einer solidarischen EU-Politik, die sich
die Stärkung von Außengrenzen bzw. die Zusammenarbeit mit Drittstaaten und
Bekämpfung von Menschenschmuggel zum Ziel setzt (Hrvatska demokratska
zajednica 2019). Schärfere Töne schlug die euroskeptische Protestpartei ŽZ
an, die bereits vor der Wahl eine enge Zusammenarbeit mit der italienischen
Fünf-Sterne-Bewegung beschlossen hatte. In puncto Migration verlangte sie
eine Zwangsumverteilung, aber auch -rückführung auf Grund einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik (Movimento 5 Stelle 2019). In Bulgarien unterstrich
die regierende christdemokratische GERB, die genauso wie die kroatische HDZ
Mitglied der Europäischen Volkspartei ist, im Programmkapitel „Abwehr, Sicherheit und Migration“ den Migrationsdruck an der bulgarisch-türkischen Grenze
und formulierte den Wunsch nach einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik. Die rechtspopulistische Bulgarische Nationale Bewegung nannte
ihr Europawahlprogramm „Bulgarien für Bulgaren, Europa für Europäer“ und
schaffte mit ihrer Kritik am „globalen Liberalismus, [...] politischer Korrektheit
und Multikulturalismus“ (VMRO – BND 2019) am Ende wie die kroatische ŽZ den
Einzug in das Europäische Parlament.
MIGRATION UNTER DEN
WICHTIGSTEN THEMEN IN
LITAUEN, LETTLAND UND
ESTLAND
In den baltischen Staaten dominierten zwar wirtschaftspolitische Fragen den
Europawahlkampf, doch stand das Thema Migration in Lettland und Litauen
hinter sozialer Sicherheit an dritter, in Estland an zweiter Stelle. Zweierlei thematische Rahmungen ragten hier heraus (Auers 2019: 10): Einerseits wurde
das Thema Migration besonders in Lettland und Litauen mit Auswanderung
in Verbindung gebracht, da viele Letten und Litauer in den vergangenen
Jahren auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen nach Großbritannien und Irland auswanderten. Anderseits wurde Migration mit außereuropäischer Einwanderung aus islamischen Staaten assoziiert, wobei sich der
Großteil aller Parteien für einen verbesserten Schutz der europäischen Außengrenzen und eine arbeitsmarktorientierte europäische Migrationspolitik
aussprach (Auers 2019: 10).
Während euroskeptische und rechtspopulistische Parteien in Lettland und
Litauen traditionell schwach sind, steht es in Estland anders: Die rechtspopulistische und deutlich migrationsfeindliche Estnische Konservative
Volkspartei (EKRE) stieg bereits bei den nationalen Parlamentswahlen im
März mit 17,8 Prozent zur drittstärksten Kraft auf und ist nun an der Koalitionsregierung beteiligt. Bei den Europäischen Parlamentswahlen landete sie mit 12,7 Prozent an vierter Stelle und verdreifachte damit ihr Ergebnis von 2014. Ursächlich für diesen Erfolg dürfte auch die Antimigrationsrhetorik der Partei sein, die sich seit 2015 insbesondere auf die EU-Umverteilungsquoten richtete und sich seitdem ständig verschärfte. Bei den
Koalitionsverhandlungen sorgte die Partei mit offen antisemitischen Äußerungen regelmäßig für Schlagzeilen und gewann somit im Vorfeld der
Europawahlen deutlich an Sichtbarkeit – nicht zuletzt auch durch einen
medienwirksam inszenierten Besuch Marine Le Pens während des Europawahlkampfes.
BESTIMMENDES THEMA IN
UNGARN UND SLOWENIEN
32
Ungarn und Slowenien ragen im mittel- und osteuropäischen Kontext insofern heraus, als dort die Migrationsfrage bereits vor den Europawahlen zu
den Top-Themen gehörte. Die ungarische Europadebatte kreiste fast ausschließlich um das Thema Migration und stand unter den Vorzeichen der
flüchtlings- und EU-feindlichen Rhetorik Viktor Orbáns und seiner Fidesz-Partei. Unter skandalträchtigen Slogans wurden der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Kommissionsvize Frans Timmermans und
der ungarisch-stämmige US-Milliardär George Soros als Drahtzieher einer
geheimen Migrationsagenda der EU dargestellt. In der mediengestützten
Wahlkampagne wurden die Wählerinnen und Wähler gezielt durch Besuche
und Telefonanrufe angesprochen, was einer der Gründe für die vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung von 43,36 Prozent ist. Den Erwartungen gemäß
wurde Fidesz mit 52,3 Prozent die mit Abstand stärkste Kraft.
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Abb. 9:Aggregierte
Medienberichterstattung
über Migration
in Ungarn
Schlagworthäufigkeit: Magyarhirlap,
Magyar Nemzet
und Nepszava
2015−01−01 / 2019−10−01
'Flüchtlingskrise'
Artikel pro Monat
1000
1000
Magyarhirlap
Magyar Nemzet
Nepszava
800
800
600
600
Referendum zur
"Quotenlösung" der EU
400
400
200
200
Jan
2015
Apr
2015
Jul
2015
Okt
2015
Jan
2016
Apr
2016
Jul
2016
Okt
2016
Jan
2017
Apr
2017
Jul
2017
Okt
2017
Jan
2018
Apr
2018
Jul
2018
Okt
2018
Jan
2019
Apr
2019
Jul
2019
Okt
2019
Quelle: Magyarhirlap, Magyar Nemzet, Népszava / Eigene Darstellung (Von Mai 2018 bis Januar 2019 erschien Népszava nicht.)
Auch in Slowenien nahm das Thema Migration einen breiten Raum in
der Europadebatte ein, wobei diese sich auch mit dem slowenisch-kroatischen Grenzkonflikt im Norden der istrischen Halbinsel überschnitt
und dadurch zusätzlich befeuert wurde. Mitte-Rechts-Parteien forderten
strengere Grenzkontrollen zwischen beiden Staaten, während sich Parteien des linken Spektrums für eine Aufrechterhaltung des Schengen-Raums
aussprachen.
Im Zuge des sich an die Wahl anschließenden Fraktionsbildungsprozesses im
Europäischen Parlament bildete die Migrationsfrage einen der Schwerpunkte der inhaltlichen Zusammenarbeit in der neugegründeten Rechtsfraktion
Identität und Demokratie (ID), bestehend unter anderem aus der italienischen
Lega, dem französischen Rassemblement National, der deutschen AfD und der
österreichischen FPÖ. So ist es hier das vorrangige Ziel, die Außengrenzen zu
schützen, innere Sicherheit zu gewährleisten und eine vermeintliche „Politik
der offenen Türen“ zu beenden. Zugleich war das Thema Migration einer der
Faktoren, die eine Fraktionsbildung der Rechtspopulisten erschwerten: Viktor
Orbáns zögerliche Haltung zur ID hat ihren Grund nicht zuletzt darin, dass Salvini eine Umverteilung von Geflüchteten auf die EU-Mitgliedstaaten fordert,
was Ungarn wiederum strikt ablehnt. Auch die polnische PiS erteilte der neuen
Rechtsfraktion eine Absage, was allerdings an den russlandfreundlichen Positionen der AfD und des Rassemblement National liegt. Identität und Demokratie
ist damit nur die fünftstärkste Fraktion im Parlament, hinter der EVP, den Sozialdemokraten, den Liberalen und den Grünen. An diesen Differenzen zwischen
den Rechtspopulisten in Osteuropa einerseits und in Südeuropa andererseits
zeigt sich, dass das Thema Migration kaum zu einer einheitlichen migrationskritischen Front im Europaparlament führen wird.
IM EUROPAPARLAMENT SPALTET
DAS THEMA MIGRATION MEHR,
ALS ES EINT
Die Instrumentalisierbarkeit des Themas Migration wurde indes in der EU-Personaldebatte deutlich. Die Ablehnung der Visegrád-Staaten von Frans Timmermans als Kandidat für die Kommissionsspitze wurde einerseits mit dem Argument gestützt, er lasse mit seinen kritischen Äußerungen gegenüber Defiziten
in der Rechtstaatlichkeit Polens ein mangelndes Verständnis für die Region erkennen. Anderseits wurden Timmermans‘ Vorbehalte gegenüber der ostmitteleuropäischen Region auch mit dem Thema Migration begründet. In Tschechien
33
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
beispielsweise argumentierte Andrej Babiš, er stehe für eine quotenbasierte
Verteilung von Geflüchteten und sei daher für die Region nicht akzeptabel:
„Frans Timmermans had made a lot of expressions about the region. We
have a completely different view on migration. He was always behind quotas
and so on. So, this a problem for us.“
(Radio CZ 2019)
Ganz ähnlich war in Ungarn Migration ein Hauptargument für die Ablehnung
von Timmermans, wobei hier gezielt ein verschwörungstheoretischer Rahmen gesetzt wurde. Der ungarische Staatssekretär Zoltán Kovács beispielsweise stellte ihn als eine Marionette im Dienste von George Soros dar, der
dessen migrationspolitische Agenda umzusetzen beabsichtige:
„The Hungarian Government regards it as unacceptable for Frans Timmermans
to become the new head of the European Commission (EC) in view of the fact that
the social democrat top candidate is George Soros’s man. (…) If he were made
President of the Commission, George Soros’s puppet would clearly be placed at
the Commission’s head, through whom George Soros could enforce his own interests with relation to both immigration and financial and economic policy.“
(Cabinet Office of the Hungarian Prime Minister 2019)
In der Slowakei hingegen wurden die Vorbehalte gegenüber Timmermans
weitaus vorsichtiger artikuliert – nicht zuletzt aus dem Grund, dass er der
Kandidat der Sozialdemokratischen Partei Europas war, der auch die slowakische Regierungspartei SMER-SD angehört.
NORDEUROPA
Glossar: Abkürzungen der im Text genannten politischen Parteien
Dänemark
D
DF
P
S
V
Nye Borgerlige
(Neue Bürgerliche)
Dansk Folkeparti
(Dänische Volkspartei)
Stram Kurs
(Harter Kurs)
Socialdemokraterne
(Sozialdemokraten)
Venstre
(Liberale Partei)
Finnland
PS
KD
KESK
KOK
34
Perussuomalaiset
(Die Finnen)
Kristillisdemokraatit
(Christdemokraten)
Suomen Keskusta
(Finnische Zentrumspartei, sozialliberal)
Kansallinen Kokoomus
(Nationale Sammlungspartei, bürgerlichkonservativ)
SDP
VAS
VIHR
Suomen Sosialidemokraattinen Puolue
(Sozialdemokratische Partei Finnlands)
Vasemmistoliitto
(Linksbündnis)
Vihreä liitto/Vihreät
(Die Grünen)
Schweden
SD
M
MP
C
KD
V
L
Sverigedemokraterna
(Schwedendemokraten)
Moderata samlingspartiet
(Moderate Sammlungspartei)
Miljöpartiet de gröna
(Umweltpartei Die Grünen)
Centerpartiet
(Zentrumspartei)
Kristdemokraterna
(Christdemokraten)
Vänsterpartiet
(Linkspartei)
Liberalerna
(Liberale)
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
In Nordeuropa spielt das Thema Migration seit vielen Jahren eine zentrale Rolle für den öffentlichen Diskurs und den Parteienwettbewerb.
Dabei wird es vor allem von rechtspopulistischen Parteien aufgegriffen,
die regelmäßig versuchen, eine Verbindung zwischen der vermeintlichen
Notwendigkeit einer strikteren Migrationspolitik und dem Erhalt wohlfahrtsstaatlicher Leistungen herzustellen. Zudem instrumentalisieren
Rechtspopulisten häufig Bandenkriminalität und Gewaltverbrechen, um
strengere Grenzkontrollen, weniger Immigration und (dadurch) eine bessere Integration zu fordern. Damit stoßen sie vielerorts auf offene Ohren:
Mittlerweile haben es die rechtspopulistischen Parteien in Nordeuropa
geschafft, sich – auch mithilfe des Themas Migration – einen festen Platz
in den Parteiensystemen zu sichern. Während die Dänische Volkspartei
bereits seit Anfang der 2000er-Jahre Wahlerfolge verbuchte und verschiedene Minderheitsregierungen unterstützte, stellte sich der Durchbruch
Der Finnen erst später ein. Seit 2017 waren diese jedoch sogar direkt an
einer Koalitionsregierung beteiligt, in der sie in heftige innerparteiliche
Turbulenzen gerieten. Dagegen werden die Schwedendemokraten von
den anderen Parteien bislang relativ strikt ausgegrenzt, was ihre kontinuierlichen Wahlerfolge jedoch nicht bremsen konnte.
THEMA MIGRATION NÜTZT
RECHTSPOPULISTEN NICHT
ÜBERALL
Auch bei den Europawahlen 2019 spielte das Thema Migration in allen drei Ländern eine zentrale Rolle, vor allem in Dänemark. Dort gehört es am längsten zu
den wichtigsten Themen für den öffentlichen Diskurs und den Parteienwettbewerb. Dies ist auch an der verhältnismäßig persistenten Medienberichterstattung erkennbar (Abb. 10). Das Thema Migration war jedoch auch vielen Schweden, die traditionell am einwanderungsfreundlichsten eingestellt sind, und in
etwas geringerem Maße auch vielen Finnen wichtig. Die rechtspopulistischen
Parteien konnten daraus jedoch nicht überall Profit schlagen: Bei den Europawahlen verbesserten die Schwedendemokraten ihr Ergebnis mit 15,4 Prozent
der Stimmen deutlich (+ 5,7 Prozent) und gewannen als drittstärkste Kraft einen
Sitz im Europaparlament hinzu. Im Gegensatz dazu verlor die Dänische Volkspartei (DF) massiv an Stimmen: Sie ging mit 10,8 Prozent als viertstärkste Kraft
hervor und verlor damit 15,8 Prozent im Vergleich zu 2014. Auch Die Finnen
standen mit 13,8 Prozent (+ 0,9 Prozent) nur noch an vierter statt dritter Stel-
Abb. 10: Medienberichterstattung über Migration in Dänemark
2015−01−01 / 2019−10−01
Aggregierte Schlagworthäufigkeit: Berlingske, Politiken und Jyllands−Posten
Berlingske
Politiken
Jyllands-Posten
Rekordzahlen
Asylanträge
1000
1000
Einführung
Grenzkontrollen
Artikel pro Monat
800
800
600
600
400
400
200
200
Jan
2015
Apr
2015
Jul
2015
Okt
2015
Jan
2016
Apr
2016
Jul
2016
Okt
2016
Jan
2017
Apr
2017
Jul
2017
Okt
2017
Jan
2018
Apr
2018
Jul
2018
Okt
2018
Jan
2019
Apr
2019
Jul
2019
Okt
2019
Quelle: Berlingske, Politiken, Jyllands-Posten / Eigene Darstellung
35
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
le. Die unterschiedlichen Wahlerfolge jener Akteure sind jedoch nicht auf eine
abnehmende Bedeutung des Themas Migration für den Parteienwettbewerb
zurückzuführen. Stattdessen müssen die Ursachen in den Parteien selbst bzw.
den Umgangsweisen der jeweils anderen Parteien mit ihnen sowie mit den von
ihnen bespielten Themen gesucht werden.
36
DÄNISCHE RECHTSPOPULISTEN
BEKOMMEN KONKURRENZ VON
RECHTS
In Dänemark hatten sich die massiven Verluste der DF bereits im Vorfeld angekündigt. Zum einen hatte die DF mit verschiedenen Parteifinanzskandalen
(u.a. zur Verwendung von EU-Geldern) zu kämpfen und schenkte klima- und
umweltpolitischen Fragen in den Augen einiger Wählerinnen und Wähler nicht
genügend Aufmerksamkeit. Zum anderen bekam sie verstärkt Konkurrenz von
rechts: Bei den Wahlen zum dänischen Folketing, das nur zehn Tage nach den
Europawahlen gewählt wurde, traten zum einen zwei noch radikalere Parteien
an: Die nationalistische Partei Neue Bürgerliche sprach sich für einen „totalen
Asylstopp“ aus, während der islamfeindliche Stram Kurs die Abschiebung aller
Muslime forderte. Zum anderen waren auch die dänischen Sozialdemokraten in ihren migrations- und integrationspolitischen Forderungen inhaltlich
und rhetorisch deutlich nach rechts gerückt. Sie forderten unter anderem
die Einführung einer jährlichen Obergrenze für nicht-westliche Migrantinnen
und Migranten und sprachen sich für eine Verschärfung der asylrechtlichen
Voraussetzungen für Familienzusammenführungen aus. Auch der im Verlauf
der letzten Legislaturperiode zu beobachtende Paradigmenwechsel von einer
Integrations- hin zu einer Rückführungspolitik unter einer Mitte-Rechts-Regierung wurde von den Sozialdemokraten mitgetragen. Dazu gehörte unter anderem das Verschleierungsverbot, die Erlassung der „Ghetto-Gesetze“ oder das
„Schmuck-Gesetz“. Für diese Maßnahmen wurden die Sozialdemokraten von
den anderen linken und grünen Parteien scharf kritisiert. Diese grenzten sich in
aller Deutlichkeit von dieser „Symbolpolitik“ ab und betonten, unter diesen Umständen keine Koalitionsregierung unter sozialdemokratischer Führung einzugehen. Stattdessen betonten sie die Vorteile einer liberalen Migrationspolitik
und wollten viele Maßnahmen der Vorgängerregierung rückgängig machen.
Der dänische Parteienwettbewerb war folglich (selbst für dänische Verhältnisse,
wo Koalitionen traditionell innerhalb der parteipolitischen Lager gebildet werden) sehr polarisiert, wobei das Thema Migration eine zentrale Rolle einnahm.
DÄNISCHE SOZIALDEMOKRATEN
WERDEN MIT MIGRATIONSSKEPTISCHEN POSITIONEN
STÄRKSTE KRAFT, VERLIEREN
ABER IN DER LINKEN
WÄHLERSCHAFT
Bei den Europawahlen wurden die dänischen Sozialdemokraten zweitstärkste
Kraft (21,5 Prozent, hinter der liberalen Venstre) und gingen bei den anschließenden Parlamentswahlen sogar als Wahlsieger hervor (25,9 Prozent). Die
Stimmengewinne führten letztlich auch in anderen europäischen Ländern zu
der Diskussion, ob der Rechtsruck in Migrationsfragen ein Wahlerfolgsmodell
für andere sozialdemokratische Parteien sein kann. In Deutschland beispielsweise forderte Sigmar Gabriel, die SPD solle sich an den dänischen Sozialdemokraten ein Vorbild nehmen und löste damit eine intensive Debatte aus (Gabriel
2019). Ähnliche Debatten wurden auch in Schweden und Österreich geführt.
Dabei wurde jedoch zu oft vergessen, dass die dänischen Sozialdemokraten
bei den dänischen Parlamentswahlen zwar stärkste Kraft wurden, im Vergleich
zu den Wahlen 2015 jedoch 0,4 Prozent der Stimmen verloren. Zudem wandte
sich ein Teil der Stammwählerschaft enttäuscht den anderen linken und grünen
Parteien zu, die mit ihren migrationsfreundlichen Positionen punkten konnten.
Insgesamt verloren die Sozialdemokraten mit ihrem Kurs knapp mehr Wählerinnen und Wähler an die anderen Parteien des linken Lagers, als sie von der DF
hinzugewannen. Nach den Wahlen bildete die Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten, Mette Frederiksen, eine alleinige Minderheitsregierung. Um sich die
Unterstützung der anderen linken Parteien nicht zu verspielen, schwächte sie
einige Forderungen aus dem Wahlkampf ab (z. B. kriminelle Asylbewerber auf
die Insel Lindholm abzuschieben). Dennoch zeichnete sich kein grundlegender
Wandel der dänischen Immigrations- und Integrationspolitik ab, die seit Anfang
der 2000er-Jahre fortwährend verschärft wurde und heute zu den restriktivsten
in ganz Europa zählt.
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
Auch in Schweden ist das Thema Migration mittlerweile sehr wichtig für
den Parteienwettbewerb. Wie in Dänemark wird es dort häufig mit sicherheitspolitischen Aspekten in Verbindung gebracht (z. B. Schießereien, Bandenkriminalität und sexuelle Übergriffe). Auch im Zuge der Europawahlen
war der Parteienwettbewerb in Schweden daher sehr polarisiert: Während
die Parteien des linken Lagers Migration unter humanitären Gesichtspunkten sahen und sich unter anderem für legale, sichere Wege für Asylsuchende in die EU aussprachen, setzten die bürgerlichen Parteien auf strengere Grenzkontrollen und konsequente Abschiebungen. Dabei wurde die
Notwendigkeit, die Immigrationszahlen zu reduzieren, stets mit dem Vorwand einer besseren Integration diskutiert. Noch radikalere Forderungen
vertraten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten: Für den Erhalt
der schwedischen Staatsbürgerschaft sollten strengere Sprach- und Sozialkundekenntnisse vorausgesetzt werden; notfalls solle eine falsch erteilte
Staatsbürgerschaft wieder aberkannt werden können. Damit verschärften
HOHE POLARISIERUNG
AUCH IN SCHWEDEN
Abb. 11: Schweden – Anteil migrationsbezogener Themen in den Europawahlprogrammen
2014
2019
25 %
20 %
15 %
10 %
5%
0%
SD
V
M
L
C
S
MP
KD
Quelle: Europawahlprogramme / Eigene Darstellung
Abb. 12: Finnland – Anteil migrationsbezogener Themen in den Europawahlprogrammen
2014
14 %
2019
12 %
10 %
8%
6%
4%
2%
0%
PS
KOK
KESK
VAS
SDP
KD
VIHR
Quelle: Europawahlprogramme / Eigene Darstellung
37
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
auch sie ihren Ton im Vergleich zu 2014, als von solchen Maßnahmen noch
keine Rede war und das Thema Migration auch noch einen geringeren Teil
ihres Wahlprogramms ausmachte (Abb. 11).
RECHTSPOPULISTEN GEWINNEN
IN FINNLAND LEICHT DAZU
In Finnland stand das Thema Migration ebenfalls im Zentrum des Wahlkampfs, wenngleich die rechtspopulistische Partei Die Finnen hier nicht so
hohe Werte erreichte wie die Schwedendemokraten. Im April 2019 wurden Die Finnen bei den finnischen Parlamentswahlen mit 17,5 Prozent der
Stimmen (- 0,2 Prozent) erstmals zweitstärkste Kraft. Bei den Europawahlen
erhielt sie 13,8 Prozent (+ 0,9 Prozent) und stand damit an vierter Stelle.
Wie in den anderen beiden Ländern wurde Migration auch in Finnland
vorwiegend in einen Zusammenhang zu Kriminalität und Sexualdelikten
gebracht und einzelne Kriminalfälle mit emotionsgeladener Rhetorik skandalisiert. Trotz der andauernden Koalitionsverhandlungen nach den nationalen Wahlen im April standen während des Europawahlkampfes europäische Themen im Vordergrund: Während die Rechtspopulisten sich auf das
Thema Migration fokussierten, dominierte auf linksliberaler Seite die Diskussion um eine europäische Klimapolitik. Die Mitte-Rechts-Parteien hingegen stellten die wirtschaftliche Integration Europas in den Vordergrund
ihrer Kampagnen (Raunio 2019: 35). Im Juli 2019 übernahm Finnland die
EU-Ratspräsidentschaft, setzte allerdings bisher – nicht zuletzt aufgrund der
rechtspopulistischen Töne im eigenen Land – keine migrationspolitischen
Akzente. Schwerpunkte des finnischen Vorsitzes machen vielmehr Klimaschutz, gemeinsame Werte und Rechtsstaatlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit
und soziale Inklusion sowie Sicherheit aus. Auf der Innenministerkonferenz
in Helsinki im Juli 2019 sprach sich Finnland für ein abgestimmtes Vorgehen
in der Seenotrettung aus und unterstützte die deutsch-französischen Initiativen, ohne jedoch konkrete Vorschläge zu formulieren.
Abb. 13: Übersicht der EU-Ländergruppen
Westeuropa
Nordeuropa
Südeuropa
Mittel- / Osteuropa
Belgien
Dänemark
Griechenland
Bulgarien
Deutschland
Finnland
Italien
Estland
Frankreich
Schweden
Malta
Kroatien
Großbritannien
Portugal
Lettland
Irland
Spanien
Litauen
Luxemburg
Zypern
Polen
Niederlande
Rumänien
Österreich
Slowakei
Slowenien
Tschechien
Ungarn
38
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
LITERATUR
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confischiamo-le-navi-ong-che-violano-la-legge.html
(letzter Zugriff: 05.11.2019)
Cabinet Office of the Hungarian Prime Minister 2019: It is
unacceptable for one of Soros‘ people to become the new
head of the EC; verfügbar unter: https://www.kormany.hu/
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Costello, Rory 2019: European elections gradually becoming
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40
DER KONFLIKT UM MIGRATION IM EUROPAWAHLJAHR 2019
41
B
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
DER KONFLIKT UM MIGRATION
IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
2 DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
Zusammenfassung
Jenseits der Parteipolitik spielt die Zivilgesellschaft eine maßgebliche Rolle
im politischen Konflikt um Einwanderung nach Europa – und das nicht erst
seit der ‚Willkommenskultur‘ im Rahmen der ‚Flüchtlingskrise‘.
Die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung um Migration spiegelt die
Relevanz der kulturellen Konfliktlinie zeitgenössischer europäischer Politik
wider. Der Konflikt wird somit hauptsächlich als Wertekonflikt ausgetragen.
Zivilgesellschaftliche Akteure sind äußerst heterogen und unterscheiden
sich stark in ihren konkreten Forderungen, ihren Aktionsformen und ihrer
Organisation. ‚Migrationsfreundliche‘ Akteure sind dabei klar in der Überzahl. Darunter zählen große NGOs, linke Protestbewegungen und auch die
Aktiven im Rahmen der ‚Willkommenskultur‘. In den letzten Jahren konnten
jedoch auch zivilgesellschaftliche Akteure von Rechtsaußen verstärkt mediale Sichtbarkeit erlangen.
Die Europäisierung der Zivilgesellschaft spielt eine zentrale Rolle. Viele ‚migrationsfreundliche‘ Akteure beziehen sich auf eine europäische
Identität, vernetzen sich europäisch und/oder betonen die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik. Das Ausmaß ihrer Kritik gegenüber dem aktuellen EU-Migrationsregime variiert dabei.
Doch auch Akteure von Rechtsaußen beziehen sich oftmals positiv auf
Europa, zumeist in Abgrenzung gegenüber der Einwanderung von Musliminnen und Muslimen.
ZIVILGESELLSCHAFT UND MIGRATION
In vielen Teilen Europas, vor allem in den Aufnahmeländern Nordwesteuropas, bestimmt die Migration nach Europa den Parteienwettbewerb. Im Zuge
der ‚Flüchtlingskrise‘ – und oftmals bereits zuvor – dominierte der politische
Konflikt um Migration eine Vielzahl an Wahlkämpfen und verdrängte dabei
andere Themen (MIDEM 2018). Doch politische Parteien sind nicht die einzigen gesellschaftlichen Akteure, die sich mit Einwanderung beschäftigen. Jenseits von Parlamenten und Regierungen behandelt und verhandelt auch die
Zivilgesellschaft Themen rund um Immigration und Integration – und dies
oftmals schon lange vor der ‚Flüchtlingskrise‘ (z.B. della Porta 2018; Hutter
2014; Rosenberger et al. 2018).
INFOBOX – Was ist Zivilgesellschaft?
Diesem Beitrag liegt ein empirisches Verständnis von Zivilgesellschaft
zugrunde. Ein solcher Blickwinkel setzt nicht voraus, dass sich zivilgesellschaftliche Akteure notwendigerweise für ein wie auch immer definiertes
‚Gemeinwohl‘ einsetzen, sondern er inkludiert, konzeptuell, sämtliche politische Gruppen, die jenseits von Parteipolitik die Themen Immigration
und Integration verhandeln. Eine empirische Perspektive entspricht gängigen Ansätzen der Zivilgesellschaftsforschung. Oftmals werden unter Zivilgesellschaft politische Akteure zusammengefasst, die (relativ) unabhängig von Staat und Markt agieren (Grande 2019). Für Walzer (1991: 293) ist
Zivilgesellschaft der „Raum freiwilliger menschlicher Zusammenschlüsse
und die Menge an Netzwerken – formiert im Bereich von Familie, Glaube,
43
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
Interesse und Ideologie – die diesen Raum füllen“. Eine endgültige konzeptuelle Abgrenzung zwischen Zivilgesellschaft und ähnlichen Akteuren wie
Interessenvertretungen oder politischen Parteien ist kaum möglich (Burstein 1999). Es lohnt sich, Zivilgesellschaft breit zu fassen und unter anderem NGOs, soziale Bewegungen, Graswurzelgruppen und den Non-Profit-Sektor einzubeziehen (Edwards 2011).
Die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung läuft dabei entlang der ‘neuen‘
kulturellen Konfliktlinie, die die zeitgenössische europäische Politik prägt.
Migration wird folglich vor allem aus der Perspektive kultureller Werte betrachtet: ‚Migrationsfreundliche‘ Akteure betonen Dimensionen wie Menschenrechte, Multikulturalismus, Liberalismus und/oder Humanitarismus.
‚Migrationsfeindliche‘ Akteure befürworten exkludierende oder gar (kultur-)
rassistische Positionen.
DIE RELEVANZ DER
KULTURELLEN KONFLIKTLINIE
Die kulturelle Konfliktlinie wird in der Literatur als Gegensatz von grün/alternativ/libertär (GAL) und traditionell/autoritär/nationalistisch (TAN) (Hooghe
et al. 2002), von Integration und Demarkation (Kriesi et al. 2008) sowie von
Kosmopolitismus und Kommunitarismus (de Wilde et al. 2019) aufgefasst.
Im Kontext der Auseinandersetzung um Migration nach Europa ist vor allem
der Gegensatz von offenen Grenzen/Inklusion und geschlossenen Grenzen/
Exklusion von Bedeutung: Abbildung 1 illustriert, dass hinter dem Oberbegriff Zivilgesellschaft eine Vielzahl heterogener Akteure sichtbar wird, die sich
entlang dieser Konfliktlinie positioniert – vorrangig auf unterschiedlichen Positionen der ‚migrationsfreundlichen‘ Seite des Spektrums.
Abbildung 2 verdeutlicht diese Heterogenität – sie listet alle in diesem Beitrag
genannten zivilgesellschaftlichen Akteure auf. Diese unterscheiden sich nicht
nur in ihren Forderungen, sondern auch in ihren Aktionsformen und ihrer
Organisation. Zu ihnen zählen linke Protestgruppen, die oft fundamentale
Kritik am aktuellen EU-Migrationsregime formulieren (Abschnitt 2). Dachverbände und große Nichtregierungsorganisationen (NGOs), auf EU- oder
nationaler Ebene tätig, sind ein wichtiger Bestandteil migrationsbezogener
Zivilgesellschaft (Abschnitt 3). Gruppen, die Migrantinnen und Migranten vorwiegend in ihren Alltagsproblemen direkt unterstützen, sind vor allem während der ‚Flüchtlingskrise‘ als Ausdruck der ‚Willkommenskultur‘ prominent
hervorgetreten (Abschnitt 4).1 Auch Immigrationsgegnerinnen und Immigrationsgegner von Rechtsaußen sind unter den Begriff der Zivilgesellschaft zu
fassen – trotz einer geringen Anzahl von Aktiven stehen sie regelmäßig in der
medialen Öffentlichkeit (Abschnitt 5).
Abb. 1: Positionierung der Zivilgesellschaft auf der kulturellen Konfliktlinie
Linke
Protestgruppen
Offene
Grenzen/Inklusion
NGOs und
Verbände
Willkommenskultur
Liberale
Regulierung
Humanismus
RechtsaußenNGOs
Restriktive
Regulierung
Geschlossene
Grenzen/Exklusion
1 Eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen ‚migrationsfreundlicher‘ Akteure kann als
wichtiger Anhaltspunkt dienen, sie ist aber nicht trennscharf.
44
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
Abb. 2: Die im Text genannten zivilgesellschaftlichen Akteure
Amnesty International
Ärzte ohne Grenzen
Bewegungen der Europäischen
Sozialforen
Caritas
Die Karawane für die Rechte der
Flüchtlinge und MigrantInnen
Engagierte in der
„Willkommenskultur“
English Defence League
European Council on Refugees
and Exiles
European Network for Migrant
Women
European NGO Platform on EU
Asylum and Migration Policy
Flüchtlingsräte
Frassanito-Netzwerk
Identitäre Bewegung
Kirchliche und religiöse
Vereinigungen
Mission Lifeline
Miltary Veterans Union „Vasil
Levski“
No Border Netzwerk
No Borders Orchestra
PEGIDA
Pro Asyl
Project-20k-Netzwerk
Rotes Kreuz
Sea-Eye
Sea-Watch
Soldiers of Odin
SOS Kinderdörfer
SOS Méditerranée
Die Europäisierung zivilgesellschaftlicher Akteure ist eine zentrale Entwicklung
der letzten Jahrzehnte (della Porta/Caiani 2009; Marks/McAdam 1996), die
auch im Bereich der migrationspolitischen Auseinandersetzung eine wesentliche Rolle spielt. Dieser transnationale Prozess beinhaltet folgende Dimensionen: die Entwicklung einer europäischen Identität, die transnationale europäische Vernetzung von Akteuren und einen Fokus auf EU-Politik. All dies ist bei
vielen ‚migrationsfreundlichen‘ Akteuren zu beobachten. Doch auch Akteure
von Rechtsaußen beziehen sich oftmals positiv auf Europa, zumeist in Abgrenzung gegenüber der Einwanderung von Musliminnen und Muslimen (Caiani/
Weisskircher 2020).
Das Forschungsfeld des zivilgesellschaftlichen Handelns im Kontext von Migration erhielt erst in den letzten Jahren verstärktes Interesse (Eggert/Giugni 2015),
blieb aber oftmals auf Studien mit lokalem und nationalem Fokus limitiert. Eine
vollständige Aufzählung der viele Tausende umfassenden kollektiven Akteure
auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene ist dabei weder möglich noch per se analytisch wertvoll. Stattdessen wird an Hand von empirisch
relevanten, medial prominenten und/oder in der Fachliteratur diskutierten Beispielen die Heterogenität – und Lebendigkeit – des migrationsbezogenen zivilgesellschaftlichen Felds in vielen unterschiedlichen Teilen Europas dargestellt.
Der Fokus liegt dabei auf denjenigen Akteuren, die Migration nach Europa in den
Mittelpunkt ihres Handelns rücken.
LINKE PROTESTGRUPPEN: FORDERUNGEN NACH EINEM EUROPA
OHNE (AUSSEN-)GRENZEN
Linker migrationspolitischer Protest, auf und jenseits der Straße, ist kein Produkt
der ‚Flüchtlingskrise‘. Schon seit langem forderten Gruppen in Europa, und dabei vor allem in Westeuropa, eine drastische Liberalisierung des europäischen
45
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
Migrationsregimes. Linke Akteure betonen dabei oftmals ihre Ablehnung sämtlicher ‚Grenzen‘ von Migration und stellen Forderungen wie die Legalisierung
irregulärer Migrantinnen und Migranten in den Mittelpunkt – in vielen Fällen
unter direkter Beteiligung der Betroffenen (Caiani/Weisskircher 2020: 34-35). Ihr
Fokus liegt also nicht auf dem direkten Kontakt zu politischen Entscheidungsträgern, sondern auf Aufklärungsarbeit und Selbstorganisation. Viele der oft
transnationalen Aktionen zielen auf Intervention im öffentlichen Raum ab, mit
einem Schwerpunkt auf Werten wie Menschenrechte, Multikulturalismus und
Antirassismus.
OFFENE GRENZEN ALS
FORDERUNG DER EUROPÄISCHEN
SOZIALFOREN
Ein Höhepunkt der Mobilisierung linker Protestgruppen auf EU-Ebene waren
die Europäischen Sozialforen in den 2000er Jahren. Damals war Migration bereits ein wichtiges Thema. Die Europäischen Sozialforen bildeten das regionale
Äquivalent zum Weltsozialforum, das zum ersten Mal im Jahr 2001 im brasilianischen Porto Alegre stattfand. Diese Foren verstanden sich als Teil der globalisierungskritischen Bewegung. Das erste Europäische Sozialforum erfolgte 2002
in Florenz. Bis 2010 kamen jährlich in unterschiedlichen europäischen Städten
Tausende von Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, um über eine Vielzahl
politischer Alternativen zu sprechen. Darunter waren auch migrationsbezogene
Gruppen und Organisationen. Migration stand im Zentrum des vierten Europäischen Sozialforums 2006 in Athen, zum Beispiel bei einer Demonstration unter
der starken Involvierung lokaler albanischer und pakistanischer Migrantinnen
und Migranten – diese zählten damals zu den größten irregulären migrantischen Communities der Stadt und protestieren für die Verbesserung ihrer Lage
und die Legalisierung ihres Aufenthalts (Suri 2006). Der Aufruf der Versammlung der Bewegungen des vierten Europäischen Sozialforums (2006) verlangte
nicht nur einen separaten internationalen Aktionstag für Migration, sondern
eine drastische Änderung der EU-Migrationspolitik. Forderungen wie eine „bedingungslose Legalisierung“ und eine „Staatsbürgerschaft nach Wohnort“ sind
dabei deutlich radikaler als die vieler der oben genannten NGOs und Verbände,
z.B. des ECRE:
“We appeal for an international day of action and mobilization the 7th of October
2006 in Europe and Africa, for a European unconditional legalization and equal
rights to all migrants; for the closure of all detention centers in Europe, for the stop
to externalization, for the stop to deportations; against the precariousness and for
the uncoupling of the link between resident permit and the labor contract, for a
residence citizenship.”
(Versammlung der Bewegungen des vierten Europäischen Sozialforum 2006)
Ein regelmäßiger Teilnehmer an den Europäischen Sozialforen war das transnationale Frassanito-Netzwerk. Wie andere linke Gruppen betonen auch seine
Aktivistinnen und Aktivisten die Ablehnung von Grenzregimen als zentrale Forderung:
“We think that the claim of ‚freedom of movement‘, just as the refusal of war,
should be one of the founding tenets of any social movement that tries to imagine
and to build in the everyday life a different Europe.“
(The Frassanito Network 2004: 1)
TRANSNATIONALE
MOBILISIERUNG
46
Das Frassanito-Netzwerk ist Teil des transnationalen und autonomen No-Border-Netzwerks, das seit 1999 existiert. Letzteres verfügt über eine Vielzahl an lokalen Gruppen und arbeitet mit einer Reihe weiterer asylpolitischer Netzwerke
in Europa zusammen. Eine regelmäßige Aktivität dieses Netzwerks ist bis heute die Organisation von No-Border-Camps in Ländern wie Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien oder der Türkei. Diese Camps
verfolgen vielfältige Ziele und dienen unter anderem der Vernetzung und dem
kollektiven Lernen der involvierten Akteurinnen und Akteure. Gemeinsame Aktivitäten inkludieren Panels, Filme, Konzerte, Vorträge, Ausflüge und mehr. Das
Netzwerk betont neben seiner Ablehnung einer ‚Festung Europa‘ auch ein anti-
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
kapitalistisches Selbstverständnis. Die Diskussion der Migrationsfrage geht mit
einem Infragestellen des ökonomischen Systems und mit dem Hochhalten liberaler kultureller Werte einher:
“In the spirit of “anyone who does not wish to speak about capitalism should
rather remain silent about fascism too”, someone who speaks against Fortress
Europe must oppose not only racism but also the system which cultivates, reproduces and uses it: he/she must fight capitalism through self-organized structures
and horizontal networks: The so called “migration” issue has to be connected with
other aspects of the world domination system: global warfare within the crisis,
gender, class, disability, cultural discrimination etc. For this reason we believe that
the No Border Camp must include – apart from the mobilizations, the meetings
and the creation of structures – the organization of a self-organized anti-capitalist,
anti-patriarchal and anti-racist gathering with a focus on migration.”
(No Border Camp 2016)
Viele linke migrationsbezogene Initiativen in Europa werden auch von
Migrantinnen und Migranten organisiert. Diese Akteure verfügen oftmals
über schwierige Startvoraussetzungen für zivilgesellschaftliche Mobilisierung, da sie häufig über nur wenige Ressourcen verfügen, mit juristischen
Hürden bezüglich ihrer Mobilität konfrontiert sind und einem ungünstigen
politischen Klima gegenüberstehen (Steinhilper 2018). Dennoch sind manche migrantische Communities höchst aktiv: Das Netzwerk „Die Karawane
für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen“ tritt in Deutschland unter
anderem gegen Abschiebungen auf. Ein weiteres Beispiel für selbstorganisierten Aktivismus war das langlebige Protestcamp am Berliner Oranienplatz (von 2012 bis 2014), hauptsächlich von Asylsuchenden aus afrikanischen Ländern organisiert.
SELBSTORGANISIERTER
PROTEST VON MIGRANTINNEN
UND MIGRANTEN
Ein weiteres Beispiel von Selbstorganisation vor der ‚Flüchtlingskrise‘ war der
‚Marsch für die Freiheit‘ im Mai und Juni 2014 (Caiani/Weisskircher 2020: 35).
Dieser Protestzug führte von Straßburg in Richtung Brüssel. Dutzende von Organisationen und Gruppen nahmen daran teil. Auf einem viersprachigen Flyer
(Englisch, Arabisch, Französisch und Deutsch) formulierten sie Ziele, die einer
völligen Ablehnung des EU-Migrationsregimes – der „rassistische[n] Migrationspolitik der EU“ – entsprechen, unter anderem „Bewegungsfreiheit und freie wahl
[!] des Wohnsitzes für alle Asylsuchenden“, „Dauerhafte Aufenthaltspapiere
ohne Kriterien“ und „Frontex, Eurosur und andere Anti-Migrationspolitiken und
Maßnahmen abschaffen“ (Marsch für die Freiheit 2014) (vgl. Abb. 3).
Linke migrationsbezogene Proteste seit der ‚Flüchtlingskrise‘ entsprechen im Regelfall einer Fortsetzung bestehender Forderungen nach einer
drastischen Liberalisierung des EU-Migrationsregimes. Ein solches Beispiel ist eine Aktion des Project-20k-Netzwerks, die im Juli 2018 besondere mediale Aufmerksamkeit erreichte (Caiani/Weisskircher 2020: 35). In
Ventimiglia, einer italienischen Grenzstadt zu Frankreich, protestierten
rund 3000 Aktivistinnen und Aktivisten aus unterschiedlichen Ländern
gegen die EU-Migrationspolitik und insbesondere die damalige italienische Regierung, die Matteo Salvinis Lega Nord inkludierte. Die Hauptforderung war ein ‚europäischer Aufenthaltstitel‘. Im Rahmen der Aktion
betonte das Project-20k-Netzwerk seine deutliche Ablehnung des migrationspolitischen Status quo in Europa:
“A mobilisation that will occur on one of the most lethal internal borders
of Europe, to repeal the brutality of national and international governmental migrant policies, to lay claim to the need of a European resident permit and to the right of mobility. To rethink the actual system
of immigration policies, to fight human trafficking, gender violence, and
people exploitation, to defend people’s freedom and the right of self-determination. As the Mediterranean is the mortal ditch of the fortress Eu47
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
Abb. 3: Flyer für den „Marsch für die Freiheit“
we are asylum seekers, refugees,
undocumented migrants, migrants from
many european countries, we are europeans with a “migration background”,
we are all those who have no full priviledge of citizenship, but also citizens
who share a common anger against the
racist eu migration policy.
we have a dream:
freedom of movement and of residence
for all asylum seekers
Stop the dublin trap and the obligatory
residence in lagers throughout europe
Permanent documents without criteria
(not depending on working contracts or
individual state prosecution)
Stop the imprisonment and deportation
of migrants
Same working conditions for all
Same political, social and cultural rights
for all: right to study and to work
Stop the european imperialist policies:
no more free trade treaties and natowars
abolish frontex, eurosur and other antimigration policies and measures
Join us!
،نحن المتقدمون بطلبات لجوء
من، مهاجرون من دون أوراق،لجئون
مختلف دول التحاد الوربي
،وكل،والذين ينحدرون من أصول مهاجرة
الذين ليس لهم حقوق المواطنة الوربية
المواطنين الوربين الذين5 وايضا،الكاملة
يشاركونا الغضب علي قوانين الهجرة الغير
عادلة
لدينا حلم
حق التجول الحر وحق الوراق لكل طالب
لجوء سياسي في أوربا
وقفل جميع، إيقاف فوري لقانون )دبلن
بيوت اللجوء )الهايم
حق جميع الجئين في إقامات غير مشروطة
بعقود عمل او اي ضغوطات اخري
إغلق فوري لكل السجون التي يتم فيها حجز
وإيقاف الترحيل، الجئين
حق اللجوء السياسي، حق العمل لكل الجئين
وحق العمل، حق الدراسة، للكل
الوقف الفوري للتدخل الوربي في الدول
ل لي حروب،الخري والستعمار الجديد
اخري تحت
اسم الناتو
إيقاف )الفورنتكس( وكل القوانين الوربية
التي تقيد من حرية التجول للجئين
انضم لنا
nous sommes demandeurs d’asile,
réfugiés, migrants et sans-papiers, européens “issus de l’immigration” , nous
sommes tous ceux qui n’ont pas la pleine
citoyenneté accompagnés d’autres, qui
partagent notre colère contre la politique
migratoire raciste de l’union européenne.
nous avons un rêve:
la liberté de circulation pour les demandeurs d’ asile, l’abolition de dublin i et ii
et du devoir de résidence residenzpflicht
des documents permanents, sans
critères (et non en fonction de contrats
de travail ou des persécutions politiques
personnelles par l’etat d’origine)
arrêt de l’emprisonnement et de
l’expulsion des migrant-e-s
Mêmes conditions de travail pour tou-te-s
Même droits politiques, sociaux et culturels pour tou-te-s : droit d’étudier et de
travailler là où l’on vit
arrêt de la politique impérialiste européenne : fin des traités de libre-échange et
des guerres colonialistes de l’otan
abolition de frontex, d’eurosur et de
toutes les politiques et mesures antimigratoires
rejoignez-nous!
wir sind asylsuchende, geflüchtete, undokumentierte Migrant_innen,
Migrant_innen von vielen europäischen
ländern, wir sind europäer_innen mit
„Migartionshintegrund“, wir sind all
jene, die nicht das Privileg der Staatsbürgerschaft haben, aber auch Staatsbürger_innen die die gemeinsame wut
gegen die rassistische Migrationspolitik
der eu teilen.
wir haben einen traum:
bewegungsfreiheit und freie wahl des
wohnsitzes für all asylsuchenden
Stop der dublinfalle und der Zwangsunterbringung in lagern in europa
dauerhafte aufenthaltspapiere ohne
kriterien
Stop der inhaftierung und abschiebungen von Migrant_innen
gleiche arbeitsbedingungen für alle
gleiche politische, soziale und kulturelle
rechte für alle: recht auf bildung und
auf arbeit
Stop der imperialistischen Politik europas: kein freihandelsabkommen und
nato-kriege
frontex, eurosur und andere antiMigrationspolitiken und Maßnahmen
abschaffen
schließt euch uns an!
bank account: “Protest March for freedom
”, knr: 106028977, blZ: 17092404, Volksban
k fürstenwalde iban: de23 1709 2404
0106 0289 77 , bic: genodef1fw1
Quelle: borderline-europe
rope, Ventimiglia is the symbol of the failure of a Europe with no internal
borders: the border between Italy and France is a Schengen border, one
of those borders that should not exist anymore and that instead are multiplying and militarizing, becoming new walls that let goods through but
stop people with their wishes and life projects.”
(Progetto 20k 2018)
Neben klassischen ‚linken‘ Protestformen wie den oben genannten Foren,
Camps, Demonstrationen und Märschen verfolgen Protestgruppen aber
noch eine Vielzahl weiterer kreativer Aktionsformen. Diese sind oftmals
hochspezialisiert und transnational.
KUNST ALS
PROTESTFORM
Ein Beispiel hierfür ist das No Borders Orchestra (www.nobordersorchestra.
org), das vor allem in Südosteuropa tourt, aber beispielsweise auch im Berliner Club Berghain auftrat. Seine Musikerinnen und Musiker stammen aus
den westlichen Balkanstaaten. Kooperationen erfolgten aber unter anderem mit syrischen Asylbewerberinnen und Asylbewerbern – die Orte einer
gemeinsamen Konzerttour entsprachen dem Verlauf der Balkanroute. Vorbild des Orchesters war eine ähnliche Initiative zwischen israelischen und
palästinensischen Musikerinnen und Musikern. Ausschnitte aus seinem
‚Manifesto‘ betonen neben dem künstlerischen auch den politischen Anspruch, der sich vor allem auf Wertewandel bezieht und die Idee von ‚Grenzen‘ stark kritisiert:
“The social aspect of the project is achieved by the deconstruction of stereotypes, overcoming of nationalism, racism, xenophobia, homophobia, the gory
legacy of the past and through the affirmation of cultural values that are in a
complete state of disarray in local transitional societies. Being fully aware of
the past, NBO is not a project nostalgic about ex-Yugoslavia. On the contrary,
48
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
it is completely committed to the future. Nostalgia abolishes criticism and
critical engagement is at the basis of our idea. The right to the future requires the courage to face all traumatic facts from the past. An honest dialogue
about difficult responsibility issues dispels demons from the past and opens
doors for possibilities that are yet to come. […] Border is the other name for
prejudice. NBO is a call to play across the borders of purported, usual, and
to listen without prejudices.”
(No Borders Orchestra, ohne Datum)
Die private Seenotrettung ist ein zentrales Beispiel hochspezialisierter und
transnationaler zivilgesellschaftlicher Aktivität. Seit dem Jahr 2000 haben
rund 35.000 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ihr
Leben verloren. Dabei litten staatliche Programme zur Seenotrettung oftmals unter enormen Defiziten wie einer limitierten finanziellen Ausstattung
(vor allem anfänglich Operation Triton) oder einer faktischen Einstellung
(Operation Sophia). Nicht erst seit dem Konflikt zwischen dem ehemaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini und der Kapitänin der SeaWatch 3 Carola Rackete nimmt die private Seenotrettung folglich eine wichtige Rolle ein. Involvierte Organisationen sind unter anderem Ärzte ohne
Grenzen, Sea-Eye, Sea-Watch, Mission Lifeline oder SOS Méditerranée (mit
dem Schiff Aquarius).
PRIVATE
SEENOTRETTUNG
Ein weiteres spezialisiertes Ziel zivilgesellschaftlichen Handelns stellt
der Versuch dar, Abschiebungen abgewiesener Asylbewerberinnen und
Asylbewerber zu verhindern. Die diesbezüglichen Aktionsformen sind
vielfältig. Bereits in den 1990er-Jahren protestierten zivilgesellschaftliche Akteure gegen private Fluglinien. Beispielsweise besetzten Aktivistinnen und Aktivisten im Dezember 1996 das Hauptquartier von Martinair am Amsterdamer Flughafen, um gegen Gruppenabschiebungen aus
Belgien, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden in afrikanische
Länder, unter anderem in das damalige Zaire, zu protestieren (Deportation Alliance, ohne Datum). Elin Erssons YouTube-Streaming ihres
Protests gegen die Abschiebung eines ihr unbekannten afghanischen
Asylbewerbers – der Mann, den sie ursprünglich schützen wollte, befand
sich zu ihrer Überraschung nicht im Flugzeug – im Juli 2018 machte internationale Schlagzeilen. Die Aktivistin wurde zu einer Geldstrafe von rund
300 Euro verurteilt (Spiegel.de, 18.02.2019). Da sich nicht nur Passagiere, sondern auch Pilotinnen und Piloten oftmals weigern, Abschiebungen durchzuführen, ist eine Maßnahme mancher Regierungen, so auch
deutscher Landesregierungen, Charterflüge anstelle von Linienflügen
für Abschiebungen zu nutzen, auch um Möglichkeiten der Intervention
zu reduzieren.
PROTESTE GEGEN
ABSCHIEBUNGEN
Im Regelfall sprechen sich linke Protestgruppen also für die Abschaffung
von vielen, wenn nicht gar sämtlichen Restriktionen gegenüber Einwanderung nach Europa aus – dies war bereits lange vor dem Jahr 2015 der
Fall. Dabei nehmen ihre Forderungen auf Werte wie Menschenrechte und
Antirassismus Bezug. Die gewählten Aktionsformen zielen im Regelfall
nicht auf die enge Kooperation mit politischen Entscheidungsträgern ab.
Das liegt auch an der starken Abgrenzung gegenüber einem als ‚Festung
Europa‘ charakterisierten EU-Grenzregime. Die Europäisierung linker Protestgruppen erkennt man vor allem am Ausmaß ihrer transnationalen
Mobilisierung.
Im Zuge der ‘Flüchtlingskrise‘ in Europa kam zivilgesellschaftliches Handeln im Bereich der Migration zunehmend unter staatlichen Druck. Seit
2018 waren Aktivistinnen und Aktivisten in vielen Ländern – beispielsweise in Belgien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien,
Schweden und Spanien – Strafverfolgung ausgesetzt, vor allem nach Unterstützung bei Grenzübertritten und Aktivismus gegen Abschiebungen
49
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
(Institute of Race Relations 2019): Dabei kam es nicht nur zu einer wachsenden Zahl von Ermittlungen und Anklagen, sondern auch zu äußerst
schweren Tatvorwürfen, inklusive Ermittlungen nach Gesetzen, die auf
terroristische und mafiöse Vereinigungen abzielen. Als Reaktion bildeten
sich wiederum diverse Solidaritätsinitiativen, die ein solches staatliches
Vorgehen verurteilten.
DIE GROSSEN DACHVERBÄNDE UND NGOS: FÜR MIGRATIONSPOLITISCHE REFORMEN
In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich auf europäischer Ebene auch
ein ausgeprägtes Verbandswesen im Bereich der Migrationspolitik. NGOs
sind dabei in Dachverbänden engagiert und kooperieren auch mit Organisationen, die nicht ausschließlich im Migrationsbereich tätig sind, sondern
zum Beispiel im Gesundheitsbereich, im Menschenrechtsbereich und im
Sozialbereich. Während die meisten NGOs keine ähnlich radikalen Forderungen äußern wie die oben genannten Protestgruppen, sind dennoch viele der aktuellen EU-Migrationspolitik gegenüber kritisch eingestellt. Auch
sie betonen Werte wie Menschenwürde und Humanismus in der Rechtfertigung ihrer Arbeit.
DER EUROPEAN COUNCIL ON
REFUGEES AND EXILES
Der European Council on Refugees and Exiles (ECRE) ist ein Beispiel für
einen europäischen Dachverband. Er existiert bereits seit 1974. Derzeit
sind 104 NGOs aus 41 Ländern Mitglied des ECRE, zum Beispiel NGOs wie
Pro Asyl (Deutschland). Prominente Mitglieder sind aber ebenso internationale Organisationen, die sich nicht ausschließlich mit Migrationspolitik
beschäftigen, wie zum Beispiel Amnesty International, die Caritas, die Diakonie Deutschland, das Rote Kreuz und SOS Kinderdörfer. 53 nationale Organisationen stammen aus westeuropäischen Mitgliedsländern der EU, 17
nationale NGOs stammen aus osteuropäischen Staaten. Die Größe dieses
Dachverbands – und die Existenz vieler weiterer – unterstreicht die hohe
Relevanz, die NGOs der EU-Ebene zuschreiben.2 In seinem “Mission Statement” betont der ECRE die Relevanz von Werten wie Gerechtigkeit, Humanismus, Würde und Respekt:
“Our mission is to promote the establishment of fair and humane European
asylum policies and practices in accordance with international human rights
law. […] ECRE strives for a Europe that protects refugees, asylum seekers and
displaced persons with dignity and respect.”
(European Council on Refugees and Exiles, undatiert)
Zu den Aktivitäten des ECRE gehören Forschungsarbeit, Beratung und Unterstützung bei rechtlichen Angelegenheiten sowie Forschungsarbeit und
politische Überzeugungsarbeit gegenüber Entscheidungsträgern und in
der Öffentlichkeitsarbeit. Diese auf politische Institutionen ausgerichteten
Aktionsformen sind typisch für große europäische Dachverbände. Nichtsdestotrotz formuliert der ECRE fundamentale Kritik an der EU-Migrationspolitik, beispielsweise in ihrem strategischen Plan für 2017-2019. Der
Dachverband hinterfragt den Krisenbegriff und unterstellt den handelnden
Politikerinnen und Politikern negative Motive:
“In 2015/2016, a crisis in European policy-making and practice on refugee
rights and asylum unrolled. Although the situation was called “the refugee
crisis”, it is more properly termed a crisis of refugee policy or a crisis of
2 Einer von vielen weiteren europäischen Dachverbänden ist die European NGO Platform on EU
Asylum and Migration Policy (EPAM) mit 29 Mitgliedern. EPAM existiert seit 1994 und arbeitet mit
dem UNHCR zusammen. Das European Network for Migrant Women hingegen setzt sich seit 2012
für Migrantinnen ein.
50
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
EU policy-making. The crisis could have been avoided through granting
safe and legal passage to refugees, including through resettlement directly
from the MENA region. In addition, the numbers of refugees and displaced persons arriving in Europe was and remains small compared to other
regions. Ultimately, Europe also has the resources and the capacity to respond by accepting and integrating refugees, especially as demographic
trends in all EU countries indicate that they would benefit from migration.
However, politics in Europe has been increasingly driven by nationalism,
extremism, hostility to refugees, and – frequently – sheer panic on the part
of political leaders.”
(European Council on Refugees and Exiles 2017: 2)
Viele migrationsbezogene NGOs pflegen regelmäßigen Kontakt zu politischen Entscheidungsträgern auf nationaler und auf EU-Ebene, zum Beispiel
im Rahmen von Lobbying- oder Beratungstätigkeiten. So findet seit 2015
das Europäische Migrationsforum statt, das vom Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss gemeinsam mit der Europäischen Kommission veranstaltet wird – als Nachfolgerin und inhaltliche Ausweitung des zuvor bestehenden Europäischen Integrationsforums.
Eine Befragung migrationsbezogener NGOs in Europa zeigt, dass achtzig
Prozent regelmäßig Medienarbeit betreiben – eindeutig die am häufigsten
genannte Aktivität. Deutlich mehr als die Hälfte der Organisationen steht
im Rahmen formeller und informeller Treffen in regelmäßigem Kontakt mit
Politik und Verwaltung auf unterschiedlichen politischen Ebenen. Knapp die
Hälfte der NGOs übt auch Beratungstätigkeiten in staatlichen Gremien aus.
Etwas weniger als die Hälfte nahm an öffentlichen Protestveranstaltungen
teil und rund ein Drittel war in juristische Verfahren involviert (Schnyder
2015: 701-702). Dieser Fokus unterscheidet sich stark von anderen Formen
zivilgesellschaftlichen Handelns.
Doch auch große NGOs können konfrontatives Handeln zeigen. Ein interessanter Fall ist Ärzte ohne Grenzen während der ‚Flüchtlingskrise‘: Die
Organisation kritisierte das EU-Türkei-Abkommen scharf. Als Folge zog sie
sich aus den Hotspots in Griechenland zurück, verzichtete somit auf eine
signifikante Finanzierungsquelle und begann sich im Rahmen der privaten
Seenotrettung zu engagieren (Dany 2019). Als Begründung ihres Aktivismus betont die Organisation die Rolle humanitärer Werte:
ÄRZTE
OHNE GRENZEN
„Wir fordern keine offenen Grenzen. Wir fordern vielmehr, dass die Genfer
Flüchtlingskonventionen eingehalten werden, dass Menschen auf der Flucht
human behandelt werden und sie die Möglichkeit bekommen, an den EU-Außengrenzen Asylanträge zu stellen. Unabhängig von verschiedenen politischen Meinungen, die man zu dem Thema haben kann, gibt es zwingende
humanitäre Gründe, Notleidenden auf der Flucht zu helfen. Dies ist unsere
Aufgabe als humanitäre Organisation. Für ein humanes Asylrecht zu sorgen,
obliegt aber nicht humanitären Organisationen, sondern den politisch Verantwortlichen.“
(Ärzte ohne Grenzen 2019)
Auf nationaler Ebene bildete sich in Deutschland bereits in den
1980er-Jahren eine Vielzahl an Organisationen und Gruppen, die sich für
Migrantinnen und Migranten einsetzen – beispielsweise Flüchtlingsräte
oder die Organisation Pro Asyl. Zu dieser Zeit war die Frage der Abschiebungen von abgewiesenen Asylbewerberinnen und Asylbewerbern ein
politisch wichtiges Thema. Einer der Auslöser für diese Entwicklung war
der Suizid von Cemal Kemal Altun, einem politischen Flüchtling aus der
Türkei, der sich 1983 in Deutschland im Abschiebeverfahren befand und
während der Verhandlung aus dem Fenster eines Gerichtsgebäudes in
Berlin sprang (Kirchhoff/Lorenz 2018: 50).
51
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
NGOs liefern oftmals ausführliche Detailvorschläge und Dienstleistungen in
verschiedenen Bereichen der europäischen Migrationspolitik – dabei variiert
das Ausmaß der expliziten Ablehnung aktueller EU-Politik. Im Regelfall stellen
diese zivilgesellschaftlichen Akteure die Legitimität des EU-Grenzregimes nicht
generell in Frage, sondern formulieren ihre Kritik so, dass eine Gesprächsbasis
mit institutionellen Akteuren aufrecht erhalten bleibt bzw. angestrebt wird.
‚WILLKOMMENSKULTUR‘: MEHR ALS LOKALE HILFE FÜR ALLTAGSPROBLEME?
Auch die ‚Willkommenskultur‘ während der ‚Flüchtlingskrise‘ war ein bedeutsamer Ausdruck des migrationsbezogenen zivilgesellschaftlichen Engagements, vor allem, aber nicht nur in den wohlhabenderen Zielländern in
Zentral- und Nordeuropa. Das dort seit 2015 dominierende Krisennarrativ
hat zur politischen Mobilisierung der gesellschaftlichen Mitte beigetragen,
die jenseits der oben genannten zivilgesellschaftlichen Gruppen versucht
hat, Abhilfe für eine Vielzahl von Alltags- und anderen Problemen zu schaffen, zumeist im Rahmen humanitärer Wertvorstellungen (Fleischmann/
Steinhilper 2017).
KEIN DEUTSCHES
ALLEINSTELLUNGSMERKMAL
In Deutschland betrachteten Bürgerinnen und Bürger direkte Hilfe für Asylsuchende als die zentrale migrationspolitische Handlungsoption während
der ‚Flüchtlingskrise‘ (Weisskircher/Hutter 2019). Der Fokus auf solche Initiativen war jedoch kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Auch in anderen
europäischen Ländern versuchten viele Gruppierungen, Asylsuchende zu
unterstützen. In Österreich wurde ‚Willkommenskultur‘ gar zum Wort des
Jahres 2015 gewählt – definiert als „Einstellungen und Handlungen, die angesichts des Leids von Kriegsflüchtlingen helfen, dass diese wieder ein Leben in Sicherheit und Freiheit führen können“ (Die Presse, 03.12.2015). Abbildung 4 zeigt eine Impression der ‚Willkommenskultur‘ am Wiener Westbahnhof im August 2015 – Menschen empfingen Asylsuchende und halfen
ihnen bei ihrer Ankunft. Jenseits der Zielländer engagierten sich auch auf
der Westbalkan-Route Tausende Menschen in der Hilfe für Asylsuchende:
Während in Ungarn der Aktivismus von Juni bis September 2015 am stärksten war, d. h. vor der Schließung der Grenze zu Serbien, war in Serbien
danach die Hilfe am größten (Milan/Pirro 2018).
Wer engagierte sich im Rahmen der ‚Willkommenskultur‘? Gottschalk und Zajak
(2018) betonen die große Anzahl an neuen kollektiven Akteuren in Deutschland, oftmals weder formell in Vereinen organisiert noch in bestehende Verbände eingegliedert. Umfragedaten werfen ein genaueres Licht auf das zivilgesellschaftliche Engagement in Deutschland während der ‚Flüchtlingskrise‘
(Karakayali/Kleist 2016): Mehr als ein Viertel war in selbstorganisierten Gruppen
tätig – das war rund doppelt so viel wie in Vereinen. Auf Kirchen und religiöse
Vereinigungen verwiesen rund zehn Prozent der Befragten. Zwar entsprachen
Engagierte im Jahr 2015 eher dem Bevölkerungsdurchschnitt als solche im Jahr
2014, es gab jedoch weiterhin deutliche Abweichungen, allen voran, was das
Geschlecht betrifft; rund drei Viertel der Engagierten waren weiblich. Dabei war
eine Vielzahl der 2015 Engagierten zum ersten Mal im Bereich der Migration
tätig – ein Umstand, der die Mobilisierungskraft der ‚Krise‘ unterstreicht. Für
andere Länder gibt es ähnliche Beobachtungen: Auch im Falle Italiens waren
viele Aktive innerhalb der Flüchtlingshilfe seit 2015 zuvor noch nicht migrationspolitisch organisiert, stammten aber oftmals aus linken Milieus oder dem
kirchlichen Umfeld (Zamponi 2018: 104).
Die Aktivistinnen und Aktivisten der ‚Willkommenskultur‘ leisteten eine
Vielzahl unterschiedlicher direkter Hilfeleistungen. Zu ihren wichtigsten
Aktionsformen gehörten Sprachunterricht, die Unterstützung anderer Ehrenamtlicher, andere praktische Hilfe, Behördengänge, das Spenden von
Gegenständen, die Annahme oder das Sortieren von Spenden, Beziehun-
52
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
Abb. 4: Asylsuchende werden am Wiener Westbahnhof im August 2015
empfangen
Quelle: Erzdiözese Wien / Foto: Stefanie J. Steindl
gen zur lokalen Gemeinde, Öffentlichkeitsarbeit, Fahrdienste, Kontakte
zu den Behörden und die Familienbetreuung (diese Aktivitäten nannten
in Deutschland mindestens 25 Prozent der Befragten) (Karakayali/Kleist
2016). Gottschalk und Zajak (2018) betonen Tätigkeitsbereiche wie Bildung,
die medizinische und psychologische Versorgung und die Hilfe zur Integration ins Berufsleben.
Der Fall Österreich zeigt die Ambivalenzen dieses zivilgesellschaftlichen
Handelns: Zum einen war zivilgesellschaftliche Partizipation essenziell, um
notwendige Arbeit in der Aufnahme und der Integration von Asylsuchenden zu leisten – da die Regierung nicht ausreichend vorbereitet war, alle
notwendigen Tätigkeiten durchzuführen. Zum anderen waren zivilgesellschaftliche Akteure mit vielen Hürden konfrontiert: Selbst die großen Organisationen waren überfordert – nicht wegen eines Mangels an vorhandenen Arbeitskräften, sondern wegen Schwierigkeiten bei der Organisation
und Koordinierung von Menschen und Ressourcen sowie der prekären Finanzierungslage (Simsa 2017).
Was waren die Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten während der
‚Willkommenskultur‘? Viele Aktiven waren der EU-Migrationspolitik weitaus
weniger kritisch eingestellt als die oben genannten linken Protestgruppen,
NGOs und Verbände:
EINE UNPOLITISCHE
‚WILLKOMMENSKULTUR‘?
„Fast alle Befragten, 97 Prozent, gaben an, die Gesellschaft zumindest im
Kleinen mitgestalten zu wollen, was auf ein hohes politisches Bewusstsein
verweist. Doch über die politischen Ziele sind sie sich weniger einig. Zwar
sehen 90 Prozent in ihrem Engagement eine Stellungnahme gegen Rassismus, im höheren Alter sogar vermehrt, doch weniger als die Hälfte sieht darin
auch einen Ausdruck gegen staatliche Flüchtlingspolitik, wobei Jüngere diese
Einschätzung mit 60 Prozent häufiger teilen.“
(Karakayali/Kleist 2016: 4-5)
Viele Engagierte nahmen ihre Hilfe als ‚unpolitisch‘ wahr, d.h. in keinen
größeren migrationspolitischen Zusammenhang eingebettet, sondern
als lokal bzw. regional begrenzte Reaktion auf eine Krisenlage – im Rahmen eines als politisch neutral interpretierten Humanitarismus, der
auf grundsätzlichen Werten wie Menschenwürde basiert (Fleischmann/
Steinhilper 2017). Dieser Fokus auf das vermeintlich ‚Unpolitische‘ trifft
53
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
jedoch nicht in allen Kontexten und auf alle Akteure gleichermaßen zu.
Zwar verzichteten viele Engagierte auf weitrechende politische Forderungen, sie deuteten ihr Handeln jedoch als gesellschaftliches Zeichen gegen
einen xenophoben Rechtsruck (Karakayali 2017). Sinatti (2019) zeigt für
den Fall von Aktivistinnen und Aktivsten in Mailand, dass deren humanitäres Engagement auch zu einem verstärkten migrationspolitischen
Bewusstsein und einem kritischen Hinterfragen des migrationspolitischen Kontexts geführt hat. Viele Helfende in Serbien betonten durchaus
ihre politische Perspektive auf das Geschehen und übten Kritik an der
EU-Migrationspolitik, während in Ungarn Kritik an der Orbán-Regierung
geäußert wurde (Milan/Pirro 2018).
NACHHALTIGKEIT DER
‚WILLKOMMENSKULTUR‘
Einige Organisationen und Gruppen haben es geschafft, auf der subnationalen Ebene langfristig tätig zu sein. Auf Berlin, Mannheim und Starnberg
bezugnehmend, argumentiert Speth (2017: 54-55): „Auch wenn inzwischen das Engagement in den Helferkreisen etwas zurückgegangen ist,
so ist doch festzustellen, dass fast alle Helferkreise nach wie vor bestehen
und die Hilfe für Geflüchtete ein fester Bestandteil der kommunalen Infrastruktur geworden ist“. Ähnlich wie seit den 1990er-Jahren haben sich
oftmals lose Gruppen im Bereich der Migrationshilfe nach und nach professionalisiert (Hamann et al. 2016: 8).
Das Engagement von Ehrenamtlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Rahmen der unmittelbaren Flüchtlingshilfe hat vielerorts zu
neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen kommunalen Verwaltungen, Migrantenorganisationen, Wohlfahrtsverbänden und Kultureinrichtungen geführt und damit Netzwerke entstehen lassen, die zukünftig helfen können, sowohl neue Teilhabe- und Teilnahmestrukturen auf lokaler
Ebene dauerhaft zu etablieren wie auch Formen und Foren nachhaltig
wirksamer Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern zu gewährleisten.
POLITISCHER PROTEST VON RECHTSAUSSEN:
‚FESTUNG EUROPA‘ GEGEN ‚ISLAMISIERUNG‘.
Während vor der ‚Flüchtlingskrise‘ die Immigrationsgegner im Feld der Zivilgesellschaft eine klare Minderheit darstellten, gab es in den letzten Jahren einen Anstieg ihrer Protestveranstaltungen (Dolezal 2018). Dabei geht
jedoch im Regelfall nur eine geringe Anzahl an Menschen auf die Straße
– die Beteiligung ist deutlich niedriger als bei vielen der von ‚progressiven‘
Akteuren initiierten Aktionsformen (Hutter 2014).3 Nichtsdestotrotz sind
Immigrationsgegner punktuell in der Lage, signifikante mediale Aufmerksamkeit für ihre Aktionen zu erzielen – oftmals mehr als andere Akteure
der Zivilgesellschaft.
‚KULTURELLE BEDROHUNG‘
EUROPÄISCHER IDENTITÄT
Was Akteure am rechten Rand des politischen Spektrums eint, sind äußerst
restriktive migrationspolitische Vorstellungen, vor allem in Bezug auf Einwanderung von außerhalb Europas. Diese manifestieren sich auch in diskriminierenden und rassistischen Konzepten. Viele betonen eine gemeinsame europäische, manchmal gar christlich-jüdische Identität, vor allem in
Abgrenzung zu außereuropäischer Einwanderung von Musliminnen und
Muslimen (Cajani/Weisskircher 2020), die nicht vorwiegend als ökonomische, sondern als kulturelle Bedrohung dargestellt werden. Doch auch
immigrationsfeindliche zivilgesellschaftliche Akteure sind kein homogener
Block. Unterschiede gibt es vor allem in Bezug auf ihre Aktionsformen.
3 Pegida in Dresden stellte also nicht nur im deutschen Vergleich eine Ausnahme dar (Vorländer et
al. 2018). Pegida-Ableger in anderen europäischen Ländern wie Norwegen, Österreich, Schweiz und
Schweden scheiterten daran, eine signifikante Anzahl von Anhängern auf die Straße zu bringen
(Berntzen/Weisskircher 2016; vgl. Abb. 5).
54
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
Die Identitäre Bewegung ist wohl, neben Pegida, das bekannteste aktuelle
Beispiel eines zivilgesellschaftlichen Akteurs von Rechtsaußen, der gegen die
Immigration von Musliminnen und Muslime auftritt. Die Gruppierung ist seit
einigen Jahren in Deutschland und Österreich aktiv, wurde aber bereits im Jahr
2002 in Frankreich gegründet. Obwohl die Gruppierung sich oftmals das moderne Image einer ‚Hipster-Rechten‘ geben möchte, propagiert auch sie das
alte rassistische Konzept des ‚Großen Austauschs‘, geprägt vom französischen
Schriftsteller Renaud Camus. Dabei nehmen die deutschen Identitären auf den
gesamten europäischen Kontinent Bezug:
„Die ungebremste Masseneinwanderung und die daraus resultierende
Islamisierung bezeichnet die Identitäre Bewegung als den Großen Austausch.
Durch niedrige Geburtenraten der deutschen und europäischen Völker
bei gleichzeitiger massiver muslimischer Zuwanderung werden wir in nur
wenigen Jahrzehnten zu einer Minderheit im eigenen Land.
Der Große Austausch findet statt. Er bezeichnet die Tendenz einer schrittweisen
Verdrängung der einheimischen Bevölkerung zugunsten fremder und zumeist
muslimischer Einwanderer. Die Fortsetzung der aktuellen Familien- und
Einwanderungspolitik wird nach allen zugrundeliegenden mathematischen
Modellen das Verschwinden der Deutschen und Europäer in ihren eigenen
Ländern zur Folge haben.“
(Identitäre Bewegung, undatiert)
Die Aktionsformen der Identitären zeichnen sich durch eine hohe mediale
Aufmerksamkeit aus, obwohl die Anzahl der Teilnehmenden typischerweise gering ist (Castelli Gattinara/Froio 2019). Dabei sind sie in ein weit
größeres Netzwerk rechtsradikaler und rechtsextremer Akteure eingebettet (Fuchs/Middelhoff 2019; Weiß 2017). Das bekannteste Beispiel für eine
Aktion der Identitären in Deutschland war die Besetzung des Brandenburger Tors im August 2016, wo das Banner „Sichere Grenzen – sichere Zukunft“ ausgerollt wurde. Außerdem ist Identitären-Aktivist Martin Sellner
häufig als Redner bei Pegida-Kundgebungen in Dresden zu Gast. Größere
Aufmerksamkeit erhielten die Identitären aber in Österreich – nicht nur
auf Grund persönlicher Kontakte zu Politikerinnen und Politikern der ehemaligen Regierungspartei FPÖ. Zu den Aktivitäten der Identitären in Österreich zählten die Unterbrechung eines Theaterstücks zum Thema Asyl,
die öffentliche ‚Aufführung‘ einer terroristischen Enthauptung auf einer
Wiener Einkaufsstraße und die Besetzung des Balkons der EU-Grundrechteagentur. Nach der Bekanntgabe, dass der rechtsextreme Attentäter von
Christchurch vor seinen Morden Spenden an die österreichischen Identitären überweisen hat, erfolgt im Moment eine Debatte über ihr mögliches
Verbot.
MEDIENWIRKSAME
AKTIONEN
Klassischer Aktionsformen bedient sich die English Defence League. Sie wurde
im Jahr 2009 in der englischen Stadt Luton gegründet. Die zentralen Aktivitäten
der English Defence League waren Demonstrationen gegen ‚Islamisierung‘. Zu
ihren Hochzeiten konnte sie bis zu 2000 Menschen in einer Vielzahl von englischen Kleinstädten mobilisieren – doch oftmals waren es weniger als 1000.
Seit einem kurzen Wiedererstarken der Demonstrationen Ende Mai und Anfang Juli 2013, nach der Ermordung eines britischen Soldaten, ist die English
Defence League weitgehend von der öffentlichen Bildfläche verschwunden
(Morrow/Meadowcroft 2018). Dies unterstreicht, dass selbst relativ prominente
Anti-Migrations-Gruppierungen nicht unbedingt langfristig stark mobilisieren.
Ein interessanter Aspekt ihrer Organisationsstruktur ist das Bestehen, zumindest auf dem Papier, von Teilorganisationen für diverse Minderheiten, z.B. die
LGBT-Community, Hindus, Jüdinnen und Juden. Dieser Organisationsstruktur
entspricht der zunehmende partielle Einbezug liberaler Elemente in nativistischen und islamophoben Ideologien, oftmals mit Verweis auf den vermeintlich
fehlenden Liberalismus bei muslimischen Einwanderinnen und Einwandern
KLASSISCHE
PROTESTFORMEN
55
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
Abb. 5: Protest gegen Identitäre Bewegung
Quelle: Studierendenrat TU Dresden
(Berntzen 2019; Pilkington 2016). Die englische Identität der Organisation ist
auch mit einer europäischen Identität kompatibel, wie sie in ihrem zentralen
politischen Dokument betont:
“We work in solidarity with others around the world – The EDL is keen to join with
others who share our values, wherever they are in the world, and from whatever
cultural background they derive. We believe that the demand for sharia and the
pressure for Islamification are global and unremitting. They need to be tackled
at a global as well as national level, so that these demands will never be succumbed to. The EDL therefore has an international outlook to complement our
domestic efforts. We contribute to the global struggle against Islamic intolerance
of Western cultures, customs, religions, politics, and laws. The time for tolerating
intolerance has come to an end: it is time for the civilised world to unite against a
truly Global Jihad, in all its forms.“
(English Defence League 2016)
Für eine solche ‚internationale‘ Positionierung stand die Idee der European
Defence League mit verschiedenen Ablegern, zum Beispiel in Dänemark,
Deutschland und Norwegen (der rechtsextreme Massenmörder Anders
Behring Breivik stand der norwegischen Gruppe nahe). Diese kamen jedoch nie an die Mobilisierungsstärke des Originals heran.
Die Soldiers of Odin sind eine Gruppe, die erst im Zuge der ‚Flüchtlingskrise‘ im Oktober 2015 gegründet wurde. Ihr Ursprung liegt in Kemi, einer
finnischen Grenzstadt zu Schweden. Die wesentliche Aktionsform der Soldiers of Odin sind Straßenpatrouillen: Als selbsternannte Sicherheitswachen behaupten sie, die Bevölkerung vor vermeintlichen Gefahren durch
Immigrantinnen und Immigranten zu schützen. Auch außerhalb Finnlands
bildeten sich Ableger, und zwar nicht nur im Baltikum oder in Deutschland,
sondern sogar in Kanada. Die transnationale Vernetzung von Anti-Immigrations-Akteuren ist also auch im Fall der Soldiers of Odin evident. Der bayrische Verfassungsschutzbericht 2018 betont die Gefahr der Gruppe:
„Die seit 2017 in Bayern aktive rechtsextremistische Gruppierung ‚Soldiers of Odin Germany Division Bayern‘ (SOO) führte bis einschließlich
März verstärkt sogenannte Spaziergänge in Augsburg, Donauwörth,
Kempten im Allgäu, München und Würzburg durch. Die SOO gebärdete
sich bei diesen Streifen faktisch als Bürgerwehr und stellte das staatliche
Gewaltmonopol in Frage.“
(Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration 2018: 118)
56
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
In Bezug auf ihre Aktionsform ist die Military Veterans Union „Vasil Levski“
ein noch extremerer Fall. Sie besteht aus wenigen Aktivistinnen und Aktivisten in Bulgarien, im Grenzraum zur Türkei, das heißt einer Außengrenze der EU. Der Name nimmt auf den Revolutionär Vasil Levski Bezug, der
im 19. Jahrhundert für die Unabhängigkeit Bulgariens vom Osmanischen
Reich kämpfte. Auch die Military Veterans Union bezieht sich auf eine
Verteidigung der ‚Festung Europa‘ mit dem Ziel, die Einwanderung von
Musliminnen und Muslimen – in ihrem Wortgebrauch ‚Eroberung‘ – zu
verhindern. Ihre bekannteste Aktionsform sind paramilitärische Grenzpatrouillen und das gewaltsame Festhalten von Migrantinnen und Migranten. Manche Videos dieser Taten fanden ihren Weg in die internationale,
z. B. deutsche und britische, Medienlandschaft. So beteiligte sich auch
Tatjana Festerling, ehemalige Pegida-Aktivistin, in Bulgarien an solchen
Aktionen (Volk 2020: 9).
GEWALTSAME
AKTIONSFORMEN
Jenseits von rechtspopulistischen Parteien tragen also auch zivilgesellschaftliche Akteure von Rechtsaußen den politischen Konflikt um Einwanderung nach Europa aus – und das in vielen verschiedenen Ländern nicht
mehr nur als geschlossene Subkultur, sondern mit klaren Versuchen, die
öffentliche Debatte zu beeinflussen. Was diese Gruppen eint, sind ihre
niedrige Anzahl an aktiven Mitgliedern – selbst bei manchen der hier genannten, relativ prominenten Beispielen.4 Vor allem Internetplattformen
geben ihnen die Möglichkeit, ihre (kultur-)rassistische Propaganda zu verbreiten. Diese beinhaltet kaum konkrete migrationspolitische Vorstellungen – stattdessen betonen diese Akteure ihre allgemeine Ablehnung der
Einwanderung von Musliminnen und Muslimen sowie eine kulturelle bzw.
zivilisatorische Identifikation mit ‚Europa‘ – indes nicht mit der EU – in
Abgrenzung zum Islam.
AUSBLICK
Migrationsfreundliche zivilgesellschaftliche Akteure sind zwar nicht immer
am lautesten, sie sind jedoch seit langem, zumindest in Bereich der öffentlichen Protestveranstaltungen, in der Überzahl (Hutter 2014). Die mögliche
Verstetigung der ‚Willkommenskultur‘ könnte hier zu einem nachhaltigen
Wachstum des migrationspolitischen Aktivismus führen.
Neben den bereits angeführten zivilgesellschaftlichen Aktionsformen ist zunehmend auch die Online-Sphäre von großer migrationspolitischer Bedeutung. Dies hat nicht unbedingt immer positive Konsequenzen. Eine großangelegte Studie für alle 28 EU-Mitgliedsländern zeigt, dass der Online-Migrationsdiskurs von negativen Bildern bestimmt ist: Der Konflikt um kulturelle
Werte wie Identität und Bräuche prägt, neben sicherheitspolitischen Aspekten, die Auseinandersetzung (Bakamo Social 2019). Rechtsradikale und
rechtsextreme Akteure sind hier wesentliche Triebfedern (Fielitz/Thurston
2019) – sie sind in der Lage, neue Technologien als „Radikalisierungsmaschinen“ (Ebner 2019) zu nutzen. Zwar wurden in den Jahren 2018 und 2019
die öffentlichen Facebook- und Instagram-Profile vieler Rechtsaußen-Akteure, beispielsweise der Identitären und der Englischen Defence League,
gesperrt. Auf anderen Plattformen sind sie jedoch weiterhin existent, wie
etwa der Aktivist der Identitären Bewegung, Martin Sellner, auf YouTube.
ZIVILGESELLSCHAFT UND
ONLINE-AKTIVISMUS
4 Die vergleichsweise geringe Anhängerschaft zivilgesellschaftlicher Akteure gegen Einwanderung ist auch
daran zu erkennen, dass sie in vielen Ländern kaum öffentlich in Erscheinung treten: Selbst in den VisegrádStaaten, deren Regierungen auf Grund ihrer restriktiven migrationspolitischen Einstellungen regelmäßig
im medialen Rampenlicht stehen, gibt es nur eine niedrige Anzahl von Anti-Immigrationsprotesten. Dies
ist auch deshalb der Fall, weil in Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn auch Mainstream-Parteien
islamophobe Diskurse bedienen, was zu einer Reduktion von Straßenmobilisierung führt (Hafez 2018).
57
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN POLITIK UND ZIVILGESELLSCHAFT
Der vorläufige Befund ist: Der Online-Debatte mangelt es an einem populären positiven Migrationsnarrativ (Bakamo Social 2019). Eine wesentliche
Herausforderung ‚migrationsfreundlicher‘ zivilgesellschaftlicher Akteure
wird es sein, neue Migrationsnarrative zu etablieren, die in der Sphäre der
Online-Kommunikation Widerhall finden.
58
DER KONFLIKT UM MIGRATION IN DER ZIVILGESELLSCHAFT
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61
C
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
DEUTSCHLAND
UND DIE MIGRATIONSFRAGE
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
1 GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
EINSTELLUNGEN ZU MIGRATION IM OST-WEST-VERGLEICH
Zusammenfassung
Die Beurteilung von Migration und Migranten ist im Osten und im Westen
Europas höchst unterschiedlich. Vor allem in den ehemals sozialistischen
Staaten Mittel- und Osteuropas werden die Folgen von Zuwanderung im
Schnitt deutlich negativer beurteilt, stoßen Zugewanderte auf mehr Ablehnung und sind Bedrohungswahrnehmungen gegenüber ‚Fremden‘ stärker
ausgeprägt als in Westeuropa.
Ein ebenfalls nachweisbarer Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland fügt sich allerdings nicht in dieses europäische Ost-West-Muster ein.
So ist die Einstellung gegenüber Zugewanderten in Ostdeutschland deutlich
positiver als in anderen ehemals sozialistischen Regionen Europas und entspricht eher dem typischen Niveau westeuropäischer Staaten.
Eine gewisse Ausnahme bildet hier die Ablehnung von Muslimen. Sie ist in
Ostdeutschland deutlich ausgeprägter als im Westen Deutschlands und Europas, allerdings immer noch geringer als in den meisten anderen Staaten
Mittel- und Osteuropas.
Auch die mit ‚Ausländern‘ assoziierten Bedrohungsgefühle sind in Ostdeutschland deutlich stärker ausgeprägt als in Westdeutschland, bewegen
sich dabei allerdings auf einem ähnlichen Niveau wie etwa in Italien oder
Österreich. Besonders verbreitet ist in Ostdeutschland hingegen die Angst
vor Kriminalität durch Zugewanderte und vor einer durch Migration verursachten Belastung der Sozialsysteme.
Die migrationsbezogenen Orientierungen der Westdeutschen hingegen fallen nochmals deutlich positiver aus als in allen anderen Regionen Europas.
Insgesamt kann damit im europäischen Vergleich sowohl den neuen als
auch den alten Bundesländern eine gewisse politisch-kulturelle Sonderstellung attestiert werden.
POLARISIERUNG IN DEUTSCHLAND
Die Wahlergebnisse der Jahre 2018 und 2019 haben innerhalb Deutschlands
eine politisch-kulturelle Spaltungslinie immer deutlicher hervortreten lassen.
War es zunächst vor allem die Nachfolgepartei der SED, die als PDS, Linkspartei
bzw. DIE LINKE in den neuen, nicht aber in den alten Bundesländern regelmäßig
Wahlergebnisse von über 20 Prozent erringen konnte, so trifft dies nun ebenso
auf die Alternative für Deutschland (AfD) zu. Zwar erreicht die Partei mittlerweile auch in westdeutschen Flächenländern regelmäßig zweistellige Stimmenanteile, was jedoch deren Höhe und die Struktur ihrer Wählerschaft betrifft, ist die
AfD mit ihren jüngsten Ergebnissen der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen
und Brandenburg sowie dem starken Abschneiden bei den Wahlen zum Europäischen Parlament insbesondere in Ostdeutschland zu einer Art ‚Volkspartei‘
aufgestiegen. Dort wird sie mittlerweile gar als Vertreterin typisch ostdeutscher
Interessen wahrgenommen (Herold 2019: 9).
DIE WAHLERGEBNISSE VON AFD
UND BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ganz anders verhält es sich hingegen mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Während die Grünen in den westdeutschen Bundesländern als sympathische
Stimme der mittleren und jüngeren Generationen gelten und inzwischen
ebenfalls von beinahe allen gesellschaftlichen Schichten gewählt werden,
erscheinen die von ihnen vertretenen Positionen in der Wahrnehmung vie63
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Abb. 1: Zweitstimmenergebnisse von AfD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei
Landtagswahlen 2018-2019 in Ost- und Westdeutschland
Zweistimmen AfD
30 %
Zweistimmen Grüne
27,5
25 %
23,5
23,4
20 %
19,8
17,6
17,4
15 %
13,1
10,8
10 %
5%
10,2
8,6
6,1
5,2
0%
Thüringen
27.10.2019
Sachsen
01.09.2019
Brandenburg
01.09.2019
Ostdeutschland
Bremen
26.05.2019
Hessen
28.10.2018
Bayern
14.10.2018
Westdeutschland
Quelle: Landeswahlämter / Eigene Darstellung
Abb. 2: Wahlen zum Europäischen Parlament am 26.05.2019, Stimmenanteile
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und AfD nach Landkreisen und kreisfreien Städten
Quelle: Stahnke/Tröger/Venohr 2019
ler Ostdeutscher eher als typisches Produkt der ‚alten BRD‘. Im Zuge einer
anwachsenden politischen Polarisierung werden die Grünen hier nicht nur
als Interessenvertretung einer akademisch gebildeten und wirtschaftlich saturierten Oberschicht wahrgenommen, sondern gelten bisweilen auch als
politische Repräsentanz jenes „kulturellen Kolonialismus“1, der in den Augen
vieler Ostdeutscher bis heute eine Deutungshoheit des Westens über den
Osten begründet.
Das Ergebnis dieser Gemengelage aus stärkeren Vorbehalten gegen die
GRÜNEN bei einer deutlich positiveren Beurteilung der AfD im Osten
und einer umgekehrten Situation im Westen führte dazu, dass eine politisch-kulturelle Spaltungslinie innerhalb Deutschlands mittlerweile auch in
geografischer Hinsicht abbildbar ist (Abb 1-2, vgl. hierzu Koppetsch 2019;
Zick et al. 2019).
1 Der Begriff stammt vom Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger
(Decker 2017).
64
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
Doch nicht nur im Hinblick auf Wahlergebnisse und politische Mehrheiten zeigt sich hier ein deutlicher Unterschied zwischen Ost und West.
Auch auf der Ebene von Wahrnehmungen, Deutungen und Zuschreibungen scheinen sich beide Landesteile zunehmend wechselseitig
zu befremden. Insbesondere bei der Beurteilung von Zuwanderung,
Flüchtlingsaufnahme und Asylpolitik tritt dieser Gegensatz immer wieder als offener Konflikt zutage. So gelten die neuen Bundesländer aus
Sicht vieler Westdeutscher typischerweise als Hort von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, was allerdings nicht im Geringsten
der Selbstwahrnehmung jener entspricht, die etwa in Ostdeutschland
öffentlich migrationskritische Positionen artikulieren (Vorländer et al.
2018: 73 ff.). Während viele Westdeutsche dem Osten des Landes mit
Besorgnis, Unverständnis und Ratlosigkeit begegnen und angesichts
des dortigen Wahlverhaltens regelmäßig auf angeblich gebrochene
Biografien, autoritäre Prägungen, fehlende demokratische Bildung,
abgehängte Landstriche und verbitterte Menschen verweisen, ist die
Gegensicht vieler Ostdeutscher auf ‚den Westen‘ meist ebenso von Stereotypen und Pauschalisierungen geprägt, in denen ‚den Wessis‘ etwa
notorischer Egoismus, post-materialistische Wohlstandsdekadenz und
der Hang zu moralischem Totalitarismus unterstellt wird.
WECHSELSEITIGE
ZUSCHREIBUNGEN ZWISCHEN
OST- UND WESTDEUTSCHEN
Die politische Kultur der alten Bundesländer wird dabei in der Regel als
‚typisch westeuropäisch‘ angenommen, Wahlverhalten und politische Einstellungen in Ostdeutschland erinnern viele Beobachter hingegen eher an
die Situation in anderen Regionen Mittel- und Osteuropas, die ebenfalls
bis 1990 dem sowjetischen Einflussbereich unterworfen waren. „Wäre Ostdeutschland heute ein eigenständiger Staat“, so lautet die bekannte Schlussfolgerung, „dann hätte er vermutlich eine den Polen oder Ungarn ähnelnde
Regierungspolitik, die peinlichst auf Grenzschutz, patriotische Biederkeit,
ethnische Homogenität und nationale Souveränität abzielt“. Lediglich die
politische Hegemonie des Westens im vereinten Deutschland scheint in
den neuen Bundesländern vorerst eine Entwicklung zu hemmen, wie sie in
anderen Regionen des ehemaligen Ostblocks zu besichtigen ist. Vor allem
was die Wahrnehmung und Bewertung von Migranten, Asylsuchenden und
Flüchtlingen angeht, scheint sich ein neuer Ost-West-Gegensatz innerhalb
Europas en miniature auch innerhalb Deutschlands selbst abzuspielen (Soboczynski 2018: 46; Wike et al. 2019; Rainer et al. 2018; MIDEM 2018).
SIND DIE UNTERSCHIEDLICHEN
EINSTELLUNGEN ZU MIGRATION
IN OST- UND WESTDEUTSCHLAND
MIT DENEN IN OST- UND
WESTEUROPA VERGLEICHBAR?
Die Differenz der migrationspolitischen Einstellungen, die in Deutschland die östlichen und die westlichen Bundesländer trennt, wird also
im Großen und Ganzen für dieselbe gehalten, die auch innerhalb der
EU – etwa bei der Suche nach einer gemeinsamen Flüchtlings- und
Migrationspolitik – ost- und westeuropäische Anschauungen regelmäßig kollidieren lässt. Doch ist diese Vermutung auch empirisch überprüfbar? In welchem Verhältnis stehen ost- und westdeutsche Einstellungsunterschiede zu denen in Ost- und Westeuropa? Sind die in den
ostdeutschen Bundesländern verbreiteten Vorstellungen zu Flüchtlingen, Migration und ‚Ausländern‘ tatsächlich als ‚typisch osteuropäisch‘, die in den sogenannten alten Bundesländern vorherrschenden
Orientierungen als ‚typisch westeuropäisch‘ zu bezeichnen?
Eine zuverlässige Beantwortung dieser Fragen kann nur auf Umfragedaten basieren, die die migrationsbezogenen Orientierungen der
Menschen europaweit erfassen, dabei aber dennoch nach einzelnen
Ländern und, im Falle Deutschlands, gar nach einzelnen Regionen unterscheidbar machen. Diese Voraussetzungen werden von der European Values Study (EVS) erfüllt – einer transnationalen, empirischen Langzeitstudie, die seit 1981 europaweit Vorstellungen zu Familie, Arbeit,
Religion, Politik und Gesellschaft abfragt und deren jüngster Datensatz
seit Sommer 2019 vorliegt.
65
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
INFOBOX – European Values Study
Bei der European Values Study (EVS) werden seit 1981 alle neun Jahre Umfragen durchgeführt, die Einblicke in die Ideen, Vorstellungen, Präferenzen, Einstellungen, Werte und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger
Europas ermöglichen. Im Rahmen der jüngsten Erhebungswelle wurden
zwischen 2017 und 2019 rund 37.000 Interviews geführt.
Zur Grundgesamtheit der EVS zählt die Bevölkerung der jeweiligen Länder ab 18 Jahren, die Stichprobenauswahl basiert auf dem Zufallsprinzip
verschiedener Single- und Multi-Stage-Verfahren. Zum Einsatz kommen
dabei überwiegend computergestützte persönliche Interviews (sogenannte Computer Assisted Personal Interviews, CAPI), wobei einige Länder
in der jüngsten Welle auch auf gemischte Erhebungsformen zurückgreifen und teilweise postalische Befragungen und Online-Befragungen mit
persönlichen Interviews kombinieren. Die Untersuchungen werden in
jedem teilnehmenden Land in all jenen Sprachen durchgeführt, die von
mindestens fünf Prozent der Bevölkerung gesprochen werden.
In diesen Daten der European Values Study können insgesamt drei verschiedene Fragekomplexe identifiziert werden, die auf den Umgang mit Migration gerichtet sind (Abb. 3). Diese fragen im Einzelnen nach:
1. der allgemeinen Beurteilung von Zuwanderung,
2. dem Ausmaß an Ablehnung gegenüber Zugewanderten im unmittel baren Lebensumfeld sowie
3. den mit Zugewanderten assoziierten Bedrohungswahrnehmungen.
Abb. 3: Migrationsbezogene Items in der European Values Study (EVS)
in der European Values Study
Eigene Darstellung
66
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
WELCHEN EINFLUSS HAT ZUWANDERUNG AUF DIE ENTWICKLUNG
EINES LANDES?
Bei der allgemeinen Beurteilung von Zuwanderung können die Befunde
der EVS zunächst insofern die eingangs beschriebene Vermutung bestätigen, als dass die jeweiligen Einschätzungen der Befragten in Ost- und
Westdeutschland deutlich auseinandergehen. Tatsächlich ähneln die
Werte für Ostdeutschland hier denen einiger anderer postsozialistischer
Staaten, die Werte für Westdeutschland eher denen von Frankreich oder
Italien. Allerdings lässt sich im europäischen Vergleich hier keine eindeutige Ost-West-Differenz abbilden. So sieht etwa in Polen ein deutlich größerer Anteil der Befragten einen positiven Einfluss von Zuwanderung auf
die Entwicklung des Landes als beispielsweise in den Niederlanden, in
Österreich hingegen wird Immigration allgemein negativer beurteilt als in
Rumänien (Abb. 4).
BEURTEILUNG DER FOLGEN
VON ZUWANDERUNG IN
OSTDEUTSCHLAND ÄHNLICH
NEGATIV WIE IN OSTEUROPA
Abb. 4: Bewertung des Einflusses von Zugewanderten für die Entwicklung des eigenen Landes in einzelnen Staaten
negativ
100 %
weder positiv noch negativ
positiv
90 %
80 %
70 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
Tschechien
Ungarn
Ostdeutschland
Slowakei
Österreich
Bulgarien
Italien
Westdeutschland
Schweden
Kroatien
Estland
Niederlande
Dänemark
Frankreich
Litauen
Polen
Rumänien
Finnland
Großbritannien
Slowenien
Spanien
0%
Quelle: European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
ABLEHNUNG UND UNGLEICHBEHANDLUNG VON ZUGEWANDERTEN
Bei der Ablehnung von bestimmten Personengruppen ist die Zuordnung
des in den beiden deutschen Landesteilen ermittelten Antwortverhaltens
ähnlich differenziert zu beurteilen. Hier wurden rund 37.000 Menschen in
verschiedenen europäischen Staaten danach befragt, ob sie bestimmte
Personengruppen „nicht gern als Nachbarn hätten“. Unterscheidet man die
dabei erhaltenen Antworten nach den entsprechenden Ländern, so ergibt
sich zunächst ein eindeutiges Bild, das die Einstellungen der Menschen in
Ost- und Mitteleuropa als deutlich negativer als jene in West- und Südwesteuropa ausweist. Um ein Vielfaches höher als in sämtlichen westeuropäischen Ländern ist etwa der Anteil der Befragten in Ungarn, Bulgarien und
Tschechien, die Migranten und ausländische Arbeitskräfte als Nachbarn
ablehnen (Abb. 5).
ABLEHNUNG VON
ZUGEWANDERTEN IN
OSTDEUTSCHLAND ETWA AUF
DEM NIVEAU WESTEUROPAS
67
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Abb. 5: Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die Zugewanderte nicht gern als Nachbarn hätten
Tschechien
Bulgarien
Ungarn
Slowakei
West- und Ostdeutschland
Litauen
Rumänien
Estland
Slowenien
Mittel- und Osteuropa
Kroatien
Österreich
Polen
Niederlande
Ostdeutschland
Spanien
Finnland
Frankreich
Dänemark
Großbritannien
Westdeutschland
Schweden
Italien
Westeuropa
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0%
Abb. 6: Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die ‚Menschen anderer Hautfarbe‘ nicht gern als Nachbarn hätten
40 %
Westeuropa
Mittel- und Osteuropa
West- und Ostdeutschland
30 %
20 %
10 %
Bulgarien
Tschechien
Slowakei
Ungarn
Litauen
Slowenien
Rumänien
Estland
Spanien
Kroatien
Italien
Ostdeutschland
Österreich
Polen
Finnland
Niederlande
Westdeutschland
Frankreich
Dänemark
Großbritannien
Schweden
0%
Abb. 7: Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die Muslime nicht gern als Nachbarn hätten
Litauen
Tschechien
Slowakei
Ungarn
West- und Ostdeutschland
Polen
Rumänien
Estland
Ostdeutschland
Mittel- und Osteuropa
Slowenien
Finnland
Österreich
Spanien
Italien
Niederlande
Kroatien
Westdeutschland
Dänemark
Frankreich
Schweden
Großbritannien
Bulgarien
Westeuropa
70 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0%
Abb. 8: Anteile der Befragten nach Region, die bestimmte Personengruppen nicht gern als Nachbarn hätten
Menschen anderer Hautfarbe
40 %
Ausländer und ausländische Arbeitskräfte
30 %
20 %
10 %
0%
West- und Südwesturopa
Mittel- und Osteuropa
Quelle: European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
68
Westdeutschland
Ostdeutschland
Muslime
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
Interessant ist dabei jedoch, dass die Einschätzungen der ostdeutschen Befragten eher im Kreise der westeuropäischen Länder wiederzufinden sind, während
die Meinungen in Westdeutschland sich im europäischen Vergleich als überdurchschnittlich positiv gegenüber Migrantinnen und Migranten darstellen. Dies
gilt im Wesentlichen auch bei der Frage nach ‚Menschen anderer Hautfarbe‘, die
als ein klarer Indikator für klassisch rassistische Vorurteilsstrukturen interpretiert
werden kann. Mit Ausnahme von Polen und Kroatien ist auch hier ein klarer Gegensatz zwischen Ost- und Westeuropa erkennbar, wobei das Antwortverhalten
in Ostdeutschland allerdings eher dem der westeuropäischen und nicht dem der
meisten osteuropäischen Staaten entspricht (Abb. 6).
Wird dieselbe Frage nach der Akzeptanz bestimmter Personengruppen in der
unmittelbaren Nachbarschaft hingegen auf Muslime bezogen, so zeigt sich ein
etwas anderes Bild. Während die Verbreitung entsprechender Vorbehalte sich
in Staaten wie Kroatien und Bulgarien eher im westeuropäischen Mittel bewegt,
ähneln die für Ostdeutschland gemessenen Werte eher denen von Slowenien,
Estland oder Rumänien. Das höchste Niveau an Ablehnung ist allerdings für
Tschechien, die Slowakei und Litauen zu verzeichnen, wo bis zu zwei Drittel der
Befragten negativ gegenüber Muslimen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft
eingestellt sind (Abb. 7).
ABLEHNUNG VON MUSLIMEN IN
OSTDEUTSCHLAND STÄRKER ALS
IN WESTEUROPA, SCHWÄCHER
ALS IN OSTEUROPA
In allen drei Fällen ist jedoch ersichtlich, dass das für Ostdeutschland ermittelte
Antwortverhalten nicht dem anderer postsozialistischer Staaten entspricht. Am
ehesten könnte dies noch bei der Ablehnung gegenüber Muslimen angenommen
werden. Was aber die Bewertung von ‚Ausländern‘ und ‚Menschen mit anderer
Hautfarbe‘ betrifft, bewegen sich die Einschätzungen der Ostdeutschen eher auf
dem Niveau anderer westeuropäischer Staaten. Die Werte für Westdeutschland
hingegen weichen hier deutlich von denen anderer westeuropäischer Länder ab.
Wurden in Westeuropa im Schnitt bei elf Prozent der Befragten Vorbehalte ermittelt, traf dies im Westen Deutschlands gerade noch auf fünf Prozent zu (Abb. 8).
Betrachtet man die Vorbehalte gegenüber ‚Ausländern‘ und ‚ausländischen Arbeitskräften‘ im Zeitverlauf seit 19902, so kann wiederum festgestellt werden,
dass der Anteil der Menschen in Westeuropa, die keine ‚Ausländer‘ als Nachbarn
haben wollen, im Wesentlichen konstant bei etwa elf Prozent geblieben ist. In
Osteuropa jedoch war dieser Anteil über lange Zeit in etwa doppelt so hoch,
bevor zwischen 2008 und 2017 hier ein deutlicher Anstieg auf etwa 34 Prozent
zu verzeichnen war. Die Ablehnungsraten in Deutschland hingegen haben sich
seit 1990 eher abgeschwächt, wobei sich erneut zeigt, dass sich insbesondere
die Menschen in den alten Bundesländern seit Ende der 1990er-Jahre wesentlich
toleranter gegenüber ‚Ausländern‘ in der Nachbarschaft zeigen als die Befragten
in West- und Südwesteuropa (Abb. 9).
ABLEHNUNG VON ZUWANDERERN
IN OSTEUROPA STARK
ANGESTIEGEN
Dasselbe Muster findet sich in der Reaktion auf die Aussage, dass, „wenn
die Arbeitsplätze knapp“ sind, die Arbeitgeber Einheimische gegenüber
Ausländern bevorzugen sollten. Eine ähnliche Fragestellung wird regelmäßig auch in der deutschen politischen Kulturforschung zur Messung
ausländerfeindlicher Einstellungen verwendet.3 Die relativ hohen Zustimmungswerte in den neuen Bundesländern gelten hier als Indiz dafür, dass
die Bevölkerung Ostdeutschlands sich in besonders hohem Maße durch
xenophobe Einstellungen auszeichnet. Zwar existieren hier keine unmittelbaren Vergleichsdaten zu anderen europäischen Staaten, mit Hilfe der
European Values Study lässt sich jedoch teilweise abschätzen, wie ein solcher
Vergleich ausfallen würde. So ergibt eine Betrachtung des Antwortverhaltens
nach Regionen, dass sich auch hier die gemessenen Werte für Ostdeutschland
AKZEPTANZ VON
UNGLEICHBEHANDLUNG
AUF DEM ARBEITSMARKT IN
OSTDEUTSCHLAND AUF DEM
NIVEAU WESTEUROPAS
2 Die Werte für Osteuropa beinhalteten 1990 noch keine Daten zu Kroatien.
3 Hier allerdings: „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat
zurückschicken“ (Zick et al. 2019: 73).
69
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Abb. 9: Anteile der Befragten nach Region, die Zugewanderte nicht gern als Nachbarn hätten, im Zeitverlauf
West- und Südwesteuropa
40 %
Mittel- und Osteuropa
Westdeutschland
Ostdeutschland
30 %
20 %
10 %
0%
1990
1999
2008
2017
Quelle: European Values Study 1981-2017 / Eigene Darstellung
Abb. 10: Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die bei einer angespannten Arbeitsmarktsituation der Bevorzugung
von Einheimischen gegenüber Ausländern zustimmen
Litauen
Bulgarien
Ablehnung
Slowakei
Ungarn
Tschechien
Unentschieden
Rumänien
Polen
Slowenien
Kratien
Italien
Österreich
Ostdeutschland
Spanien
Finnland
Frankreich
Großbritannien
Niederlande
Dänemark
Westdeutschland
Schweden
Estland
Zustimmung
100 %
90 %
80 %
70 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0%
Quelle: European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
deutlich von denen Westdeutschlands unterscheiden. Allerdings entsprechen sie
dabei nicht dem osteuropäischen, sondern eher dem westeuropäischen Niveau.
Während einer Bevorzugung Einheimischer am Arbeitsmarkt in Ostdeutschland
rund 49 Prozent der Befragten zustimmen, sind es etwa in Spanien ebenfalls rund
46 Prozent, in Österreich 55 Prozent, in Italien 65 Prozent, in Polen über 70 und in
Ländern wie Tschechien, Ungarn oder der Slowakei gar über 80 Prozent (Abb. 10).
INWIEFERN WERDEN
WAHRGENOMMEN?
ZUGEWANDERTE
ALS
BEDROHUNG
Ein weiterer Fragekomplex der European Values Study bezog sich auf das Sicherheitsempfinden der Befragten und darauf, wie ihre Sekuritätsgefühle durch
Migranten beeinträchtigt werden. Ermittelt wurde dabei die Zustimmung zu folgenden Aussagen:
70
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
Abb. 11: Wahrnehmung einer Bedrohung der eigenen Sicherheit durch Zugewanderte in einzelnen Ländern (Mittelwerte
Bedrohungsindex)
Westeuropa
8
Mittel- und Osteuropa
West- und Ostdeutschland
7
6
5
4
3
2
1
Tschechien
Ungarn
Bulgarien
Slowakei
Österreich
Littauen
Ostdeutschland
Italien
Estland
Rumänien
Dänemark
Niederlande
Polen
Kroatien
Slowenien
Westdeutschland
Finnland
Frankreich
Großbritannien
Spanien
Schweden
0
Quelle: European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
• „Ausländer nehmen Einheimischen die Arbeitsplätze weg.“
• „Ausländer verschärfen die Kriminalitätsprobleme.“
• „Ausländer belasten das Sozialsystem eines Landes.“
Das Antwortverhalten auf diese drei Aussagen lässt sich zu einem Index zusammenfassen, dessen Werte die jeweilige Ablehnung gegenüber ‚Ausländern‘ bzw. die mit dieser Personengruppe assoziierten Bedrohungswahrnehmungen dokumentieren. Ein hoher Wert zeigt also, dass die Befragten
eines bestimmten Landes stärker dazu neigen, Zugewanderte für eine höhere Kriminalitätsrate, belastete Sozialkassen und eine Verschlechterung
der Lage auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich zu machen.
Betrachtet man die Verteilung der Werte dieses ‚Bedrohungsindex‘ in
den unterschiedlichen europäischen Staaten, dann zeigt sich hinsichtlich
möglicher Ost-West-Unterschiede zunächst ein eher gemischtes Bild.
So erweisen sich die Befragten in Ländern wie Italien, Österreich und
Dänemark als negativer gegenüber Zugewanderten eingestellt als
jene in Slowenien, Kroatien und Polen. Die Bewertung der Folgen von
Migration erscheint hingegen in Schweden, Spanien und Frankreich
deutlich positiver als etwa in Bulgarien, Ungarn oder Tschechien.
Auch zwischen Ost- und Westdeutschland ist hier ein Unterschied
festzustellen. Während Ostdeutsche sich ähnlich skeptisch zeigen wie
Italiener und Litauer, erscheinen Westdeutsche gegenüber Migranten
deutlich positiver (Abb. 11).
Insgesamt kann also auch hier keine eindeutige Zuordnung der beiden
deutschen Landesteile zu bestimmten Regionen Europas vorgenommen werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich laut den Daten der
European Values Study sowohl in West- wie auch in Ostdeutschland das
Ausmaß der mit Zugewanderten verbundenen Bedrohungswahrnehmungen deutlich verringert hat. Lagen die Werte in den alten wie den neuen
Bundesländern 2008 noch über dem europäischen Mittelwert, so wurden
2017 die Folgen von Einwanderung zumindest in Westdeutschland deutlich positiver bewertet. Sowohl in Westeuropa als auch in Ost- und Westdeutschland fühlen sich Menschen heute weniger durch Zugewanderte
bedroht als noch 2008.
71
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Abb. 12: Verbreitung der Bedrohungswahrnehmungen durch Zugewanderte nach soziodemografischen Merkmalen
Frau
Mann
75+
Altersgruppen
66-75
56-65
46-55
36-45
26-35
18-25
niedrig
obere 30%
mitte
untere 30%
500.000 und mehr
100.000-500.000
20.000-100.000
5.000-20.000
unter 5.000
Selbsteinschätzung
auf dem
politischen
Spektrum
Größe des
Wohnortes
Einkommen formale
in Dezilen Bildung
hoch
mittel
rechts
mitte
links
0
1
2
3
4
5
6
7
Quelle: European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
Abb. 13: Zufriedenheit der Befragten mit der Demokratie im eigenen Land nach Ländern
Westeuropa
8
Mittel- und Osteuropa
West- und Ostdeutschland
7
6
5
4
3
2
1
Kroatien
Bulgarien
Rumänien
Slowenien
Ungarn
Polen
Tschechien
Littauen
Italien
Slowakei
Ostdeutschland
Frankreich
Estland
Spanien
Großbritannien
Westdeutschland
Niederlande
Finnland
Österreich
Schweden
Dänemark
0
Quelle: European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
MIGRATIONSBEZOGENE
BEDROHUNGSWAHRNEHMUNGEN
UND SOZIODEMOGRAFISCHE
MERKMALE
72
Schlüsselt man die entsprechenden Indexwerte nach soziodemografischen Merkmalen der Befragten auf, dann ergibt sich in allen Regionen
Europas mehr oder weniger das gleiche Verteilungsmuster, das auf typische Korrelationen verweist. So stehen die mit Zugewanderten assoziierten Bedrohungsszenarien in einem proportionalen Verhältnis zur Altersgruppe der Befragten. Ein negativer Zusammenhang ergibt sich hingegen
bei Einkommen, Bildungsgrad und der Größe des Wohnortes. Das heißt,
je älter ein Befragter war, je niedriger sein formaler Bildungsabschluss,
je geringer sein monatliches Einkommen und je ‚ländlicher‘ sein Wohn-
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
Abb. 14: Zusammenhang zwischen Demokratiezufriedenheit und Bedrohungsgefühlen gegenüber Zugewanderten
9
Bedrohungsindex
8
HU
BG
7
CZ
SK
AT
LT
6
RO
HR
PL
SI
DE-Ost
EE
IT
FR
5
GB
ES
DK
NL
FI
DE-West
SE
4
3
3
4
5
6
Demokratiezufriedenheit
7
8
9
Quelle: European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
ort, umso mehr tendierte er dazu, ‚Ausländer‘ als Bedrohung für die wirtschaftliche und soziale Sicherheit des eigenen Landes wahrzunehmen
(Abb. 12, Dennison/Dražanová 2019).
Doch nicht nur bezüglich soziodemografischer Merkmale, sondern auch
im Hinblick auf andere in der European Values Study abgefragte Items können mögliche Korrelationen des ‚Bedrohungsindex‘ untersucht werden.
So wurde etwa die Zufriedenheit der Befragten mit der Demokratie im
eigenen Land anhand von zwei Aussagen gemessen, bei denen eingeschätzt werden sollte,
• wie demokratisch das eigene Land regiert wird und
• wie gut dessen politisches System funktioniert.
Beide Antworten können zusammengefasst und mit den Bedrohungsgefühlen gegenüber Zugewanderten ins Verhältnis gesetzt werden
(ähnlich Decker et al. 2019). Dabei zeigt sich zunächst, dass die Zufriedenheit mit dem eigenen politischen System in Westdeutschland deutlich stärker ausgeprägt ist als in Ostdeutschland, dessen Werte sich in
etwa auf dem Niveau der meisten ehemals sozialistischen Staaten bewegen (Abb. 13).
Allerdings scheint der Übergang hier eher fließend zu sein, in Italien und
Frankreich etwa eine zum Teil negativere Bewertung des eigenen politischen Systems vorzuliegen, als dies in Estland oder der Slowakei der Fall
ist. Die für Ostdeutschland gemessene Demokratiezufriedenheit liegt wiederum zwischen der Slowakei und Frankreich und entspricht in etwa dem
Mittelwert aller untersuchten Länder.
Eine Analyse der entsprechenden Korrelationen zeigt wiederum, dass
zwischen den Bedrohungsgefühlen durch Zugewanderte und der Zufriedenheit mit dem eigenen politischen System insgesamt ein negativer Zusammenhang besteht: Je zufriedener die Menschen mit der Demokratie
im eigenen Land, umso weniger erscheinen ihnen Zugewanderte als eine
Bedrohung der eigenen Sekurität. Deutlich wird dabei auch ein dezidierter Ost-West-Unterschied: Während die Demokratiezufriedenheit in ostund mitteleuropäischen Ländern niedriger ist und die Werte auf dem Bedrohungsindex etwas höher sind, weisen west- und südwesteuropäische
Staaten typischerweise höhere Zufriedenheitswerte und ein niedrigeres
Bedrohungsgefühl gegenüber Zugewanderten auf (Abb. 14).
UNTERSCHIEDE IN DER
BEDROHUNGSWAHRNEHMUNG
ZWISCHEN WEST UND OST
73
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Abb. 15: Anteil der Befragten mit typisch postmaterialistischen Präferenzen nach Ländern
Westeuropa
40 %
Mittel- und Osteuropa
West- und Ostdeutschland
35 %
30 %
25 %
20 %
15 %
10 %
5%
Westdeutschland
Ostdeutschland
Großbritannien
Spanien
Polen
Slowenien
Frankreich
Finnland
Schweden
Österreich
Kroatien
Italien
Niederlande
Ungarn
Estland
Dänemark
Tschechien
Rumänien
Slowakei
Littauen
Bulgarien
0%
European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
Abb. 16: Zusammenhang zwischen postmaterialistischen Orientierungen und Bedrohungsgefühlen gegenüber Zugewanderten
9
8
CZ
Bedrohungsindex
BG
HU
SK
7
AT
LT
RO
6
EE
DK
DE-Ost
IT
NL
HR
SL
FI
FR
SE
5
4
0
5
10
15
20
25
Anteil Postmaterialisten (in %)
PL
DE-West
GB
ES
30
35
40
European Values Study 2017 / Eigene Darstellung
Eine weitere in der European Values Study adressierte Dimension politisch-kultureller Orientierungen verweist auf die Unterscheidung zwischen
materialistischen und postmaterialistischen Wertvorstellungen (Inglehart/
Norris 2016; Dalton/Welzel 2014). Nach der dabei verwendeten Operationalisierung sollte eine materialistische Einstellung vor allem als Bedürfnis
nach der Befriedung ökonomischer Sicherheits- und sozialer Stabilitätsinteressen, eine postmaterialistische Orientierung hingegen hauptsächlich
durch ein Streben nach Gütern wie Autonomie und Selbstverwirklichung
angezeigt werden. Zur Ermittlung der entsprechenden Vorlieben wurden
die Befragten aufgefordert, aus einer kurzen Aufstellung die beiden für sie
wichtigsten Ziele auszuwählen:
74
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
•
•
•
•
Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung [1]
Mehr Einfluss der Bürger auf Entscheidungen der Regierung [2]
Kampf gegen steigende Preise [3]
Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung [4]
Entschieden sich die Befragten dabei für die Möglichkeiten [2] und [4], so
galten sie als ‚Postmaterialisten‘. Stellt man deren Anteil unter allen Befragten nach Ländern dar, so ergibt sich ein heterogenes Bild. Zwar scheinen
die meisten west- und südwesteuropäischen Länder erwartungsgemäß
stärkere postmaterialistische Prägungen aufzuweisen als die ehemals
sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa, jedoch weichen ebenso
zahlreiche Fälle von diesem Muster ab. So reihen sich etwa Polen und die
Slowakei mit in das Feld vermeintlich typisch westeuropäischer Prägungen
ein, während sich die Niederlande, Italien und vor allem Dänemark mit unter 20 Prozent eher der durchschnittlichen Orientierung in ost- und mitteleuropäischen Ländern annähern. Auffallend ist außerdem, dass beide
Regionen Deutschlands hier die größte Verbreitung postmaterialistischer
Prägungen ausweisen, wobei insbesondere die Werte für Westdeutschland
deutlich den europäischen Mittelwert übertreffen (Abb. 15).
Betrachtet man den statistischen Zusammenhang zwischen dem Anteil an
Postmaterialisten in den jeweiligen Gesellschaften und dem dort verbreiteten Bedrohungsgefühl gegenüber Zugewanderten, ist eine starke negative
Korrelation feststellbar. Je größer die Wertschätzung von politischer Teilhabe und freier Meinungsäußerung gegenüber Recht, Ordnung und Preisstabilität, desto niedriger scheint auch das Bedrohungsgefühl gegenüber
Zugewanderten (Abb. 16).
SCHLUSSBETRACHTUNG
Die Analyse der Daten der European Values Study macht bei der Verteilung
migrationsbezogener Einstellungen eine klare Differenz zwischen den
westeuropäischen und den ehemals sozialistischen Staaten in Mittel- und
Osteuropa erkennbar. So werden die Folgen von Zuwanderung im Osten
des Kontinents im Schnitt wesentlich negativer beurteilt, Migrantinnen
und Migranten hingegen stärker mit Ablehnung und dem Wunsch nach
Ungleichbehandlung konfrontiert. Ängste, Vorurteile und auf das eigene
Sicherheitsempfinden bezogene Bedrohungswahrnehmungen gegenüber
‚Fremden‘ sind hier im Schnitt deutlich stärker ausgeprägt als in anderen
Teilen des Kontinents. Diese Einstellungsunterschiede zwischen Ost- und
Westeuropa können jedoch nicht ohne weiteres zur Erklärung der eingangs
beschriebenen innerdeutschen Spaltungslinie herangezogen werden. Der
ebenfalls in den Daten des European Values Study zutage tretende Unterschied im Antwortverhalten zwischen Ost- und Westdeutschen ist nicht in
der Lage, die europäische Ost-West-Differenz en miniature abzubilden.
EINSTELLUNGEN GEGENÜBER
ZUGEWANDERTEN IN
OSTDEUTSCHLAND POSITIVER
ALS IN OSTEUROPA –
IN WESTDEUTSCHLAND POSITIVER
ALS IN WESTEUROPA
Zwar fällt eine allgemeine Beurteilung der Folgen von Migration in den
neuen Bundesländern ähnlich negativ aus wie in anderen ehemals sozialistischen Regionen, die Einstellung gegenüber Zugewanderten aber ist
in Ostdeutschland im Schnitt deutlich positiver als in Osteuropa. Das Antwortverhalten in Westdeutschland hingegen fällt hier nochmals wesentlich
positiver aus als in den allermeisten westeuropäischen Staaten. Geht es
konkret etwa um die Ablehnung von Zugewanderten in der unmittelbaren
Nachbarschaft oder um deren Benachteiligung am Arbeitsmarkt, so entsprechen die politischen Orientierungen der Ostdeutschen nicht etwa dem
– wesentlich höheren – osteuropäischen, sondern eher einem typisch westeuropäischen Niveau. Nicht die im innerdeutschen Vergleich scheinbar hohen Zustimmungsraten zu ausländerfeindlichen Aussagen in Ostdeutschland, sondern vielmehr die außerordentlich migrationsfreundlichen
Einstellungen in Westdeutschland scheinen im europäischen Vergleich eine
75
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
erklärungsbedürftige Besonderheit darzustellen. Eine Ausnahme stellt hier
lediglich die Ablehnung von Muslimen dar, die in Ostdeutschland deutlich
stärker als in Westeuropa, jedoch immer noch schwächer als im osteuropäischen Durchschnitt ausfällt.
Die mit Zugewanderten assoziierten Bedrohungswahrnehmungen – etwa
durch steigende Kriminalitätsraten, wachsende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und sinkende soziale Sicherheit – scheinen hingegen keinem
einheitlichen Muster zu folgen. Sie sind in Ostdeutschland höher als in
Westdeutschland, bewegen sich in beiden Landesteilen aber auf dem Niveau sowohl einiger ost-, als auch einiger westeuropäischer Staaten. Dieses
Bedrohungsgefühl fällt in steigenden Alters- und sinkenden Einkommensgruppen stärker aus und ist bei gut Gebildeten deutlich schwächer ausgeprägt als bei weniger gut Gebildeten. Es steht außerdem in einem indirekt
proportionalen Verhältnis zur Zufriedenheit mit der Demokratie und der
Präferenz für ‚postmaterialistische‘ Wertvorstellungen. Je größer also etwa
die Bevorzugung von politischer Teilhabe und freier Meinungsäußerung
gegenüber Recht, Ordnung und Preisstabilität, desto weniger scheinen
‚Ausländer‘ das eigene Sicherheitsempfinden zu beeinträchtigen.
Insgesamt kann damit eine gewisse politisch-kulturelle Sonderstellung der
neuen Bundesländer in Europa angenommen werden. Diese fällt jedoch
anders aus als allgemein vermutet. Trotz seiner sozialistischen Vergangenheit entsprechen die in Ostdeutschland auffindbaren migrationspolitischen
Orientierungen nämlich in weiten Teilen einem typisch westeuropäischen
Niveau und nähern sich nur selten den in mittel- und osteuropäischen
Staaten typischerweise vorherrschenden Einstellungen an. Ähnlich bemerkenswert fallen die Befunde zu den alten Bundesländern aus. Auch Westdeutschland nimmt im europäischen Vergleich eine gewisse Sonderrolle
ein, denn die hier gemessenen Einstellungen gegenüber Migrantinnen und
Migranten sind noch deutlich positiver, als dies anderswo in Westeuropa
der Fall ist.
76
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
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77
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
ANHANG
Allgemeine Beurteilung der Folgen von
Migration
Q51 / v184
Items im European Values Study
Antwortmöglichkeiten
Anmerkung
Nun geht es um Ihre Meinung zu Zuwanderern, also Menschen aus anderen
Ländern, die nach Deutschland kommen, um hier zu leben. Wie wirkt sich
Ihrer Meinung nach die Zuwanderung
auf die weitere Entwicklung Deutschlands aus?
1 Sehr negativ
Rekodierung: ‚1 Sehr negativ‘ und ‚2 Ziemlich
negativ‘ und ‚4 Ziemlich positiv‘ und ‚5 Sehr positiv‘
zusammengefasst
2 Ziemlich negativ
3 Weder positiv noch negativ
4 Ziemlich positiv
5 Sehr positiv
Zugewanderte als
Nachbarn
Q6 / v22
v24
v28
Ungleichbehandlung von Migranten
auf dem Arbeitsmarkt
Q26 / v80
Auf dieser Liste stehen eine Reihe ganz
ver-schiedener Personen-gruppen.
Könnten Sie einmal alle diejenigen
benennen, die Sie nicht gern als Nachbarn hätten?
- Ausländer/ausländische Arbeitskräfte
Wie sehr stimmen Sie folgender Aussage zu oder nicht zu? Wenn die Arbeitsplätze knapp sind, sollten die Arbeitgeber Deutsche gegenüber Ausländern
vorziehen.
1 Stimme voll und ganz zu
- Muslime
- Menschen anderer Hautfarbe
2 Stimme zu
Rekodierung: ‚1 Stimme voll und ganz zu‘ und ‚2
Stimme zu‘ und ‚4 Stimme nicht zu‘ und ‚5 Stimme
überhaupt nicht zu‘ zusammengefasst
3 Weder noch
4 Stimme nicht zu
5 Stimme überhaupt nicht zu
Bedrohungsindex
(Ängste und Vorurteile gegenüber
Migranten)
Q52A /
v184
Q52B /
v185
Q52C /
v186
Postmaterialismus
Q34 /
v110
Bitte lesen Sie sich die folgenden Aussagen durch und geben anhand dieser
Skala an, wo Sie Ihre Meinung dazu
einordnen würden!
[1] Ausländer nehmen [Deutschen] die
Arbeitsplätze weg
Bitte lesen Sie sich die folgenden Aussagen durch und geben anhand dieser
Skala an, wo Sie Ihre Meinung dazu
einordnen würden!
[1] Ausländer verschärfen die Kriminalitätsprobleme
Bitte lesen Sie sich die folgenden Aussagen durch und geben anhand dieser
Skala an, wo Sie Ihre Meinung dazu
einordnen würden!
[1] Ausländer belasten das Sozialsystem
eines Landes
Wenn Sie entscheiden müssten, welches
der folgenden Ziele auf dieser Liste wäre
für Sie das wichtigste?
[1] Aufrechterhaltung von Ruhe und
Ordnung
[10] Ausländer nehmen [Deutschen] die
Arbeitsplätze nicht weg
Rekodierung:
Hohe Werte = negativ gegenüber Ausländer; additiver Index; Cronbachs Alpha: 0,80 (2008) 0,79 (2017)
[10] Ausländer verschärfen die Kriminalitätsprobleme nicht
[10] Ausländer belasten das Sozialsystem
eines Landes nicht
Bei Nennung von [2] und [4] als Postmaterialist
kodiert
[2] Mehr Einfluss der Bürger auf Entscheidungen der Regierung
[3] Kampf gegen steigende Preise
[4] Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung
Q35 / v111
Und welches wäre für Sie das zweitwichtigste Ziel?
[1] Aufrechterhaltung von Ruhe und
Ordnung
[2] Mehr Einfluss der Bürger auf Entscheidungen der Regierung
[3] Kampf gegen steigende Preise
[4] Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung
Demokratiezufriedenheit
Q41 / v143
Und was meinen Sie, wie demokratisch wird [LAND] heutzutage regiert?
Benutzen Sie für Ihre
[1] Überhaupt nicht demokratisch
[10] Ganz und gar demokratisch
Antwort eine Zehnerskala, auf der 1
für “überhaupt nicht demokratisch”
und 10 für „ganz und
gar demokratisch” steht.
Q42 / v144
Wie zufrieden sind Sie damit, wie das
politische System in Deutschland
heutzutage funktioniert?
Benutzen Sie für Ihre Antwort erneut
eine Zehnerskala, auf der 1 für „überhaupt nicht zufrieden” und 10
für „voll und ganz zufrieden” steht.
78
[1] Überhaupt nicht zufrieden
[10] Voll und ganz zufrieden
Additiver Index; Cronbachs Alpha: 0,81
GEHÖRT OSTDEUTSCHLAND ZU OSTEUROPA?
79
C
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
DEUTSCHLAND
UND DIE MIGRATIONSFRAGE
2 ZUNAHME VON MIGRATION - STÄRKUNG DER AFD?
DER ZUSAMMENHANG ZWISCHEN AUSLÄNDERANTEILEN UND
AFD-WAHLERGEBNISSEN AUF REGIONALER EBENE
Zusammenfassung
Die hohe Bedeutung des Themas Migration in der Öffentlichkeit ist eine
zentrale Voraussetzung für die Mobilisierung der Anhängerschaft rechtspopulistischer Parteien. Unklar ist, inwieweit es einen direkten Zusammenhang zwischen steigenden Migrationszahlen und den Wahlergebnissen
der AfD gibt. Diese Studie analysiert diese Beziehung statistisch. Konkret
handelt es sich um den Zusammenhang zwischen dem Ausländeranteil
auf subnationaler Ebene in Deutschland und dem AfD-Wahlergebnis. Es
wird auch untersucht, inwieweit ein abrupter und starker Anstieg des Ausländeranteils mit dem Wahlergebnis der AfD zusammenhängt. Damit wird
nicht nur der Status Quo, sondern auch die zeitliche Komponente erfasst.
Die Ergebnisse zeigen, dass im Durchschnitt ein höherer Anteil an ethnischen Minderheiten in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt zu
einem niedrigeren Wahlergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2017
führte. Das bedeutet, dass die AfD vor allem in ethnisch homogenen
Landkreisen erfolgreich ist. Zudem gilt: Je dünner besiedelt ein Gebiet ist,
desto größer ist der Effekt. Das heißt, in dünn besiedelten Gemeinden mit
hohem Migrantenanteil erfährt die AfD weniger Zustimmung als in dichter
besiedelten Städten mit ähnlich hohem Migrantenanteil.
Ein abrupter und starker Anstieg des Ausländeranteils erhöht das
AfD-Wahlergebnis. Das heißt: In Gegenden, in denen sich in kurzer Zeit
eine große Anzahl an Ausländern niederließ, schnitt die AfD besonders
gut ab. Das gilt vor allem für Orte, in denen es zuvor nur einen geringen
Ausländeranteil gab.
Im Herbst 2015, als die Fluchtbewegung nach Deutschland auf einen Höhepunkt
zusteuerte, ließ sich der AfD-Politiker Alexander Gauland zu der Aussage hinreißen, die ‚Flüchtlingskrise‘ sei ein „Geschenk“ für seine Partei gewesen (Amann
et al. 2015: 24). Tatsächlich steckte die AfD im Sommer 2015, also kurz vor dem
rapiden Anstieg der Flüchtlingszahlen, in einem Umfragetief (bei ca. drei bis vier
Prozent in nationalen Umfragen). Somit stellt sich die Frage: Hat die ‚Flüchtlingskrise‘ den Erfolg der AfD ermöglicht? Und – wenn ja – wie? Steht ein größerer Anteil an Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern mit höheren Stimmanteilen
der AfD bei Wahlen nachweisbar in einem relevanten Zusammenhang?
Ein Blick auf die Verteilung der Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländer in
Deutschland (Abb. 1) und auf die AfD-Wahlergebnisse (Abb. 2) zeigt: Dort, wo
besonders viele Ausländerinnen und Ausländer leben (dunkler eingefärbte
Landkreise und kreisfreie Städte in Abb. 1), ist die AfD deutlich schwächer
(heller eingefärbte Landkreise und kreisfreie Städte in Abb. 2). Diese Beobachtung lässt erst einmal vermuten, dass höhere Ausländeranteile zu einem
niedrigeren AfD-Wahlergebnis führen. Beim Vergleich der Veränderung im
Ausländeranteil zwischen den Bundestagswahlen 2013 und 2017 (Abb. 3) mit
der Veränderung im AfD-Wahlergebnis im gleichen Zeitraum (Abb. 4) zeigt
sich jedoch ein anderes Bild: Landkreise und kreisfreie Städte mit starken Anstiegen im Ausländeranteil (dunkler gefärbte Gebiete in Abb. 3) zeigen auch
starke Anstiege im AfD-Wahlergebnis auf (dunkler gefärbte Gebiete in Abb. 4).
Das spricht für die Vermutung, dass abrupte Anstiege im Ausländeranteil mit
einem besseren AfD-Wahlergebnis in Verbindung stehen. Wie aber ist dies
genau zu verstehen? Bisher wurde dieser Zusammenhang in Deutschland
nie einer näheren Prüfung unterzogen, weswegen bislang nicht ausgeschlos81
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Abb. 1: Anteil der Nicht-EU-Ausländer 2017 (in %)
9,01 - 22,98
6,48 - 9,01
5,06 - 6,48
4,10 - 5,06
2,52 - 4,10
0,79 - 2,52
keine Daten
Abb. 3: Veränderung des Anteils an Nicht-EU-Ausländern (in %)
112,83 - 297,75
73,03 - 112,83
54,04 - 73,03
39,70 - 54,04
29,21 - 39,70
-17,29 - 29,21
keine Daten
Quelle: Eigene Berechnung / Eigene Darstellung
82
Abb. 2: AfD-Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2017 (in %)
18,01 - 35,46
13,92 - 18,01
12,02 - 13,92
10,52 - 12,02
8,92 - 10,52
4,94 - 8,92
keine Daten
Abb. 4: Veränderung des AfD-Wahlergebnisses (in %)
270,45 - 479,08
201,41 - 270,45
161,97 - 201,41
135,07 - 161,97
105,39 - 135,07
44,64 - 105,39
keine Daten
ZUNAHME VON MIGRATION - STÄRKUNG DER AFD?
sen werden konnte, dass andere Faktoren (z. B. soziale und ökonomische
Deprivation oder der Grad der Urbanisierung) für den Wahlerfolg der AfD
ausschlaggebend sind.
UNTERSUCHUNG
IN DREI SCHRITTEN
Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten: Zunächst wird der Zusammenhang zwischen dem Nicht-EU-Ausländeranteil einerseits und dem
Wahlergebnis der AfD bei den letzten Bundestagswahlen andererseits
in den einzelnen Landkreisen und kreisfreien Städten betrachtet und
damit geprüft, ob die bloße Präsenz von Migrantengruppen bereits
einen Einfluss auf AfD-Wahlerfolge hat. Im zweiten Schritt erfolgt die
Analyse eine Ebene tiefer, nämlich bei den Gemeinden. Durch die Betrachtung kleinerer Gebietskörperschaften kann die Bevölkerungsdichte im unmittelbaren Umfeld als Einflussfaktor hinzugezogen werden.
Auch hier wird danach gefragt, wie sich das AfD-Wahlergebnis zum
Migrantenanteil verhält, wobei nach unterschiedlichen Stufen der Bevölkerungsdichte differenziert wird. Drittens wird auf Landkreisebene
die zeitliche Komponente der Veränderung in der Bevölkerungszusammensetzung untersucht. Das heißt, das AfD-Wahlergebnis wird nicht in
Zusammenhang zum statischen Migrantenanteil gebracht, sondern zur
Dynamik seiner Veränderung. Der Untersuchungszeitraum spannt sich
von der ersten Wahl, bei der die AfD antrat, bis zur letzten Wahl im Jahr
2018 – also von den hessischen Landtagswahlen 2013 bis zu den hessischen Landtagswahlen 2018. Durch diese Längsschnittuntersuchung
kann herausgefunden werden, welche Rolle Intensität und Geschwindigkeit des Migrationszuwachses für den AfD-Wahlerfolg spielen.
ERGEBNISSE
Die drei Analyseschritte kommen zu folgenden Ergebnissen. Erstens: Je höher der Anteil von Migrantinnen und Migranten in Landkreisen und kreisfreien Städten, desto niedriger das AfD-Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2017. Die bloße Präsenz von Migrantengruppen begünstigt also kein
starkes AfD-Wahlergebnis, sondern vermindert es. Wie Abbildung 5 zeigt,
bedingt ein um einen Prozentpunkt höherer Nicht-EU-Ausländeranteil ein
um durchschnittlich 0,15 Prozentpunkte niedrigeres AfD-Wahlergebnis.
Umgekehrt ist die AfD dort besonders erfolgreich, wo die Landkreise und
kreisfreien Städte ethnisch besonders homogen sind.
AUSLÄNDERANTEIL UND
AFD-WAHLERGEBNIS BEI DER
BUNDESTAGSWAHL 2017
Zweitens: Bundesweit führt in dünn besiedelten Gemeinden ein höherer
Anteil an Migrantinnen und Migranten insgesamt zu einem geringeren
AfD-Wahlergebnis als in dichter besiedelten Gemeinden. Das heißt, in
DER EINFLUSS DER
BEVÖLKERUNGSDICHTE
Abb. 5: Zusammenhang zwischen Nicht-EU-Ausländeranteil und AfD-Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2017
16 %
AfD-Wahlergebnis
14 %
12 %
10 %
8%
6%
4%
2%
0%
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
Anteil Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländer (in %)
Quelle: Eigene Berechnung / Eigene Darstellung (Die farbigen Flächen zeigen den Wahrscheinlichkeitsbereich, in dem die Schätzung liegt.)
83
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Abb. 6: Zusammenhang zwischen Ausländeranteil und AfD-Wahlergebnis in Abhängigkeit der Bevölkerungsdichte bei
der Bundestagswahl 2017
Effekt bei niedriger Bevölkerungsdichte
Effekt bei durchschnittlicher Bevölkerungsdichte
Effekt bei hoher Bevölkerungsdichte
AfD-Wahlergebnis
20 %
15 %
10 %
5%
0%
1
3
5
7
9
11
13
15
17
19
21
23
25
27
29
31
33
35
37
39
Anteil Ausländerinnen und Ausländer (in %)
Quelle: Eigene Berechnung / Eigene Darstellung (Die farbigen Flächen zeigen den Wahrscheinlichkeitsbereich, in dem die Schätzung liegt.)
dünn besiedelten Gemeinden mit hohem Migrantenanteil erfährt die AfD
weniger Zustimmung als in dichter besiedelten Städten mit ähnlich hohem Migrantenanteil. Abbildung 6 verdeutlicht: In Gemeinden mit mittlerer Bevölkerungsdichte führt ein um einen Prozentpunkt höherer Ausländeranteil zu einem durchschnittlich 0,32 Prozentpunkte niedrigerem
AfD-Wahlergebnis (rote Linie), in Gemeinden mit niedriger Bevölkerungsdichte sogar zu 0,34 Prozentpunkten Verlust im Stimmenanteil der AfD.
Dagegen führt ein um ein Prozent höherer Ausländeranteil in Gemeinden
mit hoher Bevölkerungsdichte zu einem Abfall um nur 0,25 Prozentpunkte des Wahlergebnisses der AfD.
DIE ZEITLICHE EBENE:
DER EINFLUSS DER
VERÄNDERUNG IN
AUSLÄNDERANTEILEN AUF
AFD-WAHLERGEBNISSE
Drittens zeigt die Längsschnittanalyse, dass ein schneller Anstieg der Zuwanderung von außerhalb der EU ein höheres AfD-Wahlergebnis begünstigt. Das gilt insbesondere für die Orte, in denen es zuvor nur einen geringen Anteil an Migrantinnen und Migranten gab. Ein einprozentiger Anstieg
des Nicht-EU-Ausländeranteils hat eine durchschnittliche Erhöhung des
AfD-Wahlergebnisses um 0,9 Prozentpunkte zur Folge. Abbildung 7 gibt
Abb. 7: Zusammenhang des Anstiegs im Ausländeranteil und des AfD-Wahlerfolges
40 %
AfD-Wahlergebnis
35 %
30 %
25 %
20 %
15 %
10 %
5%
0%
0
100
200
300
400
Veränderung im Ausländeranteil (in %)
Jeder Punkt markiert das AfD-Wahlergebnis und die Veränderung im Ausländeranteil innerhalb eines Landkreises/kreisfreier Stadt.
Quelle: Eigene Berechnung / Eigene Darstellung
84
ZUNAHME VON MIGRATION - STÄRKUNG DER AFD?
diesen Zusammenhang vereinfacht wieder. Auf der X-Achse ist die prozentuale Veränderung im Ausländeranteil seit 2013 abgebildet, auf der Y-Achse das Wahlergebnis der AfD bei sämtlichen Wahlen bis 2019. Deutlich zu
erkennen: Je stärker die Veränderung in den Anteilen an Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern, desto besser das Abschneiden der AfD bei den
jeweiligen Wahlen.
Mit diesen Befunden bestätigt sich die Vermutung, dass ein abrupter Wandel der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung in der unmittelbaren
Umgebung Bedrohungswahrnehmungen verstärkt und damit rechtspopulistisches Wahlverhalten begünstigt. Ein Signalereignis wie die ‚Flüchtlingskrise‘ von 2015 und die intensive Medienberichterstattung über Migration
haben die Sichtbarkeit dieses Wandels verstärkt und insbesondere dort
Vorbehalte geweckt, wo die bisherigen Erfahrungen mit Diversität und ethnischem Pluralismus besonders schwach ausgeprägt waren.
WIE LASSEN SICH DIESE ERGEBNISSE ERKLÄREN?
Zusammenfassend lassen sich drei Kernaussagen aus den Ergebnissen dieser Studie festhalten. Erstens: Bei der Bundestagwahl 2017 zog ein höherer
Ausländeranteil ein niedrigeres Wahlergebnis der AfD nach sich. Zweitens:
Dieser Zusammenhang veränderte sich je nach Bevölkerungsdichte. Das
bedeutet: In dünn besiedelten Gemeinden mit hohem Ausländeranteil bekam die AfD weniger Zuspruch als in dichter besiedelten Städten mit ähnlich hohem Ausländeranteil. Drittens: Starke Anstiege des Ausländeranteils
bringen ein höheres Wahlergebnis für die AfD mit sich.
INFOBOX – Group-Threat-Theorie vs. Kontakthypothese
Implizit oder explizit liegen allen Untersuchungen zum Zusammenhang
zwischen Ausländeranteilen und der Wahl rechter Parteien bzw.
Einstellungen zu Migration die Kontakthypothese und die Group-ThreatTheorie zu Grunde. Vereinfacht besagt die Kontakthypothese, dass es
durch den steigenden Bevölkerungsanteil einer ethnischen Minderheit
zu mehr Interaktion zwischen der heimischen Bevölkerung und den
Angehörigen der Minderheit kommt. Dadurch werden Ressentiments
und Vorurteile abgebaut, was wiederum zu einem Abbau von
Fremdenfeindlichkeit führt (Allport 1954; Pettigrew 1998). Die GroupThreat-Theorie dagegen postuliert, dass eine ‚fremde‘ Minderheit
gefürchtet wird, wenn sie als eine Bedrohung des Wohlstandes bzw.
als eine Bedrohung der kulturellen Hegemonie wahrgenommen wird
(Quillian 1995; Putnam 2007).
Zur Erklärung dieser Ergebnisse werden in der Fachliteratur zwei Modelle
herangezogen: die Group-Threat-Theorie und die Kontakthypothese (siehe
INFOBOX). In der Literatur, die sich mit dem Einfluss von Anteilen an ethnischen Gruppen in der Gesamtbevölkerung beschäftigt, wird meist auf
die Kontakthypothese verwiesen. Genau dieser Mechanismus könnte also
dem festgestellten negativen Zusammenhang im ersten Teil der Analyse zu
Grunde liegen. Dementsprechend ist in ethnisch homogeneren Landkreisen
und kreisfreien Städten ein höheres AfD-Wahlergebnis aufzufinden. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Eric Kaufmann in einer vergleichbaren Studie zum Zusammenhang zwischen Anteilen an ethnischen Minderheiten in
Gemeinden und der Unterstützung der rechtspopulistischen UKIP in Großbritannien. Er findet heraus, dass Bewohner von Verwaltungsbezirken der
mittleren Verwaltungsebene (districts), die einen höheren Anteil ethnischer
Minderheiten an der Bevölkerung aufweisen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit die UKIP unterstützen (Kaufmann 2017).
85
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
Der negative Zusammenhang zwischen Ausländeranteil und AfD-Wahlergebnis ist vor allem in dünn besiedelten Gemeinden deutlich zu erkennen. Das
steht erst einmal im Widerspruch zu den Erwartungen der Kontakthypothese. In der Literatur findet sich auch eine Analyse der Kommunalwahlen in Andalusien 2018, die zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt. Hier wurde zwar ein
positiver Zusammenhang zwischen dem Anteil an Nicht-EU-Ausländerinnen
und -Ausländern und dem Wahlergebnis für die rechtspopulistische Vox gefunden – jedoch ist diese Korrelation schwächer in Gebieten, die weniger dicht
besiedelt sind (Toshkov 2018)1. Es gibt daher Grund zur Annahme, dass das
Vorhandensein von ethnischer Diversität vor allem im ländlicheren, weniger
dicht besiedelten Raum eine abmildernde oder sogar negative Wirkung auf die
Unterstützung von rechten Parteien hat. Das Ergebnis könnte zudem ein Indiz
dafür sein, dass in kleineren Gemeinden der soziale Zusammenhalt stärker ist
und Integration von Zugezogenen besser funktioniert.
Die Betrachtung der Dynamiken im Ausländeranteil und deren Einfluss auf
das Wahlergebnis der AfD zeigen: Ein schnellerer Anstieg im Ausländeranteil
in einem Landkreis erhöht das Wahlergebnis der AfD. Demnach fällt das Ergebnis in die Perspektive der Group-Threat-Theorie (siehe INFOBOX). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie von Hannes Weber, der den Effekt von
Immigration auf Einstellungen junger Erwachsener gegenüber Migrantinnen
und Migranten im Zeitverlauf untersucht. Er findet dabei heraus, dass diese
Einstellungen über einen längeren Zeitraum positiver werden, jedoch mit dem
rapiden Anstieg im Ausländeranteil im Zuge der ‚Flüchtlingskrise‘ ab 2015 stagnieren und sich sogar ins Gegenteil verkehren (Weber 2018).
ERHÖHTE SICHTBARKEIT VON
GEFLÜCHTETEN FÜHRT ZU
BEDROHUNGSGEFÜHLEN
Auch in einer Studie von Elias Dinas und seinen Kollegen wird klar, dass die bloße
Sichtbarkeit, die mit einem abrupten Anstieg an ethnischen Minderheiten einhergeht, der griechischen rechten Partei Goldene Morgenröte Wählerstimmen
gebracht hat. Die Autoren vergleichen in ihrer Studie das Wahlverhalten von
Einwohnerinnen und Einwohnern griechischer Inseln, die viele Geflüchtete als
Transitstrecke nutzten, mit dem Wahlverhalten auf Inseln, die der ‚Flüchtlingskrise‘ wenig bis gar nicht ausgesetzt waren. Ihre Ergebnisse zeigen, dass Einwohnerinnen und Einwohner auf Inseln mit einem hohen Transit von Geflüchteten
deutlich rechter wählten als andere (Dinas et al. 2019). Das liegt vor allem daran, dass es nicht zu einer Interaktion zwischen Einheimischen und Geflüchteten
kommt, sondern nur zu einer erhöhten Sichtbarkeit von Geflüchteten, die durch
die Schnelligkeit des Anstiegs als Bedrohung aufgefasst werden. Da sich der betrachtete Zeitraum der vorliegenden Studie von 2013 bis 2018 erstreckt und es
in dieser Zeit auch in Deutschland zu starken und schnellen Anstiegen in den
Ausländeranteilen kam, ist ein vergleichbarer Zusammenhang wahrscheinlich.
DER FAKTOR SALIENZ
Auch wenn diese Studie einen direkten Zusammenhang zwischen dem rapiden
Anstieg der Flüchtlingszahlen und den Wahlergebnissen der AfD nahelegt, wäre
es doch verfehlt, daraus zu schließen, dass Migration die Ursache von rechtspopulistischen Erfolgen ist. Zunächst einmal kann der Erfolg rechter und rechtspopulistischer Parteien je nach kulturellem und sozialem Kontext ganz unterschiedliche
Ursachen haben. In Ländern mit geringer Zuwanderung beispielsweise profitieren Rechtspopulisten vor allem von der steigenden Salienz des Themas Migration. Doch auch in Einwanderungsgesellschaften ist die hohe Salienz des Themas
Migration nach wie vor eine zentrale Voraussetzung für die Mobilisierung einer
rechtspopulistischen Wählerschaft (MIDEM 2018; Dennison/Geddes 2019). Zudem stellen die Ergebnisse letztlich eine Momentaufnahme dar. Es bleibt abzuwarten, ob sie hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Entwicklung des Ausländerländeranteils und der Wahlergebnisse der AfD auch zukünftig Bestand haben
1 Dieses Ergebnis kann auch mit den Befunden von Eelco Harteveld und seinen Kollegen verglichen
werden, die herausfinden, dass die Präsenz und Anstiege im Ausländeranteil den Erfolg von rechten
Parteien vor allem in städtischen Gebieten, also jene mit höherer Bevölkerungsdichte, erklären kann
und dass diese Erklärung nicht für ländliche Gebiete gilt (Harteveld et al. 2018).
86
ZUNAHME VON MIGRATION - STÄRKUNG DER AFD?
werden. Während in der vorliegenden Studie der gesamte Anteil an Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern betrachtet wurde, wäre es zudem denkbar, im Rahmen einer Folgestudie genauer auf die soziale und religiöse Zugehörigkeit der
Zugewanderten einzugehen.
4. DATEN & OPERATIONALISIERUNG
Für die erste Analyse wurde ein Querschnittsdatensatz erstellt, wobei die Analyseeinheit Landkreise und kreisfreie Städte bilden (401 in Deutschland). Die abhängige Variable bildet dabei das AfD-Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2017 (Datenquelle: Bundeswahlleiter). Die unabhängige Variable von größtem Interesse
bildet der Anteil von Ausländerinnen und Ausländern im Jahr 2017. Die Daten zu
den Anteilen an Ausländerinnen und Ausländern wurden mit Hilfe der Bevölkerungszahl und der Anzahl an Nicht-EU-Ausländerinnen und Ausländern berechnet (Datenquelle: Statistisches Bundesamt). Die Kontrollvariablen für alternative
Einflüsse sind ein Deprivationsindex2 (Schwander/Manow 2017; Manow 2018),
die Bevölkerungsdichte (Division von Einwohneranzahl durch Gebietsfläche in
Quadratkilometern), das Wahlergebnis der Republikaner bei der Bundestagswahl
1994 (vgl. Goerres et al. 2018; Cantoni et al. 2019) sowie drei binäre Variablen, die
angeben, ob es sich bei dem jeweiligen Landkreis um eine kreisfreie Stadt, einen
Stadtstaat oder um ein Gebiet der ehemaligen DDR handelt.
STRUKTUR UND AUFBAU DES
DATENSATZES DER ERSTEN
ANALYSE
Für den zweiten Teil der Analyse wurde ein weiterer Querschnittsdatensatz erstellt, bei dem die Analyseeinheit Gemeinden bilden (11.054 in Deutschland).
Auch hier bildet das Wahlergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2017 die
abhängige Variable (Datenquellen: Regionale Statistikämter). Die unabhängige
Variable bildet hier wieder der Anteil von Ausländerinnen und Ausländern. Da
in solchen kleinen Gebietskörperschaften hierzu keine Daten vorliegen, wurde ein Näherungswert bestehend aus der Differenz zwischen der Anzahl an
Einwohnerinnen und Einwohnern über 18 Jahre und der Anzahl an Wahlberechtigten einer Gemeinde berechnet (Datenquellen: Regionale Statistikämter).
Außerdem ist in diesem Analyseschritt die Bevölkerungsdichte wichtig, um
die Interaktionsvariable zwischen Ausländeranteil und Bevölkerungsdichte zu
berechnen. Die Daten der Gebietsfläche und der Population von Gemeinden
stammen ebenfalls von den regionalen Statistikämtern. Als Kontrollvariable
fließen zudem der Anteil Arbeitsloser, gemäß den Zahlen der Agentur für Arbeit, sowie die drei oben genannten binären Variablen mit ein.
ZWEITE ANALYSE:
QUERSCHNITTSDATENSATZ
GEMEINDEN
Der dritte Teil der Analyse basiert auf einem Längsschnitt- bzw. Paneldatensatz.
Wie im ersten Analyseteil bilden die Analyseeinheiten wieder Landkreise und
kreisfreie Städte. Der betrachtete Zeitraum erstreckt sich von der Hessenwahl
2013 bis zur Hessenwahl 2018. Dementsprechend unterlag jede Analyseeinheit
mindestens vier Beobachtungen (eine Landtagswahl, eine Europawahl und zwei
Bundestagwahlen). Die einzige Ausnahme bildet Hessen mit zwei eingeflossenen
Landtagswahlergebnissen. Im Datensatz ergeben sich also etwas mehr als 1.600
Beobachtungen3.
DRITTE ANALYSE:
LÄNGSSCHNITTDATENSATZ
In der dritten Analyse bilden die AfD-Wahlergebnisse die abhängige Variable. Die
unabhängige Variable bildet der Ausländeranteil an allen Wahljahren (Datenquelle: Statistisches Bundesamt). Kontrollvariablen sind wieder der Anteil Arbeitsloser
und die Bevölkerungsdichte sowie eine zusätzliche binäre Variable, die angibt, ob
die jeweilige Wahl eine Landtagswahl war.
2 Der Deprivationsindex besteht aus verschiedenen sozioökonomischen Einflussgrößen (Arbeitslosenquote,
Anteil der jungen und alten Arbeitslosen, Anteil der Langzeitarbeitslosen, Anteil an Minijobs an der
Gesamtbeschäftigung, Anzahl an Privatinsolvenzen, Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende mit Hartz-IVBezug sowie Alleinerziehende unter 25 mit Hartz-IV-Bezug, durchschnittliche Entfernung zum nächsten
Krankenhaus, Beschäftigtenquote, durchschnittliches Haushaltseinkommen, kurzfristige und langfristige
arbeitsmarktpolitische Hilfen, Kinderarmut, Altersarmut, Anteil an Unterbeschäftigung).
3 Vier Zeiteinheiten pro Landkreise (4*401).
87
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
METHODEN
BESCHREIBUNG DER METHODIK:
LINEARE REGRESSION UND
FIXED-EFFECTS-MODELLE
Die ersten beiden Analyseteile untersuchten den Zusammenhang zwischen
den Anteilen an Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern und dem Wahlergebnis der AfD in den einzelnen Landkreisen, kreisfreien Städten und Gemeinden Deutschlands unter Berücksichtigung anderer potentieller Einflussfaktoren. Dafür wurde eine OLS-Regression durchgeführt, also eine einfache
lineare Regression. Diese dient dazu, Beziehungen zwischen abhängigen und
unabhängigen Variablen zu untersuchen. Dabei werden verschiedene Einflussgrößen gleichzeitig mit in die Analyse einbezogen, um zu prüfen, ob andere
Faktoren (z. B. die Arbeitslosenquote oder der Grad der Urbanisierung) das
Wahlergebnis der AfD beeinflussen und die Signifikanz und Stärke des Einflusses des Ausländeranteils bestehen bleibt. Damit konnten die Gründe für die
unterschiedlichen Wahlergebnisse der AfD zwischen Landkreisen und Gemeinden herausgearbeitet werden.
Die zweite Analyse ermöglichte mittels einer Interaktionsvariable zwischen Ausländeranteil und Bevölkerungsdichte eine bessere Annäherung an die soziale
Interaktion zwischen der einheimischen und der ausländischen Bevölkerung.
Außerdem diente sie als Prüfmittel für die Robustheit der ersten Analyse.
Der letzte Teil der Analyse untersuchte die zeitliche Komponente und zeigt auf,
wie die Veränderung im Anteil an Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern
und das AfD-Wahlergebnis zusammenhängen. Dazu wurde eine Längsschnittanalyse angewandt – genauer gesagt ein Fixed-Effects-Modell. Ein Fixed-Effects-Modell konzentriert sich nur auf die Veränderung innerhalb der einzelnen
Analyseeinheiten – also der Landkreise und kreisfreien Städte. Dabei wird explizit die Varianz über Zeit innerhalb der einzelnen Landkreise untersucht und
die Unterschiede zwischen den Landkreisen herausgehalten. Damit lassen sich
explizit Aussagen über Veränderungen über den Zeitverlauf machen.
Analyseeinheiten
• Landkreise und kreisfreie Städte: 401
• Gemeinden: ~11.000
Zeitpunkte
Wahljahr 1
Wahljahr 2
Wahljahr 3
Wahljahr 4
Wahljahr 5
Wahljahr 6
2013
2013
2014
2014
2015
2016
Wahljahr 7
2017
Wahljahr 8
Wahljahr 9
2017
2018
Hessen
Bundestagswahl
Europawahl
Sachsen, Brandenburg, Thüringen
Bremen, Hamburg
Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Berlin,
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt
Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen,
Schleswig-Holstein
Bundestagswahl
Hessen, Bayern
Datenquellen
• Statistisches Bundesamt
• Regionale Statistikämter
• Bundeswahlleiter
• Agentur für Arbeit
• Indikatoren und Karten für Raumentwicklung (INKAR)
• Ausländerzentralregister
Die deskriptive Statistik der für diese Studie verwendeten Datensätze und einen Überblick zum Forschungsstand des Zusammenhangs zwischen Zuwanderung und dem Wahlergebnis rechter Parteien finden Sie unter
forum-midem.de/publikationen.
88
ZUNAHME VON MIGRATION - STÄRKUNG DER AFD?
ANHANG
Tabelle 1 - OLS Regression von Ausländeranteil auf das AfD-Wahlergebnis bei der
Bundestagswahl 2017 in Landkreisen und kreisfreien Städten unter Kontrolle
verschiedener alternativer Erklärungsfaktoren
AfD-Wahlergebnis
Standardisierte BetaKoeffizienten
Ausländeranteil
-0,15 (0,06)*
Deprivationsindex
Bevölkerungsdichte
0,63
(0,18)***
-0,00 (0,00)
-0,09
Wahlergebnis Rep BTW 1994
2,41 (0,14)***
0,45
Osten
Kreisfreie Stadt
11,44 (0,55)***
-0,19 (0,26)
0,86
-0,02
Stadtstaat
0,13 (0,91)
Erklärte Varianz (R²)
N
0.81***
393
0,12
-0.06
0,00
Anmerkungen: *p < 0.05; **p < 0.01; *** p < 0.001; Referenzkategorien: Westen; Landkreis;
Stadtstaaten: Berlin; Hamburg; Bremen; Bremerhaven
Alle robusten Standardfehler angezeigt in Klammern
Tabelle 2 - OLS Regression von Ausländeranteil auf das AfD-Wahlergebnis bei der
Bundestagswahl 2017 in Gemeinden unter Kontrolle verschiedener alternativer
Erklärungsfaktoren
AfD-Wahlergebnis
Standardisierte BetaKoeffizienten
Ausländeranteil
Bevölkerungsdichte
-0,30 (0,02)***
-0,00 (0,00)***
-0,17
-0.15
Ausländeranteil*
Bevölkerungsdichte
0,00 (0,00)***
0,13
Anteil Arbeitsloser
Osten
Kreisfreie Stadt
1,50 (0,06)***
1,80 (0,25)***
-2,07 (0,48)***
0,33
0,11
-0,01
Stadtstaat
-4,97 (0,86)***
0,01
Erklärte Varianz (R²)
N
0.20***
9538
Anmerkungen: *p < 0.05; **p < 0.01; *** p < 0.001; Referenzkategorien: Westen; Landkreis;
Stadtstaaten: Berlin; Hamburg; Bremen; Bremerhaven
Alle robusten Standardfehler angezeigt in Klammern
Tabelle 3 - Fixed-Effects Regression von Ausländeranteilen auf AfD-Wahlergebnisse
in Landkreisen und kreisfreien Städten unter Kontrolle verschiedener alternativer
Erklärungsfaktoren
AfD-Wahlergebnis
1,74 (0,10)***
Ausländeranteil
Anteil Arbeitsloser
Bevölkerungsdichte
-3,62
(0,17)***
-0,01 (0,00)**
Landtagswahl
3.24 (0,16)
Erklärte Varianz (R²)
rho
N
T
within
between
0,64
0,02
0,96
393
4,1
Anmerkungen: *p < 0.05; **p < 0.01; *** p < 0.001; Landtagswahl gibt an, ob die jeweilige
Wahl eine Landtagswahl war
89
DEUTSCHLAND UND DIE MIGRATIONSFRAGE
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ZUNAHME VON MIGRATION - STÄRKUNG DER AFD?
91
D
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
Zusammenfassung
Die Politikfelder Asyl und Migration sind innerhalb der EU historisch
gewachsen: Bereits mit dem Schengener Abkommen und dem gemeinsamen Binnenmarkt wurden Binnengrenzkontrollen abgeschafft, Kontrollen an den Außengrenzen verstärkt und so erste Schritte in Richtung
einer Vergemeinschaftung unternommen.
Maßnahmen, die einen Souveränitätstransfer beinhalten, sind umstritten.
Daher ist die Verteilung von Geflüchteten auf Basis von festgelegten Mechanismen besonders konfliktreich.
Seit 2015 gab es hauptsächlich Einigungen im Bereich des Grenzschutzes. Die Ausarbeitung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
kam hingegen kaum voran.
Die Bundesregierung ist mit ihren Vorschlägen zur Verteilung von aus
dem Mittelmeer geretteten Asylsuchenden Teil der europäischen Auseinandersetzung.
Seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise rückten Fragen der Asyl- und
Migrationspolitik ins Zentrum der deutschen Öffentlichkeit und der Medienberichterstattung (siehe Abb. 1). Ein Umstand, der bis heute nur leicht
nachgelassen hat (MIDEM 2019). Zuletzt zeigte die europäische Debatte um
die Verteilung von im Mittelmeer geretteten Asylsuchenden, wie umstritten
das Thema rund vier Jahre nach dem Höhepunkt der ‚Krise‘ noch immer ist.
Nach wiederholten Kontroversen um die Aufnahme von im Mittelmeer geretteten Asylsuchenden machte die deutsche Regierung in Absprache mit Frank-
Abb. 1: Aggregierte Häufigkeit von migrationsbezogenen Schlagworten in ausgewählten überregionalen Medien
2015−01−01 / 2019−10−01
Artikel pro Monat
FAZ.net
SZ.de
Spiegel.de
800
Migrationspakt
Koalitionsstreit um Zurück−
weisungen an der Grenze
Bundestagswahl 2017
1000
Terroranschlag in Berlin
1200
Silversternacht 2015/16
Höhepunkt der
Flüchtlingskrise
Aggregierte Schlagworthäufigkeit (pro Monat): faz.net, Süddeutsche.de und Spiegel.de
1200
1000
800
600
600
400
400
200
200
Jan
2015
Apr
2015
Jul
2015
Okt
2015
Jan
2016
Apr
2016
Jul
2016
Okt
2016
Jan
2017
Apr
2017
Jul
2017
Okt
2017
Jan
2018
Apr
2018
Jul
2018
Okt
2018
Jan
2019
Apr
2019
Jul
2019
Okt
2019
Quelle: faz.net, süddeutsche.de, spiegel.de / Eigene Darstellung
93
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
reich einen Vorstoß und erklärte, ein Viertel der Geretteten aufnehmen zu wollen. Es war ein weiterer Versuch, die ins Stocken geratene Debatte über Verteilungsfragen von Asylsuchenden erneut anzustoßen und eine europäische
Lösung zu suchen. Letztlich scheiterte die Bundesregierung, da keine weiteren
Mitgliedstaaten diesem temporären Notfallmechanismus zustimmen wollten.
Die Debatte um in Seenot geratene Asylsuchende veranschaulicht die Konfliktlinien innerhalb der europäischen Migrations- und Asylpolitik. Ein Blick auf die
Geschichte europäischer Asylpolitik zeigt, dass insbesondere Verteilungsfragen
stets konfliktreich verhandelt werden.
DIE SUCHE NACH EINER GEMEINSAMEN EUROPÄISCHEN ASYLUND MIGRATIONSPOLITIK VOR 2015
94
DIE ANFÄNGE EUROPÄISCHER
ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
Die EU-Mitgliedstaaten ringen nicht erst seit den zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Konflikten im Zusammenhang mit der gestiegenen Fluchtmigration um eine gemeinsame Position in der Asyl- und
Migrationspolitik. Mit dem Schengener Abkommen und der Schaffung
eines gemeinsamen Binnenmarktes als Ausgangspunkt für die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen und den verstärkten Kontrollen an den
Außengrenzen wurde versucht, die Bereiche der Asyl- und Migrationspolitik Schritt für Schritt zu vergemeinschaften. So wurde im Dublin-Abkommen 1990 das Erstaufnahmelandprinzip festgelegt und im Vertrag von
Maastricht 1993 die Verpflichtung zur Zusammenarbeit im Bereich der
Asylpolitik formuliert (Gans/Pott 2018). Der Vertrag von Amsterdam 1997
integrierte die Migrations-, Asyl- und Grenzpolitik in den europäischen Gemeinschaftsrahmen (Gans/Pott 2018: 44). Das Vertragswerk sollte zudem
den Grundstein für die Entwicklung gemeinsamer Mindeststandards bei
der Aufnahme und Statusvergabe während des Asylverfahrens legen. Im
Vertrag von Lissabon wurde 2007 die Zielvorgabe einer gemeinsamen Einwanderungspolitik formuliert (Baumer 2017: 98). Dennoch blieb die weitere Ausgestaltung der Integrationspolitik sowie der Arbeitsmigration den
Nationalstaaten vorbehalten.
DIE ETABLIERUNG DES
GEMEINSAMEN EUROPÄISCHEN
ASYLSYSTEMS (GEAS)
Ein wichtiger Schritt hin zu einer Harmonisierung der Asylverfahren war die
Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Dieses
wurde in zwei Phasen verhandelt: 1999 begann, initiiert durch den Europäischen Rat, auf dem Gipfel von Tampere die erste Phase. Ziel war die
Harmonisierung nationaler Regelungen und die Angleichung der Standards
bei der Aufnahme und Durchführung der Asylverfahren (Trauner 2016: 94;
Angenendt et al. 2013: 2). Mit dem Haager Programm wurde ab 2005 die
zweite Phase des GEAS eingeleitet. Hier stand im Vordergrund, „von den
gemeinsamen Mindeststandards zu einem tatsächlichen harmonisierten
EU-Asylsystem zu kommen“ (Trauner 2016: 94).
UNGLEICHE STANDARDS BEI
ASYLVERFAHREN
Die Angleichungsprozesse in der Asylpolitik ergeben sich aus der Logik des
Dublin-Verfahrens, das auf vergleichbare Standards bei der Aufnahme innerhalb der europäischen Mitgliedstaaten setzt (Trauner 2016: 94). Diesen
Bemühungen zum Trotz ist es nur ansatzweise gelungen, eine gemeinsame europäische Asylpolitik zu entwickeln. So haben Ungleichheiten innerhalb der Mitgliedstaaten in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen.
Die Anerkennungsquoten und die Art des zuerkannten Schutzes variieren
sehr stark zwischen den Ländern (Schneider/Parusel 2017; Roos 2018: 27).
Zudem zeigen sich einzelne Staaten kaum in der Lage, funktionierende
Asylverfahren zu garantieren (Trauner 2016: 105). Nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Gerichtshofs
der Europäischen Union (EuGH) wurden zeitweise Rückführungen von Asylsuchenden nach Griechenland untersagt, da sie dort menschenrechtswidrigen Zuständen ausgesetzt seien (Trauner 2016; Roos 2018: 27). Mit ähnlichen Begründungen wurden auch Dublin-Überführungen nach Italien und
Bulgarien gestoppt (Roos 2018: 27).
Die mangelnden Standards und die daraus resultierende Unberechenbarkeit, ein faires Asylverfahren zu durchlaufen, erhöhen die strukturelle Unsicherheit für Asylsuchende und bieten darüber hinaus rechtliche Lücken,
die eine konsequente Durchsetzung des Erstaufnahmeprinzips der Dublin-Verordnung erschweren (Angenendt et al. 2016: 2). Dies zeigt sich unter anderem dann, wenn Asylsuchende versuchen, „eine Registrierung zu
vermeiden, bis sie innerhalb der EU ein für sie attraktives Zielland erreicht
haben“ (Angenendt et al. 2016: 2). Die unterschiedlichen Anerkennungsquoten, nicht funktionierende Asylsysteme und die ungleiche Verteilung
zeigen, dass die Ausgangsbedingungen nur auf dem Papier gleich sind und
es daher in der Praxis noch eine große Rolle spielt, in welchem Mitgliedstaat Asylsuchende einen Antrag stellen. Versuche, durch Reformen eine
Vereinheitlichung innerhalb der EU zu erzielen, wurden immer wieder aufgegriffen, ohne jedoch nennenswerte Fortschritte erreicht zu haben.
Begleitet wurden die Koordinationsbestrebungen durch den Ausbau des
Schutzes der europäischen Außengrenzen. Bereits im Schengener Abkommen legten die teilnehmenden Staaten fest, dass die Abschaffung der
Binnengrenzkontrollen einen verstärkten Schutz der europäischen Außengrenzen erforderlich mache. Zu diesem Zweck wurde 2004 die Grenzschutzagentur Frontex gegründet, die 2005 ihre Arbeit aufnahm. 2011 und
2016 erfolgten Reformen, die eine Erweiterung der Ressourcen und Kompetenzen der Agentur vorsahen. So konnte Frontex ab 2011unter anderem
mehr Personal anfordern und eigene Ausrüstung akquirieren.
AUSBAU DES EUROPÄISCHEN
GRENZSCHUTZES
Zudem schlossen sowohl die Europäische Union als auch einzelne EU-Mitgliedstaaten Abkommen zur Kooperation mit Drittstaaten. Diese Abkommen sind Teil einer Externalisierungsstrategie der Europäischen Union und
zielen darauf ab, Migration mit Hilfe ausgewählter Partnerländer sowohl zu
steuern als auch zu reduzieren. Im Rahmen dieser Strategie wurde Libyen
auf Initiative von Italien 2008 zu einer ‚Regional Protection Area‘ erklärt. Ziel
der Initiative ist es, Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa zu hindern
(Kipp/Koch 2018: 16). 2017 schloss sich die sozialdemokratisch geführte Regierung Italiens in einem Memorandum der Initiative an. Im Gegenzug für
das Fernhalten von Asylsuchenden unterstützt Italien die Ausbildung von
Personal in Auffanglagern, bei der Grenzpolizei und der Küstenwache.
EXTERNALISIERUNGSSTRATEGIEN
DER EU
Eine weitere Facette der EU-Externalisierungsstrategien sind Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten, wie es zum Beispiel seit 1992 zwischen Spanien und Marokko besteht. Darüber hinaus kooperieren spanische und
marokkanische Grenzschützer an den Grenzen der spanischen Enklaven
Melilla und Ceuta (Werenfels 2018: 30f.). Auch die EU beteiligt sich an Kooperationen mit Marokko: So werden irreguläre Migrierende an marokkanischen Grenzposten an der algerischen Grenze zurückgeschickt und
bereits im Landesinneren aufgehalten. Im Gegenzug unterstützt die EU
Marokkos Sonderkräfte und die Grenzsicherung finanziell. Bei der Überführung solcher bilateralen Abkommen in einen gemeinsamen EU-Rahmen
zeigt sich jedoch, dass monetäre Anreize allein nur begrenzt Wirkung zeigen. Marokkos Regierung beispielsweise möchte nicht den Eindruck eines
asymmetrischen Abkommens erwecken und fordert nicht nur finanzielle
Unterstützung, sondern auch immaterielles Entgegenkommen wie Visaliberalisierungen für den Tourismus (Werenfels 2018: 34). Die EU war bisher nicht bereit, in diesem Bereich entgegenzukommen.
Weitere Kooperationen mit Drittstaaten im Hinblick auf Migration finden
sich in der Entwicklungszusammenarbeit und der Fluchtursachenbekämpfung. Bereits 2005 schuf die Kommission im „Gesamtansatz Migration“ einen Rahmen für die Kooperation mit Drittstaaten (Kipp 2018; Süß 2019: 2):
„Dieser wurde im Jahr 2012 zum Gesamtansatz Migration und Mobilität
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT UND FLUCHTURSACHENBEKÄMPFUNG
95
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
(GAMM) weiterentwickelt“ (Kipp 2018: 8). Eines von vier gleichwertigen
Zielen war dabei die Abwehr und Reduktion irregulärer Migration. Auf der
Basis dieses Gesamtansatzes schloss die EU sogenannte Mobilitätspartnerschaften mit neun Ländern in geografischer Nähe und sogenannte Gemeinsame Agenden zu Migration und Mobilität mit Indien, Äthiopien und
Nigeria. Diese Instrumente sind rechtlich nicht bindend und enthalten lediglich Unterstützungsangebote seitens der EU, um die Rücknahme abgelehnter Asylsuchender zu belohnen. Bisher sind diese beiden Instrumente
jedoch wenig erfolgreich (Kipp 2018: 9).
Trotz der über Jahre andauernden Bemühungen, eine gemeinsame Asylund Migrationspolitik zu definieren und zu gestalten, ist eine kohärente, gemeinschaftliche Politik in diesen Bereichen nur ansatzweise realisiert worden. Stockende Reformen und halbherzig umgesetzte Beschlüsse haben zu
einem migrationspolitischen ‚Flickenteppich‘ geführt, der die europäische
Migrationspolitik bis heute prägt (Gans/Pott 2018: 44). Die Gründe hierfür
sind vielfältig, doch führte insbesondere der Transfer von Souveränitätsrechten auf die supranationale Ebene zu Vorbehalten innerhalb einiger
Mitgliedstaaten (Saracino 2019: 144). Die Sorge vor dem Verlust nationalstaatlicher Souveränität führte letztlich dazu, dass eine weitere Ausgestaltung des GEAS kaum vorankam.
Abb. 2: Die wichtigsten Abkommen und Vertragsänderungen innerhalb der EU
96
Maßnahme
Inhalt
1985: Schengener
Abkommen
Abschaffung der Binnengrenzkontrollen.
Verstärkte Kontrollen an den Außengrenzen zur Verhinderung internationaler Kriminalität
und illegaler Einwanderung.
1990: DublinAbkommen
1997 in Kraft getreten.
Festlegung der Zuständigkeit des Ersteinreiselandes für das Asylverfahren eines Antragsstellers.
1993: Vertrag von
Maastricht
Erstmalige Verpflichtung, im Bereich Asyl zusammenzuarbeiten.
Asyl fällt in den Bereich zwischenstaatlicher Kooperation.
1995: Schengen II
Benelux-Länder, Frankreich und Deutschland einigen sich unter anderem auf gemeinsame
Visaregelungen und Zuständigkeiten bei Asylverfahren.
1997: Vertrag von
Amsterdam
Migrations-, Asyl- und Grenzpolitik wird in den europäischen Gemeinschaftsrahmen integriert.
Binnen fünf Jahren nach Inkrafttreten soll der Europäische Rat Kriterien zur Bestimmung,
welcher Mitgliedsstaat für ein Asylverfahren zuständig ist, entwickeln und gemeinsame
Mindeststandards zur Aufnahme, Statusvergabe und Verfahren festlegen.
1999: TampereProgramm
Die Pläne des Vertrags von Amsterdam sollen in zwei Phasen implementiert werden: zunächst gemeinsame Mindeststandards, langfristig ein gemeinsames Verfahren und ein
einheitlicher Asylstatus.
1999 – 2005: erste
Phase GEAS
2001: Massenzustrom-Richtlinie mit Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden
Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Flüchtlingen.
2003: Dublin-II-Verordnung: Einführung der Fingerabdruck-Datenbank.
2003: Aufnahmerichtlinie über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern.
2004: Anerkennungsrichtlinie mit Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von
Drittstaatenangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder Personen, die anderweitig
internationalen Schutz benötigen.
2005: Asylverfahrensrichtlinie über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten
zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft.
2001: Vertrag von
Nizza
Im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik werden einstimmig gemeinsame Grundsätze
festgelegt, welcher Abstimmungsmodus genutzt wird. Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen sind also nicht – wie in vielen anderen Bereichen – der Standard.
2004: Gründung
Frontex
Frontex wird mit der Aufgabe der operativen Zusammenarbeit an den Außengrenzen gegründet.
2004: Haager
Programm
Das Programm soll die zweite Phase einläuten.
Ambition bis 2010: Entwicklung eines einheitlichen Asylverfahrens.
2008 verschob der Europäische Pakt zu Immigration und Asyl diese Deadline auf 2012.
2007: Vertrag von
Lissabon
Von gemeinsamen Mindeststandards soll es eine Transformation hin zu einem gemeinsamen System mit einheitlichen Statusgruppen und ein einheitliches Verfahren geben.
Entscheidungen im Bereich Asyl erfolgen nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren.
Mit Artikel 80 AEUV gilt der Grundsatz der Solidarität und der geteilten Verantwortung in
der Asylpolitik.
2009: StockholmProgramm
Das Programm betont die bisherigen Ziele und unterstreicht die Wichtigkeit der Solidarität.
Außerdem hebt es die zentrale Rolle des neuen European Asylum Support Office hervor.
2009-2013: zweite
Phase GEAS
2011: Neufassung der Anerkennungsrichtlinie über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen
einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz
und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes.
2013: Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes.
2013: Neufassung der Aufnahmerichtlinie zur Festlegung von Normen für die Aufnahme
von Personen, die internationalen Schutz beantragen.
2013: Dublin III
2011: Befugniserweiterung Frontex
Frontex erhält die Möglichkeit, Personal anzufordern und eigene Ausrüstung anzuschaffen.
2015: Europäische
Migrationsagenda
der Kommission
Die Agenda enthält Vorschläge zur besseren Zusammenarbeit verschiedener europäischer
Behörden wie Frontex und Europol.
Entwicklung des Hotspot-Systems.
2016: Ausbau
Frontex
Frontex erhält eine 1.500 Personen starke stehende Truppe und die Möglichkeit, Flugzeuge
zu mieten.
2019: Frontexreform
Aufstockung des ständigen Personals auf 10.000 bis 2027.
Aufstockung der finanziellen Mittel und neue Kompetenz bei Aufgaben der Rückführung.
Quelle: Baumer 2018; von Gröhheim 2018; Gans/Pott 2018; Engler 2019.
REFORMANSÄTZE DER EUROPÄISCHEN ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK NACH DER ‚FLÜCHTLINGSKRISE‘
Der starke Anstieg der Fluchtmigration im Jahr 2015 hat die Schwächen
des bisherigen Asyl- und Migrationssystems der EU sowie die Notwendigkeit von Reformen aufgezeigt. Als Reaktion auf die steigenden Grenzübertritte und zwei Bootsunglücke im Frühjahr 2015, bei denen mehrere hundert Asylsuchende ums Leben kamen, stellte die Europäische
Kommission im Mai 2015 einen Entwurf zu einer neuen „Europäischen
Agenda für Migration“ vor. Die Agenda enthält Vorschläge zur besseren
Zusammenarbeit verschiedener europäischer Behörden, die Etablierung
sogenannter Hotspots, die Bekämpfung der Schleuserkriminalität sowie
97
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
einen Umverteilungsmechanismus, der die grenznahen Länder Italien
und Griechenland entlasten sollte. Es zeigte sich schnell, dass gerade der
Vorschlag zur solidarischen Umverteilung Geflüchteter1 innerhalb der EU
zu Konflikten führte.
WIDERSTAND
OSTEUROPÄISCHER STAATEN
Die Visegrád-Gruppe um Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei sprach
sich gegen eine Umverteilung aus (Trauner 2016: 102f.). Auch Spanien und
Großbritannien signalisierten, keine Asylsuchenden durch Umverteilungsmaßnahmen aufnehmen zu wollen. Länder, die an den Migrationsrouten lagen, wie
Italien, Griechenland und Malta, oder das direkte Ziel der Migrationsbewegung
waren (Österreich, Belgien und Schweden), sprachen sich für die Pläne aus
(Engler 2019; Trauner 2016: 102). Auch Deutschland begrüßte das Vorhaben
(BMI 2015). Im Herbst 2015 wurden die Pläne gegen den expliziten Widerstand
der Visegrád-Gruppe durch eine Mehrheitsentscheidung des Ministerrates
beschlossen. Der Mehrheitsbeschluss ist insofern außergewöhnlich, da er ein
Abrücken von der im Rat gepflegten Konsensnorm darstellte. Rund „zwei Drittel aller Entscheidungen im Rat für Justiz und Inneres“ werden mit Zustimmung
aller Mitglieder getroffen (Ross 2018: 30). Zwar konnte durch die Umgehung
der Norm formal eine Lösung herbeigeführt werden, die im Konsens kaum
möglich schien, doch zeigte sich alsbald, dass es der Entscheidung an Legitimation fehlte. Die Umverteilung wurde von den Mitgliedstaaten nur zögerlich oder
gar nicht umgesetzt (Geddes/Ruhs 2019: 1). Nur ein Bruchteil der vereinbarten
Zahlen an Asylsuchenden konnte aus den Hotspots an den Außengrenzen in
Griechenland und Italien umgesiedelt werden. Kurz darauf folgte die Einstellung des Programms (Trauner 2016: 103f.).
DIE WEITERENTWICKLUNG
DES GEAS STOCKT
Auch die Pläne der Kommission vom Frühjahr 2016, die weitreichende Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorsahen, wurden von der
Bundesregierung begrüßt (Bundesregierung 2016). So sollten die Asylverfahren vereinheitlicht und verkürzt sowie die Schutznormen und Aufnahmebedingungen angeglichen werden (Europäische Kommission 2016). Ein verbindlicher
Verteilungsschlüssel, der anstelle des Ersteinreiseprinzips Anwendung finden
sollte, wurde jedoch aus dem Entwurf gestrichen (Engler 2019). Ende 2017
stimmte das Europäische Parlament einer Reform des Dublin-Systems zu und
votierte für die Einführung eines verbindlichen Verteilungsmodells. Doch trotz
verschiedener Initiativen kommt die Weitergestaltung des GEAS bis heute nicht
voran (Kipp 2018: 7).
POSITIONEN DEUTSCHER POLITIK
Die Bundestagswahl und die daran anschließenden Koalitionsverhandlungen prägten die politische Themensetzung im Herbst und Winter 2017, größere Initiativen der Bundesregierung in der Asyl- und Migrationspolitik auf
europäischer Ebene blieben aus. Nur wenige Wochen nach dem Ende der
Koalitionsverhandlungen kam es zum Zerwürfnis zwischen der Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer. Die Frage des europäischen Grenzregimes katapultierte das Thema auf die politische Tagesordnung. Innenminister Seehofer nahm eine Passage aus dem Koalitionsvertrag,
in der sich die Koalitionsparteien darauf geeinigten hatten, im Falle eines Versagens des europäischen Grenzschutzes Kontrollen an der deutschen Binnengrenze zweitweise zuzulassen, zum Anlass, irreguläre Migrantinnen und
Migranten und bereits in einem anderen EU-Land registrierte Asylsuchende an den deutschen Grenzen zurückzuweisen. Der Vorstoß erfolgte ohne
Absprache mit den Koalitions- oder den europäischen Partnern. Bei strikter
Befolgung des Planes hätte eine Kettenreaktion der Nachbarländer gedroht,
1 Der Verteilungsmechanismus basiert unter anderem auf dem BIP und der Bevölkerungsgröße der einzelnen Mitgliedstaaten. Insgesamt sollten 160.000 Geflüchtete aus Lagern in Italien und Griechenland auf
andere Mitgliedsstaaten verteilt werden (Trauner 2016: 102).
98
die ihrerseits verlautbarten, die Grenzen schließen zu wollen. Die Kanzlerin
versuchte dem Streit auf dem EU-Gipfel im Juni 2018 beizukommen. Dabei
standen die Zeichen für eine Unterstützung schlecht. Zunächst einmal blieben zwölf der 28 Mitgliedstaaten dem Treffen fern. Unter anderem fehlten
Vertretende der Visegrád-Gruppe, die eine verpflichtende Aufnahme von
Asylsuchenden weiterhin kategorisch ablehnen. Des Weiteren nahm Italien
zwar teil, zeigte sich jedoch schon im Vorfeld kritisch und signalisierte, eher
Geflüchtete abgeben als neue aufnehmen zu wollen. Im Schlussdokument
selbst wurden größere Solidaritätsbekundungen ausgeklammert und stattdessen zu Umverteilung auf „freiwilliger Basis“ aufgerufen (Europäischer Rat
2018: 2). Im Hinblick auf Asylverfahren im Rahmen eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems konnte man sich nur auf eine Prüfung der Möglichkeit einheitlicher Verfahren einigen. Der Koalitionsstreit konnte schließlich
beigelegt werden, indem man sich auf das gemeinsame Ziel bilateraler Rücknahmeabkommen mit anderen EU-Mitgliedstaaten einigte.
INFOBOX – Koalitionsvertrag von 2018: Europapolitische Forderungen der Großen Koalition in der Asyl- und Migrationspolitik
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD erklären die Unterzeichner,
„für ein gemeinsames europäisches Asylsystem“ einzutreten und sich
„aktiv am Prozess der Reform des Dublin-Verfahrens“ beteiligen zu wollen (CDU et. al 2018: 104). Ein „Verteilmechanismus für Schutzbedürftige, die Frage der Menschenrechte in Drittstaaten sowie das Prinzip der
Zuständigkeit des Ersteinreiselandes für Asylbewerber“ sollen hierbei
eine übergeordnete Rolle spielen (CDU et al. 2018: 104). Erklärtes Ziel
des Vorhabens sei es, die „Migrationsbewegungen nach Deutschland
und Europa angemessen mit Blick auf die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu steuern und zu begrenzen, damit sich eine Situation wie
2015 nicht wiederholt“ (CDU et al. 2018: 103). Weiter tritt die Koalition
in Übereinkunft mit den Forderungen aus den Europawahlprogrammen der Parteien dafür ein, dass „die Asylverfahren einschließlich der
Standards bei der Versorgung und Unterbringung von Asylbewerbern“
angeglichen werden (CDU et. al 2018: 104). Dabei soll gelten, dass volle
Leistungen „nur noch im zugewiesenen EU-Mitgliedstaat gewährt“ werden (CDU et al. 2018: 104). Weiter soll die Grenzschutzagentur Frontex
„zu einer echten Grenzschutzpolizei“ weiterentwickelt werden. Solange
der EU-Grenzschutz nicht effektiv funktioniert, hält die Koalition Kontrollen an der deutschen Binnengrenze für vertretbar.
Im Mai 2019 gelangten mit der Europawahl Fragen der europäischen Asylund Migrationspolitik abermals auf die politische Agenda. Der Blick in die
Europawahlprogramme deutscher Parteien – mit Ausnahme der AfD –
zeigt, dass Themen zur Asyl- und Migrationspolitik als genuin europäische
Themen wahrgenommen werden und es dementsprechend europäischer
Lösungsansätze bedarf (siehe Abb. 3 und 4). Ein Streitpunkt, der von verschiedenen Parteien behandelt wurde und sehr unterschiedliche Herangehensweisen beinhaltete, ist die Seenotrettung im Mittelmeer. Dieses
Thema zeigt, wie komplex die Suche nach europäischen Lösungen ist, und
führte wiederkehrend zu innereuropäischen Spannungen. Eine mögliche
Lösung, die unter anderem durch die Bundesregierung und insbesondere durch Innenminister Horst Seehofer im Juni 2019 abermals aufgegriffen
wurde, war eine ‚Koalition der Aufnahmewilligen‘ bzw. eine ‚Koalition der
Hilfsbereiten‘. Diese sieht eine freiwillige Aufnahme Geflüchteter vor; die
Bundesregierung erklärte im Sommer 2019, künftig ein Viertel der aus dem
Mittelmeer Geretteten aufnehmen zu wollen. Gerade deren Verteilung hatte in den Jahren 2018 und 2019 wiederkehrend für Konflikte in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik gesorgt. Neben Deutschland einigten sich
die Innenminister Frankreichs, Italiens und Maltas bei einem Gipfeltreffen
ERNEUTER VERSUCH DER
UMVERTEILUNG
99
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
Abb. 3: Programme zur Europawahl: Asyl und Migration - europäische
oder nationale Angelegenheit?
als deutsche Angelegenheit
10 %
als europäische Angelegenheit
9%
8%
7%
6%
5%
4%
3%
2%
1%
0%
AfD
CDU/CSU
BÜNDNIS 90/
DIE GÜNEN
DIE
LINKE
FDP
SPD
Quelle: Europawahlprogramme der Parteien 2019 / Eigene Darstellung
im September 2019 auf einen Notfallmechanismus für eine Dauer von
sechs Monaten. Seehofer selbst bezeichnete das Vorhaben als Pilotprojekt
für eine gemeinsame europäische Asylpolitik (Leubecher/Schiltz 2019: 1).
Das Vorhaben scheiterte jedoch vorerst: Bei einem Treffen des Ministerrats
am 7. Oktober 2019 war kein weiterer Mitgliedstaat bereit, sich der Umverteilung offiziell anzuschließen (Leubecher/Schiltz 2019: 1).
GRENZSCHUTZ UND KOOPERATIONEN MIT DRITTSTAATEN
FRONTEX-REFORMEN
KOMMEN VORAN
100
Während die Umsetzung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
nur schwer vorankam und die Umverteilung Geflüchteter am Widerstand
einiger Länder scheiterte, zeigten sich Reformvorhaben mit dem Ziel der
Reduktion irregulärer Migration spürbar konfliktärmer. Innerhalb von drei
Jahren wurden zwei Reformen der Grenzschutzagentur vorangebracht. Auf
die Reform im Jahr 2016 folgte bereits im Frühjahr 2019 eine erneute Erweiterung der Kompetenzen. Rat und EU-Parlament beschlossen die Etablierung einer ständigen Reserve von 10.000 Grenzschutzbeamtinnen und
-beamten. Zudem sollten Frontex-Bedienstete „künftig stärker operative
Aufgaben wahrnehmen, etwa Identitätsfeststellungen durchführen oder
Einreisegenehmigungen an den EU-Außengrenzen erteilen“ (Engler 2019).
Dabei ist eine Zusammenarbeit nur mit Zustimmung des jeweiligen Mitgliedstaats vorgesehen. In früheren Entwürfen sollte Frontex in Ausnahmefällen auch ohne Anfrage der Mitgliedstaaten den Grenzschutz regeln dürfen. Dies scheiterte jedoch am Widerstand aus mittel- und osteuropäischen
Ländern und Mittelmeeranrainern wie Italien und Griechenland, da diese
Länder Eingriffe in ihre staatlichen Hoheitsrechte befürchteten. Ungarns
Premier Viktor Orbán kritisierte, dass Grenzschutz eine nationale Angelegenheit sei, die Ungarn besser zu lösen verstehe. Weiterhin sah Ungarn in
diesem Vorschlag einen „pro-immigration“-Vorstoß und behauptete, dass
es sich dabei um einen Versuch Merkels handele, Macht nach Brüssel zu
transferieren, um weitere Asylsuchende in die EU zu lassen (EURACTIV.com
2018). Auch der slowakische Ministerpräsident Peter Pellegrini lehnte eine
Frontex-Reform mit Einsatzmöglichkeiten ohne Zustimmung der Mitgliedstaaten mit der Begründung ab, dass unter dem Label von Frontex keine
kleine europäische Armee entstehen solle (Gotev 2018). Sowohl die deutsche Regierungskoalition als auch Österreich und Frankreich befürworteten
die Reformpläne grundsätzlich, auch wenn es seitens Österreich Kritik am
Zeitplan gab (FAZ 2018; Weisskircher 2018; Meier 2018; Macron 2019).
Abb. 4: Vorschläge der im Bundestag vertretenen Parteien für eine europäische Asyl- und Migrationspolitik
AfD
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
CDU/CSU
Gemeinsames
Europäisches
Asylsystem
Ausdrückliche Ablehnung eines
gemeinsamen Systems, Zuständigkeit nationaler Parlamente,
Ablehnung verbindlicher Aufnahmequoten
Einheitliches System mit solidarischem Verteilungsmechanismus, Intensivierung freiwilliger
Rückkehr, Unterstützung für
aufnahmewillige Kommunen
Solidarische Lastenverteilung
bei Beibehalten der Zuständigkeit des Ersteinreiselandes,
Harmonisierung von Asylverfahren, Asylbewerberleistungen
und Aufnahmebedingungen
Grenzschutz
Dauerhafte nationale Grenzkontrollen, für die Außengrenzen ist der jeweilige Mitgliedstaat zuständig
Grenzkontrollregime mit zuver- Aufstockung von Frontex bis
lässiger Registrierung und Erst- zur Wirksamkeit weiterhin nationale Grenzkontrollen
versorgung, keine Aufrüstung
von Frontex
Kooperation
mit Drittstaaten
Beschränkung auf Staaten, die Faire Entwicklungszusammen- Weitere Abkommen nach Vorabgewiesene Staatsangehörige arbeit, Ablehnung von Massen- bild des EU-Türkei-Abkommens
zurücknehmen; Abkommen mit lagern
Staaten, die abgelehnte Migranten aufnehmen, die nicht abgeschoben werden können
DIE LINKE
FDP
Gemeinsames
Europäisches
Asylsystem
Faire Verteilung nach ökonomischen Maßstäben, Hilfe für
aufnahmewillige Kommunen,
einheitliche Standards auf
hohem Niveau; Wahlfreiheit
Geflüchteter, wo der Antrag
gestellt wird
einheitliches europäisches Asyl- Solidarischer Verteilungsschlüssel, einheitliche Verfahren und
und Flüchtlingsrecht mit verbindlichem Verteilungsschlüssel Anreize für freiwillige Rückkehr
bzw. Ausgleichszahlungen
Grenzschutz
Auflösung von Frontex, stattdessen Seenotrettungsprogramm
Aufstockung und Zusatzkompe- Ausbau Frontex zu einer eurotenzen Frontex
päischen Grenzschutzpolizei
Hotspots in Herkunfts- und
Kooperation
Ablehnung weiterer AbkomTransitländern, humanitäre
mit Drittstaaten men nach Vorbild des EUTürkei-Abkommens; Ablehnung Schutzzonen
von Zentren und Lagern
SPD
Schließen von Rücknahmeabkommen, Ablehnung von „Ausschiffungsplattformen“
Quelle: Europawahlprogramme der Parteien 2019
Außerdem unterstützte die Europäische Union die Unterzeichnung bilateraler
Abkommen, um irreguläre Migration zu reduzieren. Ein besonderes Beispiel ist
das EU-Türkei-Abkommen, das die Abschiebung von Migrantinnen und Migranten, die irregulär die Grenze zwischen der Türkei und der EU übertreten haben,
in die Türkei vorsieht und im Gegenzug eine Aufnahme anderer Geflüchteter
über ein Resettlement-Programm aus der Türkei festlegt. Diese Umverteilung
wurde in bestehende Mechanismen integriert und ist für die Mitgliedstaaten
freiwillig. Einige Mitgliedstaaten – allen voran Ungarn – lehnen die Umverteilung
von Geflüchteten nach wie vor vehement ab und stimmten diesem Deal nur
durch den Zusatz der Freiwilligkeit zu (Lehner 2018: 177). Nach dem Vorbild
des EU-Türkei-Abkommens, das von der Bundesregierung protegiert wurde
(Alexander et al. 2016) und sehr direkt die Reduktion von Migration fokussiert,
werden weitere Abkommen mit nordafrikanischen Ländern angestrebt. Während eine Kooperation zwischen Spanien und Marokko schon länger besteht,
rückte Libyen als eines der Haupttransitländer in den Fokus.
101
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
Seit 2016 wird im Rahmen der European Union Naval Force – Mediterranean Operation SOPHIA (EUNAVFOR MED)2 die libysche Küstenwache ausgebildet (Kipp/Koch 2018: 13). Anfang 2017 wurden die weitere Ausrüstung
und Ausbildung der libyschen Marine und Küstenwache sowie „finanzielle
Mittel für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Aufnahmebedingungen in den Auffangzentren in Libyen“ zugesagt (Engler 2019).
Im Gegenzug soll die libysche Marine ablegende Boote möglichst noch in
den eigenen Gewässern abfangen und zurückführen. Die Zusammenarbeit
geht auf Beschlüsse Italiens und der Europäischen Union zurück, die eine
Reduktion der Zuwanderung aus Libyen zum Ziel hatten (Engler 2019). Auf
dem Migrationsgipfel im Juni 2018 wurde diese Strategie durch die teilnehmenden Länder abermals bekräftigt.
ZENTRALE AUFFANGLAGER
INNER- UND AUSSERHALB
EUROPAS
Zudem sollen die Möglichkeiten zur Errichtung zentraler Auffanglager sowohl
innerhalb als auch außerhalb der EU ausgelotet werden. Hierbei wurden im
Rahmen des Gipfels zwei Modelle diskutiert: sogenannte Ausschiffungsplattformen und Hotspots nach dem Vorbild griechischer und italienischer zentraler
Lager. Die Ausschiffungsplattformen liegen außerhalb Europas, werden aber
durch die EU verwaltet. Sie richten sich vor allem an Asylsuchende, die auf See
aufgegriffen wurden. Der Grundgedanke der Ausschiffungsplattformen ist,
dass Asylsuchende sich gar nicht erst auf den gefährlichen Weg nach Europa
machen müssen, sondern in ihrem Herkunfts- oder einem Transitland einen
Antrag auf Asyl stellen können. Zudem entfiele so auch die Rücküberführung
von Menschen, denen kein Recht auf Asyl zuerkannt wurde.
EU-GIPFEL FÜR MEHR
GRENZSCHUTZ
Im Schlussdokument des Gipfels wurden weitere EU-Initiativen zur Bekämpfung von Fluchtursachen bekräftigt. Hierbei standen vor allem wirtschafts- und
entwicklungspolitische Maßnahmen wie der Europäische Nothilfe-Treuhandfonds (EUTF) für Afrika im Vordergrund. Der Fonds wurde zur humanitären Hilfe in den Ländern der Sahelzone konzipiert, doch im Rahmen der europäischen
Migrationsagenda ab 2015 sukzessiv auf weitere afrikanische Länder ausgedehnt (Kipp 2018: 11). Seit 2016 werden zudem sogenannte EU-Migrationspartnerschaften geschlossen, die neben entwicklungspolitischen Akzenten vor
allem die Kooperation mit Drittstaaten zur Verhinderung von Migration zum
Ziel haben. Legale Migrationswege sind nicht Bestandteil der Partnerschaften
(Kipp/Koch 2018: 12). Inwiefern bei der Umsetzung der Abkommen tatsächlich
die Reduzierung von Fluchtursachen im Vordergrund steht, ist umstritten. Der
Politikwissenschaftler David Kipp kritisiert, dass aus den Zielvorgaben klar werde, „dass der EUTF hauptsächlich die Kooperation von Drittstaaten sichern soll,
wenn es darum geht, Flucht und irreguläre Migration zu reduzieren und irreguläre Migranten zurückzunehmen“ (Kipp 2018: 11).
HANDLUNGSKORRIDORE IN DER EUROPÄISCHEN ASYL- UND
MIGRATIONSPOLITIK
DREI OPTIONEN IN DER
EUROPÄISCHEN ASYL- UND
MIGRATIONSPOLITIK
Die Jahre der gestiegenen Fluchtmigration nach Europa ab 2014 haben gezeigt,
dass die Gestaltung des GEAS weiterhin nicht vorankommt. Gerade Fragen zur
Umverteilung Asylsuchender sowie generelle Vorbehalte bei der Übertragung
nationaler Souveränitätsrechte auf die europäische Ebene im Bereich der Asylpolitik sind innerhalb der Mitgliedsstaaten umstritten. Im Krisenmodus ab 2015
konnte sich daher vor allem der Leitgedanke der Abschottung durchsetzen. So
wurden Reformen des europäischen Grenzschutzes angestoßen und Kooperationen mit Drittstaaten vorangetrieben, um irreguläre Migration zu verhindern
und die Rücknahme abgelehnter Asylsuchender zu erreichen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die Bundesregierung drei Szenarien, um eine künftige europäische Asyl- und Migrationspolitik mitzugestalten:
2 Der Marineverband soll als multinationale militärische Krisenbewältigungsoperation den Menschenschmuggel und -handel sowie Schleusungskriminalität im südlichen zentralen Mittelmeer bekämpfen.
102
Erstens könnten einzelne Mitgliedsstaaten weiter auf flexible Koalitionen setzen, wie sie die Bundesregierung bereits verfolgt. Diese Koalitionen könnten
auf Basis eines konkreten Vorschlags ausgehandelt werden und böten die
Möglichkeit, Blockaden einzelner Mitgliedsstaaten im Ministerrat zu umgehen
und effizient auf Entwicklungen zu reagieren. In Ansätzen lässt sich diese Herangehensweise schon bei der Aufnahme von in Seenot geratenen Asylsuchenden finden. Bereits vor dem oben beschriebenen Vorschlag Seehofers hatte
Deutschland regelmäßig aus dem Mittelmeer gerettete Asylsuchende aufgenommen. Ein solches Vorgehen wirft aber grundlegende Fragen auf. Bleibt
es sporadisch und der Umfang überschaubar, kann zwar ad-hoc reagiert werden, doch werden so kaum Antworten auf die aktuellen Herausforderungen
in der Asyl- und Migrationspolitik gefunden. Verfestigt sich das Engagement
und nimmt an Umfang zu, droht es Teile des europäischen Vertragswerks, das
eine gemeinsame Gestaltung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik
vorsieht, zu unterlaufen. Eine gemeinschaftliche Weiterentwicklung des GEAS
wird dadurch erschwert. Dies könnte zur Erosion des Vertrauens zwischen
den Mitgliedstaaten führen und die Spannungen zementieren. Weiter werden
Entscheidungen, sollten sie außerhalb der dafür vorgesehen Institutionen wie
beispielsweise dem Rat oder dem Parlament getroffen werden, nicht nur zu
einer Schwächung eben jener Institutionen führen; ein solches Vorgehen droht
die Gräben zwischen Mitgliedstaaten weiter zu vertiefen. Jene, die sich an den
Koalitionen nicht beteiligen wollen, könnten sich weiter von der EU entfremden,
da sie sich marginalisiert sehen. An einer solchen Entwicklung hat die deutsche
Bundesregierung kein Interesse, da ihr bisheriges Regierungshandeln stets mit
Blick auf die europäischen Partner erfolgte (Wendler 2019: 611). Wohl gerade
deswegen wurde versucht, die Übereinkunft zur Aufnahme von im Mittelmeer
geretteten Asylsuchenden auf dem Gipfel in Malta von den restlichen Mitgliedsstaaten absegnen zu lassen und somit zu vergemeinschaften. Zuletzt bleibt
unklar, wie beständig solche Ad-hoc-Bündnisse auf Dauer sind, gerade bei einem erneuten Anstieg der irregulären und der Fluchtmigration. Selbst wenn sie
dauerhaft Bestand haben, bleibt die Frage, welche Auswirkungen die Aufnahme hoher Zahlen von Migrierenden und Asylsuchenden auf das Schengener
Abkommen hätte. Schon jetzt haben manche Mitgliedstaaten, darunter auch
Deutschland, zeitweise Kontrollen an den Binnengrenzen eingeführt. Auch hier
droht eine Schwächung europäischer Strukturen.
FLEXIBLE KOALITIONEN
Eine zweite Option besteht in der weiteren Suche nach gemeinschaftlichen Entscheidungen. Dies könnte jedoch auf die Zementierung des Status quo in der
Asyl- und zur weiteren Verschärfung der Grenzpolitik hinauslaufen. Gleichzeitig blieben eine Reihe migrationspolitischer Probleme ungelöst. Unklar ist, wie
Griechenland ohne Verteilungsmechanismus den Anstieg der irregulären und
Fluchtmigration dauerhaft bewältigen kann. So befanden sich im September
2019 im griechischen Lager ‚Moria‘ knapp 12.000 statt der für das Lager vorgesehenen 3.000 Menschen (Martens 2019: 3). Die Militäroffensive der Türkei in
Syrien droht die Situation weiter zu eskalieren. Mit Blick auf die einseitige Belastung einzelner Staaten könnten ähnlich wie bei den Ad-hoc-Koalitionen Entfremdungsprozesse angestoßen werden, die zu einer weiteren Erosion des gemeinschaftlichen Vertrauens führen. Zudem haben Institutionen, die dauerhaft
dysfunktional scheinen, langfristig mit Legitimationsproblemen zu kämpfen.
KONSENSENTSCHEIDUNGEN
Die dritte Möglichkeit besteht in einer weiteren Forcierung von Externalisierungsstrategien der EU. Die Vor- bzw. Auslagerung von Migration mag zunächst attraktiv auf die Mitgliedstaaten wirken, da sie verspricht, den Anstieg
der Migration und dadurch den Verhandlungsdruck innerhalb der Europäischen Union spürbar zu reduzieren. Doch Kooperationen mit Drittstaaten wie
beispielsweise der Türkei und Libyen können schnell in Bezug auf Reichweite
und Nachhaltigkeit an ihre Grenzen stoßen. Die Abkommen sind aufgrund der
problematischen menschenrechtlichen Situation in den jeweiligen Ländern
sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch der EU umstritten. Zudem
können sie zu Abhängigkeiten führen: Als beispielsweise einzelne Länder der
EXTERNALISIERUNG DER ASYLUND MIGRATIONSPOLITIK
103
DAS RINGEN UM EINE EUROPÄISCHE ASYL- UND MIGRATIONSPOLITIK
Europäischen Union im Oktober 2019 die Intervention der Türkei in Syrien verurteilten, warnte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor Sanktionen
und drohte mit der Aufkündigung des EU-Türkei-Abkommens (Hermann 2019).
Auch die Pläne zur Errichtung von durch die EU kontrollierten Auffanglagern
bzw. Ausschiffungsplattformen in Drittstaaten zeigen sich grundlegend problematisch. Der Grundgedanke hinter dieser Idee ist, dass Asylsuchenden der
Weg nach Europa erspart bleibt und sie bereits in ihrem Herkunfts- oder einem
Transitland einen Antrag auf Asyl stellen können. Zudem entfiele so auch die
Rücküberführung von Menschen, denen kein Recht auf Asyl zuerkannt wurde.
Jedoch hat sich bisher kein Drittstaat dazu bereit erklärt, ein solches Lager in
seinem Land errichten zu lassen (Buckl/Pichl 2018: 11). Gründe hierfür sind vielfältig. Doch sicherlich spielt der Umstand eine Rolle, dass die Errichtung solcher
unter europäischer Verwaltung stehender Lager von den Drittstaaten als Eingriff in ihre Souveränität wahrgenommen wird. Zudem besteht die Sorge, dass
die Lager für die untergebrachten Menschen zur Sackgasse werden. So bleibt
es völlig offen, was mit den in den Lagern untergebrachten Menschen langfristig geschehen soll. Dass sich die EU-Mitgliedstaaten auf einen Verteilungsmechanismus zur Aufnahme einigen werden, scheint mit Blick auf die Verteilung
innerhalb der EU eher unwahrscheinlich.
Dass Kooperationen mit Drittstaaten durchaus funktionieren können, zeigt die
Zusammenarbeit zwischen Spanien und Marokko. Jedoch sollte beachtet werden, dass die beiden Länder eigene Interessen verfolgen und allzu große Zugeständnisse nicht allein mit monetären Anreizen zu erreichen sind. Denn die
Abwanderung von Bürgerinnen und Bürgern kann für einen jeweiligen Staat
durchaus von Vorteil sein. Neben der Entlastung des Arbeitsmarktes sind es vor
allem auch die Rücküberweisungen der Migrantinnen und Migranten, die eine
substantielle wirtschaftliche Hilfe für das Land darstellen. Für das Jahr 2016
betrugen diese Überweisungen nach Marokko rund sieben Milliarden Euro.
Das sind ungefähr sieben Prozent des marokkanischen Bruttoinlandsprodukts
(Kipp/Koch 2018: 25). Aus diesen Erfahrungen zeigt sich insbesondere der Wert
immaterieller Güter wie Visaliberalisierungen und die Etablierung legaler Möglichkeiten zur Migration als Verhandlungsmasse. Ob sich die EU dazu bereit erklärt, ist ungewiss.
AUSBLICK
Keine der drei formulierten Handlungsoptionen sollte isoliert betrachtet werden. Es handelt sich um Lösungsansätze, die sich komplementär bzw. supplementär zueinander verhalten. Jeder dieser Handlungskorridore setzt diplomatisches Geschick und Kompromissbereitschaft seitens der Regierungen der europäischen Mitgliedstaaten voraus. Der Blick auf die Historie hat jedoch gezeigt,
dass jene Vorschläge, die den Mitgliedstaaten zu einem gewissen Grad den
Transfer von Souveränität abverlangen, als umstritten gelten und daher von einigen Ländern abgelehnt werden. Der Schlüssel für die künftige Gestaltung der
europäischen Asyl- und Migrationspolitik liegt daher vor allem in einem zähen
und kräfteraubenden Einsatz migrationsdiplomatischer Ansätze. Die Herausforderung der Bundesregierung wird insbesondere darin bestehen, die Präferenzen der europäischen Partner zu reflektieren und gleichzeitig den humanitären Verpflichtungen Europas nachzukommen. Denn nicht zuletzt sieht sich
die Europäische Union mit dem Dilemma konfrontiert, eine Balance zwischen
ihrer Selbstbeschreibung als Förderer der Menschenrechte (Europäische Union
2019) und Bestrebungen nach Grenzschutz und Abschottung zu finden.
104
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der EU-Asylpolitik; in: integration – 2/2016, S. 93-106.
Von Grönheim, Hannah 2018: Solidarität bei geschlossenen
Türen. Das Subjekt der Flucht zwischen diskursiven
Konstruktionen und Gegenentwürfen. Springer VS,
Wiesbaden.
Weisskircher, Manés 2018: Der österreichische Ratsvorsitz
und die Asylpolitik in Europa: Was ist zu erwarten? MIDEM
Policy Brief 2018-2.
Wendler, Frank 2019: Deutsche Europapolitik als
Führungskonflikt; in: Zohlnhöfer, Reimut / Saalfeld,
Thomas (Hg.). 2019: Zwischen Stillstand, Politikwandel
und Krisenmanagement. Eine Bilanz der Regierung Merkel
2013-2017; Springer Fachmedien, Wiesbaden, S. 591-618.
Werenfels, Isabelle 2018: Migrationsstratege Marokko –
Abschotter Algerien; in: Koch, Anne / Weber, Anette /
Werenfels, Isabelle (Hg.). 2018: Migrationsprofiteure?
Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische
Migrationsmanagement (SWP-Studie, 3/2018); Berlin:
Stiftung Wissenschaft und Politik -SWP- Deutsches Institut
für Internationale Politik und Sicherheit, S. 23-35.
107
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
A Migration und Europa
B Der Konflikt um Migration in Politik und Zivilgesellschaft
1 Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
108
Abb. 1: Übersicht der wichtigsten Themen für die
EU im Zeitverlauf
S. 11
Abb. 1: Salienz des Themas Migration im Zeitverlauf
S. 20
Abb. 2: Aggregierte Schlagworthäufigkeit: La Repubblica und La Stampa
S. 14
Abb. 2: Salienz des Themas Migration in den Ländergruppen
S. 21
Abb. 3: Frankreich – Anteil migrationsbezogener
Themen in den Europawahlprogrammen
S. 23
Abb. 4: Aggregierte Schlagworthäufigkeit (pro
Monat): Le Figaro, Le Monde und Libér)
S. 24
Abb. 5: Kosten für Social-Media-Kampagnen der
flämischen Parteien im Vergleich (Ausgaben in €)
S. 26
Abb. 6: Medienberichterstattung über Migration
in Italien
S. 27
Abb. 7: Spanien – Anteil migrationsbezogener
Themen in den Europawahlprogrammen
S. 29
Abb. 8: Tschechien - Anteil migrationsbezogener
Themen in den Europawahlprogramme
S. 31
Abb. 9: Medienberichterstattung über Migration
in Ungarn
S. 33
Abb. 10: Medienberichterstattung über Migration in Dänemark
S. 35
Abb. 11: Schweden – Anteil migrationsbezogener Themen in den Europawahlprogrammen
S. 37
Abb. 12: Finnland – Anteil migrationsbezogener
Themen in den Europawahlprogrammen
S. 37
Abb. 13: Übersicht der EU-Ländergruppen
S. 38
C Deutschland und die Migrationsfrage
2 Der Konflikt um Migration in der Zivilgesellschaft
Abb. 1: Positionierung der Zivilgesellschaft auf
der kulturellen Konfliktlinie
S. 44
Abb. 2: Die im Text genannten zivilgesellschaftlichen Akteure
S. 45
Abb. 3: Flyer für den „Marsch für die Freiheit“
S. 48
Abb. 4: Asylsuchende werden am Wiener Westbahnhof im August 2015 empfangen
S. 53
Abb. 5: Protest gegen Identitäre Bewegung
S. 56
1 Gehört Ostdeutschland zu Osteuropa? Einstellungen zu Migration im Ost-West-Vergleich
Abb. 1: Zweitstimmenergebnisse von AfD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Landtagswahlen
2018-2019 in Ost- und Westdeutschland
S. 64
Abb. 2: Wahlen zum Europäischen Parlament am
26.05.2019, Stimmenanteile von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und AfD nach Landkreisen und kreisfreien Städten
S. 64
Abb. 3: Migrationsbezogene Items in der European
Values Study (EVS)
S. 66
Abb. 4: Bewertung des Einflusses von Zugewanderten für die Entwicklung des eigenen Landes in
einzelnen Staaten
S. 67
Abb. 5: Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die Zugewanderte nicht gern als Nachbarn
hätten
S. 68
Abb. 6: Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die ‚Menschen anderer Hautfarbe‘ nicht gern
als Nachbarn hätten
S. 68
Abb. 7: Anteile der Befragten in den einzelnen Ländern, die Muslime nicht gern als Nachbarn hätten
S. 68
Abb. 8: Anteile der Befragten nach Region, die bestimmte Personengruppen nicht gern als Nachbarn hätten
S. 68
Abb. 9: Anteile der Befragten nach Region, die Zugewanderte nicht gern als Nachbarn hätten, im
Zeitverlauf
S. 70
Abb. 10: Anteile der Befragten in den einzelnen
Ländern, die bei einer angespannten Arbeitsmarktsituation der Bevorzugung von Einheimischen gegenüber Ausländern zustimmen
S. 70
Abb. 11: Wahrnehmung einer Bedrohung der eigenen Sicherheit durch Zugewanderte in einzelnen
Ländern (Mittelwerte Bedrohungsindex)
S. 71
Abb. 12: Verbreitung der Bedrohungswahrnehmungen durch Zugewanderte nach soziodemografischen Merkmalen
S. 72
Abb. 13: Zufriedenheit der Befragten mit der Demokratie im eigenen Land nach Ländern
S. 72
109
C Deutschland und die Migrationsfrage
1 Gehört Ostdeutschland zu Osteuropa? Einstellungen zu Migration im Ost-West-Vergleich (Fortsetzung)
110
Abb. 14: Zusammenhang zwischen Demokratiezufriedenheit und Bedrohungsgefühlen gegenüber
Zugewanderten
S. 73
Abb. 15: Anteil der Befragten mit typisch postmaterialistischen Präferenzen nach Ländern
S. 74
Abb. 16: Zusammenhang zwischen postmaterialistischen Orientierungen und Bedrohungsgefühlen
gegenüber Zugewanderten
S. 74
2 Zunahme von Migration – Stärkung der AfD? Der
Zusammenhang zwischen Ausländeranteilen und
AfD-Wahlergebnissen auf regionaler Ebene
Abb. 1: Anteil der Nicht-EU-Ausländer 2017 (in %)
S. 82
Abb. 2: AfD-Wahlergebnis bei der Bundestagswahl
2017 (in %)
S. 82
Abb. 3: Veränderung des Anteils an Nicht-EU-Ausländern (in %)
S. 82
Abb. 4: Veränderung des AfD-Wahlergebnisses (in
%)
S. 82
Abb. 5: Zusammenhang zwischen Ausländeranteil
und AfD-Wahlergebnis bei der Bundestagswahl
2017
S. 83
Abb. 6: Zusammenhang zwischen Ausländeranteil
und AfD-Wahlergebnis in Abhängigkeit der Bevölkerungsdichte bei der Bundestagswahl 2017
S. 84
Abb. 7: Zusammenhang des Anstiegs im Ausländeranteil und des AfD-Wahlerfolges
S. 84
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
D Das Ringen um eine europäische Asyl- und
Migrationspolitik
Abb. 1: Aggregierte Häufigkeit von migrationsbezogenen Schlagworten in ausgewählten überregionalen Medien
S. 93
Abb. 2: Die wichtigsten Abkommen und Vertragsänderungen innerhalb der EU
S. 9697
Abb. 3: Programme zur Europawahl: Asyl und Migra- S. 100
tion - europäische oder nationale Angelegenheit?
Abb. 4: Vorschläge der im Bundestag vertretenen S. 101
Parteien für eine europäische Asyl- und Migrationspolitik
111
AUTORINNEN UND AUTOREN
Angeli, Oliviero MIDEM, TU Dresden
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Migration und Europa
Bouju, Aimie MIDEM, Universität Duisburg-Essen
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Chmelar, Kristina MIDEM, TU Dresden
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Gehlhar, Simon MIDEM, Universität Duisburg-Essen
Das Ringen um eine europäische Asyl- und Migrationspolitik
Visualisierungen
de Ghantuz Cubbe, Giovanni MIDEM, TU Dresden
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Heinze, Anna-Sophie MIDEM. TU Dresden
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Herold, Maik MIDEM, TU Dresden
Gehört Ostdeutschland zu Osteuropa? Einstellungen zu Migration im Ost-West-Vergleich
Kozłowska, Marta MIDEM, TU Dresden
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Otteni, Cyrill MIDEM, TU Dresden
Gehört Ostdeutschland zu Osteuropa? Einstellungen zu Migration im Ost-West-Vergleich
Zunahme von Migration – Stärkung der AfD? Der Zusammenhang zwischen Ausländeranteilen
und AfD-Wahlergebnissen auf regionaler Ebene
Visualisierungen
Rakers, Julia MIDEM, Universität Duisburg-Essen
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Das Ringen um eine europäische Asyl- und Migrationspolitik
Vorländer, Hans MIDEM, TU Dresden
Migration und Europa
Weisskircher, Manès MIDEM, TU Dresden
Der Konflikt um Migration in der Zivilgesellschaft
Wöhst, Christian MIDEM, TU Dresden
Der Konflikt um Migration im Europawahljahr 2019
Mitarbeit:
Laura Dinnebier, MIDEM, Universität Duisburg-Essen
Mariana Mendes, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz
Višeslav Raos, Universität Zagreb
Lina Schneider, MIDEM, TU Dresden
112
ÜBER MIDEM
In den vergangenen Jahren hat das Thema Migration in
den Gesellschaften Europas zu neuen Polarisierungen
geführt. Die politischen und sozialen Herausforderungen
dieser Entwicklung sind noch nicht absehbar. Notwendig
sind Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen
Migration und Demokratie erforschen.
Das Mercator Forum für Migration und Demokratie
(MIDEM) fragt danach, wie Migration demokratische
Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich
von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen,
Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung
von Migration in demokratischen Gesellschaften – in
einzelnen Ländern und im vergleichenden Blick auf
Europa.
MIDEM untersucht:
• Krisendiskurse zu Migration und Integration.
• Populismus.
• Institutionelle Verarbeitung von Migration.
• Migration in städtischen und regionalen Kontexten.
MIDEM hat zur Aufgabe:
• die nationale und internationale Vernetzung sowie die interdisziplinäre Kommunikation über Migration zu fördern.
• regelmäßig erscheinende Länderberichte und Querschnittsstudien zu zentralen Fragen an der Schnittstelle
zwischen Migration und Demokratie Stellung zu erstellen.
• gesamteuropäische Handlungsempfehlungen für den
demokratischen Umgang mit Migration zu entwickeln.
• Politik und Zivilgesellschaft zu beraten.
Alle Texte, Bilder, Abbildungen und Grafiken unterliegen dem
Urheberschutz. MIDEM ist stets bemüht, die Urheberrechte
anderer zu beachten. Sollte uns dies dennoch nicht vollständig
gelungen sein, möchten wir den betroffenen Rechteinhaber
bitten, sich mit uns schnellstmöglich in Verbindung zu setzen.
IMPRESSUM
ISSN 2626-515X
Herausgeber:
Prof. Dr. Hans Vorländer, Direktor
Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM)
Redaktion:
Dr. Oliviero Angeli
Katja Solbrig
TU Dresden
Institut für Politikwissenschaft/
Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung
Philosophische Fakultät
01062 Dresden
Gestaltung:
Vollblut GmbH & Co. KG
Tel.: +49 351 463 35811
midem@mailbox.tu-dresden.de
www.forum-midem.de
MIDEM ist ein Forschungszentrum der Technischen
Universität Dresden in Kooperation mit der Universität
Duisburg-Essen, gefördert durch die Stiftung Mercator.
© MIDEM 2019
ISSN 2626-515X