Schillerndes -
Geschichten aus dem Kiez
Tauche ein in die schillernden
Anekdoten deiner Nachbarschaft!
2017 haben wir uns im Schillerkiez nach seinen Geschichten umgehört und vielseitige Erzählungen gesammelt. Das Ergebnis
birgt Wahres und Erfundenes, Aktuelles und Historisches, Persönliches und Dokumentarisches. Es wird an Kiezinstitutionen,
vergangene Orte und Persönlichkeiten erinnert, die hier ihre Spuren hinterlassen haben. Es werden Bildergeschichten erzählt, Veränderungen aufgezeigt und Gedichte vorgetragen. Die Kiezgeschichten machen uns auch auf weniger Sichtbares
aufmerksam und laden Dich zu Projekten und Orten ein, die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft schauen.
Tauche ein in die schillernden Geschichten Deines Kiezes!
QM-Team Schillerpromenade
Inhalt
1.
Der Blick vom Balkon
Seite 3
2.
Sieben Kneipen gab es hier
Seite 7
3.
Bringe deine Sorgen nicht mit an den Tisch
Seite 10
4.
Von der Brachfläche zum Möglichkeitsraum
Seite 12
5.
Sailors
Seite 14
6.
Die doppelte Namensgebung
Seite 17
7.
Zeitreise an einer Brandwand
Seite 21
8.
Kiezfritzen
Seite 23
9.
Das Rondell
Seite 25
10.
Ein Leben mit Courage
Seite 27
11.
Fassadengeschichte im Schillerkiez
Seite 30
12.
Kopfstein
Seite 33
13.
Treffpunkte Warthestraße
Seite 35
14.
Quartiersmanagement - Was ist das?
Seite 37
2
Der Blick vom Balkon
Ausgangspunkt einer über 65 Jahre langen Brieffreundschaft
Es kann kein Zufall sein, dass solch eine Geschichte an ihrer Wohnungstür klingelt. Mitten in ihren historischen Recherchearbeiten.
Es klingelt an der Tür. Eine unbekannte Frau steht Zara gegenüber
und fragt nach ihrer Nachbarin. Diese habe seit einiger Zeit nicht
mehr auf gewisse Briefe reagiert. Aus diesem Grund wolle sie sich
nach ihrem Wohlbefinden erkundigen.
Marias Teil der Geschichte
Das Haus, in dem sie stehen, war noch nicht all zu lange errichtet,
als Maria vor 85 Jahren mit ihren Eltern in die Wohnung nebenan
einzog. Eine Eckwohnung im vierten Obergeschoss des Vorderhauses. Ein Balkon, von dem aus rechts die Okerstraße, links die
Hermannstraße und gegenüber der Friedhof zu sehen war. Maria
müsste damals drei Jahre alt gewesen sein. Und das Haus sowie
das gesamte Wohnviertel dürften in etwa das Alter ihrer Eltern gehabt haben. Alles war noch neu. Maria klein. Die Bäume auf dem
Friedhof gegenüber auch. Und der Blick von ihrem Balkon unendlich. Dieser phantastische Blick: über den Friedhof hinweg, in den
südlichen Horizont hinein. Ein so kleines Mädchen, aus so einer
Höhe, mit so einem weiten Blick. Egal, wieviele Jahre vorübergehen würden, sie würde sich immer daran erinnern können.
Maria lebte in diesem Haus bis 1931 und konnte viele Erinnerungen ihrer Kindheit mit diesem Ort verbinden. Zum Beispiel ihr
erstes Taschengeld, welches sie verdiente, indem sie die Blumen
auf den Gräbern im Friedhof gegenüber goss oder das Wäschewaschen auf dem Dachboden. Etwas, das für Kinder, die heutzutage
dieses Haus bewohnen, unverständlich wäre.
Als sie acht Jahre alt war, zog Maria mit ihrer Familie weg und
kehrte erst fünfzehn Jahre später mit Anfang zwanzig in diese
Gegend zurück. Sie kam zu Besuch nach Neukölln und sah, dass
ihr damaliges Haus den Krieg überlebt hatte. Als ob kein Tag
vergangen wäre, kehrten auch die Erinnerungen zurück und sie
beschloss einen Brief an die jetzige Bewohnerin ihrer Kindheitswohnung zu schreiben. Ohne zu zögern, bat Maria sie darum, ihr
ein Foto mit dem Ausblick des Balkons zu schicken. Was die neue
Bewohnerin auch gerne tat. Und somit begann eine Brieffreundschaft, die auch, nach über 65 Jahren, noch lebendig war.
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Liselottes Teil der Geschichte
Liselotte war im Jahr 1933 mit ihren Eltern in die Eckwohnung im vierten Obergeschoss des Vorderhauses gezogen. Sie
müsste damals elf Jahre alt gewesen sein. Dementsprechend hatte sie ähnliche Kindheitserfahrungen wie Maria machen
können und verspürte eine genauso tiefe Verbindung zu diesem Ort. Maria zog später nach London und die Geschichte des
Hauses setzte sich in Begleitung von Liselotte fort. Mit dieser Wohnung als ihrem Zuhause vergingen 77 Jahre, die wiederum hunderte von Erfahrungen und Erinnerungen zurückgelassen haben.
Aber nicht alles war nur schön und freudig in diesen fast acht Jahrzehnten. Kurze Zeit nach ihrer Hochzeit erkrankte
Liselotte im Alter von 27 Jahren an Krebs. Als Konsequenz dieser Krankheit musste ihr Bein amputiert werden. Da sie ab
diesem Zeitpunkt nicht mehr ohne Hilfe aus ihrer Wohnung konnte, kümmerte sich ihr Ehemann um sie und trug sie jedes
Mal nach unten, um auf die Straße zu gehen und wieder nach oben – dies über mehrere Jahrzehnte.
Auch das Haus, in dem sie wohnten, erlebte im Laufe der Zeit einige Veränderungen. Die Jahre gingen nicht spurlos an
diesem einst so eleganten und prächtigen Gebäude vorüber. Anfang der siebziger Jahre wurde die Außenwand des Hauses
komplett saniert. Liselotte dokumentierte diese Verbesserungsmaßnahme. Die Renovierung, wie im Bild zu sehen, verwandelte eine ursprünglich gelbe, mit Stuck verzierte Fassade in eine glatte, braun-graue Oberfläche.
Über die ganzen Jahre reisten Briefe aus London nach Berlin und wieder zurück. Und sogar Liselotte selbst war einmal bei
Maria zu Besuch. Eine Brieffreundschaft, die im Jugendalter begann und beide über alle weiteren Lebensphasen begleitete.
Bis plötzlich, Ende 2010, der Briefverkehr stoppte.
von Michael Zambrano
Das Eckgebäude - Ein Audioguide zur
Geschichte des Hauses und des Kiezes
Zara Morris, Künstlerin und Bewohnerin des
Eckgebäudes (Okerstr./Hermannstr.), befasste
sich über einen langen Zeitraum intensiv mit der
Geschichte ihres Hauses und seiner BewohnerInnen. Die recht frei nacherzählte Geschichte,
deren Ende Sie selbst herausfinden müssen, ist
nur ein Bruchteil der von ihr entdeckten historischen und biographischen Schätze. Der komplette Audioguide, welcher online unter
https://soundcloud.com/daseckgebaeude
zu hören ist, besteht aus persönlichen Interviews
und Beschreibungen und nimmt sie mit auf eine
Zeitreise durch das Gebäude und den Schillerkiez.
Das Projekt wurde durch das Kulturamt Neukölln, das Quartiersmanagement Schillerpromenade und die Fachschaft der Universität der
Künste, Institut Kunst im Kontext, gefördert.
QR-Code: Mit dem Smartphone scannen
und direkt zur Seite mit den Audiodateien zum Eckhaus gelangen!
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Sieben Kneipen gab es hier –
Geschichten aus der Warthestraße
Ach, das waren noch Zeiten. In der Warthestraße war richtig was los.
Jede der Erdgeschosswohnungen hatte einen Laden, mit der Straßenbahn konnte man bis direkt an die Warthestraße fahren. Dort, wo nun
Star Döner seinen mit Luftballons geschmückten Stand hat, war auch
früher schon ein Imbiss, vorher ein Blumenladen. Im Seifenladen Helmke oder der Bäckerei Kraus kaufte man ein, Zahnarzt Dr. Kant zog so
manchen Zahn und beim Juwelierladen drückte man sich die Nase am
Schaufenster platt.
Im Warthe-Mahl, dem Nachbarschaftstreff und Nachbarschaftscafé
der Warthestraße, hören wir Geschichten von damals und heute. Wie
es den Menschen erging nach dem Krieg, wie sie das Leben wieder
genießen lernten, wo sie ihre Kohlen holten, Wäsche wuschen, Kuchen
backten.
„Das waren damals aber auch die Zeiten“
Eines Nachmittags kommt ein Mann ins Warthe-Mahl. 29 Jahre lang
wohnte er schräg gegenüber mit seiner Mutter und drei Geschwistern. Die Häuser hatte die Wohnungsbaugesellschaft Eintracht 1940
vorrangig für Angestellte der Eisenbahn errichtet. Er kann sich noch
gut erinnern, wie er als Kind immer „rollen gehen“ musste. Der Duft
von Kernseife steigt ihm in die Nase, wenn er daran denkt, wie er die
Wäsche über die kalten Holzrollen gemangelt hat – „das hat gepoltert“.
Zu uns gesellt sich ein weiterer Herr. Gut fünfzehn Jahre älter, erinnert er sich an viele Namen und Orte, die der andere als Kind nicht so
bewusst wahrgenommen hatte. Aber manche Erinnerungen verbinden
eben auch über den Altersunterschied hinweg. Die beiden kommen
ins Gespräch und plötzlich geht es los: Vom Tante-Emma-Laden in der
Hausnummer 29 erzählen sie und dem Schuhmacher Franz rechts daneben, der immer Latein sprach, wenn er etwas getrunken hatte. Die
beiden lachen viel, immer mehr Namen fallen. Sie zeigen Fotos, rufen
sich Bilder und Geschichten ins Gedächtnis. „Das waren damals aber
auch die Zeiten“, sagt der eine und zitiert:
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Das Wetter ist recht gut geraten.
Der Kirchturm träumt vom lieben Gott.
Die Stadt riecht ganz und gar nach Braten
und auch ein bisschen nach Kompott.
Am Sonntag darf man lange schlafen.
Die Gassen sind so gut wie leer.
Zwei alte Tanten, die sich trafen,
bestreiten rüstig den Verkehr.
Sie führen wieder mal die alten
Gespräche, denn das hält gesund.
Die Fenster gähnen sanft und halten
sich die Gardinen vor den Mund.
(Erich Kästner)
Kuriose Fakten über die Warthestraße, diesen Ort, den
wir heute in seiner Vielfalt zu kennen glaubten, kommen
zu Tage. Doch wo war der Kuhstall nun nochmal? Welcher
Hauseingang war es, wo Herr Palumski mit viel „palums“
die Milch mit einer Blechschüssel in die Kannen schöpfte?
Und wie viele Kneipen gab es wirklich? Von vier ist die
Rede, nein sieben! Dank des ansässigen SC Tasmania
waren diese auch immer gut gefüllt. Ab und zu huscht ein
dunkler Schatten über sein Gesicht. Eine Erinnerung an
den Krieg kommt hoch, an die Angst im Luftschutzkeller unten im Haus, an Sirenengeheule, flackerndes Licht
– doch dann folgt sogleich wieder eine Anekdote. Das
berühmte Foto mit Kindern an der Luftbrücke, die auf die
Rosinenbomber warten – einer der Herren, der uns im
Warthe-Mahl von seinen Erlebnissen erzählt, erkennt sich
darauf wieder – „allerdings nur von hinten“.
Und wer hätte gedacht, dass auch Weltmeister in der
Warthestraße lebten? Ob im Frisörwesen oder als Boxer,
die Straße beherbergte Prominenz allerhöchsten Grades. Stehrennfahrer oder Berühmtheiten wie „Wüste“ Hoffmann, ein
Profi im Fliegerrennen, waren Gäste in den Kneipen. Musiker zogen durch die Straßen, das Geld wurde in Zeitungspapier
verpackt zu ihnen hinunter geworfen. Wiedersehen wollen sich die beiden noch einmal. Gemeinsam die Straße entlang
schlendern und die Erinnerungen schweifen lassen.
Die Autorin Marieke Piepenburg, die 2013 das Projekt „Historische Warthestraße“ als Anwohnerin mit begleitete, brachte NachbarInnen und
ihre Erinnerungen im Warthe-Mal zusammen. Die Ergebnisse in Form einer Fotoausstellung sind vor Ort zu betrachten und auch der ein oder
„Bringe Deine
Sorgen nicht mit
an den Tisch!“
Aus dem Kiez, mit dem Kiez, für den Kiez: Der Mittagstisch im
Nachbarschaftstreff im Schillerkiez.
Nachdem Zehra zwei Jahre alle mit gelungenen Köstlichkeiten
verwöhnt hat, zwischenzeitlich Beate, Charly, Mario, Christine,
Hartmut und Elvis die Küche am Laufen hielten, bekocht jetzt
Lydia löffelführend die Mittagsgäste.
Von Auflauf über Königsberger Klopse bis Zupfkuchen gibt es alles
,was die knurrenden Mägen begehren, außer Schweinefleisch.
Alle Gäste packen in irgendeiner Form mit an: kaufen teilweise
ein, schnippeln Gemüse klitzeklein, decken den Tisch und räumen
ihn ab oder bringen Obst, Kekse und selbstgebackene Kuchen
mit. Wer den Essensraum betritt, hat das Gefühl in einer WG gelandet zu sein: Essen steht auf dem Tisch, jeder nimmt sich, was
er möchte, einer hat zwei Gabeln, dafür kein Messer und alles
schnattert durcheinander. Es gibt nur einen Grundsatz zu beachten: „Bringe Deine Sorgen nicht mit an den Tisch.“
Diese werden nach dem Essen beim Kaffee oder Tee ausdiskutiert.
„Gib ‘mal bitte das Salz rüber“, sagt Joana zu Olli, der sich gerade
seine Portion ausgiebig nachgewürzt hat. Er reicht Joana das Salz,
hängt dabei seinen Hemdärmel in die Suppe und flucht lautstark.
Dagmar schielt mit vollem Mund schon einmal nach dem Schokokuchen, den es zum Nachtisch gibt. Mechthild erkundigt sich nach
dem Rezept vom vortägigen Flammenkuchen und Michas Augen
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beginnen zu tränen, weil wohl eines der vielen Chilikörnchen zu scharf gewesen ist.
Sangeeta passt auf, dass ihr Sprößling nicht mit den Fingern in den Salat tatscht und wirft
dabei ihr Wasserglas um. Marios Handy klingelt zum achten Mal und nach einem kurzen
„Ich bin gleich wieder zurück, Ware kommt“, rennt er los und schiebt sich noch rasch
ein Stück Brot in den Mund. Als er kurze Zeit später zurückkehrt, legt er eine Riesentüte
mit Weintrauben auf den Tisch. „Bin ich nicht dran vorbeigekommen“, nuschelt er, schon
wieder Brot kauend.
Oft werden die Gespräche ruhiger und ernster. Alle sind traurig, dass Marie-Luise, die
Gründerin von „Lesen & Schreiben“, dem Neuköllner Verein zur Alphabetisierung, gestorben ist. Die Sorgen um die Krankheiten werden geteilt, für die Probleme der Kinder wird
Rat gesucht. Tipps und Hinweise werden ausgetauscht, Anteil aneinander genommen.
Als Otto von seinen Fluchterlebnissen aus Afghanistan berichtete, waren alle traurig und
bestürzt. Jetzt lernt er fleißig Deutsch, arbeitet ehrenamtlich und radelt die Stadt ab. Das
schönste ist, dass sich in der gemütlichen Atmosphäre, die Elif behutsam ständig verbessert, alle wohl, angenommen und gut aufgehoben fühlen.
Wer Lust hat, sich dazu zu gesellen, ist jederzeit herzlich willkommen!
Jeden Mittwoch und Donnerstag von 12.30 bis 14.00 Uhr im Nachbarschaftstreff in der
Mahlower Straße 27.
Ein Beitrag von Beate Storni
Vom Brachland zum Möglichkeitsraum
„In ferner Zukunft werden aus den
Friedhöfen vielleicht Parkanlagen
geworden sein, und der Chronist wird
ebenfalls einen Frühlingsaufsatz über
die Hermannstraße schreiben.“
Es scheint als hätte sich diese Vision
aus dem Zeitungsartikel „Neuköllns
Friedhöfe im Frühling“ vom 5. August
1939 (!) zumindest teilweise erfüllt:
Mit der Einweihung des Anita-Berber-Parks und dem Anlegen einer
Streuobstwiese wurden Teile der
ehemaligen Friedhofsfläche im südlichen Schillerkiez bereits umgenutzt.
Ein zentraler Akteur ist „Die Gärtnerei“, ein experimentelles Gartenund Gestaltungsprojekt von und mit
Geflüchteten auf der Brachfläche
des ehemaligen Friedhof Jerusalem.
An der Hermannstraße reiht sie sich
ein in eine Mischung aus Falafelbude,
Steinmetz-Werkstatt, Blumen- und
Zauberladen.
Tomaten statt Tulpen – denn
Tulpen kann man nicht essen!
Tulpen über alles! Bei den Planungstreffen der „Gärtnerei“, ging es
immer wieder um Blumen. Ein Meer
von Blumen würde sich über die
ehemalige Friedhofsbrachfläche erstrecken – Reihen von Tulpen
und anderen wunderschönen
Blumen.
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Die Beete nach Farbgebung gegliedert. Kein
Gemüse, aus Rücksicht, dass sich der zukünftige
Garten Eden ja auf einem Friedhofsgelände befindet. Tomaten mit Gurke auf dem Grab? Das geht
vielleicht in die falsche Richtung. Immerhin war die
vorgesehene Gartenfläche umgeben von noch aktiven Gräbern, eben zwischen Heinz, Gertrud oder
Walter und Marta.
Wie die Garten-Crew das erste Mal Blumen hörte
und eben kein Gemüse, war die Enttäuschung
groß. Man konnte sie auch nicht so recht damit
vertrösten, dass Blumen doch wunderschön und es
eine Augenweide für unseren künftigen Besucher
sein könnten. Denn Blumen kann man nicht essen.
Ich verwies auf die Kapuzinerkresse oder andere
essbare Blumen, aber das ist nun mal keine Tomate,
Chilli, noch besser Aubergine.
Und ungewollt kam es dann doch so…
Die gepflügte Brache gestaltete sich recht zügig zu
einer Anlage von Beeten, mit dem Gemisch aus
Kompost, Pferdemist und Muttererde. Es sollte
natürlich gepflanzt werden, aber was?
In diesem Moment erfuhren wir, dass unsere Kistenaussaat von einer Schneckenarmada komplett
aufgefressen wurde. Nur einige Sonnenblumen und
Erbsen hatten das Szenario überlebt und: unzählige
Tomatenpflanzen! So wurden, wo es auch immer
nur irgendwie möglich erschien, Tomaten ausgesät.
Yasser, der Betreiber von Falafel to go und passionierter Gärtner, legte im Vordergarten bei guten
Luftverhältnissen ein großes Tomatenareal an.
Ausgerechnet der Kohlrabi auf Martas Grab wurde
ebenso punktuell von Schnecken befallen und die
Löcher, Spuren des Schneckenbefalls, lagen nebeneinander wie Augen. Versehen mit dem Schild von
Marta. Es wurde natürlich entfernt. Hauptmerkmal
unseres Gartens wurde 2015 die Mischung aus bis
zu 4 Meter hohen Sonnenblumen, Dalien, Gladiolen, Chillis und Tomaten.
Eine Anekdote von Sven Seeger
Wo bist du zu Hause? Auf welchem Weg hat es dich hierher verschlagen? Wohin als nächstes? Sailors ist ein Film über Schicksal, Bestimmung und das Streben nach etwas anderem.
Es ist 12 Uhr. Die Sonne steht senkrecht am Himmel, während eine Fahrradfahrerin im fünften Gang über den frisch geteerten Radweg des Columbiadamms hetzt. Neben ihr fährt ein Longboardfahrer zum Tempelhofer Feld, um der erdrückenden Großstadt zu entfliehen. Ein Polizist steigt in den 104er Bus und hat soeben seine Nachtschicht beendet. Ein junges Elternpaar wartet auf ihr quengelndes Kind, da es vom Spazierengehen in der gegenüberliegenden Hasenheide von der
sommerlichen Mittagshitze müde geworden ist. Eine große Traube von Menschen befindet sich vor der Moschee, während
der Aufruf zum Mittagsgebet das hektische Rauschen der großspurigen Straße durchbricht. Einsam und imposant ragen die
Türme der Minarette als einzige hohe Orientierungspunkte am weiten Horizont des Tempelhofer Felds in den Himmel. Mit
dem Wind steigen in der Ferne Drachen auf.
Irgendwo zwischen dem vorbeischnellenden Verkehr, den entschlossen Vorbeilaufenden und den parkenden Lastwagen
– die fast aussehen wie riesige Containerschiffe, die am Straßenrand ihre Anker geworfen haben – riecht es plötzlich nach
köstlichem Essen. An einem Klapptisch sitzen vier Männer unterschiedlichen Alters. Direkt auf dem Parkplatz – der sich wie
eine vom Verkehr umgebene Insel emporhebt – rührt einer von ihnen mit dem Löffel im Topf herum, welcher auf einem
wunderschön blau bemalten Gaskocher steht. Es dampft. Obwohl sie sich angeregt unterhalten, scheint sie außer
uns niemand zu bemerken. Zu groß ist der Drang in die Tempelhofer Freiheit, zu hektisch die Zeit zum nächsten
Termin und zu ablenkend das unnötige Spiel auf dem Smartphone.
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Nach einiger Zeit blickt einer der Männer freundlich in unsere Richtung und lächelt uns einladend an. Als wir versuchen ins
Gespräch zu kommen wird schnell deutlich, dass wir improvisieren müssen. Englische, spanische, türkische, deutsche und
italienische Worte fliegen umher und sorgen für eine äußerst lustige und gleichzeitig unbeholfene Situation. Richtig witzig
wird es aber erst, als wir versuchen Sätze mit unseren Smartphones zu übersetzen. Großes Gelächter. Schnell wird klar,
dass wir uns alle mehr zu erzählen haben als uns möglich ist. Mittlerweile steht die Sonne tiefer am Horizont und die Massen sind bereits weggespült. Mit ihnen ist das Gewusel der Straße abgeklungen.
Ersin, Turan, Kazim und Lutfi sind Fernfahrer. Sie sind hier als ein Teil der weltweiten Handelslogistik - unverzichtbar für die
heutige Konsumgesellschaft. Fast komplett unbeachtet halten sie hier am Columbiadamm um sich von ihrer langen Fahrt zu
erholen und auf den nächsten Auftrag zu warten. Wie lange? - darüber herrscht Ungewissheit. Der Columbiadamm bie-
tet ihnen einen kostenlosen Stellplatz mitten in der Stadt und in der Moschee gibt es die Möglichkeit sich zu waschen und
frisches Wasser zu holen. Wir werden für den nächsten Tag zum Frühstück eingeladen.
Als wir morgens ankommen, dampft es wieder zwischen den Lastwagen. Nun wird Tee gekocht. Diesmal haben wir eine
Freundin gefragt, ob sie für uns übersetzen kann. Wir haben uns vorgenommen den ganzen Tag zusammen zu verbringen.
Während Ersin etwas abseits mit seiner Verlobten telefoniert, sitzen Kazim und Lutfi auf den Campingstühlen und erzählen uns von Abenteuern und vom Leben als Fernfahrer. Turan schaut hinter seiner Zeitung hervor, beobachtet die beiden
schweigend und lenkt dann seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Zigarette. Sie selbst kannten sich eigentlich gar nicht,
sondern haben sich auch gerade erst hier am Columbiadamm kennengelernt. Sie reden über Familie und Freundschaft,
über Heimat und Sehnsucht, über das Alleine sein und über Freiheit.
Sailors erzählt die Geschichte von vier Männern aus der Türkei, die alle ein Leben auf Rädern führen - zwischen Straße
und Fahrerkabine. Sie kommen zusammen um gemeinsam zu essen, zu lachen und einen Hauch von Zuhause zu erzeugen.
Während ihrer Rast am Columbiadamm werden sie Freunde. Sie tauschen Erinnerungen aus, erzählen sich Geschichten
und vertrauen sich Gedanken und Fragen an, die sie während der Fahrt begleiten.
Im Sommer 2016 drehten wir mit Ersin, Turan, Kazim und Lutfi unseren ersten Dokumentarfilm für die filmArche in
Neukölln, wo wir seit 2015 selbstverwaltet und selbst organisiert Dokumentarfilmregie studieren. Noch immer sind wir
von dieser Begegnung und Erfahrung verzaubert unter durch die finanzielle Unterstützung des QM Schillerkiez haben wir
die Möglichkeit gehabt unsere motivierten und engagierten Übersetzer_innen, die uns bei den vielen Stunden Filmmaterial
geholfen haben, zumindest für ihren Aufwand zu entschädigen. Durch die Arbeit an unserem Filmprojekt konnten wir uns
mit vielen Nachbarn in Neukölln vernetzen und hatten jede Menge Spaß. Nach der Festivalauswertung des Films werden
Filmvorführungen in Neukölln geplant werden.
Ein Film von Diana Thorimbert, Daniela Pomar und Julian Luis Müller
www.facebook.com/SailorsDocumentary
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Die doppelte Namensgebung
Der Ringer Werner Seelenbinder und der Sportpark Neukölln
Nur wenige Wochen nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands
regte sich auf notdürftig instandgesetzten Sportplätzen und in den Turnhallen Berlins bereits wieder das sportliche Leben.
Bereits Ende Juni 1945 lud das Neuköllner Sportamt zum ersten Nachkriegs-Sportfest ins Stadion Neukölln ein. Das Stadion mit Platz für bis zu 20.000 Zuschauern war 1930 als zentraler Bestandteil des zwei Jahre zuvor angelegten Ensembles
von Sport- und Spielplätzen entlang der Oderstraße eröffnet worden. Damit hatte der dicht besiedelte Neuköllner Norden
endlich die lange schon geforderten Sport-, Grün- und Erholungsflächen erhalten. Die städtischen Neuköllner Anlagen wurden aber nicht nur von der starken Arbeitersportbewegung der Weimarer Republik als Wettkampfstätte genutzt, sondern
auch als politische Bühne. So fanden hier im vollbesetzten Stadion mehrmals zwischen 1930 und 1932 die „Roten Arbeitersporttage“ und antifaschistische Kundgebungen von SPD wie KPD statt.
Einer der vielen Arbeitersportler, die sich auch nach 1933 am illegalen,
lebensgefährlichen Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligten, war
der Ringer Werner Seelenbinder. Geboren 1904 in Stettin, lebte er seit 1909
bei seinen Eltern in Berlin-Friedrichshain. Seine sportliche Heimat war seit
1919 der SC Berolina 03 Neukölln, der seit Mitte der 1920er Jahre in der
Schulturnhalle Thomasstraße (heutige Konrad-Agahd-Schule) trainierte und
für den Seelenbinder Siege und Meisterschaften bei Arbeiter-Sportfesten, der
Arbeiter-Olympiade und der Spartakiade in Moskau erringen konnte. Kurz
vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war Seelenbinder
– inzwischen Mitglied der KPD – in einen bürgerlichen Friedrichshainer Sportverein gewechselt, um weiterhin seinen Sport auszuüben. Das tat er wieder
sehr erfolgreich: In seiner Gewichtsklasse gewann Seelenbinder zwischen
1933 und 1941 sechsmal die Deutsche Meisterschaft. 1936 nahm er an den
Olympischen Spielen teil, errang aber leider nur den undankbaren vierten
Platz. Dies alles geschah neben seiner beruflichen Tätigkeit als Transportarbeiter, erst in einem Treptower, dann bei einem Marienfelder Industriebetrieb.
Obwohl Seelenbinder wegen illegalen Flugblattverteilens bereits im September 1933 im Columbiahaus, dem späteren KZ Columbia inhaftiert war,
hielt er weiter aktiven Kontakt zum Widerstand gegen die Nazis und schloss
sich 1937/38 der Gruppe um Robert Uhrig an. Nachdem Seelenbinder 1941
einem KPD-Funktionär Quartier verschafft hatte, wurde er Anfang Februar
1942 bei der Verhaftungsaktion gegen die Uhrig-Gruppe verhaftet. Die gnadenlose Nazi-Justiz verurteilte ihn zum Tod unter dem Fallbeil. Werner Seelenbinder starb im Zuchthaus Brandenburg-Görden am 24. Oktober 1944.
Im Sommer der Befreiung des Jahres 1945 war die Erinnerung an Seelenbinder – gerade in Neukölln – noch sehr lebendig.
Auch die aus den Lagern und Gefängnissen heimkehrenden Kampfgefährten Seelenbinders trugen mit dazu bei. Um ihn
zu ehren, erhielt das bislang namenlose Neuköllner Stadion am 29. Juli 1945 im Rahmen eines Sportfestes Seelenbinders
Namen und eine Urnengrabstätte mit der Asche des Sportlers am Stadioneingang. Seine einstigen Sportkameraden und
Widerstandskämpfer schilderten bei der Veranstaltung den Lebensweg dieses mutigen und bescheidenen Mannes. Er ist ein
„Vorbild und Mahner der Jugend“, so stand es auf dem schlichten Holzkreuz auf seiner Grabstätte. Am 9. September 1945,
dem ersten Gedenktag für die Opfer des Faschismus, demonstrierten dann nahezu Hunderttausend Berlinerinnen und Berliner in einer ersten großen antifaschistischen Kundgebung nach Kriegsende zur Werner-Seelenbinder-Kampfbahn.
Doch der antifaschistische Konsens zerbrach ebenso wie die Kriegskoalition der Siegermächte im aufziehenden Kalten
Krieg. 1948/49 stand Berlin mit Blockade und Luftbrücke im Zentrum dieses weltpolitischen Konfliktes. Der Bezirk Neukölln gehörte zum amerikanischen Sektor der Viermächtestadt Berlin und die dort Verantwortlichen unterstützten die Bindung an den Westen vehement und vorbehaltlos. Als Antwort auf politische Verfolgungen und Repressionen im Ostsektor
kam es nun in Neukölln zu Massenentlassungen und Verhaftungen der „Anhänger Moskaus“. Auch der Name des Kommunisten Seelenbinder für das Neuköllner Stadion sollte damals getilgt und seine Grabstätte auf einen entfernteren Britzer
Friedhof oder gleich nach Ost-Berlin verlegt werden. Seelenbinders Vater gab jedoch dazu kein Einverständnis
und so verblieb das Grab weiter an seinem angestammten Ort, der längst in die politische Auseinandersetzung
geraten war. Während in Ost-Berlin und der gesamten DDR Werner Seelenbinder durch zahlreiche Benennungen, Gedenkveranstaltungen und publizistische Veröffentlichungen zur wohl bedeutendsten Denkmalfigur des
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Arbeitersports im kommunistischen
Widerstand wurde, verboten und
behinderten zu Anfang der 1950er
Jahre die West-Berliner Behörden
Gedenkfeiern an Seelenbinders Grab.
Immerhin stellte die Bezirksverwaltung als Ersatz für das Holzkreuz zum
10. Todestag 1954 einen Gedenkstein auf, der sich dort heute noch
befindet. Aber im September 1961
konnten jedoch ungehindert jugendliche Randalierer die Teilnehmer der
Seelenbinder-Ehrung attackieren, so
als ob dieser auch am Bau der Berliner Mauer mitschuldig sei.
In den späteren 1960er Jahren wurde
es dann ruhiger um die SeelenbinderGrabstätte. Zu seinen Gedenktagen
tauschten hier an dem unscheinbaren
Gedenkort häufig alte Sportkameraden und Widerstandskämpfer aus
Ost und West Erinnerungen aus.
Die Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes (VVN) bereitete die
Feiern vor und Anwohner wie der
Geschichtsaktivist Werner Gutsche
aus der Oderstraße schmückten dazu
das Grab.
1970 forderte die VVN bei einer der
Gedenkfeiern die Wiederbenennung
des Neuköllner Stadions nach Werner
Seelenbinder und dessen Würdigung
bei den Neubauten für die Olympischen Spiele in München. Tatsächlich erhielt er 1972 im Olympischen
Dorf einen Weg mit seinem Namen.
Doch die Stadionbenennung ließ auf
sich warten. 1986 veranstaltete eine
Initiative zur Rückbenennung des
Stadions einen Volkslauf, der von der
tschechischen Läuferlegende Emil
Zatopek gestartet wurde. Im gleichen Jahr machte ein Besuch von Willi Daume, dem Vorsitzenden des Nationalen Olympischen Komitees, am Grab von Werner Seelenbinder auf das Schicksal des Olympia-Teilnehmers von 1936 aufmerksam. Zu
den Organisatoren und Teilnehmern der 1987 und 1988 erneut stattfindenden Seelenbinder-Gedächtnisläufe gehörte auch
Werner Gutsche. Zusätzlich erhöhte eine Unterschriftenaktion den Druck auf den Bezirk, der dann 1992 eine Gedenktafel
für Seelenbinder an der Konrad-Agahd-Schule initiierte. An die Würdigung der ungleich bedeutenderen Gedenkstätte, der
Werner-Seelenbinder-Kampfbahn, traute der Bezirk sich offenbar noch nicht heran. Erst 2004, zum 100. Geburtstag und
am 60. Todestag von Werner Seelenbinder, enthüllte der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowski die Namenstafel am Eingang der Sportanlage an der Oderstraße, die seitdem „Werner-Seelenbinder-Sportpark Neukölln“ heißt.
Zur Geschichte des Seelenbinder-Gedenkens ist von dem Autor Matthioas Heisig ein ausführlicher Beitrag in folgendem Sammelband erschienen: „Da müsst ihr euch mal drum kümmern“ Werner Gutsche (1923-2012) und Neukölln. Spuren, Erinnerungen, Anregungen. Herausgegeben von Frieder Boehne, Bernhard Bremberger und Matthias Heisig, Metropol Verlag, Berlin 2016.
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Zeitreise an einer Brandschutzwand
Für viele ist sie das Eintrittsschild zum Schillerkiez – die Brandschutzwand
des Wohnhauses der Hermannstraße 36, welche sich bestens von Flughafenstraße und Hermannstraße einsehen lässt. Während sie in den 90er
Jahren noch als brave Werbefläche verwendet wurde, ist sie vielen mit
„Kiez statt Kies“ in Erinnerung geblieben. Nach nur kurzer Zeit in weißer
Farbe während einer Renovierungsphase zu Beginn des Jahres, hat die
Berliner Graffiti Crew 1UP die weiße nun neu „bespielt“.
Die Brandschutzwand ist an dieser Stelle allerdings kein Zufall und keineswegs die Einzige entlang der nördlichen Grenze des Schillerkiez. Radikalmoderne, autogerechte Stadtplanungsparadigmen der 1950er und 60er
Jahre führten zu ambitionierten Ausbauplanungen der Stadtautobahn. Berlin sollte von sieben sechsspurigen Zubringern dem „KFZ-Ring“, und vier
sechs- bis achtspurigen Tangenten durchzogen werden. Die sogenannte
1960 - 1990 – 1994 - 2014 – 2017
Osttangente (A102) sollte dem Flächennutzungsplan (FNP) 1965 zufolge das südöstliche Westberlin von Kreuzberg
bis Buckow durchqueren. Die Hasenheide wäre somit zum riesigen Autobahnkreuz geworden (siehe Abbildung
FNP). Mit der Flughafenstraße als Teilstück eines der zahlreichen Zubringer ergab sich der Bedarf der Fahrbahnausweitung. 1957 wurden Mittel für den Abriß vom Senat bereitgestellt und mit der Entmietung begonnen. Bereits
1960 war die Verbreiterung der vorher nur 15 Meter schmalen Flughafenstraße auf 43 Meter abgeschlossen und
weit über 100 Wohnungen und ein Kino verschwunden – übrig blieben eine Reihe prominenter Brandschutzmauern.
Weder der KFZ-Ring noch die Autobahn wurden später tatsächlich gebaut. Alle weiteren Planungen wurden mit
dem neuen Flächennutzungsplan von 1984 aufgegeben, die „autogerechte“ Stadt war nicht mehr durchsetzbar.
Aktuell werden im Zuge der vielen benötigten Wohnungen in Berlin Ideen zum Rückbau diskutiert und damit möglicherweise in Zukunft das alte Stadtbild des Schillerkiezes wiederhergestellt. Wir sind gespannt!
Falls Sie weitere Stadien der Brandschutzwand über die Jahre dokumentiert haben, freuen wir uns über mehr Fotos in der Reihe. Gerne per mail an info@quartiersmanagement.de.
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KIEZFRITZEN
Michaela Hamann, aktive Nachbarin im Warthekiez, und Jehan El Rhomri, von den
Integrationsmachern von „interkular“, sprechen mit uns über die nachbarschaftliche
Vernetzungsarbeit der „Kiezfritzen“ – ein Format, das im Rahmen des QM-Projekts
„Akteursnetzwerk im südlichen Schillerkiez“ entstanden ist. Aufgezeichnet von
Alina Schütze
Im südlichen Schillerkiez gibt es viele aktive
private und institutionelle Akteure, an deren
besserer Vernetzung untereinander „interkular“ momentan mit vielseitigen Methoden arbeitet. In einer ersten Phase des Projekts, der
Bedürfnisanalyse der Ansässigen, wurde die
Idee der „Kiezfritzen“ geboren. Die BewohnerInnen im Südkiez sollten innovativ und niedrigschwellig zu ihrer Situation befragt werden.
Es wurde bald klar, dass das Befragungsteam
die Vielfalt der zu Befragenden natürlich
wiederspiegeln musste, um die verschiedenen
Lebenswelten im Kiez abzubilden.
„Das ist erstmal eine total schöne Idee, aber
auch eine kleine Herausforderung“, betont
Jehan im Gespräch. Denn ebenso existierte
im Projekt der Anspruch, auch zukünftige
BewohnerInnen des Kiezes und Geflüchtete in
die Befragung miteinzubeziehen. Und natürlich sollte niemand zur Befragung gezwungen werden. Das Team sollte also mehrsprachig, generationsübergreifend und von unterschiedlicher Motivation geprägt
sein. Fragebögen wurden in Deutsch und Arabisch verfasst und bei Bedarf auch
auf Englisch übersetzt, womit der Austausch unterstützt werden sollte. Mit Hilfe
des „Warthe-Mahls“, einem der zentralen Kieztreffpunkte (siehe Treffpunkte im
Warthekiez, Seite 35), fand sich das Team der „Kiezfritzen“ schlussendlich zusammen: Michaela, die seit Jahren im Kiez engagiert ist und sich mit kreativ-künstlerischen Angeboten in der Nachbarschaft einbringt, und Billy, im Herzen Musiker
und langjähriger, erfahrener Kiezbewohner, treffen auf Bahta, Mohammad und Abdulrahman, die seit circa zweieinhalb Jahren in Berlin sind und über die Perspektivcoaches in der Unterkunft Tempelhof mit „interkular“ in Kontakt gekommen sind.
Bahta ist ursprünglich aus Eritrea, ebenfalls Musiker und neben der Schule
auch an der Perspektivcoachakademie von „interkular“ beteiligt. Mohammad und Abdulrahman aus Syrien gehen ebenfalls in Berlin zur Schule,
machen Praktika und sind seit ihrer Zeit in Tempelhof im Kiez aktiv.
In einem vorbereitenden Workshop wurde erarbeitet, was zum Beispiel
der Begriff Nachbarschaft in Deutschland, Eritrea und Syrien bedeutet und
wie unterschiedlich er aufgefasst werden kann. Geschweige denn die Begriffe Nachbarschaftsgefühl oder Nachbarschaftsarbeit! Warum man aktiv
an einem Nachbarschaftsgefühl arbeiten müsse, war nicht allen von Anfang
an klar. Die teilweise sehr abstrakten Diskussionen im Workshop thematisierten außerdem die Themen der lokalen Identität und Partizipation und
auf welchen Ebenen diese stattfinden und unterstützt werden könnten.
Von Haus über Straße und Kiez bis hin zur Bezirksebene sind die Wege
manchmal weit. Am Einfachsten ist es doch, mit seiner direkten nachbarschaftlichen Umgebung zu beginnen.
So zogen die fünf Kiezfritzen gemeinsam los, um so viele Menschen wie
möglich zu erreichen. Für Mohammad und Abdulrahman war die Befragung auch eine berufliche Orientierung. Die „alten Hasen“ wie Michaela
und Billy konnten in den gemischten Befragungsgruppen auch erstmals arabischsprachige NachbarInnen erreichen: „Mit Mohammad bin ich dann losgezogen, um die arabischen Frauen auf dem Wartheplatz anzuquatschen,
das hat wunderbar funktioniert! Wir waren ein gutes Team“, erinnert sich
Michaela und betont, wie schnell sich das Team der Kiezfritzen schon im
vorbereitenden Workshop näher gekommen war.
So sind während der Befragung viele schöne kleine Begegnungen erfolgt,
Sprachbarrieren und andere Verständnisse und Konzeptionen wurden
überwunden und der Aushandlungsprozess zwischen den Interessengruppen sowohl im Kiezfritzen-Team als auch mit und unter den BewohnerInnen neu angepasst und übertragen. Aber auch weitere innovative
Methoden, wie zum Beispiel ein Positionsbarometer wurden angewandt,
mit dem man sich schnell und ohne sprachliche Verständigung ausdrücken
kann. So wurden Anderssprachige und Analphabeten erreicht und alle,
denen der Fragebogen zu lange ging. Auch die Burano-Methode wurde
von den Kiezfritzen angewendet: Ein Instrument, mit dem zentrale Orte
und wichtige Bewegungsströme ausgemacht werden können. Beim interkulturellen Kiezfest sind dann alle noch einmal zusammengekommen.
Auch musikalisch: Bahta an der Krar, Billy an der Mundharmonika und
Abdulrahman als Rapper. Jehan und das Team von „interkular“ hoffen, dass
das erfolgreiche Format auch zukünftig weiterentwickelt werden kann. Wir
freuen uns auf die Kiezfritzen 2.0!
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Das Rondell
Wo einem früher die Flugzeuge zu Füßen flogen, ist ´ne runde Bank
gelandet.
Drauf sitzt, wer will, „schweigend ins Gespräch vertieft“, draußen vor
dem Tor zum Flugfeld,
die Sehnsuchts-Silhouette im Blick. Es kreisen hier auch Kiezgeschichten, vielleicht solche wie diese:
Trifft ein Hund ´ne Schildkröte. Die steht oben auf zwei Steinblöcken.
Fragt der Hund die Schildkröte: Was machst du denn da?
Sagt die Schildkröte: Ich will abheben. Fliegen. Nach Panama - „Oh wie
schön ist Panama!“
Fragt der Hund: Wie soll das gehen?
Na bis hierher bin ich ja auch schon gekommen. Der Rest wird sich
finden.
Na dann viel Glück, meint der Hund kopfschüttelnd und trollt sich.
Und tatsächlich am Abend - weg ist sie.
Wo ist sie hin? Wer was weiß, erzählt´s am Rondell.
Regine Schütz
Szene 1
Löwenzahn-Fallschirme
schwarmweise ostwärts
übermütige Junikäfer
Ahornnasen sanft gestupst
Szene 2
Hulatänzerin hüftschwingend
Dudelsackpfeifer kariert irritiert
Darbouka-Trommel
kommentiert orientalisch
Szene 3
erlahmter Westwind
über staubtrockener Wiese
Abendsonne ruht auf der Wolkenbank
Türkishimmel zu Füßen
Wolfgang Endler - Kiezpoet:
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Ein Leben mit Courage
Erinnerungen an Werner Gutsche
Als ich im Jahr 1999 eine Stelle beim Museum Neukölln antrat, hatte ich das große Glück, bald die Bekanntschaft von
Werner Gutsche zu machen, der damals schon über 75 Jahre alt war. Im Museum wurde damals zum Widerstand gegen
den Nationalsozialismus gearbeitet und er kannte zahlreiche Informationen zu einzelnen Personen und Gruppierungen
aus dem Neuköllner Widerstand. Als ich mich dann auf Zwangsarbeit im Bezirk spezialisierte, wusste er sehr interessante
Details, etwa über die bei National Krupp am Hertzbergplatz untergebrachten Franzosen. Er wies mich auf das eine oder
andere unbekannte Lager hin wie das in der Braunauer Straße (heute: Sonnenallee), Ecke Hobrechtstraße oder das Kriegsgefangenenlager am Britzer Kanal an der Blauen Brücke. (Leider gelang es mir erst nach seinem Tod, auch die entsprechenden Belege in Archiven zu finden.)
Zwangsarbeiterkolonne in der Grenzallee. Die Neuköllner KFZ-Firma Gaubschat stellte Fahrzeuge für den kommunalen Dienst (z. B. Omnibusse) her, während des Kriegs für jede Truppengattung und ist berüchtigt für die „Gaswagen“ – mobile Gaskammern, in denen Zigtausende ermordet wurden (Zeichnung Werner Gutsche).
Der 1923 geborene Werner Gutsche war von Kind an ein begeisterter Schwimmer. Seine sportliche Heimat fand er beim
Schwimmverein „Möwe“, der 1933 in der „Schwimm-Union
Neukölln“ aufging. Der Verein hatte seinen Schwimmplatz am
östlichen Ufer des Teltowkanals, nahe der Grenzallee, dort
wo heute die Autobahn verläuft. Auch im Fronturlaub blieb
er dem Sport und seinem Verein treu, und deshalb konnte er
später einige seiner Beobachtungen mit dem Stift festhalten.
Wenn Werner vom Widerstand in Neukölln erzählte, so
konnte man meinen, er sei dabei gewesen. Dabei war er 1923
in Kreuzberg geboren, in der Falkensteinstraße aufgewachsen und erst nach der Kriegsgefangenschaft nach Neukölln
gezogen und zwar zu Marie Müller in der Oderstraße 47.
Tatsächlich war es „Mariechen“, die mit ihrem in Griechenland gefallenen Mann Alfred Müller im Neuköllner Widerstand
gelebt hatte. Werner Gutsche sorgte dafür, dass ihre Erfahrungen und ihr Wissen erzählt und nachwachsenden Generationen weitergegeben wurden und so auch einen Einzug in die
lokale Geschichtsschreibung fanden.
Bei zahlreichen Veranstaltungen war Werner Gutsche anzutreffen, ich hatte den Eindruck, dass die Galerie Olga Benario
in der Richardstraße fast sein zweites Wohnzimmer war. Er
konnte etliches beitragen zu Neuköllner Reformschulen in der
Weimarer Zeit, recherchierte zur Rütligruppe (einer aus der
gleichnamigen Schule hervorgegangenen Widerstandsgruppe),
stellte Ausstellungen zusammen (etwa zum Kriegsende in
Neukölln), machte Führungen zur Lokalgeschichte (zu nennen ist der so genannte Blutmai, die blutige Niederschlagung
der Maidemonstrationen von 1929 um das Rollbergviertel).
Besonders lag ihm die Grabstelle des Ringers und Widerstandskämpfers Werner Seelenbinder am Herzen: Die Asche
des im Zuchthaus Brandenburg Hingerichteten fand bald nach
Kriegsende am Eingangsbereich des Stadions in der Oderstraße ihre letzte Ruhe. Bei einer Gedenkveranstaltung konnte ich
ihn dort als Sänger im Arbeiter- und Veteranenchor erleben.
Und er interessierte sich für Schalmeien, was ich als Musikforscher natürlich besonders toll fand.
Werner Gutsche, der bis in sein hohes Alter ein drahtiger
Sportler blieb, verstarb Anfang Dezember 2012 nach einem
tragischen Unfall in der Sauna. Er liegt auf dem St. Thomas-
„Da müsst ihr euch
mal drum kümmern“
Werner Gutsche (1923–2012) und Neukölln
Spuren, Erinnerungen, Anregungen
Herausgegeben von Frieder Boehne, Bernhard Bremberger und Matthias Heisig
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Werner Gutsche verteilt Flugblätter vor dem Rathaus Neukölln
Kirchhof an der Hermannstraße begraben. Sehr bald nach seinem Tod kam die Idee auf, ein
Erinnerungsbuch zusammenzustellen, in dem einerseits seine biographischen Spuren zusammengestellt werden, in dem ferner Freunde und Wegbegleiter ihre Erinnerungen festhalten
und wo schließlich die Neuköllner Themen, für die sich Werner interessierte, dargestellt und
vertieft werden sollten. Dabei stellten wir fest, dass wir alle nur einen winzig kleinen Teil von
Werners Leben kannten. Matthias Heisig machte sich auf seine Spuren in den Archiven und
konnte eine erstaunliche Biographie zusammenstellen: von seiner Kreuzberger Jugend bis zur
Kriegsgefangenschaft hatte er schon selbst einen kleinen Text veröffentlicht. Dort nahm er an
Antifa-Schulungen teil, wo er sich „vom Wehrmachtssoldaten zum Kommunisten“ wandelte.
1949 kehrte er nach Berlin zurück, fand seine Wohnung in Neukölln und trat in die SED ein.
Metallarbeiter und Parteifunktionär, nach der Wende für „Die Linke“ im Neuköllner Rathaus
– das sind einige seiner Lebensstationen, die wir erst bei der Arbeit am Buch und besonders
durch die intensive Recherche von Matthias Heisig kennenlernen konnten.
So lange ich Werner Gutsche kannte, kümmerte er sich liebevoll und aufopfernd um seine
Lebensgefährtin. Den ganzen Tag über besuchte und betreute er „Mariechen“ im Heim; frühmorgens und spätabends fand er Zeit für seine weiteren Aktivitäten. Unvergesslich sind die
persönliche Wärme, die er in allen Begegnungen ausstrahlte und sein kräftiger Händedruck.
Wenn wir telefonierten, dann versäumte er nie, sich mit „Grüß dein Frauchen!“ zu verabschieden. Er durfte das so sagen.
Von Bernhard Bremberger
Fassadengeschichte im Schillerkiez
1990
vs.
2017
Weise Ecke Selchower
Hermannstraße
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Allerstraße
Allerstraße
Weisestraße
Oderstraße
Oker Ecke Weise
Okerstraße
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Kopfstein
Das Kopfsteinpflaster schimmert wie Schuppenhaut im Licht. In
der Sonne, im Regen, im Licht der Straßenlaternen erglänzen die
steinernen Köpfe, abgerundet und poliert durch Millionen Räder
und Schritte. Kopf oder Zahl. Die gepflasterten Nebenstraßen
führen von hier ins Licht über dem Tempelhofer Feld und rollen
die Rollberge hinunter zur Karl-Marx-Straße. Kopfsteinpflaster
ist Kunst, wie Christos Installationen. Ein Haus aus Ziegelsteinen
bauen und eine Straße aus Steinen legen ist Kunst. Für Fahrradfahrer sind solche Straßen sicher erschütternd, für Betrachter sind sie
wunderbar.
Die Bürgersteige sind aus kleineren, faustgroßen Steinen gelegt.
Der Pflasterer erklärt dem staunenden, arbeitslosen Passanten:
Kopfsteinpflaster meint die großen Steine auf der Straße und
Mosaiksteinpflaster die kleinen Steine auf den Bürgersteigen. Kein
einziger Pflasterstein ist gleich wie der andere, das haben sie mit
den Menschen gemeinsam. Jeder Stein findet seinen Platz in den
unregelmäßigen Fußbodenmosaiken. Er, der Arbeitslose, schaut
gern den Pflasterern zu, die ihn sicher verfluchen würden, wüssten
sie von diesem Müßiggänger ohne Muße.
Ein Schriftsteller schrieb von einem Moment der Gefahr, als er sich
in Kriegszeiten auf den Bürgersteig werfen musste und eine Maschinengewehrgarbe das Pflaster neben ihm auffurchte. Er schrieb
von dieser besonderen Schärfe der Wahrnehmung im Moment
der Gefahr, er sah genau, wie sich um ihn die Mosaikpflastersteine
unter dem Aufprall der Kugeln wie Igelstacheln sträubten.
Am Abend geht groß die Sonne unter, dort, im Westen, jenseits
des Tempelhofer Feldes und strahlt wie ein Scheinwerfer grell
und gleißend in die Herrfurthstraße. Das Licht schlittert über das
Kopfsteinpflaster der gewölbten Straße, ein bald hundertjähriger
Dinosaurierrücken, dessen versteinerte Schuppenhaut im Sonnenlicht sich zu sträuben scheint und glänzt. Ein Sturm weht aus dem
Paradies her und reißt Blätter aus den Linden, die gelb und dann
kupferrot auf den verstümmelten Turm der Genezareth Kirche
zutreiben.
Die roten Ziegelsteinwände der Kirche leuchten verheißungsvoll
und drinnen braust die kirchenschiffhohe Orgel hinter dem brennenden Dornbusch aus Glas und Stahl. Der liebe Gott knipst als
letzter das Licht aus. Die Kirche und die Herrfurthstraße liegen
jetzt im Dunkel, spärlich beleuchtet von Straßenlaternen. Die
Kopfsteine schlafschwer träumen von Pferdehufen, Fuhrwagen,
Autoreifen und Millionen Schritten. Im Westen über dem Flughafenfeld noch ein heller, orangerot gefärbter Himmel.
Und es ward ein anderer Tag. Kein Stein wird auf dem anderen
bleiben. Der Straßenbauarbeiter, der mit einem Bagger die Straße aufreißt, sagt dem Arbeitslosen, der schon wieder müßig mit
den Händen in den Hosentaschen herumschlendert, dass eine
Frau aus der Kolonie Odertal beinahe geweint hätte, als sie hörte,
dass die Steine weggetragen werden und die Straße asphaltiert
wird. Warum. Ja, warum. Weil es billiger ist. Wer fragt schon nach
Schönheit, wer nach Mustern und Strukturen, wer nach Geschichte. Was glauben Sie wie viele Arbeitsstunden das gibt, diese Kopfsteinpflastersteine zu legen? Das ist zu teuer, viel zu viel Arbeit.
Der Arbeitslose verspürt auch nicht gerade große Lust, die Steine
zu legen. Er denkt an seinen Rücken. Mit einer Maschine ist das
an einem Tag wieder asphaltiert. Wenigstens bleiben die Steine in
den Randstreifen liegen. Wie Spielzeugwürfel schaufelt der Bagger
die kopfgroßen Steine auf einen Lastwagen, wo sie polternd und
dröhnend in den Stahlcontainer fallen. Unter den Steinen liegt der
märkische Sand. Hier weht jetzt ein anderer Wind. Die Straße
führt auf das Haupttor des Flughafenfeldes zu. Was glauben Sie
wie viele Autos, wie viele Fahrradfahrer, bepackt mit Skateboards,
Windsurfbrettern und Drachen hier durchfahren. Dort liegt die
große Spielwiese der Stadt, auf der allein die Windkraft die Menschen über die Start- und Landepisten treibt und die vielfältig
geformten Drachen in der Luft hält. Hier recken die Menschen
ihre Gesichter in den Himmel und die Wolken malen täglich andere
Himmelslandschaften. Die Falken jagen die Krähen oder die Krähen die Falken.
Beitrag zum Literaturwettbewerb Schillerkiez 2013 von
Franz Joseph Hödl
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Michaela Hamann erzählt uns von alten und neuen Treffpunkten im südlichen Schillerkiez, an denen die NachbarInnen zusammen kommen:
Der ehemalige Kiosk am Tempelhofer Feld
Direkt neben dem buntgestrichenen Eingang zur Kinderwelt am Feld war früher ein Kiosk zu finden. Nach einem Gang auf dem Tempelhofer Feld traf man sich hier mit Nachbarn aus dem Warthekiez auf einen Kaffee oder ein Bier. Mittlerweile gibt es den Kiosk nicht
mehr, aber die alten Herren, die sich früher dort trafen, kann man manchmal ein paar Meter weiter an der runden Bank treffen. Das
Bier kann man jetzt bei Mauro, dem Eismann, kaufen.
Das Warthe-Mahl
Ende der 90er Jahre war im heutigen Warthe-Mahl noch eine klassische Neuköllner Eckkneipe zu finden. Bier und Futschi für 1,50 DM
wohlbemerkt. Nach einer mysteriösen Umbauphase wurde die ehemalige Kneipe in eine Art Kiosk verwandelt, mit Stehtischen und
einer netten fülligen Dame hinter dem Tresen. Die Kinder der Warthestraße kamen hier regelmäßig vorbei. Unter Bedingung eines
höflichen „Bitte“ und „Danke“ wurden ihnen ihre Süßigkeiten gegeben. Nachdem die alte Dame gestorben war, stand die Ladenfläche
wieder leer. Bis 2006 das Warthe-Mahl einzog.
Heute dient das Warte-Mahl als der Treffpunkt im Warthekiez. Seit über zehn Jahren ist es eine feste Instanz im Kiez und Ort vieler
Angebote wie der Lehrküche, des Nähkurses, der Mieterberatung und zahlreicher Veranstaltungen. Wer die „Urgesteine“ aus dem
Warthekiez kennen lernen möchte, ist im Warthe-Mahl an der richtigen Adresse. Alte wie neue Kiezbewohner treffen sich hier. Michaela hofft, dass das Warthe-Mahl irgendwann wieder länger am Abend öffnet.
Treffpunkte im Warthekiez
Der Wartheplatz
Was ist das Besondere an der Warthestraße? „Dass es so schön grün ist!“
Das grüne Herz der Warthestraße ist ohne Zweifel der zentrale Wartheplatz. Hier treffen sich sämtliche Anwohner auf dem Weg zum
Tempelhofer Feld, auf dem Rückweg von der Kita oder vom Warthe-Mahl oder einfach zum Verweilen. Schön wäre es, wenn es eine
Überdachung über den Sitzbänken gäbe, die den Platz auch bei Regen nutzbar machte. Da nicht alle Wohnungen in der Warthestraße
den Luxus eines Balkons genießen, wäre dies ein optimaler Ausweichraum. Auf dem Wartheplatz hat Michaela durch die Befragung
mit den Kiezfritzen (siehe Seite 23) auch die arabischen Mütter kennen gelernt, welche den Platz ebenfalls viel nutzen. Der Idee einer
Überdachung stimmen alle zu.
Die Treppenhäuser
Im Rahmen von 48 Stunden Neukölln fanden im wunderschönen dreieckigen Treppenhaus der Warthestraße 48 einige Treppenhauskonzerte statt. Die gute Akustik und besondere Atmosphäre eignet sich optimal für Cello- oder Percussionkonzerte. Allerdings soll
gerade dieses besondere Treppenhaus einen Personenaufzug bekommen. Die Bewohner versuchten, sich dagegen zu wehren, aber das
Treppenhaus unter Denkmalschutz zu stellen, ist ein sehr langwieriger Prozess und leider nicht mehr möglich.
Neue Lokale
Neben den alteingesessenen Treffpunkten gibt es mittlerweile auch einige neue Lokale in der Warthestraße, in denen die Nachbarn
zusammenkommen. Ins „La Plume“ werden zum Beispiel neben Sprachkursen auch regelmäßig Kiezakteure für Konzerte,
Lesungen oder Ähnliches eingeladen (zum Beispiel Veronika Otto oder Wolfgang Endler). Auch das französische Lokal „Lipopette“ ist mit der Zeit zum neuen Treffpunkt geworden. Und im Sommer trifft man sich auch beim leckeren „Lauter Eis“
oder bei „Tante Frizzante“ in der Hermannstraße. Somit findet jeder seinen Lieblings-Kieztreffpunkt.
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Quartiersmanagement
Schillerpromenade
Sie wohnen und arbeiten schon lange im Schillerkiez oder sind gerade hierher gezogen? Vielleicht
sind Sie auch nur mal zu Besuch? Sicherlich finden Sie die schönen Fassaden und die repräsentative
Schillerpromenade mit ihren Spielplätzen genauso nett, wie die kleinen Cafés und Kneipen. Und vielleicht haben Sie auch schon unser Vor-Ort-Büro direkt an der Schillerpromenade entdeckt und sich
gefragt:
„Was ist das eigentlich, ein Quartiersmanagement? Wozu ist es da und was kann ich damit anfangen?“
Auch wenn man es vielleicht nicht auf den ersten Blick bemerkt: Der Schillerkiez und seine BewohnerInnen brauchen Unterstützung und Förderung.
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Mehr als die Hälfte seiner Bewohnerschaft ist arm, hat keine oder nur sehr schlecht bezahlte
Arbeit
Aufgrund fehlender Berufsabschlüsse oder Langzeitarbeitslosigkeit benötigen viele BewohnerInnen zusätzliche Hilfe, um im Berufsleben wieder Fuß fassen
Die Kiezschulen müssen weit mehr leisten, als nur Wissen zu vermitteln. Um allen Kindern einen
guten Start zu ermöglichen, benötigen sie daher besondere Unterstützung
Genau hier setzt das Quartiersmanagement an, indem es auf die Stärken und Potenziale des Gebiets
schaut und diese entwickelt.
Das größte und wichtigste Potenzial eines Gebiets ist seine Bewohnerschaft. Deshalb setzen wir auf
die aktive Mitwirkung der hier lebenden und arbeitenden Menschen. Im Quartiersrat und der Aktionsfondsjury kommen sowohl Anwohnerinnen und Anwohner als auch Vertreterinnen und Vertreter
von Schulen, konfessionellen Einrichtungen oder Vereinen zusammen und entwickeln neue Ideen, die
den Kiez voran bringen sollen.
Das Quartiersmanagement befindet sich an der Schnittstelle zwischen Kiez und Verwaltung. Das
Team ist direkt vor Ort jederzeit für die Bewohnerschaft erreichbar. Seine Aufgaben sind:
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Erstellung einer Gebietsstrategie zur nachhaltigen Entwicklung des Quartiers
Einbeziehung der Bewohnerschaft (Partizipation) und der Akteure (Netzwerkarbeit)
Initiierung und Umsetzung von Projekten zur Gebietsentwicklung
Entsprechend der Schwerpunktsetzung im Integrierten
Handlungs- und Entwicklungskonzept (IHEK) arbeitet
des Quartiersmanagement an der Einrichtung und Sicherung eines Nachbarschaftszentrums für das Quartier, um
langfristig eine funktionierende Stadtteilarbeit zu gewährleisten.
Daneben begleitet das Quartiersmanagement die Arbeit
an den Kitas und Schulen, die bereits in der Vergangenheit
mit erheblichen Mitteln der „Sozialen Stadt“ aufgewertet
wurden.
Mitmachen!
Sie planen ein Hoffest mit Ihren Nachbarinnen und Nachbarn? Sie wollen eine Baumscheibe bepflanzen? Sie wollen für die Kinder Ihrer Einrichtung neu Spielgeräte anschaffen? Dann können Sie Mittel aus dem Aktionsfonds beantragen und damit ihr ehrenamtliches
Engagement unterstützen lassen. Antragsberechtigt sind alle Anwohnerinnen und Anwohner sowie
Initiativen und Vereine. Über die Vergabe der Mittel entscheidet die Aktionsfondsjury, die sich aus
engagierten Anwohnerinnen und Anwohnern des Quartiers zusammensetzt.
Nähere Informationen finden Sie auf unserer Website
www.schillerpromenade-quartier.de oder Sie kommen einfach in unser Vorortbüro.
Wir beraten Sie gerne und helfen Ihnen bei der Antragsstellung.
Impressum:
Fotonachweis:
Redaktion: Gunnar Zerowsky, Alina Schütze
Layout & Satz: Gunnar Zerowsky 12/2017
Zara Morris: Seite 4
Lieselotte Ochmann: Seite 5
Museum Neukölln: Seite 7, 9, 17, 18, 29, 36
Beate Storni: Seite 10
Julian Luis Müller: Seite 14, 15, 16
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: Seite 21
Regina Schütz: Seite 25
Werner Gutsche: Seite 27
Julia Zerowsky: Seite 1, 36
Sabine Stoessel: Rückseite
Quartiersmanagement Schillerpromenade
Schillerpromenade 10, 12049 Berlin
Tel.: 030 - 621 16 02
Fax: 030 - 621 10 54
info@quartiersmanagement.de
www.schillerpromenade-quartier.de
Träger:
BSG Brandenburgische
Stadterneuerungsgesellschaft mbH
Ludwig-Richter-Str. 23, 14467 Potsdam
Geschäftsführer: Dipl.-Ing. Michael Schipper,
Dipl.-Ing. Jens Lüscher
Eingetragen: Amtsgericht Potsdam Stadt,
HR-Nr.: HRB 3454 Amtsgericht Potsdam
Bremberger, Heisig, Boehne: Seite 28
Frieder Boehne, Bernhard Bremberger, Matthias Heisig (Hrsg.): „Da müsst
ihr euch mal drum kümmern“ – Werner Gutsche (1923–2012) und Neukölln.
Spuren, Erinnerungen, Anregungen. ISBN:978-3-86331-322-7, 312 Seiten,
Berlin (Metropol) 2016, € 22.00. Inhalt: http://metropol-verlag.de/wp-content/
uploads/2016/05/Heisig_Gutsche_Inhalt.pdf.
Alle sonstigen Fotos: QM Team
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www.schillerpromenade-quartier.de