RUNDBRIEF
Forum Umwelt und Entwicklung
2/2022
MIT VOLLER KR AFT
RÜCK WÄRTS?
UMWELT- UND ENTWICKLUNGSPOLITIK IN ZEITEN DES
RUSSISCHEN ANGRIFFSKRIEGS
TRANSFORMATION DER
LANDWIRTSCHAFT
Für eine langfristige
Ernährungssicherheit
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FLÜSSIGERDGAS FÜR
DEUTSCHLAND
Verschärfung der fossilen
Abhängigkeit
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MÄNNER KÄMPFEN,
FRAUEN FLIEHEN
Krieg als patriarchales
Machtinstrument
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PERSPEKTIVEN AUS DER
UKRAINE
Zivilgesellschaftliche
Organisationen geben Einblicke
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ISSN 186 4-0 982
RUNDBRIEF 2 /2022
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SCHWERPUNKT
Droht noch mehr Hunger?
2
Der Krieg gegen die Ukraine verschärft die globale Preis- und
Ernährungskrise. Es braucht koordinierte, strukturelle Antworten.
Lena Bassermann und Lena Luig
Transformation der Landwirtschaft
5
Aus den Augen, aus dem Sinn?
42
Sabine Wilke
Schwarz-Weiß-Denken
8
Die Neuausrichtung der Rohstoffpolitik als Momentum
für nachhaltige Produktion
Tshin Ilya Chardayre und Michael Reckordt
Im Westen nichts Neues
39
Kapitulieren und überleben oder Widerstand leisten bis
zum Ende
Dr. Nelya Rakhimova
Langfristige Ernährungssicherheit setzt nachhaltige
Landwirtschaft voraus
Lavinia Roveran
Zeitenwende? Rohstoffwende!
Die russische Zivilgesellschaft im Krieg
11
45
Empathie und Solidarität in Zeiten des Ukraine-Krieges
Axel Grafmanns
Perspektiven aus der Ukraine:
Ukrainian Nature Conservation Group
46
Schwerpunktpublikationen
33
Altbekannte Narrative in einer von Wirtschaftsinteressen
geleiteten Rohstoffdebatte
Josephine Koch
14
AUS DEM FORUM
Perspektiven aus der Ukraine: Ecoclub
17
Mit Volldampf gegen die Wand
Von Blöcken und Blockaden
18
Flüssigerdgas für Deutschland
Verschärfung der existenzbedrohenden fossilen Abhängigkeit
Andy Gheorghiu
Multilateralismus in einer gespaltenen Welt
Jürgen Maier
Zwischen Krieg und Worten
21
Über die Wirksamkeit von internationalen Sanktionen
Dr. Christian von Soest
Zerfallserscheinungen
24
Die Folgen des Ukraine-Kriegs für die Finanzierung
nachhaltiger Entwicklung
Wolfgang Obenland
Der Globale Süden und der Krieg in Europa
27
Ein unmöglicher Dialog?
Roberto Bissio
Versicherung für die Fossilen
30
Inflation und Entlastungspakete in Deutschland
31
Katalysatoren der sozialen Ungleichheit
Dr. Andreas Aust
Männer kämpfen, Frauen fliehen
34
Geschlechterrollen im Kontext von Krieg und
feministischer Außenpolitik
Carsta Neuenroth
Zeitenwende wohin?
Neuauflage des WTO-Krimis
54
Die 12. MinisterInnenkonferenz der Welthandels
organisation ging hinter verschlossenen Türen zu Ende,
ohne Lösungen für globale Herausforderungen anzubieten
Nelly Grotefendt
57
Zivilgesellschaft und Kommunen treiben
Nachhaltigkeit voran
Gerd Oelsner
Die Grenzen von Sustainable Finance
60
Wie das Finanzsystem zu einem Hebel für
eine nachhaltige Wirtschaft werden kann
Magdalena Senn
Die Stimme der Zivilgesellschaft bei den G7
36
Frieden und Nachhaltigkeit gehören zusammen
Prof. Dr. Jürgen Scheffran
51
Investitionsschutzverträge dürfen den Klimaschutz
nicht weiter behindern
Fabian Flues
Rio plus 30: Und sie bewegt sich doch …
Perspektiven aus der Ukraine: Ecosphere
48
Ist die CBD COP15 schon, bevor sie begonnen hat,
zum Scheitern verurteilt oder gibt es vielleicht sogar
Hoffnung, dass doch noch alles gelingt?
Christian Schwarzer
62
Wie inklusiv ist der exklusive Club?
Miriam Stahlhacke
Publikationen aus dem Forum
57
Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NGOs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist
der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzorganisationen (DNR) e. V.
Die nächste Ausgabe des Rundbriefs erscheint im Dezember 2022.
IMPRESSUM
HERAUSGEBER: Forum Umwelt & Entwicklung, Marienstraße 19 – 20, 10117 Berlin, Telefon: 030 / 678 17 75 920, E-Mail: info@forumue.de,
Internet: www.forumue.de, Twitter: @ForumUE VERANTWORTLICH: Jürgen Maier REDAKTION: Eileen Roth und Tom Kurz
MITARBEIT: Miriam Stahlhacke LEKTORAT: Marion Busch LAYOUT: STUDIO114.de | Michael Chudoba TITELBILD: Mikhail Volkov/Unsplash
DRUCKEREI: Knotenpunkt Offsetdruck GmbH REDAKTIONSSCHLUSS: 07. Juli 2022
Die dargestellten Inhalte und Positionen liegen in der Verantwortung der jeweiligen AutorInnen und geben nicht zwingend Standpunkte des
Forums, seiner Mitglieder oder Förderer wieder.
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
am 24. Februar begann Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine. Dieser Krieg bedroht
das Leben von Millionen Menschen in der Ukraine. Weltweit leiden weitere Millionen unter den vielfältigen
Auswirkungen. Und überall trifft es die Armen wie immer am stärksten. Anstatt die sozialen Verwerfungen,
die der Krieg mit sich bringt, mit gezielten politischen Maßnahmen abzufedern, drehen sich die hiesigen
Debatten und politischen Prozesse einmal mehr um wirtschaftliche Interessen. Außerdem herrscht vor
allem im Globalen Norden exklusive Solidarität und eine Doppelmoral. Als erster europäischer Krieg seit
1945 wurde der russische Angriff bezeichnet. Die Kriege in Zypern, Jugoslawien und Tschetschenien werden
ausgeblendet, ebenso wie viele Kriege weltweit. Auch gab es noch keine Verurteilungen des NATO-Partners
Türkei für die ständigen Angriffe auf die kurdischen Gebiete in Nordsyrien und Nordirak.
Nichts davon entschuldigt den russischen Aggressor, es zeigt aber auf, dass die Welt komplexer ist als die
Kategorien Gut und Böse. In diesem Rundbrief haben wir verschiedene Perspektiven auf den Krieg gegen die
Ukraine und seine Folgen gesammelt. Ganz besonders freuen wir uns, dass wir drei ukrainische NGOs und
ihre Perspektive auf den Krieg und das Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft in den Rundbrief
integrieren konnten. Zudem freuen wir uns, dass wir mit Nelya Rakhimova auch eine Stimme aus der seit
Jahren unter Druck stehenden russischen Zivilgesellschaft im Rundbrief aufnehmen konnten.
Lena Bassermann und Lena Luig widmen sich der Frage, wie stark die Welternährungskrise ausfallen
wird. Diese Krise wird als Rechtfertigung genutzt, um Klima- und Naturschutzziele infrage zu stellen. Dies
und die Transformation der Landwirtschaft beleuchtet Lavinia Roveran in ihrem Artikel. Über die Abhängigkeiten der deutschen Industrie von russischen Rohstoffen und die Dringlichkeit, endlich eine wirkliche
Rohstoffwende zu beginnen, schreiben jeweils Michael Reckordt und Tschin Ilya Chardayre sowie Josephine
Koch. Einen genauen Blick auf unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern wirft Andy Gheorghiu
und zeigt dabei, dass ein Ausbau von LNG-Terminals nicht der Bevölkerung, sondern vor allem der petrochemischen Industrie nutzt. Jürgen Maier zeigt die Schwierigkeiten der multilateralen Politikprozesse
unter grundsätzlichen geopolitischen Differenzen auf und was dies für eine globale Umwelt- und Entwicklungspolitik heißt. Aus wissenschaftlicher Perspektive analysiert Dr. Christian von Soest die Effektivität der
Sanktionsmaßnahmen gegen Russland, die als Mittel zwischen Worten und einem Eingriff in den Krieg
stehen. Auf die Auswirkungen der finanzpolitischen Sanktionen auf die Weltökonomie und die globalen
Finanzinstitutionen geht Wolfgang Obenland in seinem Artikel ein. Roberto Bissio erklärt uns, warum viele
Länder des Globalen Südens die Sanktionspolitik der USA und Europas nicht mittragen und wie das mit der
europäischen Doppelmoral zusammenhängt. Dass der Ukraine-Krieg auch in Deutschland am stärksten die
Armen trifft und warum die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen zur Entlastung nicht helfen,
zeigt Dr. Andreas Aust auf. Dass Krieg ein patriarchales Machtinstrument und damit nicht nur Hindernis,
sondern auch Bedrohung für eine globale Geschlechtergerechtigkeit ist, erklärt uns Carsta Neuenroth. Sie
erläutert auch, wie feministische Außenpolitik Sicherheit für alle Menschen gewährleisten kann. Prof. Dr.
Jürgen Scheffran geht der Frage nach, warum der Ukraine-Krieg eine Zeitenwende markiert und wie die
Zivilgesellschaft Teil einer Wende zum nachhaltigen Frieden sein kann. Dass unsere Wahrnehmung und
unser Interesse häufig selektiv sind und damit einhergehend auch Berichterstattung selektiv stattfindet, wird
in zwei Artikeln thematisiert. Sabine Wilke zieht ein Resümee der globalen Berichterstattung und benennt
die vergessenen Krisen unserer Zeit. Axel Grafmanns analysiert den unterschiedlichen Umgang mit Geflüchteten, der sich vor allem je nach Hautfarbe unterscheidet.
In unserem Teil Aktuelles aus dem Forum finden sich gleich mehrere taufrische Berichte internationaler
Konferenzen und Verhandlungen. So schreibt Christian Schwarzer über die neuesten Entwicklungen bei
der Erarbeitung einer neuen Biodiversitätskonvention. Fabian Flues berichtet über die Abschlussphase der
Reformverhandlungen des Energiecharta-Vertrages. Nelly Grotefendt schreibt über die WTO-Konferenz
und ein Abschlusspapier, das niemanden zufrieden stellte. 30 Jahre nach der Rio-Konferenz für Nachhaltige
Entwicklung zeigt Gerd Oelsner auf, dass die Zivilgesellschaft und die Kommunen maßgebliche Treiber für
Nachhaltigkeitspolitik sind. Über Hürden und Möglichkeiten von Sustainable Financing schreibt Magdalena Senn. Zu guter Letzt klärt uns Miriam Stahlhacke über die Ergebnisse des G7-Gipfels auf, der einmal
mehr gezeigt hat, dass zivilgesellschaftliche Einflussnahme auf diesen exklusiven Club nicht erwünscht ist.
Eine wie immer spannende Lektüre wünschen
Eileen Roth
Tom Kurz
DROHT NOCH
MEHR HUNGER?
Der Krieg gegen die Ukraine verschärft
die globale Preis- und Ernährungskrise.
Es braucht koordinierte, strukturelle
Antworten.
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich
die Welternährungslage drastisch verschärft. Die Schlagzeilen der Medienhäuser im Globalen Norden warnten früh
vor einem Mangel an Lebensmitteln, vor allem an Brot. Die
New York Times etwa titelte bereits im März: „Jetzt steht
der Planet vor einer tieferen Krise: der Nahrungsmittelknappheit“. Tatsächlich würden die globalen Weizenvorräte
in den Getreidelagern der exportierenden Länder gerade
einmal für 45 Tage die weltweite Versorgung garantieren,
bei Mais sind es sogar weniger als 30 Tage.
2
Schwerpunkt
Chris Robert/Unsplash
F
est steht: Die Krise hat enorme Auswirkungen auf
das weltweite Handelssystem, und die Lebensmittelmärkte sind besonders stark davon getroffen, was
sich bislang vor allem in höheren Preisen bemerkbar macht. Die Ukraine und Russland gehören zu den drei
größten Exporteuren von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl. Doch nicht nur direkte Getreidelieferungen, auch
die für den Anbau und die Produktion von Lebensmitteln
notwendigen Ressourcen sind stark beeinträchtigt, schließlich ist Russland ein wichtiger Exporteur von Energie und
liefert – gemeinsam mit Weißrussland – Düngemittel an
Länder rund um den Globus. Der Export von Gütern aus
Russland ist derzeit vor allem durch Sanktionen sowie
durch – aufgrund der angespannten Sicherheitslage – begrenzte Transportmöglichkeiten, etwa für Frachtschiffe,
stark eingeschränkt. Zudem verhindern Sanktionen derzeit, dass Russland in der aktuellen Aussaatsaison an ausreichend Saatgut und Pestizide gelangt.
Diese Verknappungen und befürchteten Engpässe
machten sich direkt auf dem Weltmarkt bemerkbar. Innerhalb von nur drei Wochen nach Beginn des Krieges ist
der Preis für Winterweizen, einer der meistgehandelten
Weizensorten aus den USA, um über 50 Prozent angestiegen. Auch die Indizes der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) sowie des internationalen
Forschungsinstituts IFPRI liefern Grund zur Sorge: Die
Preisanstiege sind schon jetzt vergleichbar mit den Werten
der letzten Welternährungskrise in den Jahren 2007/2008
und könnten diese sogar noch übertreffen. Damals führten
die steigenden Preise zu Hungerrevolten in etwa 60 Ländern
mit teilweise blutigen Auseinandersetzungen.
Importländer werden besonders
hart getroffen
Auch dieses Mal sind vor allem ärmere Staaten des Globalen
Südens besonders stark von der Krise betroffen, was bereits
mit einem Blick auf die Empfängerländer der Weizenexporte deutlich wird. So bezieht etwa Eritrea 100 Prozent seines
Weizens aus der Ukraine und Russland. Laut FAO haben
bislang mehr als 30 Länder im Mittleren Osten und Afrika
jeweils rund ein Drittel ihres Weizens aus der Ukraine und
Russland bezogen und müssen diesen nun teuer auf dem
Weltmarkt einkaufen. Erschwerend kommt hinzu, dass bereits 20 Länder – darunter China, Serbien, Ungarn – ihre
Getreideexporte gestoppt haben, um die eigenen Märkte zu
schützen. Für Kontroversen sorgte vor allem die Ankündigung Indiens Mitte Mai, die Weizenexporte zu stoppen, um
die Ernährung der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten.
Aufgrund einer anhaltenden Hitzewelle fürchtet Indien
deutliche Ertragseinbrüche. Während Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir diese Entscheidung scharf
kritisierte, sprechen sich Hilfswerke wie Brot für die Welt
dafür aus, dass gerade Länder, die stark von Hunger und
Armut betroffen sind, ihre eigenen Märkte in Krisenzeiten
schützen können müssen – auch wenn dies gegen die Regeln
der Welthandelsorganisation verstößt.
Ein weiterer Schock für das
Welternährungssystem
Importierende Länder treffen die Preisanstiege besonders
hart, denn nicht nur Weizen, auch Mais und Soja sind
deutlich teurer geworden, was das Risiko für Hunger und
Mangelernährung dramatisch erhöht. Einkommensschwa-
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
3
che Menschen geben im Schnitt etwa zwei Drittel, in vielen
Fällen über 80 Prozent ihres Geldes für Lebensmittel aus.
Steigen die Preise, wird die Ernährungssicherheit noch stärker als ohnehin schon bedroht. Aktuelle Prognosen der FAO
gehen für dieses Jahr von einem Anstieg der Zahl der hungernden Menschen um 8 bis 13 Millionen aus. 1
Die Preisanstiege sind ein weiterer Schock für die bereits dramatische Welternährungssituation. In Folge der
Corona-Pandemie litten von einem Jahr auf das nächste
bis zu 160 Millionen Menschen zusätzlich unter akutem
Hunger. JedeR Dritte weltweit hat keinen Zugang zu einer
gesunden Ernährungsweise – und das liegt nicht daran,
dass zu wenig produziert wird, sondern an Armut in Folge
sozialer Ungleichheit. Die Frage ist derzeit also nicht, ob es
zu einer Welternährungskrise kommt, sondern wie stark
sich die Krise verschärfen wird.
Koordiniertes politisches Handeln bleibt aus
Die Hauptgründe für Hunger sind nach Angaben der FAO
Kriege, Klimakrise sowie soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Eine Antwort der Vereinten Nationen auf die
aktuelle Lage muss die vielfältigen Krisen zusammendenken, doch bislang ist – allen Warnungen zum Trotz – eine
koordinierte politische Antwort aller Staaten ausgeblieben.
Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
Michael Fakhri appelliert daran, nicht nur auf kurzfristige
Lösungen wie Produktionssteigerung zu setzen, sondern
auch die strukturellen Probleme in den Blick zu nehmen.
„Nicht der unterbrochene Zugang zu chemischen Düngemitteln ist das Hauptproblem für Bauern und Bäuerinnen,
sondern ihre Abhängigkeit von diesen“, so Fakhri.
Die auch mit Blick auf die Klimakrise problematische
Abhängigkeit der Ernährungssysteme von fossilen Energieträgern zeigt sich an der extrem energieintensiven Herstellung von synthetischen Düngemitteln, am Diesel für
Landmaschinen und LKWs für den Transport und an der
Weiterverarbeitung, Kühlung und Zubereitung von Lebensmitteln. So ist es kein Wunder, dass sich Lebensmittelpreise
häufig parallel zu den Rohölpreisen entwickeln: Von 1997
bis 2004 und 2005 bis 2012 hat der Rohölpreis zu 50 Prozent zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln beigetragen. 2
Eine entscheidende Rolle zwischen Rohölpreisen auf der
einen und Lebensmittelpreisen auf der anderen Seite spielen
synthetische Düngemittel: So zeigt etwa eine Studie von
Hinnerk Gnutzmann und Piotr Spiewanowski aus dem Jahr
2016, dass im globalen Durchschnitt eine Verdopplung von
Düngemittelpreisen zu einem Lebensmittelpreisanstieg von
44 Prozent führt. 3 Nach Ausbruch des Ukrainekriegs erreichte der Weltmarktpreis für eine Tonne Stickstoffdünger
im März ein Rekordhoch. Doch schon während der Corona-Pandemie war der Weltmarktpreis für Stickstoffdünger
vor allem aufgrund von Problemen in der Lieferkette sowie
gestiegenen Öl- und Gaspreisen von weniger als 250 USDollar pro Tonne im Januar 2020 auf mehr als 600 USDollar pro Tonne im Dezember 2021 geklettert.
Abhängigkeiten müssen
endlich beendet werden
Die aktuelle Krise muss dafür genutzt werden, die Abhängigkeiten von synthetischen Düngemitteln, chemi-
4
Schwerpunkt
schen Pestiziden und generell von fossilen Energieträgern
zu verringern. Der steigende Einsatz von Pestiziden und
Düngemitteln hat bekanntermaßen verheerende Folgen: ein
drastischer Verlust an Artenvielfalt sowie eine steigende
Zahl von Krebserkrankungen, Missbildungen und ähnlich
dramatischen Erkrankungen. Viele Kleinbauern und -bäuerinnen sind durch ihre ausgelaugten Böden komplett von
Kunstdünger abhängig und müssen sich für dessen Erwerb
teilweise verschulden. Eine Landwirtschaft ohne chemische
Pestizide und synthetische Düngemittel ist durchaus möglich, wenn natürliche Kreisläufe in der Landwirtschaft berücksichtigt und unterstützt werden, indem etwa Ackerbau
mit (Weide-)Tierhaltung im kleinen Maßstab kombiniert
und die Bodenfruchtbarkeit durch den Anbau von Hülsenfrüchten sowie durch Zwischenfruchtfolgen und Agroforstsysteme verbessert wird. Um unnötige Transporte
zu vermeiden, müssen regionale Vermarktungsstrukturen
stärker gefördert werden.
Ein wichtiger Faktor ist auch die Frage, für welche Zwecke Getreide und Ölsaaten verwendet werden. In Deutschland und der EU werden etwa knapp 60 Prozent der Getreideernte an Nutztiere verfüttert und knapp neun Prozent
der deutschen Getreideernte wird zur Energieerzeugung
verwendet. Dabei ließe sich die gesamte europäische Bevölkerung mit agrarökologischen Anbaumethoden ernähren,
wie eine Studie des Projekts „Ten Years for Agroecology“ aus
dem Jahr 2018 zeigt: Würden die Produktion von Biosprit
auf null heruntergefahren, die Nahrungsmittelexporte auf
Qualitätsprodukte eingeschränkt und der Konsum von tierischen Produkten um knapp die Hälfte gesenkt, könnten
alle EuropäerInnen ausreichend, gesund und umweltverträglich ernährt werden. 4 Auch im Globalen Süden verspricht Agrarökologie sichere und vielfältige Erträge und
ermöglicht eine Anpassung an die Klimakrise. Dafür muss
die Staatengemeinschaft deutlich mehr Mittel für die Förderung dieser Bewirtschaftungsweise in die Hand nehmen.
Jetzt!
Lena Bassermann und Lena Luig
Die Autorinnen sind Referentinnen für Welternährung und
globale Landwirtschaft bei INKOTA-netzwerk e.V..
Dieser Artikel ist eine angepasste Version
eines im Südlink Nr. 200 erschienenen Artikels.
1 https://www.fao.org/3/cb9236en/cb9236en.pdf
2 https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/15594
3 Gnutzmann, H, Spiewanowski, P, (2016). Fertilizer Fuels Food
Prices: Identification Through the Oil-Gas Spread. SSRN: https://
papers.ssrn.com/sol3/papers. cfm?abstract_id=2808381
4 Citation: Schiavo, M., Le Mouël, C., Poux, X., Aubert, P.-M.,
(2021). An agroecological Europe by 2050: What
impact on land use, trade and global food security? IDDRI,
Study N°08/21: https://www.iddri.org/sites/default/files/
PDF/Publications/Catalogue%20Iddri/Etude/202107-ST0821_
TYFA%20World_1.pdf
© Nick Jaussi/www.wir-haben-es-satt.de
TRANSFORMATION
DER LANDWIRTSCHAFT
Langfristige Ernährungssicherheit
setzt nachhaltige Landwirtschaft voraus
Seit Ausbruch des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine im Februar
2022 ist klar, welche erheblichen Auswirkungen dieser Krieg auf die Agrarmärkte, die Lebensmittelversorgung sowie das gesamte Ernährungssystem hat und haben wird – und das weltweit. Die Ukraine ist in den
letzten Jahren ein zentraler Produzent von Weizen, Mais und Ölsaaten
geworden und hat vor allem Länder in Nordafrika und dem Nahen Osten
versorgt. Preissprünge bei Lebensmitteln und Energiepreisen, wie wir sie
aktuell beobachten, sind lebensbedrohlich für Millionen von Menschen
im Globalen Süden. Die Spekulation mit Lebensmittelpreisen kann diese
künstlich in die Höhe treiben und verstärkt die aktuelle Krise zusätzlich.
Hier müssten Agrarrohstoffmärkte stärker reguliert werden.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
5
S
chon vor Ausbruch des Krieges hat die Covid19-Pandemie in den letzten zwei Jahren zu einer
Hungerwelle geführt: Allein zwischen 2019 und
2020 ist die Zahl der Hungernden weltweit um 118
Millionen auf bis zu 811 Millionen gestiegen. Nun kommt
erschwerend hinzu, dass Russland und die Ukraine global
für 30 Prozent der Maisexporte und 20 Prozent der Weizenexporte verantwortlich sind.
Alte Scheinlösungen für neue Krisen
Eine der ersten Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine
war ein reflexartiges Infragestellen von Naturschutz- und
Klimazielen. Deutschland und Europa müssten nun die
Produktion von Lebensmitteln um jeden Preis steigern, um
die Welt ernähren zu können – Narrative, die seit Jahren
überholt sind und die in der aktuellen Krise sofort wieder
parat waren. Dabei bietet eine Steigerung der Lebensmittelproduktion in Deutschland und Europa auf Kosten der
Biodiversität und des Klimas, etwa durch den Getreideanbau auf ökologischen Vorrangflächen, keine nachhaltige
Antwort auf die Krise. Kurzfristig nicht, weil die in Europa
so zusätzlich produzierten Mengen minimalen Einfluss auf
die Weltmarktpreise haben. Langfristig nicht, weil Hunger in erster Linie ein Armuts- und Verteilungsproblem
ist. Der durch die Bewirtschaftung von ökologischen Vorrangflächen entstehende Schaden für die Artenvielfalt und
die Stabilität von Agrarökosystemen steht somit in keinem
Verhältnis zum marginalen Nutzen für die Ernährungssicherung. Stattdessen müssen besonders betroffene Länder
dazu befähigt werden, ihre eigene Produktion unter Beachtung von Nachhaltigkeitsaspekten so zu erweitern, dass die
Exportabhängigkeit gemindert werden kann.
Um zu einem resilienten Ernährungssystem zu kommen, in dem Nahrungsmittelsicherheit gewährleistet ist
und Ernährungssouveränität gestärkt wird, braucht es
eine Transformation der Landwirtschaft – und das ohne
Aufschub. Die Biodiversitäts- und Klimakrisen erfordern
schnelles Handeln und dürfen angesichts des UkraineKrieges nicht vernachlässigt werden. Ohne stabile Agrar
ökosysteme sind unsere Ernten zunehmend gefährdet. Der
Ökolandbau hat daher zu Recht eine Vorbildfunktion, denn
er macht deutlich, wie Ernährungssysteme langfristig resilient und nachhaltig gestaltet werden können.
Was kann wirklich helfen?
In der aktuellen Situation gibt es keine Blaupause zur Bewältigung aller Herausforderungen, aber viele Organisationen
aus Umwelt-, Natur- und Tierschutz, Ökolandbau, Landwirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit sowie eine
große Anzahl von WissenschaftlerInnen haben wichtige
Lösungsansätze in die Debatte eingebracht. Etwa 60 Prozent
der deutschen Getreideproduktion erfolgt für die Herstellung von Futtermitteln und nur 20 Prozent für die Herstellung von Lebensmitteln. Eine Reduzierung der Tierbestände
würde Flächen für die Produktion von Lebensmitteln freigeben und zusätzlich dem Klimaschutz dienen. Es braucht
unmittelbar wirksame Maßnahmen, die eine Reduzierung
der Nutztierhaltung in Deutschland und Europa sowie ein
verändertes Konsumverhalten befördern. Außerdem muss
die globale Abhängigkeit von Lebensmittel-, Dünger- und
6
Schwerpunkt
Energieimporten langfristig verringert werden. Auch aus
betriebswirtschaftlicher Sicht ist es jetzt geboten, die Landwirtschaft aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern
zu lösen. Das gilt insbesondere angesichts der unter hohem
Energieaufwand hergestellten Mineraldünger, die viele Betriebe vor große ökonomische Herausforderungen stellen.
In der Konsequenz ist eine deutlich bessere Nutzung des
vorhandenen Aufkommens an Wirtschaftsdünger sowie
eine stärkere Integration von stickstoffbindenden Hülsenfrüchten in die Fruchtfolge erforderlich.
Die diskutierte Abschwächung oder Aussetzung von
ökologisch wertvollen Flächenanteilen in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU ist nicht zielführend.
Zum einen kann hiermit nur wenig Produktionsfläche
aktiviert werden. Zudem würde dies lediglich auf Flächen
geschehen, die in ihrer Produktivität überwiegend eingeschränkt sind. Zum anderen drohen dadurch erhebliche,
negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt und
die Erbringung von Ökosystemleistungen (z. B. Erosionsschutz, Wasser- und Kohlenstoffspeicher, Bestäubung sowie
Schädlingskontrolle). Die Ziele des European Green Deal
bis 2030 dienen der langfristigen Produktivitäts- und damit
auch der Ernährungssicherung. Ihre Umsetzung darf nicht
weiter behindert, sondern muss schnellstmöglich vorangetrieben werden. Ein hohes und vergleichsweise schnell zu
aktivierendes Potenzial, zusätzliche Fläche für die Lebensmittelproduktion bereitzustellen, bietet die sofortige und
ggf. temporäre Reduzierung von Agrokraftstoffen. Allein
in Deutschland könnten hierdurch 800.000 Hektar (ha)
Ackerland gewonnen werden. Zahlreiche Studien belegen
überdies, dass der immense Flächenverbrauch für die Produktion von Agrokraftstoffen jeglichen Klimavorteil gegenüber fossilen Kraftstoffen zunichtemacht. Die Beimischung
von Bioethanol und Biodiesel sollte daher zeitnah ausgesetzt
oder am besten vollständig eingestellt werden.
Politisches Tauziehen
In der Politik, sei es auf EU- oder auf nationaler Ebene, gibt
es keine einheitliche Stimme. Die EU-Kommission bekennt
sich zum European Green Deal und seinen nachgelagerten
Strategien – der Farm-to-Fork- und der EU-Biodiversitätsstrategie – und hat, wenn auch mit dreimonatiger Verzögerung, im Juni 2022 ambitionierte Entwürfe für ein EU
Restoration Law und die Novellierung der Pestizidgesetzgebung vorgelegt, die selbst von Umweltorganisationen als
„boost for biodiversity“ bewertet werden. 1 Auf der anderen
Seite hat sich EU-Agrarkommissar Wojciechowski mehrfach für ein Aufweichen der GAP-Regeln ausgesprochen,
was einen Rückschritt in Sachen nachhaltiger Landwirtschaft bedeuten würde. Der sogenannte Observation Letter
der EU-Kommission, also die Antwort auf den deutschen
Strategieplan zur Umsetzung der GAP in Deutschland,
zeigt jedoch, dass die EU-Kommission insgesamt die
Transformation des europäischen Agrarsystems weiterhin
als Ziel ansieht, und fordert von Deutschland erhebliche
Nachbesserungen ein.
Kommissionsvizepräsident Frans Timmermanns brachte die schwierige Debatte Ende April vor dem Umweltausschuss des Europäischen Parlaments auf den Punkt: „Those
who did not like EU Farm to Fork strategy to start with
Um zu einem resilienten
Ernährungssystem zu kommen,
in dem Nahrungsmittelsicherheit
gewährleistet ist und
Ernährungssouveränität
gestärkt wird, braucht es eine
Transformation der Landwirtschaft.
use the war in Ukraine as a pretext to try and stop it from
happening. […] If we don’t understand that the Farm to
Fork is an attempt to save agriculture, not punish it, in light
of the devastating effects of biodiversity loss and climate
change on food production globally, we are really in a wrong
attitude.“ 2
Die Bundesregierung und insbesondere Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir haben begriffen, dass
die verschiedenen Krisen – Krieg, Klima, Biodiversität –
nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Das geht
zum einen aus der Reaktion des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL) zum Observation Letter hervor,
dessen Kritik Özdemir als Bestätigung seines Transformationskurses versteht. Zudem hat er kürzlich gemeinsam
mit Bundesumweltministerin Steffi Lemke Vorschläge zur
Absenkung der Beimischungsquote von Biokraftstoffen gemacht. Bekenntnisse allein helfen jedoch nicht weiter. Es
braucht jetzt konkretes und entschlossenes Handeln seitens
der Bundesregierung, um die vielen Herausforderungen
anzugehen.
Alles in allem führt uns der Ukraine-Krieg einmal mehr
vor Augen, wie vulnerabel unsere globalen Agrarsysteme
sind. Die Transformation der Landwirtschaft wird nicht
leicht, ist aber die notwendige Antwort, um die globalen
Abhängigkeiten im Agrarsystem zu verringern und zeitgleich die Klima- und Biodiversitätskrise zu bekämpfen.
Lavinia Roveran
Die Autorin ist Koordinatorin für Naturschutz und
Agrarpolitik beim Deutschen Naturschutzring e.V.
1 https://www.iucn.org/news/europe/202206/eu-naturerestoration-law-a-boost-biodiversity-and-climate
2 https://www.euractiv.com/section/agriculture-food/news/
timmermans-scaremongering-on-food-security-dishonestirresponsible/
Wir müssen den Blick weiten
In dieser aktuellen Debatte um Agrarsysteme, Ernährungssicherung und Krieg ist es extrem wichtig, den Blick nicht
nur auf Deutschland und Europa zu richten, sondern vor
allem auf die Länder des Globalen Südens, die jetzt akut von
Versorgungsproblemen bedroht sind. Diese Krise ist eine
globale Krise und sie muss global gelöst werden. Deutschland hat derzeit den G7-Vorsitz inne und kann somit eine
wichtige Rolle einnehmen – doch ein Austausch unter den
G7 allein, wie er seit Ausbruch des Krieges schon drei Mal
stattgefunden hat, reicht nicht aus. Hier werden vielmals
Partikularinteressen über das weltweite Gemeinwohl gestellt. Entwicklungsorganisationen haben schon Vorschläge
gemacht, wie ein global vernetztes Handeln im Rahmen
bestehender Strukturen organisiert werden kann, etwa im
Welternährungsausschuss.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
7
ZEITENWENDE?
ROHSTOFFWENDE!
Die Neuausrichtung der Rohstoffpolitik als
Momentum für nachhaltige Produktion
Dass die europäischen Sanktionen gegen Russland nicht den Metallsektor
betreffen, unterstreicht die immense Abhängigkeit. Allein Deutschland
importiert bergbaulich gewonnene Metalle im Wert von knapp drei Milliarden Euro pro Jahr. Dabei könnte eine Rohstoffwende ökologische,
soziale und auch industriepolitische Herausforderungen gleichermaßen
minimieren.
W
ir erleben eine Zeitenwende“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in einer Sondersitzung des Bundestages drei Tage nach dem
völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf
die Ukraine im Februar 2022. Seitdem ist ein Kampf um
die Deutungshoheit über die Natur dieser „Zeitenwende“
entstanden. Erneuerbare Energien werden als „Freiheits-
8
Schwerpunkt
technologien“ (Finanzminister Christian Lindner, FDP)
gelabelt, gleichzeitig sichert der Kanzler persönlich die
Steinkohleversorgung durch Gespräche mit dem ehemaligen Präsidenten von Kolumbien, und das Wirtschaftsministerium stellt die Gasversorgung durch langfristige Lieferverträge mit Ländern wie Katar sicher. Der Bundesverband
der Deutschen Industrie (BDI) erklärt in einer „Analyse
Adam Rhodes/Unsplash
bestehender Abhängigkeiten“, dass der Angriffskrieg „die
Abhängigkeit Deutschlands von russischem Erdöl und Erdgas deutlich gemacht“ habe, verweist aber schon im nächsten Satz darauf, dass die „Abhängigkeit von vielen mineralischen Rohstoffen aus China […] bereits heute größer als
jene bei Erdöl und Erdgas aus Russland“ sei. 1
Im März 2022 warnte BDI-Präsident Siegfried Russwurm „die europäische Staatengemeinschaft im weiteren
Umgang mit Sanktionen vor übereilten Reaktionen mit
unkalkulierbaren Konsequenzen“. 2 Die deutsche Politik
handelte dementsprechend, indem sie sich nur sehr zögerlich Sanktionen gegen die russische Regierung und die
russische Industrie anschloss. Während die USA zeitnah
einen Importstopp für russische Erdöl-, Erdgas- und Kohleimporte verhängten, reagierten die EU und insbesondere
Deutschland bei diesen Maßnahmen, wenn überhaupt, spät
und halbherzig. Erst im April kam es zu einem Importstopp von russischer Kohle, erst im Mai zu einem teilweisen
Ölembargo. Zu groß seien die Abhängigkeiten, zu stark die
Auswirkungen vor allem auf die deutsche Industrie, so die
Befürchtungen aus Deutschland.
Knapp drei Milliarden Euro pro Jahr
für Metallimporte aus Russland
Weil man damit der eigenen Wirtschaft schaden könnte,
standen Einschränkungen der Metallimporte nicht einmal
zur Debatte. Allein im Jahr 2020 wurden Metalle im Wert
von knapp drei Milliarden Euro aus Russland importiert. 3
Denn für einige Rohstoffe stammen beachtliche Anteile
deutscher Metallimporte aus Russland, so etwa für Palla-
dium (Importvolumen 2020 in Höhe von 608 Mio. €, was
18 % der deutschen Importe entspricht), Nickel (270 Mio.
€, 44 %), Kupfer (595 Mio. €, 19 %), Rohaluminium (202
Mio. €, 22 %), Eisen (274 Mio. €, 23 %) und einige Stahlveredler wie Titan.
Schon in den letzten Jahren waren zunehmend größere
Preisschwankungen für Primärrohstoffe auf den internationalen Märkten zu beobachten. Mit Kriegsbeginn hat diese
Volatilität der Rohstoffpreise zugenommen, und viele Preise
sind dramatisch angestiegen. Der Preis von Nickel schoss
sogar so drastisch in die Höhe, dass sein Handel an der
London Metal Exchange (LME) Börse zwischenzeitlich ausgesetzt wurde. Auch Kupfer, Palladium, Aluminium und
Eisenerz sind deutlich teuer geworden.
Im Gegensatz zur EU und Deutschland hat Großbritannien einige russische Oligarchen aus dem Rohstoffsektor mit Sanktionen belegt. Aufmerksamkeit bekamen vor
allem die Schritte gegen Roman Abramowitsch, der unter
anderem in die russische Aluminiumindustrie investierte,
und Oleg Deripaska, der an verschiedenen Energie- und
Rohstoffkonzernen, etwa dem zweitgrößten Aluminiumunternehmen Rusal, beteiligt ist. Auf keiner Sanktionsliste
findet sich allerdings der Chef des Bergbauunternehmens
Nornickel Wladimir Potanin. Dieser scheint dennoch besorgt zu sein, die wirtschaftliche Position Russlands auf
den Märkten zu bewahren, und warnte vor einer zweiten,
wirtschaftlichen Kriegsfront mit dem Westen. 4
Deutsche Unternehmen
reagieren nicht einheitlich
Viele internationale Unternehmen haben im Hinblick auf
die unübersehbaren geopolitischen Implikationen ihrer
wirtschaftlichen Tätigkeit öffentlich angekündigt, ihre Geschäftsaktivitäten in Russland und der Ukraine zu stoppen.
Dazu zählen auch die deutschen Unternehmen Daimler
Truck, Mercedes Benz, BMW, Volkswagen und die Lufthansa. Nicht zuletzt wegen der starken Rohstoffabhängigkeit der deutschen Industrie bei Nickel, Eisen, Aluminium und Palladium halten einige Unternehmen, darunter
Thyssenkrupp, Salzgitter und BASF, jedoch an ihren Geschäftsbeziehungen mit Russland fest. BASF hat allerdings
auf Anfrage von PowerShift angekündigt, keine neuen Geschäfte mehr in Russland und Belarus abzuschließen. Die
Salzgitter AG teilte auf Nachfrage von PowerShift mit, dass
„volle Solidarität mit den Menschen in der Ukraine“ gelte,
der Konzern ansonsten aber „mit unseren Stahlkollegen in
Deutschland im Austausch [sei], wie wir als Branche unsere
Branchen-Kollegen in der Ukraine unterstützen können,
jetzt unmittelbar und auch in der Zukunft.“
Unabhängig von ihren Wirtschaftsaktivitäten vor Ort
ist zu erwarten, dass viele Unternehmen in Zukunft weniger Rohstoffe aus Russland beziehen. Doch welche Länder
könnten als Ersatzlieferanten dienen? Die Abbausituation von Nickel in den Philippinen oder Indonesien wurde
mehrfach von zivilgesellschaftlichen Organisationen vor
Ort und aus Deutschland kritisiert. Immer wieder wurden
Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung aufgedeckt. Auch die Situation im Bergbau Südafrikas, zusammen mit Russland für drei Viertel der globalen
Palladiumproduktion verantwortlich, wird immer wieder
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
9
Eine einfache Umstellung auf
Rohstoffimporte aus anderen
Ländern wird also zwangsläufig
nur auf Kosten der Rechte
und des Lebensraums lokaler
Gemeinschaften gehen.
von Streiks und Arbeitsniederlegungen begleitet, da die Arbeitsbedingungen kritisch sind. Der Kupferabbau in Peru,
eines der wichtigsten Länder für Kupfererzlieferungen nach
Deutschland, ist ebenfalls immer wieder Gegenstand großer Proteste und kritischer Berichte. Eine einfache Umstellung auf Rohstoffimporte aus anderen Ländern wird also
zwangsläufig nur auf Kosten der Rechte und des Lebensraums lokaler Gemeinschaften gehen.
Aus Rohstoffstrategie sollte
Rohstoffwendestrategie werden
Dass in der aktuellen Situation die deutsche Rohstoffstrategie überarbeitet werden soll, birgt die Gefahr, dass die
Versorgungssicherheit der Industrie mit billigen Rohstoffen
noch stärker ins Zentrum rückt als zuvor. Robert Habecks
markante Worte in der Talkshow von Markus Lanz – „Wir
ziehen mit unserem täglichen Leben eine Spur der Verwüstung durch die Erde und wir kümmern uns da nicht
drum“ 5 – haben bisher noch keine grundsätzliche Veränderung im Wirtschaftsministerium eingeleitet, im Gegenteil.
Statt der aktuellen Ausweitung der Versorgungssicherheit
mit Rohstoffen, bräuchte es eine wirkliche Zeitenwende, die
eine umfassende Rohstoffwende beinhaltet.
Dazu gehört: erstens eine umfassende Lieferkettengesetzgebung. Lieferketten sind umso anfälliger, je weniger
ihre einzelnen Glieder bekannt sind. Das trifft nicht nur auf
den Einkauf von Waren zu, sondern auch auf Menschenrechte und Umweltschutz. Die Bundesregierung und die
deutsche Industrie dürfen nicht mehr wegsehen, wenn es
um die Herkunft und die Weiterverarbeitung der für ihre
Produkte notwendigen Rohstoffe geht. Die Unterstützung
von Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen, Umweltzerstörung, Diktaturen sowie von diktatorischen Systemen
profitierenden Oligarchen muss beendet werden.
Zweitens brauchen wir eine Substitution und Reduktion
von Primärrohstoffen durch sektorspezifische und messbare Zielvorgaben. Gerade im Verkehrssektor werden metallische Rohstoffe in großem Stil absolut ineffizient eingesetzt.
Da zum Beispiel Palladium vor allem in Katalysatoren von
Autos mit Verbrennungsmotor verbaut wird, unterstützt der
vom EU-Parlament geforderte Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor die Reduktion der Abhängigkeit. Zudem sollte
10
Schwerpunkt
generell als Ziel gesetzt werden, Anzahl, Größe und Gewicht
von Autos deutlich zu reduzieren und den ÖPNV flächendeckend auszubauen. Wir können es uns in der aktuellen
Lage einfach nicht mehr erlauben, metallische Rohstoffe
für viel zu viele, viel zu große und viel zu schwere Autos
zu verpulvern.
Diese Forderungen wenden sich an die deutsche Politik,
in der Hoffnung, dass diese jetzt die Weichen für eine langfristig zukunftsfähige und resiliente Rohstoffversorgung in
Deutschland stellt.
Tshin Ilya Chardayre und Michael Reckordt
Tshin Ilya Chardayre hat sich in der Publikation
„Höchste Eisenbahn für die Rohstoffwende“ mit den
rohstoffpolitischen Auswirkungen des russischen Angriffs auf
die Ukraine auseinandergesetzt.
Michael Reckordt engagiert sich für eine Rohstoffwende und
arbeitet bei PowerShift zur deutschen Rohstoffpolitik.
1 https://bdi.eu/themenfelder/rohstoffe/#/publikation/
news/analyse-bestehender-abhaengigkeiten-undhandlungsempfehlungen/
2 https://bdi.eu/artikel/news/industrie-warnt-vor-eu-gipfel-voruebereilten-reaktionen/
3 https://www.deutsche-rohstoffagentur.de/DERA/DE/
Downloads/DERA 2022_cdm_02_Metallimporte aus Russland.
pdf?__blob=publicationFile&v=2
4 https://www.spiegel.de/wirtschaft/russland-oligarch-wladimirpotanin-befuerchtet-lage-wie-vor-der-revolution-1917-a6858520d-ad66-47a8-a853-9bb42353bcba
5 https://twitter.com/zdfheute/status/1509820521722134530?lan
g=de
Patrick Federi/Unsplash
IM WESTEN
NICHTS NEUES
Altbekannte Narrative in einer von
Wirtschaftsinteressen geleiteten Rohstoffdebatte
Der Krieg in der Ukraine und der damit verbundene Wegfall von Rohstoffquellen treibt der deutschen Industrie den Angstschweiß auf die
Stirn. Einsparungen? Bloß nicht bei uns. Um den Rückhalt der Politik für
die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu sichern, werden altbekannte
Narrative hervorgeholt und Optionen in den Raum gestellt, die unter
Umwelt- und Menschenrechtsgesichtspunkten längst außer Frage stehen
sollten.
D
ie Angst vor einer ungesicherten Rohstoffversorgung in Deutschland wurde in den letzten
Monaten immer wieder gegen einen Boykott von
Rohstoffen aus Russland zur Schwächung des
Putin-Regimes ausgespielt. Im Zweifel solle lieber die Be-
völkerung frieren, damit die industrielle Produktion ungestört weitergehen könne, so die Position aus vielen Teilen
der Industrie. Selten werden so offensichtlich Profite über
menschliche Grundbedürfnisse gestellt. Prompt folgt die
Forderung, rasch alternative Rohstoffquellen aufzutun, die
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
11
Wenn wir unsere Produktionsund Konsumlogik nicht geordnet,
also „by design“ ändern, kommt
die Rationierung von Rohstoffen
irgendwann trotzdem, eben „by
desaster“.
die Politik mit eilig abgeschlossenen Verträgen mit neuen
Energielieferanten erfüllt. Menschenrechts- und Umweltstandards in der Produktions- und Lieferkette scheinen
dabei keine hohe Priorität zu haben. 1
Aber warum ist Gas aus Katar oder Öl aus Saudi-Arabien eigentlich weniger schlimm als russisches Gas und
Öl? Diese Länder sind entweder autoritär, beteiligen sich
an Kriegen oder begehen selbst diverse Menschenrechtsverletzungen. Solange nicht alle Staaten an einem Rohstoffembargo gegen Russland mitmachen, profitieren einzelne
Länder wie China oder Ungarn von dem verhältnismäßig
günstigen russischen Öl und Gas, während sich Putin ins
Fäustchen lacht und die Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt
rasant steigen. Die Leidtragenden sind überall auf der Welt
Menschen, die durch die eklatante Steigerung der Lebenshaltungskosten um ihre Existenz fürchten, wobei es viele
Menschen im Globalen Süden deutlich härter trifft. Außerdem wird durch den neuerlichen Rohstoffförderboom
auch der Raubbau an Mensch und Natur in rohstoffreichen
Ländern weiter verstärkt.
Die üblichen Leerstellen und
drohender Rollback
Was bei den öffentlichen Debatten um die Rohstoffversorgung mal wieder hinten runter fällt, ist die Diskussion
darüber, was angesichts der massiven Bedrohungen durch
die Klimaerwärmung, die schwindende Biodiversität oder
die soziale Krise eigentlich dringend nötig ist: die drastische Senkung unseres Rohstoffverbrauchs und der verantwortungsvolle und gerechte Umgang mit den vorhandenen
Rohstoffen. Wenn wir unsere Produktions- und Konsumlogik nicht geordnet, also „by design“ ändern, kommt die Rationierung von Rohstoffen irgendwann trotzdem, eben „by
12
Schwerpunkt
desaster“. Einen kleinen Vorgeschmack, wie unkontrolliert
und ungerecht das ablaufen wird, haben uns die pandemieund kriegsbedingten Lieferengpässe gezeigt. Wir brauchen
darum endlich konkrete Maßnahmen hin zu einer nahezu
geschlossenen, gemeinwohlorientierten Kreislaufwirtschaft
ohne endlosen Wirtschaftswachstumszwang, stattdessen
mit Verbrauchsgrenzen für Primärrohstoffe. Stattdessen
droht jedoch eine Rückabwicklung – ein Rollback – mühsam errungener Fortschritte: Bei den Verhandlungen um
ein europäisches Lieferkettengesetz versuchen industrielle
InteressenvertreterInnen beispielsweise progressive Vorschläge für wirksame menschenrechtliche und ökologische
Regulierungen entlang von Lieferketten abzuschwächen
oder gänzlich abzuwehren. Daneben ist auf einmal wieder
von der Verlängerung der Atomkraft- und Kohlenutzung
die Rede, und die Ausbeutung von Rohstoffen in der Tiefsee
oder anderen halbwegs unberührten Zonen der Welt wird
vermehrt in Erwägung gezogen.
Schnellschusspolitik statt echter Lösungen
Der geplante Bau von LNG-Terminals, also Häfen für den
Import von Flüssiggas, illustriert die Kurzsichtigkeit der
derzeitigen Schnellschusspolitik: Er zementiert das Festhalten an der fossilen Infrastruktur über viele Jahre (vgl.
Beitrag von Andy Gheorghiu in dieser Ausgabe). Neben der
klimaschädlichen Gasverbrennung und dem energieintensiven Gastransport über große Distanzen ist die Einfuhr
von hochproblematisch gewonnenem Fracking-Gas oder
Gas von despotischen Regierungen nicht auszuschließen.
Die vielbeschworene spätere Umrüstung auf Wasserstoff
ist aufwendig und nur dann umweltverträglich, wenn es
sich dabei um grünen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien handelt. Wir würden also bis auf Weiteres klima- und
umweltschädliches, menschenrechtlich bedenkliches und
obendrein teures Gas bekommen, was wieder einmal die
ohnehin Benachteiligten in unserer Gesellschaft am härtesten trifft. Und das alles, ohne damit der Beendigung des
Ukraine-Kriegs auch nur ein Stück näher zu rücken oder
unsere Rohstoffabhängigkeit zu verringern.
Notwendige Debatte um Bedarfe
Klar ist, dass mit dem Run nach den letzten Rohstoffreserven der kommenden Jahre auch die Konflikte um ihre
schon heute unfaire Verteilung zunehmen und sich dies
auch auf den sozialen Frieden in Deutschland auswirken
wird, wenn die Politik jetzt nicht handelt. Priorität bei
der Versorgung darf nicht die Branche mit der stärksten
Lobby haben, sondern die, die den größten Beitrag zum
Gemeinwohl leistet. Hierfür braucht es Transparenz und
eine öffentliche Debatte. Dass eine Reduktion des Primärrohstoffverbrauchs und das Schließen von Stoffströmen
durch eine umfassende Kreislaufwirtschaft notwendig ist,
hat die Regierung in ihrem Koalitionsvertrag immerhin er-
kannt und als Ziel festgehalten. Nun muss sie die Rufe nach
Versorgungssicherheit mit klaren, sozialverträglichen Anpassungsmaßnahmen unserer Produktions- und Lebensstile an einen reglementierten, nachhaltigen und deutlich
reduzierten Verbrauch von Rohstoffen beantworten. Das
würde unsere Rohstoffabhängigkeit tatsächlich schmälern.
Josephine Koch
Die Autorin ist Referentin für Rohstoffpolitik beim Forum
Umwelt und Entwicklung.
1 Einige Aspekte dieses Artikels sind Bestandteil eines noch
unveröffentlichten Diskussionspapiers von Hannah Pilgrim,
Marie-Luise Abshagen und Josephine Koch.
Ben Wicks/Unsplash
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
13
FLÜSSIGERDGAS
FÜR DEUTSCHLAND
Verschärfung der existenzbedrohenden
fossilen Abhängigkeit
Russlands Angriff auf die Ukraine hat auf brutale Art gezeigt, wie
abhängig Deutschland von Putins Regime ist. Das ist keine neue
Erkenntnis, seit Jahren kämpfen KlimaaktivistInnen gegen den Ausbau fossiler Gasinfrastruktur und eine Vertiefung der fossilen Abhängigkeit. Jetzt bietet der historische Moment eine Chance, den
unumgänglichen Weg aus dieser Abhängigkeit zu beschreiten. Allerdings sollen ausgerechnet Flüssigerdgasimporte die Antwort auf
die gewichtigen Energiefragen unserer Zeit sein.
14
Schwerpunkt
deswirtschaftsministeriums ist es aber über ein Verbundsystem u. a. an die Terminals in Rotterdam und Zeebrügge
angebunden. So lässt sich auch erklären, warum Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Anfang März 2022
den Einkauf von LNG in Höhe von 1,5 Milliarden Euro in
Auftrag geben konnte.
LNG-Beschleunigungsgesetz setzt
Umweltverträglichkeitsprüfungen aus
© Andy Gheorghiu
F
lüssigerdgas (englisch: Liquefied Natural Gas, kurz
LNG) wurde bereits vor dem Krieg in der Ukraine als
die Alternative zum Pipelinegas vorangetrieben, als
Teil eines von der Industrie global forcierten Kreuzzuges zur Schaffung fossiler Abhängigkeiten.
Um fossiles Gas (Erdgas) weltweit per Schiff transportieren zu können, muss es auf ca. −162 Grad Celsius
abgekühlt werden, um verflüssigt werden zu können.
Dieser Prozess verbraucht viel Energie (rund 10–25 % des
Heizwertes von Gas). Das verflüssigte Gas kann anschließend in LNG-Tanker-Schiffen von einem LNG-Terminal
zum anderen verschifft werden, wo es schließlich wieder
in Gas umgewandelt – regasifiziert – wird, in LNG-Speichertanks gelagert und über Anschlussleitungen in die
Gasnetze gespeist wird. Neben den festen Landterminals
(Onshore-Terminals) werden auch sogenannte Floating Storage Units (FSRU) genutzt. Die FSRUs sind spezielle LNGTanklagerschiffe bzw. schwimmende LNG-Terminals mit
Regasifizierungsanlagen, die jedoch fest an einem Standort
verankert sind und über Anschlussleitungen mit dem Gasnetz verbunden werden können.
Deutschland verfügt bislang nicht über solche LNGTerminals. Laut dem offiziellen Notfallplan Gas des Bun-
Am 19. Mai 2022 hat der Bundestag dem von SPD, Grüne
und FDP eingebrachten Gesetzesentwurf zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases mit Unterstützung von CDU/CSU zugestimmt. Nun könnten bis zu elf
LNG-Terminals (FSRUs und Onshore) an den Standorten
Brunsbüttel, Wilhelmshaven, Stade, Hamburg, Rostock und
Lubmin bis 2043 genehmigt werden. Die Umweltverträglichkeitsprüfungen für die FSRUs entfallen komplett. Mit
der Skizzierung des Szenarios einer möglichen Unterbrechung russischer Gaslieferungen werden die Terminals als
im „besonderen Interesse“ stehend tituliert. Man habe „die
energiewirtschaftliche Notwendigkeit und den Bedarf zur
Gewährleistung der Versorgung der Allgemeinheit mit Gas“
festgestellt. Der Bundesrat hat dem Gesetz am 20. Mai 2022
ebenfalls zugestimmt.
Der bezuschusste Bau von LNG-Terminals stand bereits
vor dem Einfall Putins in die Ukraine auf der Tagesordnung. Allerdings setzte sich die damalige Bundesregierung
auch vehement für die gleichzeitige Realisierung der Nord
Stream 2-Pipeline ein. Im August 2020 bot der damalige
Vizekanzler Olaf Scholz der Trump-Administration an, bis
zu einer Milliarde Euro für den Bau der LNG-Terminals
in Brunsbüttel und Wilhelmshaven als öffentliche Subventionen bereitzustellen. Im Gegenzug sollten die USA die
Sanktionen gegen das umstrittene Nord Stream 2-Projekt
aufheben.
LNG-Importe nicht im
allgemeinen öffentlichen Interesse
An den bereits vor dem Krieg debattierten Standorten
Brunsbüttel, Wilhelmshaven und Stade würden LNG-Terminals integraler Bestandteil existierender petrochemischer
Industriestandorte werden. Insofern stellt sich die Frage
nach den Profiteuren von Flüssigerdgasimporten. Um dies
auch deutschlandweit genauer zu erfassen, hat das zivilgesellschaftliche Bündnis Exit Plastik u. a. das Bundesumweltund Bundeswirtschaftsministerium gefragt, wie viel Öl und
Gas die energie- und rohstoffintensive petrochemische Industrie in Deutschland für welche Produkte und an welchen
Standorten verbraucht. Das Bundesumweltministerium
verwies auf das Bundeswirtschaftsministerium, welches
nach einem Monat mitteilte, dass man die Daten nicht habe.
Der Chemiegigant und langjährige Gazprom-Partner
BASF ließ mehrfach verlautbaren, dass ein Embargo für russisches Gas zum Produktionsstopp an einem der weltweit
größten Chemiestandorte in Ludwigshafen führen würde.
Auch der deutsche Chemieverband teilte mit, dass Erdgas
der wichtigste Energieträger für die Chemieindustrie sei.
Am Standort Brunsbüttel verbraucht z. B. der Kunstdüngerhersteller Yara laut eigenen Angaben ein Prozent des
gesamten Erdgasverbrauchs. Der ChemCoastPark Bruns-
Forum Umwelt & Entwicklung –Rundbrief
Rundbrief1/2/2020
2022
15
büttel erhofft sich, durch das LNG-Terminal „insbesondere
energieintensive Unternehmen“ anzulocken. Damit steht
klar fest, dass dieses Vorhaben nicht im allgemein öffentlichen Interesse ist, sondern vor allem aus privatwirtschaftlichen Gründen vorangetrieben wird. Insofern stellt sich die
dringende Frage, warum ein vermeintlicher Erdgasbedarf
von Privathaushalten und das Wohnheizen in den Vordergrund der Debatte gerückt werden, wenn doch offenbar vor
allem die petrochemische Industrie versorgt werden soll.
Laut mehreren Analysen ist kein Neubau von zusätzlicher fossiler Infrastruktur in der EU notwendig, um die
Abhängigkeit von Russland zu verringern 1. Einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
zufolge ist es – wegen der langen Bauzeiten und des mittelfristig stark rückläufigen Erdgasbedarfs – nicht sinnvoll,
feste LNG-Terminals in Deutschland zu errichten. Auch
der Anschluss von schwimmenden Einheiten (FSRUs) ist –
bei ausbleibender Umwelt- und Klimaschutzprüfung und
einem bestenfalls ungeklärten Verbrauchsbedarf der Industrie – vehement infrage zu stellen.
LNG-Terminals könnten mit russischem
Gas beliefert werden
Die Frage von US Fracking-Gas-Importen über deutsche
LNG-Terminals steht seit einiger Zeit im Raum. Bereits 2018
gab der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier zu,
dass der vorgesehene Bau vor allem als „Geste an unsere
amerikanischen Freunde“ zu verstehen sei. Gefracktes Gas
macht einen Großteil der US-amerikanischen LNG-Exporte
aus. Fracking, ein Förderverfahren, mit welchem sich Erdgas aus Gestein lösen lässt, geht mit immensen Klima-,
Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen einher 2 und ist
in Deutschland in Schiefergestein verboten.
Dennoch hat der Energiekonzern RWE, Partner der
Staatsbank KfW für den Standort Brunsbüttel, Verträge
für US- amerikanische LNG-Importe aus Texas abgeschlossen. EnBW, der Partner von Hanseatic Energy Hub für den
Standort Stade, hat 20-Jahres-Verträge für die Lieferung von
Fracking-Gas aus umstrittenen LNG-Exportterminals in
Louisiana ab 2026 unterzeichnet. Auch Uniper, eines der
Unternehmen hinter dem Standort Wilhelmshaven, hat
kürzlich einen Vertrag für nordamerikanisches Gas gesichert. Ein anderer Großlieferant für LNG, Katar, hat mitgeteilt, dass man frühestens 2024 LNG liefern könne, und
zwar ebenfalls in Form von Fracking-Gas.
Die USA sind mittlerweile der größte LNG-Exporteur
in die EU, befinden sich allerdings seit einigen Jahren in einem Wettbewerb vor allem mit Katar und Russland um den
LNG-Markt in Europa. Einige der bestehenden LNG-Terminals im Nordwesten Europas haben in den vergangenen
Jahren gezielt auf den Import und Handel von russischem
LNG gesetzt, um die eher schlechte Auslastungsquote aufzubessern. Und solange kein echtes Embargo für russisches
Gas existiert, könnte am Ende des Tages auch russisches
LNG über die für Deutschland angedachten LNG-Terminals importiert werden. Die von Wirtschaftsminister Habeck im März 2022 für den Einkauf von LNG beauftragte
Trading Hub Europe GmbH (THE) musste zugeben, dass
der Einkauf von russischem LNG nicht ausgeschlossen
werden könne. Damit wird das Argument, wonach LNG
16
Schwerpunkt
die Abhängigkeit von russischem Gas beenden könnte,
entkräftet.
LNG ist unvereinbar mit Maßnahmen
für den Klimaschutz
Seit Jahren häufen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Klimaschädlichkeit von fossilem Gas, dessen
Hauptbestandteil Methan bei Entweichen in die Atmosphäre über einen Zeitraum von 20 Jahren eine bis zu 108-mal
höhere Treibhauswirkung hat als CO₂. Die negative Klimawirkung von LNG ist signifikant. Berechnungen zufolge
können die durch LNG verursachten Treibhausgasemissionen – wenn es bspw. aus den USA importiert wird – klimaschädlicher sein als Kohle.
Seit geraumer Zeit zeichnet sich ab, dass neue Gasprojekte mit ökonomischen Laufzeiten von teilweise mindestens 30 Jahren entweder einen sogenannten fossilen
Lock-in-Effekt kreieren (weil die Infrastruktur aus Angst
vor Schadensersatzklagen länger als klimaperspektivisch
erlaubt fossil betrieben wird) oder als Investitionsruinen
enden. Nicht umsonst bezeichnete UN-Generalsekretär
António Guterres – bei der Vorstellung des neuesten IPCCBerichtes – Investitionen in neue fossile Infrastruktur als
„moralischen und ökonomischen Wahnsinn“. Wenn die
Bundesregierung wirklich ein Klimachampion sein will,
dann muss sie ihrer vermeintlichen globalen Vorreiterrolle
auch gerecht werden. Den noch nicht einmal ernsthaft beschlossenen Ausstieg aus russischem Gas dazu zu nutzen,
höchst zweifelhafte Flüssigerdgasterminals voranzupeitschen, ist das Gegenteil von gelebtem Klimaschutz. 3
Andy Gheorghiu
Andy Gheorghiu arbeitet national und international als
Campaigner und Berater für Klima-, Umweltschutz- und
Energiepolitik und engagiert sich in vielen Netzwerken und
Bewegungen gegen Fracking, LNG und Plastik.
1 https://www.artelys.com/wp-content/uploads/2022/05/ArtelysRussian-gas-phase-out-Briefing-note.pdf
2 https://concernedhealthny.org/compendium/
3 https://www.howarthlab.org/
Perspektiven aus der Ukraine
E CO C L U B
Stellen Sie Ihre Organisation kurz vor. Was ist/war
der Schwerpunkt Ihrer Arbeit? Und ist es für Sie noch
möglich, in der Ukraine zu arbeiten?
Ecoclub ist eine NGO mit Sitz in Rivne. Unsere Aufgabe ist
es, die grüne Agenda der Kommunen und der Regierung
zu gestalten. Unsere Hauptthemen sind Energieeffizienz,
erneuerbare Energien, Klimapolitik und die Reform der
Umweltverträglichkeitsprüfung. Wir begleiten die Aktivitäten der Behörden in diesen Bereichen kritisch und
versuchen, positiven Einfluss auf die Entscheidungen zu
nehmen. Außerdem stärken wir die Handlungsfähigkeit
von BeamtInnen und AktivistInnen in diesen Bereichen.
Zwar ist es in Rivne relativ sicher, aber der Ecoclub kann
seine typischen Aktivitäten dennoch nicht durchführen:
Einige der Gemeinden, mit denen wir zusammengearbeitet
haben, waren oder sind besetzt und haben dadurch ihre
Arbeitsschwerpunkte geändert.
Gerade leisten wir auch humanitäre Hilfe für die am
stärksten betroffenen Gemeinden. Das meiste Material dafür kommt aus Deutschland.
Wie erleben Sie die internationalen Reaktionen aus
der Zivilgesellschaft, aber auch von den Vereinten
Nationen? Haben Sie irgendwelche Appelle oder
Wünsche?
Leider haben wir festgestellt, dass es keine Kraft auf der
Welt gibt, die den Angriff aufhalten kann. Alles, was man
braucht, ist eine Waffe. In der Ukraine können wir sehen,
dass das gesamte Potenzial der Vereinten Nationen nicht in
der Lage ist, die Aggression eines Landes zu stoppen, dessen
Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur 2 % des weltweiten BIP
ausmacht. Wir müssen etwas an der Architektur der Weltsicherheit ändern, sonst werden wir nicht überleben können.
Die geringe Fähigkeit, insbesondere der UNO, Frieden zu
stiften, führt jetzt zu steigenden Militärkosten in der ganzen
Welt, was sehr traurig zu beobachten ist.
Die Planung des Wiederaufbaus der Ukraine ist eine
wichtige Etappe, die die Entwicklung des Landes zu einem
europäischen Land bestimmt. Hier braucht die Ukraine
dringend Unterstützung: von der Bereitstellung materieller Hilfe über die Beratung durch ExpertInnen bis hin zur
Schaffung von Institutionen zur Überwachung der Transparenz und der Einhaltung der Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung.
Bislang gibt es in der Ukraine beispielsweise keine Institution, die die Bemühungen von Regierungsstellen, ExpertInnen und der Öffentlichkeit bei der Aufklärung von
Straftaten und der Bewertung von Umweltschäden bündelt.
Die Erfahrung und Unterstützung der UN-Mitgliedstaaten
in diesem Bereich sowie bei der Eintreibung von Reparationen für den Wiederaufbau werden einen wichtigen Beitrag
zur Sicherheit der Ukraine leisten.
Aber das Wichtigste ist heute, den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erhalten. Wenn dies gelingt, wird es
die Menschen mit der Regierung und den Kommunen auf
nationaler Ebene vereinen und ein Wegweiser dafür sein,
welche Reformen umgesetzt und kohärenter durchgeführt
werden müssen.
Der russische Krieg tötet Menschen, zerstört
Städte und den sozialen Fortschritt. Haben Sie eine
Perspektive für ihre Arbeit und die Gesellschaft?
Es ist schwierig, sich um die Umwelt zu kümmern, während Russland die ukrainische Bevölkerung tötet. Aber wir
wollen wirklich nicht zu dem Prinzip „Wirtschaft zuerst“
zurückkehren, das früher herrschte. Hier wächst unsere
Rolle: Wir müssen einen Beitrag dazu leisten, dass so etwas
nicht passiert, damit die Umwelt im Land geschützt wird.
Derzeit arbeitet Ecoclub in drei Gruppen des Nationalen
Rates für Wiederaufbau mit, der sich dafür einsetzt, dass
der Wiederaufbau der Ukraine nach den Grundsätzen der
nachhaltigen Entwicklung erfolgt und dass unsere Arbeit in
den Bereichen Energieeffizienz, erneuerbare Energien und
Anpassung an den Klimawandel für die Gemeinden in die
Wiederaufbaupläne einfließen. Auf diese Weise wollen wir
ein „grünes“ Land mit einer sicheren Energieversorgung
und Umwelt schaffen, statt einfach zu den Vorkriegsbedingungen zurückzukehren.
Aus dem Englischen von Tom Kurz
Mehr Infos zu der Arbeit von Ecoclub
unter: www.ecoclubrivne.org
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
17
VON BLÖCKEN
UND BLOCKADEN
Multilateralismus in einer gespaltenen Welt
„Jetzt ist der Kalte Krieg zu Ende, jetzt können wir uns endlich den
gemeinsamen Herausforderungen der Menschheit widmen.“ Solche
Sätze waren in den Reden der Staats- und Regierungschefs bei der UNKonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 oft zu hören. Die
Aufbruchstimmung nach dem Ende des Kalten Kriegs Anfang der 1990erJahre war auch ein Aufschwung für die Vereinten Nationen (UN) und
den Multilateralismus. Eine Fülle von themenbezogenen Sondergipfeln
und Konferenzen der UN untermauerte dies in den 1990er-Jahren: Die
Menschenrechtskonferenz 1993, die Weltbevölkerungskonferenz 1994,
der Weltsozialgipfel 1995, die Weltfrauenkonferenz 1995, der Welt
ernährungsgipfel 1996. Viele träumten schon von „Global Governance“,
einer Art globalen Super-EU, die die großen Probleme lösen solle, für
die der Nationalstaat doch längst zu klein sei.
18
Schwerpunkt
lich ist, ist es unvermeidlich, andere Lösungen zu finden.
Ob die damit verfolgte Politik sinnvoll, nachhaltig oder im
Interesse breiter Bevölkerungsschichten ist, ist allerdings
eine andere Frage, die sich aber auch dann stellt, wenn sie
multilateral beschlossen würde.
Multilateralismus ist deshalb keineswegs per se gut, es
kommt immer noch auf den Inhalt an. Einer der Hauptkritikpunkte an den WTO-Verträgen war immer, dass sie
den einzelnen Ländern zu wenig politischen Spielraum für
eigene Politik im Bereich Umwelt und Entwicklung lassen.
Multilateralismus kann deshalb durchaus auch ein antidemokratisches Korsett sein, mit dem eine Regierung eine
unpopuläre Politik – in diesem Fall den Neoliberalismus –
dem Zugriff des Souveräns und dem demokratischen Wandel entzieht. Eine auf nationaler Ebene beschlossene Politik
kann vom Volk zumindest theoretisch durch Wahl einer
neuen Mehrheit korrigiert werden, aber wenn diese Politik
in internationale Verträge gegossen ist, ist dies ungleich
schwieriger oder unmöglich. Multilateralismus ist deswegen bei der Exekutive meist beliebter als bei der Legislative.
In einem Kalten Krieg ist
Multilateralismus kaum denkbar
Rainer Sturm/pixelio.de
D
ass parallel dazu auch die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) außerhalb der UN
vorangetrieben wurde, tat dem im Grunde keinen
Abbruch: Auch die WTO ist im Prinzip multilateral angelegt, auch wenn anfangs nur eine Minderheit
der Staaten Mitglied wurde. Es war die WTO, bei der die
Multilateralismus-Euphorie zuerst zerbröselte. Seit der dritten Ministerkonferenz im Dezember 1999 in Seattle ist die
WTO von heftigen Nord-Süd-Polarisierungen geprägt, die
wesentliche neue Abkommen und Vereinbarungen blockieren. Seit der Gründung 1995 ist die Mitgliederzahl von 76
auf 164 gestiegen, was insbesondere mit dem Beitritt Chinas
und Russlands gleichzeitig die Dominanz des Westens in
der WTO stark erodieren ließ.
Die Antwort, vor allem seitens der EU, darauf war eine
umfassende Strategie bilateraler und regionaler Handelsabkommen, die zwar nicht alle zustande kamen, in denen
aber eine auf multilateraler Ebene nicht durchsetzbare
neoliberale Marktöffnungspolitik vorangetrieben wurde.
Die EU ist aber keinesfalls die einzige Akteurin, die solche bilateralen und regionalen Abkommen forciert hat. So
gesehen haben sich alle Staaten wortreich zum Multilateralismus bekannt, ihn aber de facto untergraben und die
ihnen genehme Handelspolitik im bi- und plurilateralen
Rahmen umgesetzt.
Dagegen ist im Prinzip auch nichts einzuwenden. Das
WTO-Reglement erlaubt solche Abkommen durchaus,
wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Wenn eine politische
Einigung auf multilateraler Ebene langfristig nicht mög-
Die „Zeitenwende“ durch den russischen Angriff auf die
Ukraine hat nun in jeder Hinsicht das Potenzial, dass wir
wieder im Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts landen.
Was das für den Multilateralismus bedeutet, lässt das anfangs zitierte Aufbruch-Statement von Rio 1992 unschwer
erkennen: Nun ist die multilaterale Problemlösungsoption
wieder vom Tisch. Es ist eine Sache, wenn man aufgrund
unterschiedlicher Positionen nicht zusammenkommt und
es dann keine Vereinbarungen gibt. Aber wenn man aufgrund prinzipieller ideologischer oder geostrategischer Gegensätze gar keine Einigung mehr will, ist das eine neue
Qualität. Was das beispielsweise für Umweltabkommen
bedeuten würde, kann man sich denken.
Als die erste UN-Umweltkonferenz 1972 in Stockholm
stattfand, wurde sie von der Sowjetunion und ihren Verbündeten boykottiert. Wenn wir uns vorstellen, dass die
vielen heutigen Umweltabkommen der UN in einen Kalten
Krieg zwischen dem Westen und Russland/China geraten,
sind sie paralysiert. Die WTO-Ministerkonferenz im Juni in
Genf war schon nahe an diesem Punkt. Wenn der Westen
nicht mehr bereit ist, überhaupt in einem Raum mit der
russischen Delegation zu sitzen oder gar mit ihr zu reden,
und die Präsidentschaft Shuttle-Diplomatie spielen muss,
fehlt nicht mehr viel zur Beschlussunfähigkeit.
G20: der Westen gegen den Rest
Das erste Opfer des neuen Kalten Krieges dürfte wohl die
G20 sein. Mitten in den größten weltwirtschaftlichen Turbulenzen seit langem dürften sich die westlichen Regierungschefs vermutlich zwar mit Putin zu einem G20-Treffen
im November an einen Tisch setzen, aber der bisherige G20Verlauf dieses Jahres lässt wenig Anlass für die Annahme,
dass dabei mehr als gegenseitige Vorwürfe herauskommen
wird. Wir erinnern uns: die G20 wurden im Umfeld der
Finanzkrise vor 15 Jahren ins Leben gerufen, weil der alte
Westen, die G7, nicht mehr das Gewicht hat, alleine die
Weltwirtschaft zu steuern.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
19
Es ist eine Sache, wenn man aufgrund
unterschiedlicher Positionen nicht
zusammenkommt und es dann keine
Vereinbarungen gibt. Aber wenn man
aufgrund prinzipieller ideologischer oder
geostrategischer Gegensätze gar keine
Einigung mehr will, ist das eine neue
Qualität.
Es dürfte jedoch nicht bei der G20 bleiben. Geopolitische Konfrontationen haben auch in der Vergangenheit
ab und zu die UN-Nachhaltigkeitsverhandlungen erreicht,
wenn etwa Russland bei der Commission for Sustainable
Development (CSD) die NATO-Bombardierung Serbiens
verurteilt haben wollte. Solche Ansinnen sorgten für Polarisierungen, aber unabhängig vom Ergebnis ging man danach wieder zur Tagesordnung über und nahm nicht die
gesamten restlichen Verhandlungen in Geiselhaft. Aber wie
soll man beispielsweise eine Vertragsstaatenkonferenz der
Biodiversitätskonvention, zudem unter chinesischer Präsidentschaft, oder eine Klimakonferenz erfolgreich zu Ende
führen, wenn das Einstimmigkeitsprinzip gilt und einige
Delegationen mit einer anderen nicht in einem Raum sitzen,
geschweige denn mit den Delegierten reden wollen?
Die Überwindung des Kalten Krieges ermöglichte den
Multilateralismus, führte aber auch in eine Zeit der Hegemonie des alten Westens. Kann der Multilateralismus auch
in einer multipolaren Welt noch funktionieren? In absehbarer Zeit sind die Aussichten für den Multilateralismus,
wie er in den letzten 30 Jahren zumindest verbal das präferierte Politikmodell für die internationale Politik vor allem
im Bereich Umwelt und Entwicklung war, vermutlich eher
düster. Sollte es wieder zu einer regelrechten Blockbildung
kommen, wird es für globale Probleme wohl kaum noch
globale Lösungen geben. Wem dieser Preis zu hoch ist, muss
wohl oder übel auch mit Regimen reden und verhandeln,
die andere Länder überfallen und/oder die Menschenrechte
mit Füßen treten. Aber das hat man vor Februar 2022 ja
auch schon gemacht.
Jürgen Maier
Jürgen Maier ist Geschäftsführer des Forum Umwelt und
Entwicklung.
20
Schwerpunkt
noah eleazar/Unsplash
ZWISCHEN KRIEG
UND WORTEN
Über die Wirksamkeit von
internationalen Sanktionen
Sanktionen sind ein zentraler Baustein der Außenpolitik
westlicher Staaten – auch als Reaktion auf den russischen
Angriffskrieg in der Ukraine. Die Vereinten Nationen und
Russland setzen Sanktionen ebenfalls ein. Jedoch gelten die
Zwangsmaßnahmen als wenig effektiv. Sind sie mehr als
Symbolpolitik? Einsichten aus der politikwissenschaftlichen
Sanktionsforschung.
S
chon drei Tage vor Beginn des brutalen
russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres, nämlich
direkt nach der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk
durch Russland, haben die Europäische Union,
die USA und weitere like-minded Staaten Sanktionen gegen Russland verhängt. Vor Kurzem hat
die EU nun das bereits sechste Sanktionspaket
beschlossen. Die Zwangsmaßnahmen umfassen
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
21
mittlerweile Einreiseverbote und Kontensperrungen für
mehr als 1.100 Personen (unter anderem Russlands Präsident Vladimir Putin), annähernd 100 Organisationen
sind ebenfalls sanktioniert. Der zweite Bereich umfasst
Exportverbote, vor allem für Hochtechnologie (wie Computerchips, Halbleiter und Software), Dual-Use-Güter, die
sowohl für zivile und militärische Zwecke genutzt werden
können, und Ersatzteile für Flugzeuge. Direktflüge von der
EU und den USA nach Russland und umgekehrt wurden
gestrichen. Im Finanzbereich setzten die Staaten des Westens in einem beispiellosen Akt Russlands Auslandsreserven
in Höhe von ca. 300 Milliarden US-Dollar fest. Zahlreiche
Banken, mittlerweile auch das größte russische Geldinstitut, die Sberbank, sind vom internationalen Bankentransfersystem SWIFT ausgeschlossen. Sie haben damit keinen
direkten Zugang mehr zum globalen Finanzsystem.
Erdöl- und Gas-Sanktionen
Dabei blieb es nicht: Im Juni 2022 hat die EU beschlossen,
schrittweise die Einfuhr von russischem Erdöl mit Tankschiffen und später auch durch Pipelines zu verbieten. Da
das meiste Öl auf dem Seeweg in die EU kommt, werden
damit bis Ende des Jahres 90 Prozent der Erdöleinfuhren
gestoppt. Westliche Staaten haben so mit bemerkenswerter
Härte auf die russische Invasion reagiert. Erst beim sechsten
Sanktionspaket zeigten sich Risse in der EU und es gelang
nur mit Mühe und zahlreichen Ausnahmen, ein weitgehendes Ölembargo gegen Russland zu beschließen. Außerdem
sind zahlreiche europäische Staaten – auch und vor allem
Deutschland – hoch abhängig von russischem Gas. Russlands Präsident Vladimir Putin nutzt diese Abhängigkeit
sehr offensichtlich für seine Machtpolitik und drosselt vor
dem nächsten Winter den Gasfluss auf im Augenblick 40
Prozent der normalen Menge.
Zudem führt Russland im Südosten der Ukraine seine
Angriffe mit unverminderter Härte fort, Butscha und Mariupol wurden Schauplätze schrecklicher Kriegsverbrechen.
Sind Sanktionen also wirkungslos und nichts als Symbolpolitik? Schließlich sollen sie ja die Kosten für Russlands
Angriffskrieg massiv erhöhen und damit einen Kurswechsel
erzwingen. Die Sanktionsforschung liefert einige Einsichten
über die Erfolgswahrscheinlichkeit und die Wirkungsweise von Sanktionen, die als Mittel der Außenpolitik zwischen einfachen Worten und einer Beteiligung am Krieg
stehen. Grundsätzlich gilt die Androhung von Sanktionen
als besonders erfolgversprechend. Das Gegenüber kann
sich in diesem Stadium noch ohne großen Gesichtsverlust
zurückziehen. Über diese Drohungen hat sich Putin mit
dem Angriff in Windeseile hinweggesetzt – entweder weil
die Sanktionsdrohungen für ihn nicht glaubhaft waren
(vermutlich auch, weil die Reaktion des Westens auf die
völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 aus
heutiger Sicht zu zurückhaltend ausfiel) oder weil er bereit
ist, selbst höchste Kosten für Russland in Kauf zu nehmen,
um sein Ziel zu erreichen, die Ukraine zu annektieren und –
so proklamiert – zu „entnazifizieren“. Eine wegweisende
Studie von Gary Hufbauer und Kolleginnen und Kollegen
ermittelte, dass auferlegte Sanktionen in ungefähr einem
Drittel der Fälle erfolgreich sind und zu einem Politikwechsel führen. 1 Abgesehen von der Tatsache, dass dies in der
22
Schwerpunkt
Forschung nicht unumstritten ist, verbergen sich hinter
dieser Zahl große Unterschiede. Diese betreffen vor allem
die Art der mit den Sanktionen verbunden Forderungen,
wie das Sanktionsziel verfasst ist und welche Beziehung zum
Sanktionsziel besteht.
Erfolgsbedingungen von Sanktionen
Wie erwähnt gelten erstens Sanktionsdrohungen als besonders effektiv. Zweitens beeinflusst Druck von außen Demokratien leichter als nicht demokratische Staaten. Die wirtschaftlichen oder diplomatischen Beschränkungen führen
dort leichter zu einem Politik- oder sogar einem Regierungswechsel: Bürgerinnen und Bürger können auf die Straße
gehen oder die Regierung gleich ganz abwählen. Drittens
machen es klar formulierte und vor allem beschränkte Forderungen aus Sicht der sanktionierten Regierungen leichter,
nachzugeben. Der Ruf nach Demokratisierung und dem
Schutz der Menschenrechte gefährdet direkt den Machterhalt eines autoritären Regimes. Genauso hat die Invasion
in der Ukraine eine enorm hohe Bedeutung für die russische Führung. Trotz aller Medienkontrolle und Propaganda wäre ein Einlenken aus Sicht von Präsident Putin ein
Zeichen von Schwäche, das seine Machtposition aufs Spiel
setzen könnte. Viertens haben Sanktionen gegen befreundete Staaten, mit denen es engen wirtschaftlichen Austausch
und große politische Einigkeit gibt, höhere Aussichten auf
Erfolg. Das Gleiche gilt für Druck, der von einer möglichst
großen Staatenkoalition oder sogar den Vereinten Nationen
ausgeht. Die Legitimität der Maßnahmen ist höher und die
Schlupflöcher sind kleiner. Schließlich geben wirtschaftlich
schwache Zielstaaten eher nach.
Ein schneller Blick auf diese Liste zeigt bereits, dass
die meisten Bedingungen im Fall von Russland strukturell
schlicht nicht gegeben sind: Russland ist ein ausgesprochen mächtiges (und damit untypisches) Sanktionsziel.
Der größte Flächenstaat der Erde ist ständiges Mitglied im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und verfügt über eine
Wirtschaftsleistung, die etwa der von Spanien entspricht.
Das Land droht mit Atomwaffen und den strategischen Res-
Die Aussichten, mit Sanktionen
kurzfristig ein Umsteuern
der russischen Regierung
herbeizuführen, sind gering.
sourcen Öl und Erdgas. Die Aussichten, mit Sanktionen
kurzfristig ein Umsteuern der russischen Regierung herbeizuführen, sind somit gering. Zudem haben Sanktionen
oftmals unerwünschte humanitäre Nebeneffekte. Fälle wie
Iran oder Afghanistan zeigen, dass autoritäre Regierungen
oft fest im Sattel sitzen, während umfassende Sanktionen
die Bevölkerung treffen. Diese hat aber selbst kaum Einfluss
auf die Herrschenden.
Die Funktion von Sanktionen
Warum haben Sanktionen dann trotzdem ihre Berechtigung? Drei Argumente: Erstens sind Sanktionen nicht nur
ein Mittel, das eine Verhaltensänderung erzwingen soll (in
der Forschung wird diese Funktion coercing genannt). Sie
schränken auch den Handlungsspielraum des Gegenübers
ein (constraining). So unterbinden die westlichen Technologiesanktionen den Nachschub mit Mikrochips, die auch
in der russischen Rüstungsindustrie verbaut werden können. Und schließlich senden Sanktionen kostspielige Signale an das Sanktionsziel, mögliche Nachahmerinnen und
Nachahmer sowie die eigene Bevölkerung (signaling). Sie
bekräftigen damit zentrale Normen des Völkerrechts wie
die nationalstaatliche Souveränität und Unverletzbarkeit
der Grenzen. Diese Funktionen müssen bei der Bewertung
dieses Instruments der Außenpolitik einbezogen werden.
Zweitens sind Sanktionen immer nur ein Teil der Antwort.
Sie werden im Fall von Russland im Verbund mit Waffenlieferungen und Diplomatie – man denke an die Telefonate
von Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron mit Präsident Putin – eingesetzt und
sollten auch gemeinsam bewertet werden. Drittens schließlich sollten die mit Sanktionen verknüpften Hoffnungen
realistisch bleiben. Sanktionen entfalten ihre Wirkung
oft nicht unmittelbar, sollen gleichzeitig aber sofort zum
Kurswechsel beitragen. Zudem scheint Präsident Putin im
Augenblick gewillt, seinen Angriffskrieg in der Ukraine
mit allen Mitteln durchzuziehen – trotz unermesslichen
menschlichen Leids und einer Wirtschaftskrise, die sein
Land um Jahre zurückwerfen wird. Sanktionen werden deswegen auf absehbare Zeit Teil der Antwort bleiben müssen.
Dr. Christian von Soest
Dr. Christian von Soest ist Leiter des Forschungsschwerpunkts
Frieden und Sicherheit am German Institute for Global
and Area Studies (GIGA) in Hamburg. In seiner Forschung
beschäftigt er sich mit internationalen Sanktionen und
Interventionen, autoritären Regimen und mit ihren
Legitimationsstrategien. Christian von Soest ist außerdem
Mitarbeiter des GIGA Büros in Berlin.
1 Hufbauer, Gary Clyde, Jeffrey J. Schott, Kimberley Ann Elliott,
and Barbara Oegg. Economic Sanctions Reconsidered. 3rd
edition. Washington, DC: Peterson Institute of International
Economics, 2007. Einleitung unter: Economic Sanctions
Reconsidered, 3rd Edition (paper) | PIIE.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
23
ZERFALLS
ERSCHEINUNGEN
Die Folgen des Ukraine-Kriegs für die
Finanzierung nachhaltiger Entwicklung
Der russische Überfall auf die Ukraine trifft neben den Menschen vor Ort
auch die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte von Personen
auf anderen Kontinenten, vermittelt über die globalen Finanzsysteme.
Zum einen vertiefen die Effekte des Kriegs die Krise, in der sich die
globale Ökonomie in Folge der COVID-19-Pandemie, des Klimawandels
und anderer Probleme aktuell befindet. Die Reaktionsfähigkeit von Regierungen geht global zurück, fiskalpolitische Spielräume werden – wo
sie überhaupt noch bestehen – kleiner. Zum anderen vertiefen sich die
politischen Gräben in der internationalen Gemeinschaft, was globale
Lösungen zur Behebung dieser Probleme erschwert.
24
Schwerpunkt
moritz320/Pixapay
D
ie ökonomischen Folgen des russischen Angriffs
waren schnell für alle spürbar. Sie betreffen vor
allem Preise. Lebensmittel werden durch die Erwartung ausbleibender Erträge in der Ukraine
teurer. Einige Länder – bspw. Indien und Indonesien – haben darauf mit Exportverboten reagiert, um die heimische
Versorgung zu sichern. Das treibt die Weltmarktpreise
weiter in die Höhe. Rohstoffpreise für wichtige Ausgangsprodukte wie Energierohstoffe, Phosphat für Dünger oder
Zink steigen teils durch tatsächliche Angebotsverknappung,
teils durch die Spekulation darauf. Das hat die Gewinne
in einigen Sektoren (und Volkswirtschaften) erhöht, führt
aber zugleich zu einer Inflation u. a. für Güter des täglichen
Bedarfs. Darunter leiden primär diejenigen, die ohnehin
kaum genug zum Leben haben (vgl. Beitrag von Lena Bassermann und Lena Luig sowie Beitrag von Dr. Andreas Aust
in dieser Ausgabe).
Die weitreichenden Folgen der Inflation
Global werden die Folgen der Inflation durch die Reaktionen der Zentralbanken der Leitwährungsräume (Eurozone,
USA, Japan, Großbritannien u. a.) zu weiteren Verwerfungen führen. Steigende Leitzinssätze gepaart mit steigenden
Finanzbedarfen der Staaten werden in aller Regel zu Kapitalflüssen in diese Währungsräume führen, beispielsweise,
weil Staatsanleihen dort wieder attraktiver werden. Umge-
kehrt wird es für den Rest der Welt teurer, sich mit Finanzmitteln zu versorgen. Das kann sowohl Schuldenkrisen verschärfen als auch Währungskrisen hervorrufen. 1 Zugleich
schmälern höhere Zinsen die Wachstumsmöglichkeiten in
der Realwirtschaft, was zwar den insgesamt überbordenden
Rohstoffverbrauch etwas eindämmen, unter den gegebenen
Bedingungen aber starke gesellschaftliche Spannungen verursachen dürfte.
Parallel dazu steckte die Welt schon Anfang 2022 in
einer veritablen Schuldenkrise. Die ärmsten Länder der
Welt müssen in diesem Jahr Schulden in Höhe von insgesamt 43 Milliarden Dollar zurückzahlen. Das entspricht ca.
171 % ihrer Ausgaben für Gesundheit, Bildung und soziale
Sicherung. 135 von 148 Ländern wiesen Anfang 2022 mindestens einen Schuldenindikator im kritischen Bereich auf.
Gleichzeitig steigen die Preise für Neuverschuldung, was
die Länder des Globalen Südens weiter in die Enge treibt. 2
Insgesamt werden in absehbarer Zeit Staatsfinanzen global unter Druck geraten bzw. geben diesem schon jetzt nach.
In Europa stehen flächendeckend höhere Ausgaben für
Rüstung an, was zu Einsparungen an anderer Stelle führen
wird. Außerdem werden Umschichtungen bei den Entwicklungsausgaben vorgenommen. Schweden beispielsweise hat
ein Fünftel seiner Ausgaben für die internationale Zusammenarbeit für die Versorgung von Flüchtlingen im Inland
reserviert. 3 Auch im deutschen Entwicklungsetat wird es
zumindest Verschiebungen geben. Höhere Ausgaben für
die Ukraine und ihre Nachbarländer werden bei insgesamt
leicht abnehmenden Mitteln an anderer Stelle ausgeglichen
werden müssen. Sollten sich – wie vom Bundesfinanzminister angekündigt – mittelfristig weitere Einsparungen als
politisch sinnvoll erweisen, ist mit Kürzungen in anderen
Bereichen der internationalen Zusammenarbeit zu rechnen.
Dazu dürften dann auch die globale Klimafinanzierung und
die Finanzierung des Schutzes der biologischen Vielfalt gehören. Verschärft werden könnte das noch durch ggf. zu
verlängernde Subventionen bzw. Entlastungen in Reaktion
auf die erwähnten Preise in der Grundversorgung.
Sanktionen stellen globale
Institutionen in Frage
Der russische Angriff bzw. die Sanktionen der westlichen
Länder in Reaktion darauf stellen außerdem eine Reihe von
Institutionen in Frage, was mittel- und langfristig enorme
Effekte für die Organisation des globalen Finanzsystems
haben könnte. Der Ausschluss russischer Banken aus dem
Zahlungssystem Swift beispielsweise führt nicht automatisch dazu, dass diese Finanzdienstleister von den Weltmärkten verschwinden. 4 Ähnliches gilt für das Einfrieren
der russischen Zentralbankreserven, die bei Banken in
Europa und den USA einlagern. Sollten diese Mittel wie
die der afghanischen Zentralbank eingezogen und für politische Prioritäten der westlichen Länder ausgegeben werden, dürfte das das Vertrauen in die Zuverlässigkeit dieser
Institutionen (weiter) untergraben. Das Gleiche gilt für
das Kappen der Verbindungen zum globalen Korrespondenzbankensystem. Russland kann schon heute bestimmte
Kredite nicht mehr bedienen. Nicht, weil es dazu nicht die
nötigen Mittel hätte, sondern weil es keinen Zugang mehr
zu den abwickelnden Banken in den Vereinigten Staaten
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
25
Der Krieg könnte sich als Katalysator dafür
erweisen, dass sich die global verschiebenden
ökonomischen Gewichte auch in entsprechend neu
austarierten Institutionen spiegeln.
hat. All das beschleunigt die Entstehung alternativer Systeme, die nicht mehr von den Finanzzentren in Nordamerika
und Europa kontrolliert werden. So könnte sich der Krieg
als Katalysator dafür erweisen, dass sich die global verschiebenden ökonomischen Gewichte auch in entsprechend neu
austarierten Institutionen spiegeln.
Fraglich ist jedoch, ob über diese Neujustierung in den
internationalen Finanzbeziehungen multilateral verhandelt
und beschlossen werden kann. Die Konfrontation zwischen
insbesondere den G7 und den aufstrebenden Schwellenländern, allen voran China, wird durch die unterschiedlichen
Reaktionen auf den Krieg weiter zugespitzt. Das zeigte sich
beim zweiten Treffen der G20-FinanzministerInnen und
ZentralbankgouverneurInnen am 20. April dieses Jahres,
das ohne gemeinsames Abschlussdokument zu Ende ging,
genauso wie auf der parallel stattfindenden Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und
Weltbank. Das ist vor allem deshalb so dramatisch, weil
schon vor dem Krieg die nur global zu lösenden Probleme
in den internationalen Finanzbeziehungen offen zu Tage
lagen. Gerade die Länder des Globalen Südens, aber bei
Leibe nicht nur sie, brauchen dringend größere fiskalische
Spielräume. Ansätze dafür, diese zu schaffen, gibt es sowohl in Sachen Schuldenkrise als auch in der gerechteren
Verteilung von Besteuerungsrechten und in der Geldpolitik. Auch wenn diese Ansätze – der sog. Common Framework on Debt Treatments, der Zwei-Säulen-Ansatz für die
globale Unternehmensbesteuerung oder die Nutzung von
IWF-Sonderziehungsrechten zur Krisenmilderung 5 – vorhanden sind, sind sie doch bei Weitem nicht ausreichend
bzw. teilweise hochproblematisch und erfordern dringend
Neujustierung, Ausbau und Umsetzung. Ähnliches gilt für
die Kompromisse, die bei der 12. WTO-MinisterInnenkonferenz immerhin erreicht wurden, deren Sinnhaftigkeit man
aber durchaus in Zweifel ziehen darf (vgl. den Beitrag von
Nelly Grotefendt in dieser Ausgabe).
Insgesamt wird es Zeit, die Spielregeln der globalen
Finanzpolitik nicht mehr nur zwischen den großen und
mächtigen Ländern auszukungeln. Vielmehr müsste sie global, alle Länder gleichberechtigt berücksichtigend, neu austariert werden. Raum für globale Verständigung bietet der
sogenannte Financing for (Sustainable) Development (FfD)Prozess, der allerdings in der öffentlichen Aufmerksamkeit bisher ein Schattendasein fristet. Vordergründig wird
unter FfD die Finanzierung der Agenda 2030 verstanden.
Tatsächlich geht es aber um deutlich breitere Grundfragen
der globalen Ökonomie. Seine Legitimität schöpft der FfD
aus seiner universellen Mitgliedschaft. Dass er bisher noch
nicht so wirksam geworden ist, wie viele zivilgesellschaft-
26
Schwerpunkt
liche BeobachterInnen sich das wünschen, liegt primär
daran, dass es gerade den reicheren und größeren Ländern
bisher schlicht zu lästig war, sich auf den oft langwierigen
und komplexen Versuch einzulassen, gemeinsam mit allen
Regierungen Lösungen zu finden. Clubformate wie die G20
oder die OECD erschienen da attraktiver.
Angesichts neuer geopolitischer Konstellationen und vor
allem eines korrigierten Verständnisses davon, wer in der
globalen Ökonomie tatsächlich von wem abhängig ist (nicht
umsonst reisen Mitglieder der Bundesregierung momentan
in hoher Frequenz durch afrikanische Länder), könnte es
zu einer Neubewertung des Prozesses kommen. Tatsächlich
haben die Regierungen UN-typisch beim letzten Treffen im
FfD-Prozess im April die UN-Generalversammlung dazu
eingeladen, über die Ansetzung einer neuen Internationalen
Konferenz über Entwicklungsfinanzierung zu entscheiden.
Diese könnte bei entsprechender Vorbereitung tatsächlich
der Ort und der Moment sein, um die nötigen Lehren aus
den globalen Krisen zu ziehen und entsprechend neue oder
reformierte globale Institutionen zu etablieren.
Wolfgang Obenland
Der Autor leitet den Arbeitsbereich Internationale
Finanzpolitik beim Forum Umwelt & Entwicklung.
1 Vgl. dazu den Beitrag von Kavaljit Singh in Rundbrief 1/2022,
S. 72. https://www.forumue.de/wp-content/uploads/2022/04/
Rundbrief-1_22-Was-kostet-die-Welt-31-Singh.pdf
2 Vgl. den Beitrag von Kristina Rehbein in Rundbrief 1/2022, S.
68. https://www.forumue.de/wp-content/uploads/2022/04/
Rundbrief-1_22-Was-kostet-die-Welt-28-Rehbein.pdf
3 https://www.devex.com/news/sweden-pulls-1b-in-foreign-aidfor-ukrainian-refugees-at-home-103164
4 Vgl. https://safe-frankfurt.de/de/aktuelles/safe-finance-blog/
details/abkopplung-russlands-von-swift-vorteil-china.html bzw.
https://jomodevplus.substack.com/p/swift-dollar-decline?s=r.
5 Vgl. die Beiträge in Rundbrief 1/2022 von Kristina Rehbein
(S. 68), David Kern-Fehrenbach mit Christoph Trautvetter (S.
34) sowie von Bodo Ellmers (S. 70), verfügbar unter https://
www.forumue.de/rundbrief-i-2022-was-kostet-die-weltnachhaltigkeit-braucht-gerechte-finanzsysteme/.
Jon Tyson/Unsplash
DER GLOBALE
SÜDEN UND DER
KRIEG IN EUROPA
Ein unmöglicher Dialog?
Die meisten Länder des Globalen Südens (GS) weigern sich, Russland für
seine Invasion der Ukraine zu verurteilen oder zu sanktionieren, und
Europa versteht nicht, warum. Der GS wiederum versteht nicht, warum
Europa Solidarität erwartet, wenn es sich bei nahezu jeder internationalen Entscheidungsfindung aktiv gegen grundlegende Forderungen des
GS stellt und sich stattdessen den von den Neocons oder den Interessen
großer Unternehmen inspirierten US-Strategien anschließt.
D
ie EuropäerInnen sind schockiert über die mangelnde Bereitschaft vieler Länder des GS, den russischen Krieg in der Ukraine zu verurteilen (24
Länder stimmten in der UN-Generalversammlung gegen die Suspendierung Russlands vom Menschenrechtsrat, 58 enthielten sich). Noch mehr Länder weigern
sich, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, so dass nur
die NATO-Mitglieder und einige enge Verbündete an der
Wirtschaftsblockade beteiligt sind.
Die Öffentlichkeit im GS ist wiederum schockiert über
das, was sie als europäische Doppelmoral wahrnimmt:
Hunderttausende Geflüchtete aus der Ukraine werden an
der Ostgrenze Europas mit offenen Armen empfangen.
Währenddessen wurden, um nur ein Beispiel zu nennen,
Dutzende, die ebenfalls vor Krieg und Hunger fliehen, am
24. Juni 2022 in Melilla getötet, als sie versuchten, an der
EU-Außengrenze zu Marokko europäisches Hoheitsgebiet
zu erreichen.
Zu Beginn der Europäischen Entwicklungstage am
20. Juni 2022 erinnerte die Europäische Kommission die
Entwicklungsländer daran, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten mit circa 70 Milliarden Euro der weltweit größte
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
27
Geber öffentlicher Entwicklungshilfe sind. Doch wie der
ehemalige stellvertretende UN-Generalsekretär Stephen
Cutts in der Financial Times schrieb, „kann man diesen
Zahlen leider nicht trauen“ 1. In den letzten Jahren haben die
Geberländer die Buchhaltungsverfahren geändert, indem
sie ihren tatsächlichen Beiträgen überhöhte Schätzungen
des „Subventionsäquivalents“ ihrer Darlehen (die die Entwicklungsländer zurückzahlen) sowie Kreditgarantien, die
nie ausgezahlt wurden, hinzufügten. Außerdem wurden
ausländische Investitionen als Entwicklungshilfe angerechnet, die daraus resultierenden Erträge aber nicht abgezogen. Auch wurde die Spende von Corona-Impfstoffen, die
kurz vor dem Verfallsdatum standen, als Entwicklungshilfe
verbucht, und zwar zu einem Preis pro Impfstoff, der im
Durchschnitt doppelt so hoch ist wie der, den die europäischen Länder dafür bezahlten, als sie viel mehr kauften
als benötigt.
Rassismus zum Schutz von
Unternehmensgewinnen?
Europa hat beim Treffen der Welthandelsorganisation
(WTO) den Profiten der großen Pharmaunternehmen
Vorrang vor dem indisch-südafrikanischen Vorschlag
eingeräumt, auf geistige Eigentumsrechte an Impfstoffen,
Arzneimitteln und Behandlungen gegen Covid-19 zu verzichten – eine Initiative, die es beispielsweise Afrika ermöglichen sollte, durch die Herstellung eigener Impfstoffe
Leben zu retten.
Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung stellte im April 2022 fest, „dass die unverhältnismäßigen Auswirkungen der Pandemie in Form
von höheren Morbiditäts- und Mortalitätsraten zu einem
erheblichen Teil auf die Folgen der historischen Rassenungerechtigkeit der Sklaverei und des Kolonialismus zurückzuführen sind“. In der Resolution dieses UN-Gremiums
werden Deutschland, die Schweiz, das Vereinigte Königreich und die USA ausdrücklich als Länder genannt, die
es versäumt haben, Technologietransfers durch national
ansässige Pharmaunternehmen sicherzustellen.
Schlimmer noch: Als südafrikanische WissenschaftlerInnen die genetischen Informationen der Omicron-Variante identifizierten, sequenzierten und ihre Informationen
weitergaben – und damit ihren vertraglichen Verpflichtungen zur Pandemieprävention nachkamen –, wurde ihr Land
sofort mit ungerechtfertigten Reiseblockaden und massiven Einbußen im Tourismus bestraft. Derweil erzielen die
Pharmakonzerne, die auf Grundlage dieser Informationen
Impfstoffe entwickeln, Milliardengewinne und sind nicht
verpflichtet, ihre Rezepte weiterzugeben. Sie sind durch das
Recht am geistigen Eigentum geschützt, welches die EU um
jeden Preis verteidigt.
In ähnlicher Weise blockieren Industrieländer bei den
derzeitigen Klimaverhandlungen alle Vorschläge zur weiteren Untersuchung von Verlusten und Schäden, die Länder
des GS durch den Klimawandel erlitten haben. Die knappen Hilfen, die ihnen im Kampf gegen den Klimawandel
bereitgestellt werden, sind auf die Eindämmung des Klimawandels (bspw. durch Verringerung oder Begrenzung
der bereits niedrigen Emissionen der Entwicklungsländer)
und nicht auf die Anpassung an den Klimawandel ausge-
28
Schwerpunkt
legt – was viele Länder des GS aber dringender benötigen
würden.
Weniger CO2, aber nur
innerhalb der Festung EU
Die Europäische Union ist dabei, im Alleingang einen
CO₂-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) einzuführen – eine Steuer
auf importierte Waren, die auf den EU-Märkten verkauft
werden, auf der Grundlage ihres Kohlenstoffgehalts. Eine
solche Maßnahme könnte dazu beitragen, Emissionen zu
verringern und die Wettbewerbsbedingungen für in der EU
ansässige Unternehmen zu verbessern. Der damit verbundene Handelsprotektionismus könnte Entwicklungsländern
aber schaden. Diese werden zur Kompensation mehr produzieren müssen und dabei mehr Kohlenstoff verbrennen.
Darüber hinaus hat die Gender and Trade Coalition (GTC),
ein Zusammenschluss von FeministInnen aus dem GS, beobachtet, dass die europäischen VerhandlungsführerInnen
auf der jüngsten WTO-MinisterInnenkonferenz in Genf die
Subventionen für einkommensschwache, ressourcenarme
FischerInnen in Entwicklungsländern stark einschränkten,
während Industrieländer industrielle Fischereiaktivitäten
bis auf Weiteres mit unvermindert hohen Subventionen
unterstützen dürfen. Die GTC stellte fest, dass „die Pandemie und die derzeitige Nahrungsmittelkrise von der EU
und anderen genutzt werden, um auf eine weitere Öffnung
der Agrarmärkte im GS zu drängen und gleichzeitig die
Interessen der in ihren Ländern ansässigen Agrarindustrie
zu schützen“ 2.
Unberechtigte Invasion(en)
Keiner der oben genannten Missstände entbindet Russland von seiner Verantwortung. Sie rechtfertigen nicht das,
was der ehemalige US-Präsident George W. Bush als „die
Entscheidung eines einzelnen Mannes, eine völlig ungerechtfertigte und brutale Invasion in den Irak zu starten“
bezeichnete. Bush korrigierte sich schnell und sagte: „Ich
meine in die Ukraine“, kicherte und murmelte „auch den
Die fünf ständigen Mitglieder des
Sicherheitsrats (die USA, Russland, China,
Frankreich und das Vereinigte
Königreich) sind zwar ebenfalls dem
Völkerrecht verpflichtet, genießen aber
dank ihres Vetorechts eine ständige
Straffreiheit.
Irak“, während das Publikum lachte. Dieser bereits denkwürdige Fauxpas (oder Freudsche Versprecher) vom 18. Mai
2021 unterstreicht nur eine Tatsache in der Weltordnungspolitik: Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats
(die USA, Russland, China, Frankreich und das Vereinigte Königreich) sind zwar ebenfalls dem Völkerrecht verpflichtet, genießen aber dank ihres Vetorechts eine ständige
Straffreiheit.
Während des Kalten Krieges versuchte der GS, der
erzwungenen Dichotomie zu entkommen, sich selbst zu
schützen und zum Weltfrieden beizutragen, indem er mit
der Bewegung der Blockfreien Staaten einen dritten Raum
schuf. Das Ende des Kalten Krieges weckte Hoffnungen auf
eine „Friedensdividende“ in einer multipolaren Welt mit
China und Europa als neuen Hauptakteuren, die dem GS
Raum böten, um in einer ungerechten Weltordnung ein
besseres Geschäft zu machen.
Quo vadis, Europa?
Doch aus welchen Gründen auch immer hat sich Europa
den ungerechtfertigten Blockaden der Trump-Administration gegen den Iran oder Venezuela angeschlossen oder
konnte sich ihnen nicht widersetzen. Im Januar dieses
Jahres schrieben elf ehemalige PräsidentInnen aus Lateinamerika und Spanien einen gemeinsamen Brief, in dem
sie forderten, „dass der Internationale Währungsfonds die
Verantwortung dafür übernimmt, dass er der [argentinischen] Regierung von Mauricio Macri ein Rekorddarlehen
gewährt hat, das nicht eingehalten werden kann, nur um
ihn bei den nationalen Wahlen zu begünstigen“. Europa hat
es versäumt, diesen eklatanten Verstoß gegen die Statuten
des IWF zu unterbinden, um einen Freund und Geschäftspartner von Donald Trump zu begünstigen. Die damalige
Geschäftsführerin des IWF Christine Lagarde wurde mit
der Berufung an die Spitze der Europäischen Zentralbank
belohnt.
All diese Symptome eines neuen Kalten Kriegs – diesmal
zwischen China und den USA mit Europa als Juniorpartner – waren bereits offensichtlich, bevor der Krieg in der
Ukraine sie noch verschärfte. Die Auswirkungen des Kriegs
auf den GS sind nun aber so groß, dass selbst diejenigen,
die die Invasion verurteilen, eine US-Strategie wittern, den
Krieg künstlich zu verlängern und Russland in eine demütigende Niederlage zu treiben. Bipolarität ist kein ideales
Szenario für die Länder in der Peripherie, aber zwei um die
Vormacht konkurrierende Staaten sind immer noch besser
als eine unipolare Welt ohne Gegengewicht zu derjenigen
Macht, die am Ende alles dominiert.
Roberto Bissio
Roberto Bissio ist ein uruguayischer Journalist und Aktivist.
Er koordiniert Social Watch, ein globales Netzwerk
zivilgesellschaftlicher Organisationen, das die Regierungen
zur Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen in
den Bereichen Armutsbekämpfung und Gleichstellung der
Geschlechter zur Rechenschaft zieht.
Aus dem Englischen von Eileen Roth
1 “Overseas aid statistics are not credible” in der Financial Times
vom 15. Juni: https://www.ft.com/content/dc55dbfa-9b434469-adfe-733072769c38
2 Open Letter from the Gender and Trade Coalition to the
Director-General and Honorable Delegates of the World Trade
Organisation (WTO) ahead of MC12: https://www.wto.org/
english/thewto_e/minist_e/mc12_e/gtc_open_letter.pdf
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
29
Perspektiven aus der Ukraine
E COS P H E R E
Stellen Sie Ihre Organisation kurz vor. Was ist/war
der Schwerpunkt Ihrer Arbeit? Und ist es für Sie noch
möglich, in der Ukraine zu arbeiten?
Die NGO Ecosphere ist eine seit 1999 aktive Umweltschutzorganisation, die in der Karpatenregion der Ukraine tätig
ist. Wir arbeiten in vier Hauptbereichen:
1. Umweltbildung mit Kindern und Jugendlichen
2. Untersuchung von Wald- und Wasserökosystemen, Erhaltung der biologischen Vielfalt und Schaffung von
Schutzgebieten
3. Förderung einer nachhaltigen Entwicklung lokaler
Gemeinschaften in den Bereichen Energie, Abfallwirtschaft und Ökotourismus
4. Umweltvertretung und Lobbyarbeit auf regionaler und
lokaler Ebene
Wir führen Kampagnen zum Schutz der Umweltrechte
und Interessen der Menschen vor Ort und der Natur durch
und beteiligen uns an der Gestaltung der regionalen und
lokalen Umweltpolitik.
Während des Krieges eskalierten einige der Probleme
erheblich. So nehmen beispielsweise die Hausabfälle stark
zu durch die Ankunft vieler Geflüchteter aus den Regionen
der Ukraine mit aktiven Kampfhandlungen. Die existierende Entsorgungsinfrastruktur kann diese Mengen nicht
bewältigen. Auch der Druck auf natürliche Ökosysteme
(zum Beispiel Wälder, Schutzgebiete) ist sehr hoch.
Die Regierung und die Werchowna Rada (Anm. d.
Red.: „oberster Rat“; entspricht dem Parlament) ändern
Gesetze, die Umweltbeschränkungen für die Entwaldung
in großen Mengen in geschützten Wäldern und Nationalparks beseitigen. Auch WirtschaftslobbyistInnen haben in
der Werchowna Rada Initiativen zur Abschaffung strategischer Umweltprüfungsverfahren und zur Vereinfachung
des Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahrens gestartet.
Umweltorganisationen in der Ukraine haben jetzt viel zu
tun. Unsere Organisation arbeitet gerade an einer Methodik zur direkten monetären Abschätzung von Ökosystemleistungen, die durch den Krieg verloren gehen. Heute
brauchen Umweltorganisationen mehr Unterstützung von
internationalen Spendern, da sich lokale Sponsoren auf militärische und soziale Hilfe im Land konzentrieren.
Wie erleben Sie die internationalen Reaktionen aus
der Zivilgesellschaft, aber auch von den Vereinten
Nationen? Haben Sie irgendwelche Appelle oder
Wünsche?
Wir spüren große Unterstützung von den Gesellschaften
in den Nachbarländern der EU, besonders von Polen, und
den Regierungen der baltischen Staaten, Polens, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten. Besonders
die gesammelten Mittel und die humanitäre Hilfe für die
Geflüchteten ist zu spüren. In der ganzen Region ist die
Bevölkerung seit Kriegsbeginn um 30 % gewachsen.
Der Krieg hat gezeigt, dass die Vereinten Nationen eine
schwache, nutzlose Organisation ist, die den Bedürfnissen
und Herausforderungen der modernen Welt nicht mehr
gerecht wird. Wir glauben, dass diese Organisation radikal
reformiert oder liquidiert werden muss.
Unser Appell an ausländische Regierungen und die EU
kann nur darin bestehen, ein Öl- und Gasembargo gegen
Russland zu verhängen oder Zölle auf russisches Öl und
Gas zu erheben, damit der Ölverkauf nicht den Krieg finanziert. Wir streben auch die Mitgliedschaft der Ukraine in
der EU und den Fortschritt der ukrainischen Wirtschaft in
Richtung des europäischen grünen Kurses zusammen mit
allen EU-Ländern an.
Der russische Krieg tötet Menschen, zerstört
Städte und den sozialen Fortschritt. Haben Sie eine
Perspektive für ihre Arbeit und die Gesellschaft?
Unserer Meinung nach hat die Ukraine jetzt die Chance,
durch die Verwendung der neuesten Technologien in der
Industrie, den Aufbau moderner Infrastruktur, den Wiederaufbau zerstörter Städte unter Berücksichtigung moderner Ansätze der Stadtplanung, durch Energieeffizienz von
Gebäuden, durch Erneuerbare-Energien-Technologie, neue
Netze und vieles mehr eine moderne Ukraine zu werden.
Zerstörte Städte und Infrastruktur sind nicht nur Verluste,
sondern auch eine Chance, nach dem Krieg alles wieder
aufzubauen, sich von der sowjetischen postkolonialen Vergangenheit zu verabschieden und ein neues Leben in der europäischen Familie der zivilisierten Nationen zu beginnen.
Mehr Infos zu der Arbeit Ecosphere
unter: www.ekosphera.org
30
Schwerpunkt
Anni Spratt/Unsplash
INFLATION UND
ENTLASTUNGS
PAKETE IN
DEUTSCHLAND
Katalysatoren der sozialen Ungleichheit
Am 24. Februar sind russische Truppen in die Ukraine einmarschiert.
Seitdem herrscht Krieg. Die Folgen reichen in vielfältiger Weise über die
Ukraine hinaus, auch bis nach Deutschland. Die Preissteigerungen für
Energie und Lebensmittel belasten insbesondere einkommensschwache
Haushalte. Die Entlastungspakete der Bundesregierung sind sozial unausgewogen und unzureichend, um einen Anstieg von Armut und sozialer
Ungleichheit zu vermeiden.
D
ie Leidtragenden des russischen Angriffskriegs
sind in erster Linie die Menschen in der Ukraine.
Tod, Vertreibung, Zerstörung von Städten und Infrastruktur bis hin zu unerträglichen Kriegsverbrechen sind täglich in den Nachrichten sichtbar. Dies sind
die unmittelbaren Resultate des verbrecherischen Angriffs-
kriegs. Aber die Folgen des Krieges reichen auch bis nach
Deutschland. Das zeigt sich zunächst in der Aufnahme von
Geflüchteten aus der Ukraine. 1 Menschen in Not müssen
untergebracht und versorgt werden. Hier zeigen sich sowohl
die deutsche Regierung als auch die Zivilgesellschaft bisher
erfreulich offen. Ukrainische Geflüchtete haben seit dem 1.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
31
Juni Zugang zu den Leistungen der regulären Grundsicherung und werden nicht auf das Asylbewerberleistungsgesetz
verwiesen. Sie werden damit in Deutschland lebenden bedürftigen Menschen gleichgestellt. Damit wird eine zentrale Forderung u. a. des Paritätischen Gesamtverbandes
zumindest für diese Gruppe von Geflüchteten umgesetzt. 2
Steigende Armut in Deutschland
Deutschland ist ein reiches Land, ein Land mit einem ausgebauten Sozialstaat. Und: Deutschland lebt in Frieden mit
seinen Nachbarn. Aber Deutschland ist auch ein gespaltenes Land mit erheblichen sozialen Problemen. Das zusammenfassende Merkmal lautet: Armut. Der Paritätische
Gesamtverband dokumentiert diese Entwicklung mit einer
gewissen Tradition einmal im Jahr. Eine zentrale Erkenntnis: Trotz einer vergleichsweise günstigen wirtschaftlichen
Entwicklung mit fallenden Arbeitslosenzahlen – zumindest
bis vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 – hat
die Armut in diesem Land weiter zugenommen. Um einige
Zahlen zu nennen: Nach dem bislang jüngsten Armutsbericht für das Jahr 2020 waren 16,1 Prozent der Menschen in
Deutschland arm; das entspricht 13,4 Millionen Menschen,
die von weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens leben müssen. 3
Armut äußert sich in verschiedenen Mangellagen. So
gab es schon vor Corona und dem Krieg Energie- und Ernährungsarmut. Bei den Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände mehren sich die Hinweise auf Zahlungsprobleme
bei den Energiekosten. 2020 gab es 230.000 Strom- und
24.000 Gassperren. Ähnlich im Bereich der Ernährung:
Die Leistungen der Grundsicherung reichen für eine gesundheitsförderliche Ernährung nicht aus. Gemeinnützige
zivilgesellschaftliche Akteure wie die Tafeln müssen immer
mehr die Rolle eines sozialpolitischen Lückenfüllers übernehmen – eine Aufgabe, für die sie nicht geschaffen wurden
und die sie auch zunehmend überfordert.
Preissteigerungen bei existenziellen Gütern
Dies ist der Hintergrund, vor dem Haushalte in den vergangenen Jahren die Corona-Pandemie überstehen mussten.
Und nun kommen zusätzlich die – auch durch den Krieg
verursachten – Preissteigerungen hinzu. Die Preise im Mai
2022 sind gegenüber dem Vorjahr um 7,9 Prozent gestiegen.
Die Inflation wird dabei vor allem von den zunehmenden
Kosten für die Energie getrieben. Dies betrifft einerseits
die Haushaltsenergie – Strom, Heizung –, andererseits die
Treibstoffpreise. Die Energiepreise sind ebenso wie die Lebensmittelpreise im Zusammenhang mit dem Krieg steil
nach oben gegangen. Der tatsächliche oder auch schon der
erwartete Mangel an Energie und Lebensmitteln führt zu
Spekulationen, die die Preise weiter hochtreiben. Das spüren nunmehr alle, sobald sie einkaufen gehen.
Steigende Preise betreffen im Grundsatz alle KonsumentInnen. Allerdings belasten sie die Menschen in
einem sehr unterschiedlichen Maße. Ein wohlhabender
Haushalt mit einem hohen Einkommen verbraucht in der
Regel sein Einkommen nicht, im Gegenteil: Er spart. Wenn
die Preise steigen, führt dies bei diesen Haushalten kaum
zu Einschränkungen. Ganz anders sieht die Situation bei
Haushalten mit geringen Einkommen aus: Diese Haushalte
32
Schwerpunkt
kommen schon heute kaum mit ihrem Geld aus und haben auch keine Vermögen, von denen sie zehren könnten.
Zudem geben Haushalte mit wenig Einkommen proportional deutlich mehr für lebensnotwendige, existenzielle
Güter aus. Zu den existenziellen Gütern zählen Wohnung
inklusive Energiekosten, Kleidung und Lebensmittel. Zwei
Drittel der Ausgaben von Haushalten mit einem Einkommen unter 1.300 Euro dienen der Befriedigung dieser existenziellen Bedarfe – während bei Haushalten mit hohem
Einkommen (hier: 5.000 Euro und mehr) der Anteil bei
gerade mal 45,7 Prozent liegt. Aktuell werden ausgerechnet
Energie und Nahrungsmittel besonders teurer. Güter, auf
die nicht verzichtet werden kann.
Es ist offenkundig, dass einkommensschwache Haushalte bei der Bewältigung der steigenden Preise umfänglich
unterstützt werden müssen, wenn eine Vertiefung der sozialen Spaltung vermieden werden soll. Dies gilt zunächst im
Grundsatz für alle einkommensschwachen Gruppen – insbesondere aber für Menschen, die von Hartz IV, der Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung oder von
den Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes leben.
Diese Menschen mussten sich bereits vor den Preissteigerungen mit einem Leben in Armut und Unterversorgung
begnügen. Die Grundsicherungsleistungen sind zum 1. Januar 2022 um weniger als ein Prozent (!) angehoben worden – eine Anpassung weit unterhalb der aktuellen Inflation. Im Ergebnis können sich die Betroffenen immer weniger
leisten. Die Not steigt. Menschen im Niedriglohnbereich
profitieren demnächst von der Anhebung des Mindestlohns
auf 12 Euro/Stunde. Statt mit dieser Maßnahme aber soziale Ungleichheit bei den Löhnen zu reduzieren, wird die
Lohnsteigerung zur Kompensation der steigenden Kosten
gebraucht. Ähnlich ist die Lage bei den RentnerInnen und
BAföG-Beziehenden. Anstehende Leistungsanpassungen
werden durch die Inflation mehr als aufgefressen.
Entlastungspakete der Bundesregierung
Die Notwendigkeit zur Entlastung der Haushalte ist auch
bei der Bundesregierung angekommen. Mit den beiden Be-
Deutschland ist auch ein
gespaltenes Land mit erheblichen
sozialen Problemen. Das
zusammenfassende Merkmal
lautet: Armut.
schlüssen des Koalitionsausschusses am 23. Februar und
am 23. März wurde ein umfängliches Entlastungspaket mit
einem Gesamtwert von 28,9 Mrd. Euro geschnürt. Davon
sollen 23,6 Mrd. Euro private Haushalte entlasten. 4 Die finanziell wichtigsten Maßnahmen sind dabei:
» eine einkommensteuerpflichtige Energiepreispauschale
für Erwerbstätige in Höhe von 300 Euro (7,9 Mrd. Euro)
» die Senkung der Einkommenssteuer (4,4 Mrd. Euro)
» die Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe (3,4 Mrd.
Euro)
» die Abschaffung der EEG-Umlage (2,6 Mrd. Euro für
private Haushalte)
» ein 9-Euro Ticket für den ÖPNV – für insgesamt drei
Monate (3,0 Mrd. Euro)
» ein Einmalbonus von 100 Euro pro Kind (1,5 Mrd. Euro)
Speziell auf die Bedürfnisse von Menschen im Grundsicherungsbezug sind lediglich eine Einmalzahlung in Höhe
von 200 Euro (1,1 Mrd. Euro) und der Sofortzuschlag für
Kinder in der Grundsicherung in Höhe von 20 Euro/Monat (0,5 Mrd. Euro) ausgerichtet. Für Haushalte jenseits
der Grundsicherung (Wohngeldberechtigte, Studierende
und Auszubildende) gibt es einen einmaligen Heizkostenzuschuss (0,4 Mrd. Euro). Die Einmalleistung an Grundsicherungsbeziehende ist völlig unzureichend und reicht
nicht einmal ansatzweise, um die verringerte Kaufkraft zu
kompensieren. Eine Einmalleistung verpufft zudem schnell
und kann kein Ersatz für eine dauerhafte Anhebung der
Leistungen sein. RentnerInnen und Studierende – ebenfalls
in der Regel einkommensschwache Gruppen – sind bei der
Einmalleistung komplett ignoriert worden.
Die Maßnahmen können hier nicht auf ihre Wirksamkeit und ihre Sinnhaftigkeit hin diskutiert werden. Zentral
ist aber: Das Paket zeichnet sich dadurch aus, dass mit der
Gießkanne Geld zur allgemeinen Entlastung verteilt wird.
Es fehlt dem Gesamtpaket eine Bedarfs- oder Einkommens
orientierung. Zum Teil werden mit den Maßnahmen der
Steuersenkung sogar einkommensstärkere Gruppen besonders begünstigt. Die Analyse des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW) belegt, dass die Maßnahmen
der Bundesregierung unter dem Strich die soziale Ungleichheit eher verstärken als reduzieren.
Aus dieser Bewertung ergibt sich folgerichtig der Maßstab für eine sinnvolle Entlastungspolitik. Diese muss die
bestehenden sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft
zur Kenntnis nehmen. Eine offensive Sozialpolitik muss
fokussiert Leistungen für Menschen in Armutslagen verbessern – anstatt Geld nach dem Prinzip Gießkanne zu
verteilen.
Dr. Andreas Aust
Dr. Andreas Aust ist sozialpolitischer Referent in
der Paritätischen Forschungsstelle des Paritätischen
Gesamtverbands in Berlin.
1 Vgl. https://www.der-paritaetische.de/themen/migration-undinternationale-kooperation/ukraine/
2 Die damit einhergehende Ungleichbehandlung von Geflüchteten
unterschiedlichen Ursprungs wird in dem Artikel „SchwarzWeiß Denken – Empathie und Solidarität in Zeiten des UkraineKrieges“ auf Seite 45 behandelt.
3 Vgl. Pieper, Jonas u. a. (2021): Armut in der Pandemie.
Der Paritätische Armutsbericht 2021. Berlin: Paritätischer
Gesamtverband.
4 Vgl. Bach, Stefan und Knautz, Jakob (2022): Hohe Energiepreise:
Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker
belastet als reichere Haushalte, in: DIW Wochenbericht 17/2022,
S. 243 – 251; Schneider, Ulrich (2022): Ampel-Entlastungspaket:
Das Prinzip Gießkanne. In: Blätter für deutsche und
internationale Politik 6/2002, S. 13 – 16.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
33
Gayatri Malhotra/Unsplash
MÄNNER KÄMPFEN,
FRAUEN FLIEHEN
Geschlechterrollen im Kontext von Krieg und
feministischer Außenpolitik
Die Realität zeigt, dass Männer und Frauen AkteurInnen in Kriegen
sind. Trotzdem bleibt Krieg ein patriarchales Machtinstrument im zwischenstaatlichen Konkurrenzkampf um Einfluss und Dominanz. Fehlende
Geschlechtergerechtigkeit gepaart mit Nationalismus und Militarismus
verstärkt die gesellschaftliche Akzeptanz von Krieg und Gewalt. Dagegen stellt feministische Außenpolitik nicht die staatliche, sondern die
menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt, d.h. gerechte Strukturen und
die Überwindung von sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Diesen Prinzipien muss der Wiederaufbau in der Ukraine folgen.
34
Schwerpunkt
M
änner kämpfen, Frauen fliehen. Dieser Eindruck drängt sich angesichts des russischen
Angriffskriegs gegen die Ukraine auf. Krieg ist
Männersache. Er wird in der Regel von mächtigen Männern beschlossen und von Soldaten geführt. Flucht
ist unmännlich. Zwischen Männlichkeit und Kriegsgewalt
wird auf diese Weise ein Zusammenhang geschaffen. Ukrainischen Männern ist es deshalb verboten, das Land zu
verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Das gilt auch für
Transfrauen. Im Gegensatz dazu können Frauen wählen, ob
sie bleiben oder fliehen. In beiden Fällen besteht die Gefahr,
dass viele von ihnen sexualisierte und geschlechtsbasierte
Gewalt entweder durch die feindlichen Besatzer oder auf
der Flucht erfahren.
In der ukrainischen Armee beträgt der Frauenanteil 15
Prozent (Bundeswehr 13 Prozent). Er ist seit der Annexion
der Krim ständig gewachsen. In einem Interview mit der taz
sagte die ukrainische Genderforscherin Marta Havryshko,
dass die Armee inzwischen für Frauen zu einem attraktiven
Arbeitsmarkt geworden sei. Manche von ihnen betrachteten die Armee als einen Ort, an dem Geschlechterrollen
herausgefordert werden könnten. 1
Stereotype Geschlechterbilder
befördern die Akzeptanz von Gewalt
Trotzdem bleibt Krieg immer ein patriarchales Machtinstrument, das traditionelle Geschlechterrollen und –stereotype befördert. Dahinter steht das patriarchale Verständnis, dass nicht nur Diplomatie, sondern auch Militär und
Waffen legitime Mittel von Staaten sind, um ihre Interessen
durchzusetzen, ihren Einfluss zu stärken und Dominanz im
zwischenstaatlichen Konkurrenzkampf zu beweisen. Der
völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine ist
ein Beweis dafür.
Geschlechtergerechtigkeit hat in solchen Kontexten
keinen Platz. Sie wird eher verhindert als gefördert. So
geschehen in Russland, wo die Gleichberechtigung aller
Geschlechter zugunsten traditioneller patriarchaler Geschlechterverhältnisse zurückgedrängt worden ist. Gepaart
mit Nationalismus und Militarismus besteht die Gefahr,
dass stereotype Familien- und Geschlechterbilder (starker
Mann, der schwache Frau beschützen muss) die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt legitimieren. In Kriegssituationen wie in der Ukraine führt diese Kombination
zu sexualisierter Gewalt, nicht nur gegen Frauen, sondern
auch gegen Männer. Sie wird als Kriegswaffe eingesetzt, um
die Betroffenen zu entehren, zu demütigen und zu demoralisieren. Das Ziel ist die Zerstörung der Gemeinschaft. Im
Gegensatz dazu sind geschlechtergerechte Gesellschaften
stabiler und friedlicher, wie die Friedensforschung in zahlreichen Studien gezeigt hat.
Geschlechtergerechtigkeit gerät nicht nur
durch Krieg unter Druck
Doch nicht nur Kriege und Konflikte bedrohen bisher errungene und weitere Fortschritte für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Das hat die Corona-Pandemie gezeigt, in der
Frauen die Hauptlast der zusätzlichen Haus- und Sorgearbeit übernommen und beruflich zurückgesteckt haben.
Gleichberechtigung ist vor Rückschritten nicht gefeit.
Weltweit gewinnen Antifeminismus und Anti-Genderbewegungen an Akzeptanz – auch weil sie sich strategisch aufstellen und international vernetzen. Treiber sind
Lebensschutz-Bewegungen, konservative religiöse Kräfte,
RechtspopulistInnen und ihre Organisationen sowie autoritäre, nationalistische Staaten. Sie propagieren die traditionelle Familie als Keimzelle der Gesellschaft und Ausdruck
einer natürlichen, ja sogar göttlichen Ordnung. Das Patriarchat lässt grüßen!
Feministische Außenpolitik
für menschliche Sicherheit
Eine feministische Außenpolitik, wie sie sich die Bundesregierung in den Koalitionsvertrag geschrieben hat, muss solchen Tendenzen entgegenwirken, die erneut Gewalt gegen
Frauen in all ihrer Diversität und weiteren von politischen
Entscheidungen und Macht ausgeschlossenen Menschen
in sich tragen. Ziel muss sein, die durch Rassismus, Kolonialismus, Sexismus und Klassismus geprägte strukturelle Gewalt, die weltweit Frauen, immerhin die Hälfte der
Menschheit, sowie marginalisierte Menschen und Gruppen
wie beispielsweise LGBTIQ+, Indigene, Menschen mit Behinderung oder alte Menschen systematisch diskriminiert,
zu überwinden. Das gilt auch für die Sicherheitspolitik. Es
darf nicht länger sein, dass die Sicherheit von Staaten, basierend auf militärischen Machtstrukturen und Waffen,
Vorrang hat vor der Sicherheit von Menschen. Menschliche Sicherheit basiert auf gerechten Strukturen, die sozialen
und wirtschaftlichen Ungleichheiten entgegenwirken, auch
über staatliche Grenzen hinaus.
In Zeiten des Krieges wächst die Gefahr, dass feministische Diskurse als unbedeutend abgewertet und ins Abseits
gedrängt werden, wie es Friedrich Merz bspw. in Bezug
auf feministische Außenpolitik bei seiner Rede zum Sondervermögen der Bundeswehr im Bundestag am 23. März
tat. Gerade angesichts der hemmungslosen Demonstration
von Macht und Gewalt, die Russlands Krieg in der Ukraine
offenbart, muss das Ziel bleiben, Konflikte, Kriege und Gewalt innerhalb und zwischen Gesellschaften zu überwinden
und in den Frieden zu investieren. Die Staatengemeinschaft
hat den Krieg in der Ukraine nicht verhindern können.
Sie kann jedoch dafür sorgen, dass der Wiederaufbau den
Prinzipien einer feministischen Außenpolitik folgt, inklusiv gestaltet wird und die Sicherheit von Menschen in den
Mittelpunkt stellt.
Feministische Außenpolitik kann nur transformativ
wirken, wenn die vielfältigen und komplexen Realitäten
und Erfahrungen der Menschen politisches Handeln bestimmen. Die patriarchale Weltsicht vorwiegend weißer
Männer greift da viel zu kurz.
Carsta Neuenroth
Carsta Neuenroth ist Gender-Referentin in der
Politikabteilung von Brot für die Welt.
1 https://taz.de/Expertin-ueber-Krieg-und-Geschlecht/!5848696/,
13.4.2022
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
35
Stuart Hampton/Pixabay
ZEITENWENDE
WOHIN?
Frieden und Nachhaltigkeit gehören zusammen
Wir leben in einer Welt im Umbruch, auch als Epochenwandel und Zeitenwende beschrieben, in der das Alte an Einfluss verliert und das Neue
sich noch nicht etabliert hat. Einige dieser Wendepunkte sind die Krisen, Konflikte und Katastrophen in Folge der von Europa ausgehenden
Jahrhunderte langen Expansion. Diese Expansion führt auch zum Überschreiten der planetaren Grenzen, was Klimawandel, Artensterben und
andere Umweltbelastungen auslöst, und der ökonomischen, sozialen und
politischen Grenzen, was gesellschaftliche Spaltungen verstärkt, zwischen Arm und Reich, Mächtigen und Ohnmächtigen, Stadt und Land,
Nord und Süd. Krisen verschärfen solche Spaltungen, schaffen Ungleichheit und Unzufriedenheit, die den sozialen und internationalen Frieden
gefährden, wodurch populistische und autokratische Strömungen mobilisierbar sind.
36
Schwerpunkt
B
eim Übergang vom bipolaren Ost-West-Konflikt
nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 über eine
unipolare in eine multipolare Welt entstanden neue
Machtkämpfe und Gewaltkonflikte. Dies zeigten
Konflikte im Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion in
den 1990er-Jahren, die Kriege im Irak und in Afghanistan
nach dem 11. September 2001 oder die komplexen Konfliktlandschaften der 2010er-Jahre (Arabischer Frühling,
Subsahara-Afrika, Ukraine). Die Finanzkrise von 2008
verschärfte weitere vernetzte Problemfelder der Globalisierung: Armut und Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung, Krankheit und Seuchen, Gewalt und Kriminalität,
Energie- und Nahrungsmittelkrisen, Umweltrisiken und
Klimawandel. Damit verbunden ist der Anstieg von Krisenindikatoren wie die Zahl von Flüchtlingen, Gewaltkonflikten und Militärausgaben, die 2021 Höchstwerte erreichten.
Durch Kipppunkte und Risikokaskaden strahlen Krisen
auf andere Krisen aus und können wie bei einer Infektion
eine Kettenreaktion in Gang bringen. Sie können sich zu
Megakatastrophen verdichten wie Wirtschafts-Crash, Klimakollaps, Atomkrieg oder Pandemien.
Ukraine-Krieg als Krisen-Multiplikator
Während die kooperative Bewältigung der globalen Probleme und Krisen dringend erforderlich ist, multipliziert
der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Probleme in katastrophaler Weise. Er löst Eskalationsspiralen an der Schwelle zum Weltkrieg oder gar Atomkrieg
aus, einen Wirtschaftskrieg mit härtesten Sanktionen,
Inflation und Lieferkettenausfällen, einen Anstieg von
Lebensmittel- und Energiepreisen sowie von Rüstungsausgaben. Er hinterlässt zerstörte Städte, zahlreiche Tote
und Verwundete und Millionen Flüchtlinge und gefährdet
die Existenz der ärmsten Menschen. Die Lage erinnert an
die Umbrüche vor hundert Jahren, mit Erstem Weltkrieg,
Spanischer Grippe, Weltwirtschaftskrise und Faschismus,
der zum Zweiten Weltkrieg führte. Damals wie heute geht
es auch um die Kontrolle fossiler Energieträger im industriellen Zeitalter. Während die fossile Energieinfrastruktur in Friedenszeiten die Volkswirtschaften in Ost und
West verband, dient sie in Kriegszeiten als Kampfmittel,
Konfliktziel und Finanzinstrument. Aufgrund der Abhängigkeiten von fossiler Energie aus Russland trifft deren
Sanktionierung auch die eigene Wirtschaft und fördert
soziale Verwerfungen.
Der Nexus aus Klima und Krieg
Klimawandel ist Teil des Nexus vernetzter Probleme. Wie
der Weltklimarat (IPCC) in der zweiten Arbeitsgruppe seines Sechsten Sachstandsberichts 2022 aufzeigt, wird bei einer ungebremsten Erhitzung unseres Planeten die menschliche Sicherheit und gesellschaftliche Stabilität gefährdet,
durch Verluste von Ökosystemen und lebenswichtigen
Ressourcen, Stürme und Überflutungen, Hitzewellen und
Dürren, Kipppunkte und Dominoeffekte im Klimasystem.
In Brennpunkten des Klimawandels werden sie mit Gewaltkonflikten und Vertreibungen in Zusammenhang gebracht
und erschweren kooperative Lösungen zur Bewältigung der
Klimakrise. Es droht eine gegenseitige Verstärkung von Klimarisiken und Konfliktrisiken.
Rüstung und Krieg sind eng mit dem fossil-nuklearen
Zeitalter verbunden. Sie sind für Umwelt und Klima schädlich, durch Schadstoffe und Emissionen, den Verbrauch
und die Zerstörung natürlicher Ressourcen, die Vernichtung von Infrastruktur, die wiederaufgebaut werden muss.
Durch Aufrüstung und steigende Militärausgaben fehlen
Mittel für die Bewältigung der Umwelt- und Klimakrise.
Angriffe auf Nuklearanlagen sind hoch riskant, Atomwaffeneinsätze können das Weltklima destabilisieren und die
Menschheit auslöschen.
Zeitenwende zum nachhaltigen Frieden
Während die nachsorgende und teure Schadensbekämpfung den zukünftigen Handlungsraum einschränkt, kann
das Verhältnis von Mensch und Natur besser durch präventive Schadensvermeidung und zukunftsorientierte Lösungen gestaltet werden. Statt einer Zeitenwende für Rüstung
und Krieg, die geopolitische Machtkämpfe und den schon
zuvor eingeschlagenen Aufrüstungskurs forciert, um die
bestehende Ordnung zu verteidigen, brauchen wir eine
Zeitenwende für eine resiliente Energieversorgung und
nachhaltigen Klimaschutz innerhalb planetarer Grenzen,
die auch der Friedenssicherung dient. Dabei spielen drei
Megatrends eine Rolle: die sozial-ökologische Transformation, der Einfluss des Globalen Südens und die Rolle
sozialer Medien und der Zivilgesellschaft, die sich positiv
oder negativ beeinflussen können.
Synergien zwischen verschiedenen, politischen Handlungsfeldern ermöglichen einen positiven Nexus von
Nachhaltigkeit, Entwicklung und Frieden. So verringert
die Abkehr von den fossilen Energieträgern und die Wende zu erneuerbaren sowohl Gewaltkonflikte als auch die
Auswirkungen der Klimakrise. Der Krieg zeigt die Dringlichkeit einer sozial-ökologischen Transformation, die
auch ein Friedensprojekt sein kann, während umgekehrt
Konfliktbewältigung und Friedenspolitik den Übergang
in eine nachhaltige Welt fördern können. Wir brauchen
eine doppelte Transformation zum nachhaltigen Frieden,
zu der auch globale Dekarbonisierung und nukleare Abrüstung gehören. Dazu müssen die Energie-, Agrar- und
Verkehrswende forciert werden. Das erfordert eine Kraftanstrengung aller gesellschaftlichen Bereiche und braucht
Zeit, Materialien, Rohstoffe, Produktionskapazitäten und
Fachkräfte. Dabei sind Energiekonflikte um Bioenergie,
Windkraftanlagen oder Stromnetze ebenso zu minimieren
wie riskante Abhängigkeiten von strategischen Rohstoffen,
die für Fotovoltaik oder Elektromobilität gebraucht werden. Der Krieg kann die Entwicklung beschleunigen oder
verlangsamen.
Völkerrecht und Globaler Süden
Das Völkerrecht definiert internationale Normen und Regeln und setzt den Rahmen für das friedliche Zusammenleben der Völkergemeinschaft. Es wird durch den Angriff
Russlands auf die Ukraine massiv verletzt. Die Vereinten
Nationen haben nicht die Macht, dies zu verhindern, auch
weil es Verständnis einzelner Staaten für Russland gibt,
und große Teile des Globalen Südens nicht bereit sind,
sich westlichen Koalitionen und deren Forderungen anzuschließen.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
37
Der Krieg zeigt die Dringlichkeit einer
sozial-ökologischen Transformation,
die auch ein Friedensprojekt sein kann,
während umgekehrt Konfliktbewältigung
und Friedenspolitik den Übergang in eine
nachhaltige Welt fördern können.
Viele Staaten im Globalen Süden sehen den Westen
aufgrund ihrer kolonialen Erfahrungen kritisch, werfen
ihm Eurozentrismus, Doppelmoral und Ungerechtigkeit
bei der Durchsetzung seiner Interessen vor, bei Bedarf
auch mit Gewalt und gegen die regelbasierte Weltordnung
wie im Irakkrieg oder durch die Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen (vgl. Artikel von Roberto Bissio in
dieser Ausgabe). Die Interessen ärmerer Länder werden oft
weniger berücksichtigt. Im Gegensatz dazu versucht das
Pariser Klimaabkommen, eine engere Zusammenarbeit
und einen Ausgleich zwischen Nord (Hauptemittent von
CO₂-Emissionen) und Süd (Hauptbetroffener des Klimawandels) zu ermöglichen. Die Implementierung wird durch
Interessendifferenzen erschwert, und der Norden hinkt
mit seinen Verpflichtungen hinterher, bei den nationalen
Selbstverpflichtungen der Emissionsminderung oder der
Zahlung in den Klimafonds von 100 Milliarden Dollar für
ärmere Länder.
Entsprechende Fragen und Differenzen gibt es auch in
anderen Bereichen des Völkerrechts, etwa bei der Beschränkung der Umweltkriegsführung sowie von Genoziden und
Friedensgefährdung durch Umweltzerstörung (Ökozid).
Trotz geopolitischer Machtkämpfe gibt es ein Potenzial zur
Nord-Süd-Zusammenarbeit im Sinne gemeinsamer Sicherheit, die das ökonomische Gefälle und die Verteilungsungerechtigkeit abbaut und Wege in eine lebensfähige und
lebenswerte Welt im gemeinsamen Haus der Erde aufzeigt:
erneuerbare Energien für alle, ökologischer Fußabdruck
innerhalb ökologischer Grenzen, sauberer Wohlstand für
alle und Kohabitation der Nationalstaaten im Rahmen einer
Weltinnenpolitik.
Zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen
und Bündnisse
Der Übergang in eine friedliche, solidarische und nachhaltige Welt ist nicht allein durch staatliche Akteure möglich,
sondern braucht die gesamte Zivilgesellschaft von der lokalen bis zur globalen Ebene. Hierzu gehören Wissenschaft
und Technik, die fossile und nukleare Technologien hervorgebracht haben und nun mit Innovationen zur Problemlösung beitragen können. Bei der Durchsetzung sozialer
38
Schwerpunkt
Innovationen für einen Systemwandel wirken zahlreiche
Protestbewegungen mit. Ihre Zusammenarbeit ist wichtig, insbesondere von Friedens- und Umweltbewegung,
die wie die International Campaign to Abolish Nuclear
Weapons (ICAN) und Fridays for Future politische und
gesellschaftliche Transformationsprozesse anstoßen wollen, um bestehende Verhältnisse zum Kippen zu bringen.
Das Atomwaffenverbot und das Pariser Klimaabkommen
dienen als Bausteine einer Welt ohne Atomwaffen und CO₂Emissionen. Die Frage ist, wie durch soziale Netzwerke eine
kritische Masse erreicht werden kann, die eine Kettenreaktion mit der Folge einer großen Transformation für Frieden
und nachhaltige Entwicklung in Gang setzt.
Prof. Dr. Jürgen Scheffran
Der Autor ist Professor für Integrative Geografie und
leitet die Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit
in Zusammenarbeit mit dem CLICCS-Klimacluster an der
Universität Hamburg.
Links zu weiteren Arbeiten:
https://www.cen.uni-hamburg.de/aboutcen/news/09-news-2022/2022-04-12klimaschutz-frieden-scheffran.html
https://wissenschaft-und-frieden.de/
artikel/krieg-gegen-die-ukraine/
https://wissenschaft-und-frieden.
de/artikel/welt-im-aufruhr/
Dimitris Vetsikas/Pixabay
DIE RUSSISCHE
ZIVILGESELLSCHAFT
IM KRIEG
Kapitulieren und überleben oder Widerstand
leisten bis zum Ende
Die Position der Zivilgesellschaft in Russland ist seit vielen Jahren sehr
verwundbar. Seit dem Beginn des Krieges haben sich die Repressionen
des Putin-Regimes um ein Vielfaches verschärft. Doch die Zivilgesellschaft setzt ihre Arbeit trotz des Drucks und der zunehmenden „Cancel
Culture“ seitens des Staates fort.
D
ie Geschichte der russischen Zivilgesellschaft ist
nicht sehr lang. Aktivismus und eine Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen entstanden
erstmals in den 1990er-Jahren. Schon damals
war die russische Zivilgesellschaft mit verschiedenen Einschränkungen seitens des Staates konfrontiert, was sich
mit der Machtübernahme Wladimir Putins im Jahr 2000
zuspitzte. Bereits zu Beginn seiner Amtszeit wurde die
Meinungsfreiheit unterdrückt. Seitdem haben die Aktivitäten des Staates in Bezug auf die Zivilgesellschaft immer
repressivere Formen angenommen. Dennoch waren zum
Zeitpunkt des Kriegsausbruchs etwa 210.000 zivilgesellschaftliche Organisationen registriert.
Zivilgesellschaft schon vor
dem Krieg unter Druck
Zum ersten Mal wurde die Beziehung zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat spürbar angespannt, als es nach
der Wahl Putins für eine dritte Amtszeit im Jahr 2012 im
ganzen Land zu Protesten kam. Ein Jahr später trat in Russland ein „Gesetz über ausländische Agenten“ in Kraft, das
es dem Staat ermöglicht, die Aktivitäten von allen Orga-
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
39
nisationen einzuschränken, die finanzielle Unterstützung
aus dem Ausland erhalten und sich gleichzeitig politisch
betätigen. Was unter „politische Tätigkeiten“ fällt, wurde
in dem Gesetz sehr weit und vage definiert. Anfang 2021
standen mehr als 200 Organisationen auf der Liste, im Februar 2022 waren es nur noch 73, da viele von ihnen ihre
Tätigkeit bereits einstellen mussten. Dieses Vorgehen des
Staates kommt der Abschaffung der unabhängigen Zivilgesellschaft gleich: Fast alle Organisationen, die eine unabhängige Position vertreten, können dies nur aufgrund
internationaler Finanzierung. Auf der Liste waren auch
Organisationen aufgeführt, die keine direkte internationale Finanzierung erhielten, sich aber in bestimmten Fragen
aktiv gegen die staatliche Politik stellten. Eines der eindrucksvollsten Beispiele für die Anwendung des Gesetzes
ist die Liquidierung von Memorial, einer Organisation, die
seit mehr als 30 Jahren daran arbeitete, die Schicksale der
Opfer der sowjetischen politischen Repressionen sichtbar
zu machen und Menschenrechtsverletzungen im heutigen
Russland aufzudecken.
Im Jahr 2015 trat das „Gesetz über unerwünschte ausländische Organisationen“ in Kraft. Dieses Gesetz ermöglicht es, die Aktivitäten ausländischer Organisationen, die
nach Ansicht des Staates „die verfassungsmäßige Ordnung
der Russischen Föderation, ihre Verteidigungsfähigkeit
oder die Sicherheit des Staates bedrohen“, vollständig zu
unterbinden. Die Liste der unerwünschten Organisationen
umfasst sogar Bildungseinrichtungen wie das Bard College. Auf der Liste stehen aber auch Organisationen, wie der
Deutsch-Russische Austausch e.V., die nach der Annexion
der Krim und dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts
im Donbass versucht haben, die Beziehungen zwischen der
Ukraine und Russland wiederherzustellen.
Der Krieg trifft uns alle
Die Zivilgesellschaft und die unabhängige politische Opposition haben bis zuletzt nicht damit gerechnet, dass die
russische Regierung es wagen würde, einen Krieg gegen
die Ukraine zu beginnen. Als Reaktion auf den von den
russischen Behörden als „besondere Militäroperation“
bezeichneten Angriff auf die Ukraine schickten VertreterInnen verschiedener Gruppen, darunter JournalistInnen,
AnwältInnen, ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und viele andere, vom ersten
Tag an Dutzende offene Briefe, in denen sie ihr Missfallen
über die Taten der russischen Regierung zum Ausdruck
brachten. In den sozialen Netzwerken erschienen Tausende
von Beiträgen, die den Krieg anprangerten. Die Zahl der
Spenden an Nichtregierungsorganisationen und andere
Vereinigungen hat zugenommen, insbesondere an solche,
die Menschen aus der Ukraine helfen. Netzwerke der Zivilgesellschaft veröffentlichten Erklärungen, die sich an die
russische Regierung und die internationale Gemeinschaft
richteten und die Position der russischen Zivilgesellschaft
zum Ausdruck brachten. 1
Überall in Russland fanden Antikriegsaktionen statt.
In mindestens 159 Städten wurden Festnahmen im Zusammenhang mit Protesten registriert. Mehr als 15.000
Menschen wurden festgenommen, darunter Minderjährige, RechtsanwältInnen und JournalistInnen. Allein in den
40
Schwerpunkt
ersten Wochen wurden bereits 39 Strafverfahren wegen
Äußerungen und Protesten gegen den Krieg eingeleitet;
einige der Beschuldigten befinden sich in Haft. 2 Die UnterzeichnerInnen der offenen Briefe mussten Entlassungen
oder den Ausschluss aus Universitäten sowie Drohungen
und andere Formen der Verfolgung befürchten, weil sie
ihre Antikriegshaltung zum Ausdruck gebracht hatten.
Die Wohnungen von AktivistInnen und JournalistInnen
wurden durchsucht. Viele JournalistInnen und Dutzende zivilgesellschaftliche Organisationen beschlossen, ihre
Dienste ins Ausland zu verlegen. Selbst diejenigen, die
sich ursprünglich bereit erklärt hatten, unter restriktiven
Bedingungen zu arbeiten, um den Zugang zu alternativen
Informationen zu ermöglichen, konnten nicht normal weiterarbeiten.
Die meisten unabhängigen 811 Websites und IP-Adressen, die über den Krieg berichteten, wurden innerhalb
eines Monats blockiert, darunter auch „Euronews“. In Folge
der Verabschiedung eines Gesetzes, das für die Verbreitung
falscher Informationen über die Aktionen der russischen
Streitkräfte Haftstrafen von bis zu 15 Jahren vorsieht, stellten viele Medien ihre Arbeit ein oder weigerten sich, über
das Thema zu berichten, darunter auch die „Nowaja Gaseta“, deren Chefredakteur Dmitri Muratow im Jahr 2021
den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Auch beliebte soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter wurden von den
Behörden gesperrt. Generell unternehmen die russischen
Behörden gerade schnelle Schritte in Richtung eines sogenannten souveränen Internets.
An nur einem Tag hat das russische Justizministerium
15 Vertretungen internationaler Organisationen geschlossen, darunter Amnesty International, Human Rights Watch
und Zweigstellen zahlreicher politischer Stiftungen. Darüber hinaus hat sich Russland aus internationalen Institutionen und Konventionen, einschließlich des Europarats,
zurückgezogen oder wurde ausgeschlossen.
Die Arbeit, die im Laufe der
Jahrzehnte geleistet wurde, die
Arbeit, die jetzt geleistet wird,
und die Antikriegsinitiativen
und -aktionen der russischen
Zivilgesellschaft dürfen nicht
vernachlässigt werden.
Die russische Zivilgesellschaft
darf nicht abgehängt werden
Mit der Schließung der internationalen Zahlungssysteme
und dem endgültigen Niedergang des Ansehens der Russischen Föderation hat die russische Zivilgesellschaft enorme
Verluste erlitten, sowohl in Bezug auf ihren Ruf als auch in
finanzieller Hinsicht. Mittlerweile ist die Arbeit der Zivilgesellschaft in vielen Bereichen zum Erliegen gekommen, vor
allem die auf internationale Zusammenarbeit ausgerichteten Tätigkeiten sind fast unmöglich geworden. Die „Cancel
Culture“ für alles Russische hat auch die Zivilgesellschaft
erfasst. Einige fordern den Entzug jeglicher Unterstützung
für Russland, einschließlich der Unterstützung für die unabhängige Zivilgesellschaft. Russische AktivistInnen sehen
sich zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie
ihre Arbeit nicht richtig gemacht hätten und in den letzten
zehn Jahren zugelassen hätten, dass in ihrem Land Propaganda verbreitet und Grundfreiheiten eingeschränkt wurden und dieser Krieg geschehen konnte. Diese Sicht der
Dinge führt zu Uneinigkeit zwischen der russischen und
ukrainischen Zivilgesellschaft und leider auch zwischen
vielen VertreterInnen der internationalen Gemeinschaft.
Die Arbeit, die im Laufe der Jahrzehnte geleistet wurde,
die Arbeit, die jetzt geleistet wird, und die Antikriegsinitiativen und -aktionen der russischen Zivilgesellschaft dürfen
nicht vernachlässigt werden. Die internationale Gemeinschaft sollte nicht unterschätzen, zu was die Zivilgesellschaft selbst unter einem repressiven Regime imstande ist.
Die Schaffung von Freiheiten und Demokratie für Russland
hat sich als schwierige Aufgabe erwiesen, und auf dem Weg
dorthin gibt es noch viel zu tun. Deshalb ist es jetzt notwendig, die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen und sich
mit ihr zu solidarisieren. Nur wenn sich alternative Meinungen innerhalb des Regimes entwickeln und bestehen
können, kann ein positiver Wandel angestoßen und den Taten des jetzigen Regimes, das diesen Krieg ermöglicht hat,
Menschenrechte verletzt, internationale Vereinbarungen
ignoriert und das Leben der Menschen und unseren Planeten zerstört, ein Ende gesetzt werden. Und wie es in der
Erklärung des Forums der Zivilgesellschaft EU-Russland
heißt: „Kein*e zivilgesellschaftliche*r AktivistIn aus Russland darf allein gelassen werden, und jeder von Verfolgung
bedrohte Mensch, der das Land verlassen musste, darf auf
unsere Solidarität und Unterstützung zählen.“
Dr. Nelya Rakhimova
Dr. Nelya Rakhimova ist Gründerin und Geschäftsführerin der
Offenen Schule für nachhaltige Entwicklung (Openshkola),
Koordinatorin der Coalition for Sustainable Development of
Russia (CSDR), Vorstandsmitglied des EU-Russia Civil Society
Forums und Mitglied des ECE-RCEM-Verwaltungsrats. Dieser
Artikel wurde Ende Juni 2022 fertiggestellt und spiegelt die
Situation der russischen Zivilgesellschaft zu dieser Zeit wider.
Aus dem Englischen von Eileen Roth
1 https://eu-russia-csf.org/solidarity-with-ukraine-and-call-forpeace-in-europe/
2 https://reports.ovdinfo.org/no-to-war-en#1
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
41
© Josh Estey/CARE
AUS DEN AUGEN,
AUS DEM SINN?
Welcher Krieg Schlagzeilen macht, bestimmt nicht nur die Aktualität. Warum manche Konflikte so wenig öffentliche Aufmerksamkeit bekommen,
womit Medien das rechtfertigen und was das mit Elon Musk zu tun hat.
V
ertreibung und Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik: 2,8 Millionen Menschen brauchen humanitäre Hilfe. Hunger in Sambia: 1,2
Millionen Menschen haben nicht genug zu essen.
Klimaschocks, Bandengewalt und Migrationsbewegungen
in Guatemala: 3,3 Millionen Menschen benötigen Hilfe.
Und wann hat man zuletzt von einer dieser Krisen gehört?
Seit nunmehr sechs Jahren veröffentlicht CARE eine
jährliche Analyse, die untersucht, welche humanitären Krisen global die wenigste Medienaufmerksamkeit erhalten
haben. Der Bericht „Suffering in Silence“ 1 (Das stille Leiden) ist eine Erinnerung daran, dass es Orte und Kontexte
auf der Welt gibt, die zu wenig Aufmerksamkeit erhalten,
obwohl dort ähnliche Krisen herrschen wie andernorts. Der
Bericht basiert auf allen Krisen, die im Vorjahr mehr als
42
Schwerpunkt
eine Million Menschen betrafen, bei der Quellenlage stützt
sich CARE auf UN-Daten und weitere Analyseportale. Die
10 Länder, die am wenigsten Beachtung finden, werden im
Bericht beleuchtet. Menschliches Leid passt natürlich in keine Rangliste. CARE geht es mit „Suffering in Silence“ auch
nicht um eine Anklage. Er ist vielmehr eine Aufforderung
an alle, an uns als MedienkonsumentInnen, an die Politik,
und natürlich an Medien selbst, sich zu informieren, Räume
zu schaffen für Stimmen vor Ort, und sich zu engagieren.
Leerzeilen in der Berichterstattung,
jedes Jahr aufs Neue
Die meisten Krisen, über die am wenigsten berichtet wird,
liegen auf dem afrikanischen Kontinent. Die Zentralafrikanische Republik ist seit der ersten Publikation 2016 je-
des Jahr in den Top Ten, Burundi und die Tschadseeregion
fehlten nur in einem Jahr in der Rangliste. Daneben gibt
es mediale „blinde“ Flecken in Lateinamerika, teils auch in
Asien. 2020 etwa litten in Pakistan 21 Millionen (!) Menschen unter akuter Nahrungsknappheit und kaum ein Medium berichtete darüber. Aber gibt es nicht auch Krisen,
über die man regelmäßig hört? Ja und nein. In den Kopf
kommt einem vielleicht spontan der Bürgerkrieg in Syrien,
inzwischen in seinem zwölften Jahr. Über die humanitäre Lage in Syrien wurde 2021 etwa 230.000 Mal berichtet.
Die Weltraumflüge von Elon Musk und Jeff Bezos erhielten
ähnlich viel Aufmerksamkeit, da mag man die Relevanz
zumindest einmal infrage stellen. Über Sambia, Platz 1 des
CARE-Berichtes, wurde lediglich 512 Mal berichtet. Auch
vermeintlich viel beachtete Krisen sind im Großen und
Ganzen häufig nur eine Randnotiz der Berichterstattung:
Internationales, und gerade auch Krisen, erhalten weniger
Raum in der deutschen Medienöffentlichkeit. Das liegt auch
an geopolitischen Faktoren, denn News aus den USA oder
europäischen Nachbarländern haben immer Priorität. Und
natürlich spielt es auch eine Rolle, ob JournalistInnen die
betroffenen Gebiete überhaupt bereisen können. Die Covid19-Pandemie hat dafür noch höhere Hürden gebaut.
Der damalige Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke
sprach 2018 mit CARE über die Themensetzung in Redaktionen und bekannte freimütig: „Obwohl die räumliche Entfernung jetzt relativ gleich ist, sind dem deutschen
Publikum zum Beispiel die USA tatsächlich näher als beispielsweise Indien. Da gibt es eine kulturelle Nähe und das
ist auch nichts, wofür man sich entschuldigen müsste.“ Und
er erklärte auch die Sichtweise von Redaktionen, was den
Nachrichtenwert von Ereignissen betrifft: „Nachrichten
zeigen die Abweichung, das Neue. Nur leider ist es eben
so, dass es in bestimmten Regionen der Welt, aufgrund von
Korruption oder Klimafaktoren, häufiger zu Hungerkatastrophen kommt und es ist dort leider fast ein Stück Normalität. Deshalb schenken wir dem auch nicht immer die
gleiche Beachtung, wie etwa dramatischen Ernteeinbußen
irgendwo in Europa.“
Gibt es eine Lösung?
Für den Bericht „Suffering in Silence“ fragt CARE auch
bewusst ExpertInnen nach Lösungsvorschlägen – aus der
Medienbranche, der humanitären Hilfe, der Politik sowie
Betroffene in Krisenländern selbst. Omar Bizo, ein Vertreter der Hilfsorganisation APL aus dem Niger, sagt zum
Beispiel: „Bei einer Katastrophe achten die Medien mehr
auf die Zahl der Todesopfer als auf die Analyse und Darstellung der eigentlichen Ursachen. Wir können aber Leid nicht
einfach nach der Zahl der Todesopfer priorisieren. Wenn
sich ein Medienunternehmen dazu verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz der Sendezeit der Berichterstattung
über diese vergessenen Krisen zu widmen, wäre dies ein
Beispiel für eine positive Veränderung. Es könnte auch jedes Jahr ein Reporterteam in ein vergessenes Krisengebiet
entsandt werden, eine TV-Diskussionsrunde über eine vergessene Krise organisiert oder lokale Journalisten konkret
unterstützt werden.“ Der deutsche Afrika-Korrespondent
Christian Putsch wiederum empfiehlt uns als Hilfsorganisationen: „Es hilft, wenn die emotionale Ebene eng mit
der faktischen verknüpft wird. Wenn zum Beispiel neben
einer reinen Pressemitteilung qualitativ hochwertige Aufnahmen und Schilderungen von Betroffenen mitgeliefert
werden. Das kann bisweilen ein wichtiges Element einer
Berichterstattung sein, […] Generell wünsche ich mir von
Hilfsorganisationen mehr Mut. Zu oft erlebe ich, dass man
sich selbst in Hintergrundgesprächen hinter dem Neutralitätsprinzip versteckt.“
Und plötzlich: ein Krieg mitten in Europa
Seit dem 24. Februar sind die Titelseiten der Zeitungen, die
Hauptsendezeiten im Fernsehen und die Liveticker der Online-Medien selbstverständlich gefüllt mit den Ereignissen
in der Ukraine. Ein Krieg mitten in Europa, eine Kriegspartei, die zudem Atommacht ist, Millionen von Geflüchteten
innerhalb von Tagen, direkt in EU-Nachbarländern oder
Deutschland. Schnell kamen aber auch Stimmen auf, die
von Ungleichbehandlung sprachen – nicht nur im Umgang
mit Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen, der
in Bezug auf die Ukraine wesentlich menschlicher, unbürokratischer und wohlwollender war als für andere Menschen
(vgl. Beitrag von Axel Grafmanns in dieser Ausgabe). Auch
die Intensität der Berichterstattung wurde teils hinterfragt.
Das kann auch innerhalb von internationalen zivilgesellschaftlichen Netzwerken wie CARE zu Diskussionen führen: KollegInnen aus dem Mittleren Osten zeigten sich
überrascht, wie viel Aufmerksamkeit der Krieg bekam –
und die langanhaltenden Kriege in ihrer Region wiederum nicht. Sie hatten Empathie mit den Betroffenen in der
Ukraine, forderten aber die gleiche Aufmerksamkeit für
ihren Kontext. Wobei man der Fairness halber sagen muss:
Auch der Krieg in der Ukraine macht heute, mehr als drei
Monate nach Ausbruch, nicht mehr die gleichen Schlagzeilen wie zu Beginn, selbst in europäischen Medien. Und der
Krieg in Syrien bekam schon immer mehr Aufmerksamkeit
in Medien aus der Region als etwa in Europa. Hier gelten
ebenso die Regeln des Nachrichtenwertes: Ist das Ereignis
neu, ist es für das Publikum regional relevant, hat es globale
Auswirkungen und wie viele Menschen sind betroffen? Das
Gefühl, zu wenig Aufmerksamkeit zu erhalten, ist menschlich absolut nachvollziehbar. Doch als ich den KollegInnen
aus dem Mittleren Osten die Zahlen aus unserem Bericht
„Suffering in Silence“ in Erinnerung rief, war auch klar: Es
gibt leider immer noch Kontexte und Krisen, über die noch
weniger berichtet wird.
Und ist das jetzt Rassismus?
Die Frage ist berechtigt und hochaktuell. Sind Opfer von
Verbrechen weniger interessant für ein heimisches Publikum, wenn sie weit entfernt wohnen oder sehr anders aussehen als man selbst? Ist Afrika nicht eh der „Hunger- und
Elendskontinent“, den wir aufgegeben haben? Das Label
„Rassismus“ ist sicher keins, das man ohne empirische Daten leichtfertig anbringen sollte. Und Medienhäuser sind
eben auch keine karitativen Einrichtungen, sie müssen sich
ein Stück weit auch an den Interessen ihrer KonsumentInnen orientieren, um ihre Auflagen und Klickzahlen zu sichern. Aber sicherlich spielen selektive Wahrnehmung, Stereotype und Klischees auch eine Rolle dabei, wie Betroffene
von Krisen wahrgenommen und medial dargestellt werden.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
43
Es bleibt also eine Daueraufgabe für
uns alle, immer wieder zu vergessenen
Krisen zu blicken. Und Medien, Politik
und Gesellschaft daran zu erinnern, dass
jedes Leid und jede Ungerechtigkeit
Aufmerksamkeit verdienen.
Es gibt diese eine fiktive Szene, die man sich in humanitären Kreisen und unter KriegsreporterInnen immer
mal wieder erzählt, um die Absurdität der Situation zu
zeigen: Ein Journalist kommt ins Kriegsgebiet. „Who has
been raped and speaks English?“ fragt er. Wer wurde vergewaltigt und könne auf Englisch berichten? Nur so wird
das Ganze zu einer Schlagzeile. Fiktiv? Vielleicht. Sicherlich auch zugespitzt. Aber dahinter steht die Logik, dass
menschliche Gräueltaten Empathie hervorrufen, gerade
wenn es um Einzelschicksale geht. Und dass man damit
die redaktionellen Hürden der Berichterstattung überwindet. Sexualisierte Kriegsgewalt ist medial immer ein Thema,
sicherlich auch, weil es eine besonders brutale Form der
Gewalt ist und weil sie meist Frauen betrifft und von Männern verübt wird – hier greifen Vorstellungen von „Opfer“,
„Täter“ und notwendigem „Schutz“ sehr bildhaft. Auch zur
Ukraine überrennen Medien Hilfsorganisationen mit Anfragen dazu, ob wir über Vergewaltigungen berichten könnten oder Kontakte zu Überlebenden herstellen. Alltägliches
Leid wie das der hunderttausenden älteren, mobilitätseingeschränkten Menschen, die im Krieg ihre Häuser nicht
verlassen konnten, oder der schon vorher gesellschaftlich
ausgegrenzten Roma, die keine Papiere haben und bei Hilfsgüterlieferungen übersehen werden, sind weniger gefragt.
Es bleibt also eine Daueraufgabe für uns alle, immer
wieder zu vergessenen Krisen zu blicken. Und Medien, Politik und Gesellschaft daran zu erinnern, dass jedes Leid und
jede Ungerechtigkeit Aufmerksamkeit verdienen.
Sabine Wilke
Die Autorin leitet die Abteilung Kommunikation und
Advocacy bei der Hilfsorganisation CARE Deutschland.
1 https://www.care.de/schwerpunkte/nothilfe/vergessene-krisen/
44
Schwerpunkt
SCHWARZ-WEISS-DENKEN
Empathie und Solidarität in Zeiten des Ukraine-Krieges
Schutzsuchende Menschen erreichen Polen sowohl über die Grenze zu
Belarus als auch aus der Ukraine. Aber die Situationen an den Grenzen,
die Berichterstattung und auch die Hilfsbereitschaft der europäischen
Gesellschaften könnten unterschiedlicher kaum sein.
M
ein Telefon klingelt. „Hallo, hier ist Maja. Wir
kümmern uns um einen jungen Mann aus Syrien an der Grenze Polen zu Belarus. Er ist in der
Sperrzone und kann nicht mehr. Können sie ihn
rausholen?“ Ich muss verneinen und bleibe zurück mit einem mulmigen Gefühl, nichts tun zu können. Die Katastrophe an der Grenze Polen-Belarus ist immer noch die gleiche
wie seit fast einem Jahr. Menschen, die vor Krieg, Hunger
und Elend flüchten, stecken fest im Niemandsland, kommen
nicht vor und nicht zurück und werden schwer misshandelt.
Diejenigen, die es schaffen, erwarten menschenunwürdige
Unterkünfte und eine schnelle Abschiebung. Uns erreichen
Berichte von Hungerstreiks in polnischen Abschiebegefängnissen. Die öffentliche Berichterstattung tendiert quasi gegen Null, der Ukraine-Krieg bestimmt die Schlagzeilen.
Wir packen’s an ist an den Grenzen Polen-Belarus und
Polen-Ukraine gleichermaßen aktiv. Beide Grenzen liegen
nah beieinander. Und doch ist die Situation vor Ort komplett
unterschiedlich. Während an der ukrainisch-polnischen
Grenze Grenzbeamte frierenden minderjährigen Flüchtenden gelegentlich ihre warme Jacke anbieten, bestimmen
an der anderen Grenze Knüppel, Stacheldraht und völkerrechtswidrige Rückweisungen das Geschehen. Werden an
der einen Grenze pragmatische und humane Lösungen gesucht, wird an der anderen eine Mauer mit Überwachungsanlagen gebaut.
An beiden Grenzen fliehen Menschen vor Krieg und
Elend, an beiden Grenzen fliehen Menschen vor dem gleichen Aggressor. Was ist der Unterschied? Die Antwort liegt
auf der Hand. Die Europäische Union selektiert nach Herkunft und Hautfarbe. Der Begriff dafür heißt Rassismus.
Selektive Solidarität
Während für die einen Menschen viel getan wird, um ihnen ein sicheres Überleben fern der Heimat zu ermöglichen,
wo Gesetze geändert, öffentliche Transportmittel kostenfrei
gestellt und private Schlafplätze organisiert werden, wird
vielen Menschen im gleichen Europa sehr viel weniger Gastfreundschaft zuteil. Großbritannien deportiert Menschen
nach Ruanda, im zentralen Mittelmeer ertrinken Menschen,
in der Ägäis werden Menschen illegaler Weise ohne Prüfung ihres Asylbegehrens abgeschoben und in Deutschland
regiert ein Parteienbündnis, das „Abschiebepatenschaften“
im Koalitionsvertrag vereinbart hat.
Noch vor einigen Jahren wurde auf „ZEIT ONLINE“
ernsthaft diskutiert, ob wir Menschen nicht besser ertrinken
lassen sollten, anstatt sie zu retten 1. Das gleiche Gedankenspiel auf die Ukraine bezogen wirkt skandalös und würde
heißen: Sollten wir die Menschen nicht lieber erschießen
lassen, anstatt sie aufzunehmen?
Die Frage ist nun: Warum gelten für den Krieg in der
Ukraine andere Prinzipien? Neu ist nur ein einziger Aspekt:
Der Krieg findet diesmal in unmittelbarer Nähe statt und
betrifft Menschen, die so aussehen wie wir. Die Erkenntnis, dass auch wir einmal zu Flüchtlingen werden könnten,
ist allgegenwärtig. Es sind nicht mehr fremd aussehende
Menschen mit anderer Hautfarbe, die aus einem entfernten
Kriegsgebiet flüchten. Der Krieg ist in der Nachbarschaft
und könnte uns selbst treffen.
Die traurige Wahrheit ist: Nicht Statistiken, nicht die
Dokumentation von Not und Elend, nicht erzähltes Leid
wecken unsere Empathie. Unser Empathie-Trigger wird nur
aktiviert, wenn wir spüren: Wir könnten die Nächsten sein.
Gleiche Rechte für alle Menschen
Was ist nun das Fazit? Wir wären einen Schritt weiter, wenn
wenigstens bestehende Gesetze und Abmachungen für alle
gleichermaßen gelten würden. Menschenrechte sind universell, die Genfer Flüchtlingskonvention haben die meisten
Staaten Europas unterschrieben und das Europarecht gilt
zumindest in den EU-Staaten. Diese Instrumente schließen das Recht auf Gesundheit, auf Asyl und rechtsstaatliche
Verfahren sowie ein Folterverbot ein. Diese Rechte sollten
jedem Menschen zugestanden werden, unabhängig davon,
wo, wann und unter welchen Umständen er flieht.
Die Schlussfolgerung muss daher sein: Wenn es geboten
ist, ukrainischen Menschen sichere Fluchtwege zu ermöglichen, muss das auch für Menschen aus Syrien oder dem
Kongo gelten. Gleiche Rechte für alle und die Abkehr von
einer rassistischen Politik ist unsere Forderung, nichts mehr,
nichts weniger!
Axel Grafmanns
Der Autor ist Geschäftsführender Vorstand bei Wir packen´s
an und engagiert sich seit Jahren für Geflüchtete.
1 https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privatmittelmeer-pro-contra?
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
45
Perspektiven aus der Ukraine
U KR AIN IAN
NATU RE
CONSE RVATION
G RO U P
Stellen Sie Ihre Organisation kurz vor. Was ist/war
der Schwerpunkt Ihrer Arbeit? Und ist es für Sie noch
möglich, in der Ukraine zu arbeiten?
Wir haben die Organisation Ukrainian Nature Conservation Group im Jahr 2018 gegründet. Unser Team besteht
fast ausschließlich aus erfahrenen BiologInnen, denen der
Naturschutz am Herzen liegt. Unsere Hauptaufgabe besteht
darin, die Kräfte von ExpertInnen, BiologInnen und ÖkologInnen zum Wohle der Natur und der Entwicklung der
europäischen Umweltgesetzgebung in der Ukraine zu vereinen. Das heißt konkret, dass wir uns für die Schaffung und
den Schutz von Schutzgebieten einsetzen, wir bereiten Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen vor und beteiligen uns als
ExpertInnen aktiv am Verfahren der Umweltverträglichkeitsprüfung. Als Sachverständige sind wir parteiisch für
die Natur und Naturschutzbelange und setzen uns so dafür
ein, dass die öffentliche Entscheidungsfindung im Einklang
mit der Natur und nicht gegen diese vonstattengeht. Die
meisten unserer Mitglieder arbeiten in staatlichen Instituten, Universitäten und Nationalparks in verschiedenen
Regionen der Ukraine. Dadurch haben wir die Möglichkeit,
an vielen Orten und auf verschiedenen politischen Ebenen
Entscheidungen zu beeinflussen.
Diese Möglichkeiten existieren seit dem Beginn des
Krieges nicht mehr. Praktisch alles, was wir vorher getan
haben, können wir jetzt nicht mehr tun. Große Teile des
Landes sind im Krieg versunken und zum Teil vermint. Der
Aufenthalt im Wald ist verboten worden. Viele staatliche
Institutionen sind geschlossen, so auch die Registerstellen,
bei denen wir normalerweise unsere Stellungnahmen einreichen. Ein Großteil der Regulierungsbehörden und dadurch auch das Verfahren der Umweltverträglichkeitsprüfung funktionieren nicht mehr. So sind wir jetzt, während
des Krieges gezwungen, uns anderes zu engagieren:
1. Wir pflegen die Nationalparks in den besetzten Gebieten.
2. Wir helfen KollegInnen, die zu Binnenvertriebenen geworden sind und ihr Zuhause verloren haben.
3. Wir überwachen übereilte Gesetzesänderungen, die für
die Natur schädlich sind und die spätestens nach dem
Krieg aufgehoben werden müssen.
4. Wir dokumentieren und verbreiten die Auswirkungen
des Krieges auf die Natur.
46
Schwerpunkt
Wie erleben Sie die internationalen Reaktionen aus
der Zivilgesellschaft, aber auch von den Vereinten
Nationen? Haben Sie irgendwelche Appelle oder
Wünsche?
Auf den Naturschutz in der Ukraine haben die Reaktionen der Vereinten Nationen oder einzelner Staaten keine
direkten Auswirkungen. Wir nehmen aber wahr, dass sich
öffentliche Organisationen und AktivistInnen aus anderen
Ländern Aufrufen und Kampagnen anschließen, um russische Produkte zu boykottieren. Auch haben wir immer
wieder Hilfe von NGOs und AktivistInnen aus anderen
Ländern bekommen, die sich für die Nationalparks und
Reservate in den besetzten Gebieten engagieren.
Der russische Krieg tötet Menschen, zerstört
Städte und den sozialen Fortschritt. Haben Sie eine
Perspektive für ihre Arbeit und die Gesellschaft?
Unmittelbar nach dem Krieg werden wir gebraucht wie nie
zuvor! Wenn der Wiederaufbau der Ukraine beginnt, wird
dieser den Bedarf an Mineralien und Baumaterialien stark
steigern. Und alle von ihnen werden aus der Natur extrahiert. Wenn also der Wiederaufbau der Ukraine beginnt,
wird dies die größte Zerstörung unserer Ökosysteme sein,
die es je in der Ukraine gegeben hat. Und gegen diese Zerstörung muss Widerstand geleistet werden. Aber wir hoffen
auch, dass der Krieg ein neues Möglichkeitsfenster schafft.
Ein Sieg würde einen bedeutenden Schritt in Richtung der
europäischen Integration der Ukraine bedeuten. Die europäische Umweltgesetzgebung garantiert den Naturschutz
viel besser, und je näher die Ukraine an die Europäische
Union rückt, desto mehr können wir die Natur schützen.
Aus dem Ukrainischen von Tom Kurz
Mehr Infos zu der Arbeit von Ukrainian Nature
Conservation Group unter: www.uncg.org.ua
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Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
47
© Chrstian Schwarzer
MIT VOLLDAMPF
GEGEN DIE WAND
Ist die CBD COP15 schon, bevor sie begonnen hat,
zum Scheitern verurteilt oder gibt es vielleicht sogar
Hoffnung, dass doch noch alles gelingt?
Die Verhandlungen zur CBD (Convention on Biological Diversity) stehen
vor großen Herausforderungen. Doch der Prozess läuft eher schleppend.
Am 26. Juni ist in Nairobi die jüngste Verhandlungsrunde – die OpenEnded Working Group 4 (OEWG) – zu Ende gegangen. Geplant war diese
Sitzung ursprünglich nicht. Eigentlich wollten sich die 196 Vertragsstaaten der CBD schon Ende März bei der OEWG 3 in Genf auf eine weitestgehend finale Version des Vertragstextes für das sogenannte Post-2020
Global Biodiversity Framework (Post-2020 GBF) verständigt haben. Dieser
Versuch ging gründlich nach hinten los. Nun ist die Conference of the
Parties (COP) zur CBD für Dezember dieses Jahres angesetzt. Trotz kurzer
Zeit ist es bis dahin noch ein weiter Weg.
48
Aktuelles aus dem Forum
D
as Post-2020 GBF ist als Nachfolgeabkommen für
die 2020 ausgelaufenen Aichi-Ziele 1 und den Strategischen Plan 2011-2020 der CBD gedacht, welche
trotz einiger positiver Entwicklungen größtenteils
nicht erreicht worden sind. Das Post-2020 GBF soll als globales Rahmenwerk klare Ziele zum Schutz der biologischen
Vielfalt für 2030 definieren, sodass bis 2050 der Verlust der
Biodiversität nicht nur abgewendet wird, sondern die Natur
sich auch wieder erholen kann.
Die Verhandlungen für das Nachfolgeabkommen laufen
bereits seit August 2019. Ursprünglich sollte das Post-2020
GBF im Oktober 2020 in Kunming in China verabschiedet werden. Bis Anfang März 2020 wurde eifrig verhandelt, doch dann kam Corona und machte dem Zeitplan der
CBD einen Strich durch die Rechnung. Vier Mal wurde der
Termin für die COP bisher verschoben. Zwischenzeitlich
versuchte das CBD-Sekretariat den Prozess durch virtuelle
Verhandlungen voranzubringen. Nach einem Jahr ohne jegliche Fortschritte fanden 2021 wieder erste offizielle Sitzungen statt, u. a. eine OEWG. Die Sitzungen waren eigentlich
als formelle Online-Verhandlungen geplant und sollten den
Vertragsstaaten die Möglichkeit bieten, zu möglichst vielen
Themen bereits einen Konsens zu finden, und so die Arbeit
der COP vereinfachen.
diskutiert. Immerwährend sind Grundsatzdiskussionen zur
Finanzierung. Dazu kommen aber auch neue Aspekte, wie:
» Anerkennung rechtsbasierter Ansätze in der Ausgestaltung des GBF: Dazu zählen unter anderem die
Anerkennung der Rechte von indigenen und lokalen
Gemeinschaften, die Pflicht zur Einhaltung von Menschenrechten bei der Umsetzung der Ziele, die Stärkung
des Gender Mainstreamings, die Rolle von Frauen bei
der Umsetzung und die Rechte zukünftiger Generationen.
» Vorgaben zur Ausweisung von Schutzgebieten: Eine
Reihe von Staaten bestehen darauf, dass das nationale
Recht über den internationalen Vorgaben des GBF stehen muss. Dies steht in Teilen im Widerspruch zu dem
vorher genannten Punkt.
» Finanzierung: Die Staaten im Globalen Norden scheinen
prinzipiell zuzustimmen, dass die Mittel für den globalen Biodiversitätsschutz erhöht werden müssen, halten
sich aber bisher über Höhe und Ausgestaltung zurück.
Der Online-Ansatz ist gescheitert
Eine weitere Verhandlungsrunde muss her
Statt den Verhandlungsprozess mit neuem Leben zu erfüllen, offenbarte das Online-Format ein weiteres Mal, wie
ungleich die Ressourcen auf der Welt verteilt sind. Dutzende
Staaten – größtenteils aus Afrika, Südostasien und Lateinamerika – konnten aufgrund schlechter Internetverbindungen oder/und instabiler Stromnetze nur sehr eingeschränkt
oder überhaupt nicht an den Verhandlungen teilnehmen.
Zusätzlich sorgten die verschiedenen Zeitzonen dafür, dass
es den Staaten nicht möglich war, bzw. diese nicht gewillt
waren, gemeinsame Zielvorstellungen zu den allermeisten
Verhandlungstexten zu entwickeln. Hierbei spielten auch
noch die in einem Online-Format fehlenden Möglichkeiten für vertrauensbildende Maßnahmen und persönliche
Konsultationen zwischen RegierungsvertreterInnen eine
Rolle, welche den Konsensfindungsprozess entscheidend
behinderten.
Als dann im März 2022 endlich alle Vertragsstaaten in
Genf zur ersten physischen CBD-Sitzung (OEWG-3) seit
zwei Jahren zusammenkommen konnten, musste man mit
den Verhandlungen de facto wieder bei null anfangen. Die
Genfer CBD-Runde ähnelte eher einem Wunschkonzert
als einer echten Verhandlung. Statt Kompromisse auszuloten, fügten die Vertragsstaaten den Texten immer neue
Vorschläge hinzu, welche – mangels Konsens – zugleich
in eckige Klammern gesetzt wurden. Aus Interessensgegensätzen, leider viel zu oft immer noch entlang von
Nord-Süd-Linien, aber auch durch die Blockadehaltung
von Ländern wie Brasilien, resultierte am Ende ein wahres Meer an endlosen und völlig unleserlichen Verhandlungstexten, die nahezu ausschließlich aus Klammern
bestanden.
Besonders frustrierend: Viele der vorgebrachten Themen und Streitpunkte wurden in fast identischer Form
bereits bei den Verhandlungen über die Aichi-Ziele 2010
Als langjähriger Beobachter der CBD kommt man nicht
umhin, sich wie ein Gefangener in einem Geisterzug zu
fühlen, der stur alle zehn Jahre im Kreis fährt und an den
gleichen Stationen Halt macht.
Da am Ende die Zeit weglief und ein Termin für die COP15
immer noch auf sich warten ließ, sah sich das CBD-Sekretariat gezwungen, eine eigentlich ungeplante vierte Sitzung
der OEWG zu organisieren. Diese fand nun vom 21. bis 26.
Juni in Nairobi statt. In gewisser Hinsicht kann man die
OEWG-4 als die erste „echte“ Verhandlungsrunde zwischen
den Vertragsstaaten betrachten. Anders als in Genf wurden
in Nairobi tatsächlich alle Elemente des Vertragsentwurfs
des Post-2020-Abkommens, einschließlich aller Oberziele
und Zielelemente, von den Staaten ausführlich diskutiert,
sodass nun immerhin die unterschiedlichen Positionen
und Interessen der jeweiligen Verhandlungsgruppen recht
klar sind. Im Vorfeld hatte das CBD-Sekretariat das Ziel
ausgegeben, dass während der OEWG-4 80 % der eckigen
Klammern aus den Verhandlungstexten entfernt werden
sollten. Dieses Ziel konnte in Nairobi nicht erreicht werden.
Im Gegenteil: Am Ende ist die Zahl der Klammern eher
gewachsen als geschrumpft.
Und wie will man nun aus dieser Misere wieder herauskommen? Eine fünfte – auch wieder ungeplante – Sitzung
der Open-Ended Working Group muss wohl her. Das COPBüro schlägt vor, dass diese unmittelbar vor dem Beginn
der COP15 tagen soll. Denn trotz der coronabedingten
Verschiebungen beharrt ein Großteil der Vertragsstaaten
weiterhin darauf, dass wesentliche Ziele des GBF bis 2030
erreicht werden sollen. Wird das GBF wie geplant Ende 2022
verabschiedet, blieben dann nur noch sieben Jahre für die
Umsetzung. Angesichts der Tatsache, dass neben anderen
Faktoren das Scheitern der Aichi-Ziele auch darin begründet liegt, dass die Umsetzungsphase einfach zu kurz war,
muss man sich fragen, ob eine noch kürzere Umsetzungsperiode wirklich hilfreich ist oder das Post-2020-Abkommen
damit zum Scheitern verurteilt wird, noch bevor es überhaupt verabschiedet worden ist.
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
49
Als langjähriger Beobachter der
CBD kommt man nicht umhin,
sich wie ein Gefangener in einem
Geisterzug zu fühlen, der stur alle
zehn Jahre im Kreis fährt und an
den gleichen Stationen Halt macht.
Auf die nächsten fünf Monate kommt es an
Nachdem es fast ein ganzes Jahr lang keinen offiziellen Termin für die COP15 und somit keinen Endpunkt für den
Post-2020-Prozess gab, konnte nun endlich ein Kompromiss gefunden werden. Die CBD COP15 wird vom 5. bis 17.
Dezember 2022 stattfinden, ggf. mit einer vorgeschalteten
OEWG-5-Sitzung ab dem 1. Dezember. China behält seine
COP-Präsidentschaft, jedoch wird der Austragungsort von
Kunming an den Sitz des CBD-Sekretariates nach Montreal
verlegt. Diese Lösung war lange erwartet worden, da Chinas Null-COVID-Politik die Ausrichtung internationaler
Konferenzen faktisch unmöglich macht. Jedoch dauerte es
Monate, bis die chinesischen VertreterInnen im COP-Büro
endlich auch diesem Kompromiss zustimmten. Hier und
auch an anderen Stellen hat die mit Spannung erwartete
chinesische COP-Präsidentschaft durch passives Verhalten
bisher eher enttäuscht.
Mit Blick auf den festgefahrenen Verhandlungsprozess
im Rahmen der OEWG-4 wird es in den kommenden Monaten von großer Bedeutung sein, dass die Vertragsstaaten
die Zeit nutzen, um sich untereinander abzustimmen. So
könnten sie in bi- und multilateralen Settings und Foren wie
der UN-Generalversammlung oder der G20 Kompromisse
ausloten und durch informelle Denkpapiere und Non-Papers versuchen, den Prozess voranzubringen. Auch die Rolle
von MinisterInnen sowie Staats- und RegierungschefInnen
wird neues Gewicht bekommen, denn nur sie können die
politischen Entscheidungen treffen, die den Prozess aus der
Sackgasse herausholen könnten.
Der Erfolg des Post-2020 Global Biodiversity Frameworks wird jedoch nicht allein davon abhängen, ob es in
den kommenden Monaten gelingt, die 196 Vertragsstaaten
der CBD dazu zu bringen, wenigstens eine grobe gemeinsame Stoßrichtung bei der Entwicklung eines ambitionierten Abkommens für den Schutz der biologischen Vielfalt
50
Aktuelles aus dem Forum
einzuschlagen. Vielmehr wird sich das Rahmenwerk auch
daran messen lassen müssen, ob die Mechanismen für seine
Umsetzung, darunter die Frage der Finanzierung sowie der
Messbarkeit von Fortschritten bei der Erreichung von Zielen, wirklich ausreichen, um dem Verlust der biologischen
Vielfalt dauerhaft Einhalt gebieten zu können – ohne dabei
Menschenrechte und die Rechte von Indigenen und lokalen
Gemeinschaften zu vernachlässigen.
Christian Schwarzer
Christian Schwarzer ist Gründer des Global Youth Biodiversity
Networks und bis heute Teil des Steuerungskreises.
1 https://www.cbd.int/sp/targets/
© Jörg Farys
VERSICHERUNG
FÜR DIE FOSSILEN
Investitionsschutzverträge dürfen den Klimaschutz
nicht weiter behindern
Nach den Schiedsgerichtsklagen von RWE und Uniper gegen den niederländischen Kohleausstieg ist der Energiecharta-Vertrag (Energy Charter
Treaty, ECT) schwer in die Kritik geraten. Nun geht seine Reform in die
Endphase: In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob Deutschland und weitere Länder das Abkommen verlassen. Doch unabhängig
davon, wie der Reformprozess endet, die Kollision von Investitionsschutzverträgen und Klimaschutz wird weitergehen, wenn Bundesregierung
und EU keine Kehrtwende einleiten.
N
och wird um viele Details gerungen, doch bis
Ende Juni soll die Reform des EnergiechartaVertrags abgeschlossen sein. Das Handels- und
Investitionsabkommen aus den 1990er-Jahren,
dem 53 europäische und asiatische Länder angehören,
ist nicht mehr zeitgemäß, da sind sich Europäische Kom-
mission und KritikerInnen aus der Zivilgesellschaft einig.
Letztere befürchten allerdings, dass das Abkommen auch
nach der Reform der Dekarbonisierung des Energiesystems
weiter im Weg stehen wird.
Denn bereits jetzt ist klar, dass der ECT auch weiterhin
fossile Investitionen schützen wird – und zwar mindes-
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
51
tens für zehn Jahre. Was das bedeutet, zeigen die Klagen
gegen die Niederlande. Die deutschen Kohleunternehmen
RWE und Uniper verklagen das Land auf ca. 2,4 Mrd. Euro
Entschädigung für den Kohleausstieg bis 2030 – eine Maßnahme, die die Niederlande einführen mussten, um ihre
Verpflichtungen unter dem Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Auch nach der Reform bleiben solche Klagen,
über die drei private Wirtschaftsanwälte entscheiden, weiter möglich. Das steht dem Versprechen der EU entgegen,
keine Verträge mehr abzuschließen, die private Schiedsgerichte dazu befähigen, über staatliche Maßnahmen zu
urteilen.
Derzeit ist noch unklar, ob die EU-Mitgliedstaaten in
einem Vertrag verbleiben werden, der auch nach der Reform
nicht mit dem Pariser Klimaabkommen und dem Europäischen Green Deal in Einklang stehen wird. Eine Gruppe
von Ländern rund um Spanien, die Niederlande, Frankreich, Polen und auch Deutschland zieht einen Austritt in
Erwägung. Wenn es wirklich dazu kommen sollte, ist davon
auszugehen, dass weitere Länder mitziehen würden. Ein
Hindernis für einen Ausstieg aus dem ECT ist eine Fortgeltungsklausel, die den Vertrag noch 20 Jahre nach einem
Ausstieg weiter gelten lässt. Allerdings gibt es Vorschläge,
wie sie sich entschärfen ließe. 1
Deutschland positioniert sich neu
Der ECT ist das Abkommen, das am häufigsten für Investorenklagen herangezogen wird – etwa 13 Prozent aller
weltweit bekannten Klagen dieser Art gehen darauf zurück. Das liegt sowohl an der Mitgliedschaft vieler kapitalexportierender Länder als auch an den darin enthaltenen
äußerst investorenfreundlichen Eigentumsrechten. Klagen
gegen Klimaschutzmaßnahmen werden aber auch durch
einen Großteil der über 2.500 weiteren Investitionsschutzabkommen, die derzeit in Kraft sind, möglich gemacht.
Dabei ist Deutschland weltweiter Spitzenreiter: Kein Land
52
Aktuelles aus dem Forum
hat so viele Investitionsabkommen abgeschlossen wie die
Bundesrepublik.
Umso bedeutender ist deshalb, dass die neue Bundesregierung hier wohl einen Richtungswechsel einschlagen
wird. Im Koalitionsvertrag haben sich die Ampelparteien
darauf geeinigt, den Investitionsschutz „auf direkte Enteignungen und Diskriminierungen [zu] konzentrieren“.
Das stellt eine erhebliche Einschränkung gegenüber dem
bisherigen Ansatz dar, unter dem ausländischen Investoren
wesentlich weitreichendere Rechte zugesprochen werden.
Zudem hat Wirtschaftsminister Robert Habeck in einem
mit der Fraktionsvorsitzenden der Grünen Katharina Dröge
verfassten Artikel angekündigt, dass „der Schutz für Investitionen in fossile Energieträger abgeschafft werden“ solle. 2
Zusammengenommen stellen diese Ankündigungen eine
signifikante Veränderung in der deutschen Position dar.
Falle für die Klimapolitik
Dies ist auch dringend notwendig. Neue Studien zeigen,
dass die fossile Brennstoffindustrie der ökonomische Sektor ist, der am häufigsten auf Schiedsgerichtsklagen zurückgreift. Zugleich haben fossile Investoren eine deutlich
höhere Gewinnquote in den Streitfällen und bekommen
im Durchschnitt fünf Mal so viel Entschädigung zugesprochen wie Kläger aus anderen Branchen. 3 Insgesamt
könnten fossile Vermögenswerte in Höhe von mehreren
Billionen US-Dollar durch Klimapolitik an Wert verlieren,
und Investoren Entschädigungsansprüche vor Schiedsgerichten geltend machen. Gleichzeitig werben auf Schiedsverfahren spezialisierte Kanzleien mit der Möglichkeit,
Entschädigungen für Klimamaßnahmen einzuklagen.
Und das nicht ohne Grund: Investitionsschutzabkommen
wurden schließlich entwickelt, um Investitionen vor der
Entwertung durch politische Maßnahmen zu schützen. In
Zeiten der Klimakrise wird dies jedoch zu einer Falle für
die Klimapolitik.
Neue Studien zeigen, dass die
fossile Brennstoffindustrie
der ökonomische Sektor
ist, der am häufigsten auf
Schiedsgerichtsklagen zurückgreift.
Zwar ist die Zahl der bekannten Klagen gegen Klimaschutzmaßnahmen derzeit noch recht gering, sie könnte
aber in Zukunft rasant steigen, wenn die tiefgreifende Umstellung des Energiesystems Fahrt aufnimmt. Und auch
ohne zu klagen, schaffen es fossile Unternehmen, mit Hilfe
von Investitionsschutzverträgen die Energiewende zu ihren
Gunsten zu beeinflussen. So hat allein schon die Möglichkeit, die Bundesrepublik unter dem ECT zu verklagen, dazu
beigetragen, dass die beiden in Deutschland operierenden
Braunkohleunternehmen RWE und LEAG viel zu hohe
Entschädigungen für den Kohleausstieg erhalten haben. 4
In anderen Ländern wurde der Ausstieg aus fossilen Energieträgern durch Klagedrohungen verzögert.
Dringender Handlungsbedarf
So besteht dringender Handlungsbedarf, damit Investitionsschutzverträge nicht zur Falle für den Klimaschutz werden. Seit Beginn dieses Jahres trägt die Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
Lösungsvorschläge zusammen. Viele ExpertInnen fordern
in ihren Beiträgen, das Investitionsschutzsystem grundsätzlich zu überdenken oder in seiner bisherigen Form gänzlich
abzuschaffen. 5 Dies wäre auch für die Bundesregierung der
richtige Weg. Denn die unzureichenden Ergebnisse der Reformverhandlungen über den Energiecharta-Vertrag zeigen,
dass eine internationale Verständigung äußerst schwierig
und langwierig ist. Einen Ausschluss von fossilen Energieträgern aus den über 100 deutschen Investitionsabkommen
zu verhandeln, wäre eine Mammutaufgabe, die angesichts
der Kürze der Zeit kaum zu bewältigen ist.
Mutige Schritte sind jetzt notwendig, um die staatliche
Handlungsfähigkeit zu sichern. Gemeinsam mit Ländern,
die den Investitionsschutz ebenfalls kritisch sehen – darunter Indien, Indonesien, Südafrika und die USA – könnte
Deutschland eine Initiative für eine Aussetzung von Verfahren oder ein internationales Abkommen zur Kündigung
von Investitionsschutzverträgen auf den Weg bringen. Das
absolute Minimum ist jedoch, den Investitionsschutz für
fossile Brennstoffe nicht noch stärker auszuweiten, wie etwa
durch die Ratifizierung des CETA-Abkommens zwischen
der EU und Kanada. Hieran wird sich zeigen, ob die Bundesregierung ihre eigenen Ankündigungen ernst nimmt.
Fabian Flues
Der Autor ist Referent für Handels- & Investitionspolitik bei
PowerShift.
1 Bernasconi-Osterwalder, Nathalie et al (2021): Investitionsschutz
über Klimaschutz? https://verfassungsblog.de/
investitionsschutz-uber-klimaschutz/
2 Habeck, Robert; Dröge Katharina (2022): Neue europäische
Handelsagenda. https://taz.de/Internationale-Wirtschaftsverflec
htungen/!5853918/
3 Di Salvatore, Lea (2021): Investor–State Disputes in the Fossil
Fuel Industry. https://www.iisd.org/publications/report/investorstate-disputes-fossil-fuel-industry
4 Flues, Fabian (2021): Teuer erkauft: Wie der EnergiechartaVertrag die Kosten des deutschen Braunkohleausstiegs in
die Höhe trieb. https://power-shift.de/ect-erhoeht-kostenkohleausstieg/
5 OECD (2022): Public Consultation on Investment Treaties and
Climate Change https://www.oecd.org/investment/investmentpolicy/OECD-investment-treaties-climate-change-consultationresponses.pdf
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
53
NEUAUFLAGE DES
WTO-KRIMIS
Die 12. MinisterInnenkonferenz der
Welthandelsorganisation ging hinter verschlossenen
Türen zu Ende, ohne Lösungen für globale
Herausforderungen anzubieten
Nach Verlängerungen und zähen Verhandlungen bis in die Morgenstunden ist die 12. MinisterInnenkonferenz (MC12) der Welthandelsorganisation (WTO) am Freitag, dem 17. Juni, in Genf zu Ende gegangen. Doch das
höchste Entscheidungsgremium der WTO ging erneut ohne substanzielle
Verbesserungen in den aktuell brennenden Themenbereichen, darunter
die COVID-19-Pandemie, die Welternährung, Fischerei, digitaler Handel
und die anstehende WTO-Reform, auseinander. Um die Legitimität der
Institution zu stärken, wurden schließlich ein Abschlussdokument und
Texte zu Ernährung, Pandemic-Response und Gesundheit, Fischerei und
digitalem Handel verabschiedet, obwohl sie einen Konsens widerspiegelten, der niemanden wirklich zufriedenstellte.
54
Aktuelles aus dem Forum
© WTO/Jay Louvion
N
icht zuletzt, da der Ausbruch der COVID19-Pandemie zunächst für eine mehrfache Vertagung des WTO-Treffens verantwortlich gewesen
war, standen Pandemie-Bekämpfung und -Recovery im Vordergrund dieser 12. MinisterInnenkonferenz.
Doch letzten Endes einigten sich die 164 Mitglieder nur
mit Ach und Krach auf einen Beschluss zum TRIPS-Abkommen. Die Hoffnung der anwesenden Zivilgesellschaft
war gewesen, dass ein sogenannter TRIPS Waiver umfassende Ausnahmen für den Patentschutz gewähren würde,
sodass mehr Länder weltweit Impfstoffe selbst produzieren
könnten. Mit Blick auf zukünftige Pandemien und kommende Covid-19-Ausbrüche wurde zudem gefordert, dass
diese Ausnahmen auch für Medikamente und Diagnostika
gelten sollten. So sah es auch der bereits vor rund 20 Monaten vorgestellte ursprüngliche Entwurf von Südafrika und
Indien vor, in dem diese eine vorübergehende Ausnahme
von allen geistigen Eigentumsrechten – d.h. von Patenten,
Geschäftsgeheimnissen und Datenexklusivität – auf Impfstoffe, Medikamente und Diagnostika, beispielsweise Tests,
forderten. Auf diese Weise sollten deren Herstellung und
Vermarktung in Entwicklungsländern erleichtert werden.
Unterstützt von rund 100 Ländern und NGOs aus der ganzen Welt wurde dieser Vorschlag von der Schweiz, der EU,
den USA und Großbritannien aber vehement bekämpft und
schließlich ausgebremst.
Eine noch unvorteilhaftere Reaktion auf eine globale
Gesundheitsnotlage als der finale Beschluss zum TRIPSAbkommen ist schwer vorstellbar (abgesehen von den früheren Verhandlungstexten zu diesem Beschluss). Die Tatsache, dass die Ausnahmeregelung auf Impfstoffe beschränkt
ist, eine Laufzeit von fünf Jahren vorsieht und sich nicht mit
den WTO-Regeln zu Handelsgeheimnissen befasst, macht
es besonders unwahrscheinlich, dass sie einen erweiterten
Zugang zu COVID-19-Gegenmaßnahmen ermöglicht. Das
Hauptziel der MC12 bestand darin, einen Konsens zu erzielen, denn die Legitimität der Welthandelsorganisation
und das Funktionieren des Multilateralismus mussten unter
Beweis gestellt werden.
Angesichts der sich bereits im Laufe der Tagungswoche
abzeichnenden Situation plädierten NGOs dafür, lieber kein
Abkommen als ein schlechtes Abkommen abzuschließen:
Somit wäre ein Neustart der Verhandlungen eine Option
gewesen, um zu versuchen, im multilateralen Rahmen eine
zufriedenstellende Lösung zu finden. Nun liegt die Hoffnung darin, dass die Ausnahmen, wie angekündigt, in sechs
Monaten tatsächlich noch auf Medikamente ausgeweitet
werden. Unterm Strich lässt sich aber festhalten – und das
muss betont werden –, dass dieses Abkommen insgesamt
keine wirksame und sinnvolle Lösung bietet, um den Zugang der Menschen zu den während der Pandemie benötigten medizinischen Hilfsmitteln zu verbessern.
Die während der COVID-19-Pandemie zutage getretenen Probleme und Defizite hätten Anlass bieten können,
im Kreise der WTO Vorkehrungen zu treffen, die der Welt
bei der Bewältigung dieser und kommender Pandemien
helfen würden. Das war auch die inständige Hoffnung von
zivilgesellschaftlicher Seite. Doch stattdessen blendet die
WTO den Kern des Problems aus: Der Beschluss enthält
weder Maßnahmen, um gegen Pharmamonopole vorgehen,
noch, um einen erschwinglichen Zugang zu lebensrettenden
medizinischen Hilfsmitteln zu gewährleisten. Eine schnelle,
an jeweilige geografische Gegebenheiten und Bedürfnisse
angepasste Reaktion auf Pandemien ist daher auch künftig
nicht möglich.
Versäumter Beitrag zur Ernährungssicherung
Das zweite dringliche Thema auf der Konferenz war Ernährungssicherung und eine mögliche Antwort auf die
Nahrungsmittelkrise, die den Ländern des Südens unter
anderem aufgrund des Krieges in der Ukraine und der Klimakrise droht. Doch im Mittelpunkt der Erklärung zur Ernährungssicherheit steht wieder mal der altbekannte Aufruf
zur Vermeidung von Exportrestriktionen, anstatt sich der
bestehenden Möglichkeiten zur Stärkung der Unabhängigkeit der Mitglieder vom Weltmarkt anzunehmen. Der
Beschluss spiegelt das Interesse der großen Agrarexporteure
wie der EU und der USA wider, Märkte offen zu halten.
Vorschläge für praktikable Lösungen, die einige Mitglieder
vorgelegt hatten, wurden verworfen, darunter insbesondere die öffentliche Lagerhaltung – ein Nahrungsmittelhilfeprogramm, mit dem Länder ihre Bauern, Bäuerinnen und
VerbraucherInnen unterstützen könnten, ohne eine Klage
vor dem WTO-Streitbeilegungsgremium zu riskieren –, auf
die Indien und andere Entwicklungsländer seit rund einem
Jahrzehnt warten.
Meeresschutz und Entwicklung
Seit 2005 verhandelt die WTO zum Thema schädliche Fischereisubventionen. Hier werden zwei Themen miteinander verknüpft – die Überfischung der Meere soll unterbun-
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
55
Ohne das starke Zusammenarbeiten
der Zivilgesellschaft würde nur sehr
wenig nach außen dringen und der
intransparente Prozess der WTO weiter
in exklusive Verhandlungsräume
abgleiten.
den und gleichzeitig sichergestellt werden, dass Menschen,
deren Ernährung und Existenz vom Meer abhängen, nicht
gefährdet werden. Nach über 15 Jahren wurde in Genf nun
ein Beschluss präsentiert, der aber leider die großen Flotten
dieser Welt wenig tangieren wird und den Entwicklungsländern und ärmsten Ländern (LDCs) durch eine nur sehr
kurze Übergangsphase wenig Bewegungsspielraum lässt.
Am Ende: schneller Beschluss
und Blick nach vorne
Transparenz und Partizipation wurden nicht besonders
großgeschrieben in Genf: Die Verhandlungen stellten sich
eher als Prozess hinter verschlossenen Türen dar – nicht nur
für die Zivilgesellschaft, die erstmals von der Eröffnungsveranstaltung ausgeladen wurde, sondern teils auch für
Mitglieder. Laut BeobachterInnen wurde sich oftmals der
sogenannten Green Rooms bedient – exklusive Einzelverhandlungsräume, zu denen bestimmten Ländern, oftmals
Entwicklungsländern, der Zugang verwehrt wurde, um die
Verhandlungen zu beschleunigen.
Diese Strategie scheint für die Industrieländer erfolgreich zu sein, denn im letzten Moment wurde auch das ECommerce-Moratorium verlängert. Dieses hält fest, dass
die Mitglieder keine Zölle auf Datenflüsse erheben. Eine
Verabredung, die insbesondere für die großen Serverländer
und Internetplattformen relevant ist und deren Geschäftsmodell stützt.
Dieses Vorgehen ist inakzeptabel und trübt den Anspruch der Konsensentscheidung der WTO. Ohne das starke Zusammenarbeiten der Zivilgesellschaft würde nur sehr
wenig nach außen dringen und der intransparente Prozess
der WTO weiter in exklusive Verhandlungsräume abgleiten. Das schadet nicht zuletzt der Verhandlungsposition
vieler Entwicklungsländer. Eine inklusive Beteiligung ist
sicherlich nicht immer die einfachste Aufgabe, doch um
eine vielseitige Debatte zu führen, die in ein Ergebnis mündet, das möglichst vielen Menschen nutzt und nicht nur
die Interessen Weniger widerspiegelt, ist dies unerlässlich.
Die vermeintlichen Reformvorschläge, die sich auch mit
den Entscheidungsmechanismen der WTO beschäftigen
56
Aktuelles aus dem Forum
könnten, wurden auf die kommende MinisterInnenkonferenz vertagt.
Andere dringende Themen der Weltgemeinschaft blieben ebenfalls gänzlich unbeachtet: Ausgesprochen warme
Junitage hätten die Delegierten an die Bedrohungen des
Klimawandels denken lassen können, doch die Beschlüsse
zu Lagerhaltung und Ernährungssicherung lassen dahingehend keine Voraussicht erkennen. Auch Themen wie Umweltschutz, Menschenrechte, Kernarbeitsnormen oder planetare Grenzen wurden weitestgehend außen vorgelassen.
Nelly Grotefendt
Nelly Grotefendt ist Referentin für internationale
Handelspolitik und Weltwirtschaft beim Forum Umwelt und
Entwicklung. Für die AG Handel verfolgt sie neben der WTO
auch bilaterale Abkommen.
© UN Photo/Michos Tzovaras
RIO PLUS 30:
UND SIE BEWEGT
SICH DOCH …
Zivilgesellschaft und Kommunen treiben
Nachhaltigkeit voran
Mit dem „Erdgipfel“ erhält vor dreißig Jahren das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung Einzug in die politische Arena. Es hat seitdem vor
Ort viele Gesichter bekommen, besonders Zivilgesellschaft und Kommunen haben sich als wichtige Nachhaltigkeitstreiber erwiesen. Mit immer
neuen Initiativen sind sie seitdem die Motoren einer sozial-ökologischen
Transformation. Die folgenden Ausführungen lehnen sich eng an das
neu im oekom-Verlag erschienene Buch „Nachhaltigkeitstreiber – Lokale
Agenda 21, Kommunen und Zivilgesellschaft als Pioniere des Wandels“
an.
D
ie Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt
und Entwicklung (United Nations Conference on
Environment and Development – UNCED) vom
3. bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro markiert
eine entscheidende historische Wegmarke für das Leitbild
einer nachhaltigen Entwicklung. Außer den VertreterInnen von über 170 Staaten nehmen zahlreiche NGOs an
der Konferenz teil. Neben völkerrechtlich verbindlichen
Konventionen zu Klima und biologischer Vielfalt wird mit
der „Agenda 21“ ein umfassendes Aktionsprogramm für
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
57
nachhaltige Entwicklung für das 21. Jahrhundert verabschiedet. NGOs, Zivilgesellschaft und Kommunen nehmen
in diesem als Akteure und Partner eine zentrale Rolle ein.
Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung wird darin nicht
genauer erläutert, sondern in der „Rio-Deklaration“ nur als
Recht auf Entwicklung umschrieben. Dies erfolgt in enger
Anlehnung an den die Konferenz vorbereitenden und 1987
erschienenen „Brundtland-Bericht“, für den eine nachhaltige Entwicklung den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen in gerechter
Weise entsprechen muss.
Für ein „Zukunftsfähiges Deutschland“
Bei der Umsetzung der Agenda 21 auf nationaler Ebene
übernehmen die NGOs in Deutschland eine Vorreiterrolle. Ein halbes Jahr nach der Rio-Konferenz gründen 35
Verbände im Dezember 1992 das „Forum Umwelt & Entwicklung“, das seitdem die Umsetzung der Rio-Beschlüsse
begleitet und vorantreibt. Den wichtigsten Impuls für die
deutsche Nachhaltigkeitsdiskussion nach der Rio-Konferenz und weit darüber hinaus setzt 1995 die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland – Ein Beitrag zu einer global
nachhaltigen Entwicklung“, die vom Bund für Umwelt und
Naturschutz Deutschland (BUND) und Misereor in Auftrag gegeben wurde. Die Studie präzisiert den in Rio unklar
gebliebenen Begriff einer nachhaltigen Entwicklung: „Mit
diesem Leitbegriff verbindet sich die Erkenntnis, dass umweltpolitische Probleme nicht isoliert von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung betrachtet werden können,
sondern ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich ist. Umwelt
und Entwicklung sind zwei Seiten einer Medaille.“ 1 Methodisch baut die Studie auf dem aus den Niederlanden
stammenden Konzept des „Umweltraums“ auf, den Menschen in der natürlichen Umwelt nutzen können, ohne ihn
Stockholm 1972: „Nur eine Erde“
Schon 20 Jahre vor der Rio-Konferenz findet im Juni
1972 auf Initiative Schwedens eine internationale
„Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt
des Menschen“ in Stockholm statt. „Only one earth –
nur eine Erde“ lautet das Motto der Veranstaltung,
an der neben VertreterInnen aus 113 Ländern als Novum in der UN-Geschichte auch zahlreiche NGOs
teilnehmen. Die indische Ministerpräsidentin Indira
Gandhi eröffnet dort mit ihrem Beitrag die globale
Debatte über den Zusammenhang von Armutsbekämpfung und Umweltschutz. Dieser schlägt sich
auch in der verabschiedeten Deklaration nieder. Die
Erklärung verbindet einleitend das fundamentale
Recht auf ein Leben in Würde und Wohlbefinden
mit dem Schutz der Umwelt für gegenwärtige und
künftige Generationen. Auch ein zentrales Motto
künftiger Nachhaltigkeitsaktivitäten wird in Stockholm geprägt: „Think globally, act locally – Global
denken, lokal handeln“.2 Ebenfalls 1972 stößt ein
Bericht an den Club of Rome die Diskussion über
„Die Grenzen des Wachstums“ an.
58
Aktuelles aus dem Forum
zu beinträchtigen. Damit werden auch die „Grenzen des
Wachstums“ operationalisiert. Der notwendige Wandel
ist für die Studie nicht das Ergebnis einer umfassenden
Strategie, sondern kommt durch eine Vielzahl von Akteuren im Kleinen und Großen zustande. Die insgesamt
acht Leitbilder greifen Ideen und Initiativen von Akteuren
auf und umfassen Schwerpunkte wie Konsum oder Städte
als Lebensraum. Die Studie findet breite Resonanz in der
Öffentlichkeit. Allein im ersten Jahr nach dem Erscheinen
finden dazu über tausend Veranstaltungen statt. 2
Die erste Generation: lokale Agenda 21
Unterstützt durch Landes- und Bundes-Agenda-Büros beschließt jede fünfte Kommune in Deutschland eine Lokale
Agenda 21 zur Umsetzung der Agenda 21. Sie setzt als
Türöffner eine nachhaltige Entwicklung auf die politische Tagesordnung und verbreitet sie als Multiplikatorin
in die Fläche. Die in der Agenda 21 recht allgemein gehaltenen Vorschläge für eine Lokale Agenda 21 werden
in den Kommunen als großes Realexperiment mit Leben
erfüllt. Im Mittelpunkt steht ein neues Partizipationsund Kooperationsmodell, das die verschiedenen Akteure
in den Kommunen zusammenbringt. Verwaltung, Gemeinderat und Zivilgesellschaft werden zum „AgendaDreieck“ der Zusammenarbeit. Wo dieses gelingt, ist
die Lokale Agenda 21 erfolgreich. Treibende Elemente
der Prozesse sind eigenständig arbeitende bürgerschaftliche Arbeitskreise mit dort entstehenden Projekten, die
mit Unterstützung der Verwaltung umgesetzt werden.
Sie stoßen als „Agenda-Schneebälle“ weitere Aktivitäten
an, beispielsweise viele BürgerInnensolaranlagen. Über
die etablierten Verbände hinaus wird vor allem die nicht
organisierte Zivilgesellschaft, also örtliche Gruppen und
BürgerInnen aktiviert. „Ohne jeden Zweifel sind die vielen
Projekte zur Entwicklung einer „Local Agenda 21“ eine der
wirklichen Erfolgsgeschichten des Rio-Prozesses“, bilanziert der frühere Umweltminister und Exekutivdirektor
des UN-Umweltprogramms Klaus Töpfer. 3 Auf Dauer
brauchen solche Prozesse als Gemeinschaftswerk der Akteure stabile organisatorische und finanzielle Strukturen,
So wie für erfolgreiche Lokale
Agenda 21-Prozesse die Schnittstelle
von Kommune und Zivilgesellschaft
kennzeichnend ist, wird jetzt die
Schnittstelle von Zivilgesellschaft und
Wirtschaft zum neuen Markenzeichen.
politische Unterstützung und Rahmensetzungen für eine
zukunftsgerichtete Perspektive. Deren Fehlen führt zum
Einschlafen vieler Prozesse, wobei viele einzelne Projekte
fortgesetzt werden und die Lokale Agenda 21 oft in anderen Strukturen aufgeht. Auf Landes- und Bundesebene
werden die geschaffenen Unterstützungsstrukturen nicht
weitergeführt, was auch zur Schwächung der örtlichen
Prozesse beiträgt.
Die zweite Generation:
wachstumskritische Initiativen
Auch im Umfeld der Postwachstumsdebatte nach der Jahrtausendwende kommen viele neue zivilgesellschaftliche Initiativen und Impulse aus dem Ausland nach Deutschland:
Repair-Cafés aus den Niederlanden, Transition- und Fair
trade Towns aus England oder die Gemeinwohl-Ökonomie
aus Österreich. Gemeinschaftsgärten zeigen anschaulich,
wie Nachhaltigkeit in der Praxis ökologisch und sozial
aussieht. Ansätze des Teilens oder Tauschens verbreiten
vielerorts eine „Sharing Economy“. Verbesserte gesetzliche Rahmenbedingungen führen zu einem Boom von
BürgerInnenenergiegenossenschaften als Energiewende
von unten und einer Renaissance der Genossenschaften. Im
Unterschied zur Lokalen Agenda 21 entstehen die meisten
Initiativen „bottom up“ und nicht „top down“. Sie zeichnet eine stärker unabhängige und selbsttragende Struktur
aus. So wie für erfolgreiche Lokale Agenda 21-Prozesse die
Schnittstelle von Kommune und Zivilgesellschaft kennzeichnend ist, wird jetzt die Schnittstelle von Zivilgesellschaft und Wirtschaft zum neuen Markenzeichen. Für die
propagierte und auch praktizierte nachhaltige Lebensweise
verschmilzt dabei oft die bisher getrennte Rolle von ProduzentInnen und KonsumentInnen zum neuen Typ der
ProsumentInnen wie die vielen BürgerInnensolaranlagen
zeigen. Viele Ansätze etablieren sich und finden schneeballartig große Verbreitung.
schaftliche Nachhaltigkeitsinitiativen sind irgendwann
auf die Zusammenarbeit mit der Kommune und oft auch
deren Unterstützung angewiesen. Dies wird seit der Lokalen Agenda 21 zum beiderseitigen Nutzen bereits oft und
erfolgreich praktiziert: Räumlichkeiten für Initiativen und
nachhaltige Start-ups, Flächen für Gemeinschaftsgärten,
Dächer für BürgerInnensolaranlagen oder Kleinprojektefonds und BürgerInnenbudgets zur finanziellen Unterstützung sowie Internet-Plattformen mit allen örtlichen und
regionalen Angeboten für ein nachhaltiges Leben sollten
flächendeckend zum Standard werden. Damit können vor
Ort gemeinsam nachhaltige Lösungen für eine sozial-ökologische Transformation realisiert werden.
Gerd Oelsner
Gerd Oelsner leitete das Agenda- und Nachhaltigkeitsbüro
des Landes Baden-Württemberg seit der Gründung 1998 bis
zum Jahr 2020.
1 BUND Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland/Misereor
(Hrsg.) (1996): Zukunftsfähiges Deutschland – Ein Beitrag zu
einer global nachhaltigen Entwicklung. Studie des Wuppertal
Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Basel/Schweiz. Zitat S. 24.
2 Grober, Ulrich (2010): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit.
Kulturgeschichte eines Begriffs. Mün-chen. Seite 229 ff.
3 Töpfer, Klaus (2006): Vom Rhein nach Rio – Umweltpolitik wird
global. In: Vahrenholt, Fritz (Hrsg.) (2006): Die Umweltmacher.
20 Jahre BMU – Geschichte und Zukunft der Umweltpolitik.
Hamburg. S.23-33, Zitat S.29.
Kommune und Region als Aktionsraum
Für diese Initiativen sind Kommunen und Regionen der
zentrale Aktionsraum. Auch eigenständige zivilgesell-
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
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TheDigitalWay/Pixabay
DIE GRENZEN VON
SUSTAINABLE
FINANCE
Wie das Finanzsystem zu einem Hebel für eine
nachhaltige Wirtschaft werden kann
Greenwashing im Finanzbereich ist dieser Tage regelmäßig groß in den
Schlagzeilen. Es geht um Finanzprodukte, die – oft unter dem Label
ESG (Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung) – als grüner
angepriesen werden, als sie eigentlich sind, und um Anbieter, die damit
werben. In Deutschland gab es erst kürzlich eine Razzia von Staatsanwaltschaft und Finanzaufsicht beim Vermögensverwalter DWS, kurz darauf
musste der Chef gehen. 1 Auch auf der anderen Seite des Atlantiks ermittelt die Finanzaufsicht in verschiedenen Fällen. Das zeigt: Bei grünen
Versprechen des Finanzsektors liegt einiges im Argen. Weil der Begriff
Nachhaltigkeit bisher nicht geschützt war, hat einfach jeder gemacht,
was er wollte. Gleichzeitig ruht viel Hoffnung auf dem Finanzsektor als
Hebel für die Transformation.
60
Aktuelles aus dem Forum
M
it ihrem Aktionsplan für nachhaltige Investitionen hat die Europäische Kommission schon
2018 angefangen, für mehr Klarheit im Markt
für nachhaltige Geldanlagen zu sorgen. 2 Eine
einheitliche Definition von nachhaltigen Wirtschaftsaktivitäten, die sogenannte Taxonomie, soll helfen, mehr Kapital
in eine nachhaltige Wirtschaft zu lenken und Greenwashing
zu verhindern. Inzwischen sind die Pläne weit fortgeschritten und die Taxonomie wird in ersten Teilen angewandt. Ob
darin wegen nationaler Einzelinteressen auch Atomkraft
und fossiles Gas als „grün” eingestuft werden, entscheidet
das Europaparlament Anfang Juli. Neben der Taxonomie
wurde auf europäischer Ebene kürzlich eine Einigung über
einheitliche und vergleichbare Nachhaltigkeitsberichte von
größeren Unternehmen erzielt. Damit können Anlegerinnen und Anleger perspektivisch besser beurteilen, wie es
um die ökologische und soziale Nachhaltigkeit eines Unternehmens steht, und diese Informationen in ihre Investitionsentscheidung einfließen lassen.
Anlagen im Zuge der Klimakrise irgendwann abstürzen
sollten.
Auch die häufig durch den Finanzsektor verursachte
Kurzfristigkeit kann adressiert werden. Langfristig ausgerichtete Finanzierungsmodelle für Investitionen in nachhaltige Infrastruktur wären ein Ansatz. Eine Umgestaltung
von ManagerInnengehältern im Einklang mit Nachhaltigkeitszielen wäre ebenfalls sinnvoll.
Neben nötigen Veränderungen am Finanzmarkt braucht
es aber auch die richtigen politischen Rahmenbedingungen,
um schädliches Verhalten unwirtschaftlich zu machen. Ein
ausreichend hoher CO₂-Preis, das Ende fossiler Subventionen und eine zukunftstaugliche Industriepolitik wirken
schneller und gezielter als der alleinige Fokus auf grüne
Finanzmärkte. Mit einem klaren Transformationspfad, vorgezeichnet durch die Politik, rechnen sich auch nur noch
zukunftstaugliche Investitionen.
Mehr als nur „grüne“ Finanzmarktregeln
nötig für die Transformation
Magdalena Senn hat in Tübingen, Berlin und Paris
Volkswirtschaft und politische Ökonomie studiert. Bei der
Finanzwende Recherche arbeitet sie zum Thema
nachhaltige Finanzmärkte.
Angesichts der vielen neuen Regeln für nachhaltige Finanzmärkte, die nun Stück für Stück eingeführt werden, stellt
sich die Frage: Machen die neuen grünen Regeln (selbst
bei ambitionierter Umsetzung) die Finanzwelt wirklich zu
einem Hebel für die Transformation, wie es häufig versprochen wird? Die Antwort ist: leider nur zum Teil.
Bessere Daten zur Nachhaltigkeit von Unternehmen
und einheitliche Standards sind in jedem Fall ein wichtiger Schritt. Sie stellen Entscheidungen auf eine bessere
Informationsgrundlage und ermöglichen es, ökologische
und soziale Anliegen bei der Geldanlage besser umzusetzen.
Will ich beispielsweise unter allen Umständen Unternehmen ausschließen, die in Fälle von Kinderarbeit involviert
sind, oder möchte ich um jeden Preis CO₂-Ausstoß vermeiden? Solche Unterscheidungen werden dann leichter und
die Hürden für Greenwashing höher.
Doch gegen profitgierige Akteure, die ohne Rücksicht
auf Verluste einer kurzfristigen Rendite hinterherjagen,
kommen wir mit mehr Transparenz nicht an. Das sehen
wir zum Beispiel bei großen Banken, die ihre Investitionen
in Fossile seit dem Pariser Klimaabkommen sogar extrem
ausgeweitet haben. 3 Solange umweltschädliche Investitionen sich rechnen, wird sich auch das Geld dafür finden.
Das angedachte Umlenken der Finanzströme von „grau“
zu „grün“ funktioniert nicht. Stattdessen wird „grün“ und
„grau“ investiert. Dies wird dadurch verstärkt, dass fossile
Konzerne angesichts des russischen Angriffskriegs Kursrekorde feiern und satte Gewinne machen. Deshalb braucht es
mehr als die bisherigen grünen Finanzmarktregeln.
Magdalena Senn
1 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutsche-bank-dwsasoka-woehrmann-1.5595292
2 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/
ALL/?uri=CELEX%3A52018DC0097
3 https://www.ran.org/publications/banking-on-climatechaos-2022/
4 https://www.finance-watch.org/publication/breaking-theclimate-finance-doom-loop/
Umweltschädliche Investitionen
müssen unattraktiv werden
Ein wichtiger Ansatz für einen Finanzsektor im Dienst der
Transformation wäre es, die Finanzierung der großen Verschmutzer wirtschaftlich unattraktiv zu machen. Banken
könnten verpflichtet werden, für fossile Investitionen mehr
Eigenkapital vorzuhalten. 4 Das ist für die Institute teuer
und dient gleichzeitig als Risikopuffer, falls solche riskanten
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
61
DIE STIMME DER
ZIVILGESELLSCHAFT
BEI DEN G7
Wie inklusiv ist der exklusive Club?
Vom 26. bis zum 28. Juni war es wieder so weit. Die G7, dieses Jahr unter
deutscher Präsidentschaft, waren zu Gast in Schloss Elmau in den bayerischen Alpen. Idylle pur und vor allem fernab der Öffentlichkeit. Die
Kursabstimmung, die während dieser exklusiven Gespräche zwischen
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Regierungschefs
aus gut einer Handvoll reicher Länder des Globalen Nordens erfolgt, hat
den Anspruch und das Potenzial, das Leben von Menschen weltweit zu
beeinflussen. Damit dabei keine Richtung eingeschlagen wird, die an der
Lebenswirklichkeit großer Teile der Bevölkerung vorbeigeht, müssten
möglichst viele Stimmen Gehör finden. Dafür aber, das zeigt der Gipfel
von Elmau einmal mehr, sind die G7 nicht der richtige Ort.
62
Aktuelles aus dem Forum
© Jan Kulke/Civil7
P
ositionen und Forderungen aus der Zivilgesellschaft an die G7 herantragen – das ist Ziel und
Aufgabe der Civil7 (C7), dem zivilgesellschaftlichen Begleitprozess zum G7-Gipfel, im Rahmen
dessen nationale und internationale zivilgesellschaftliche
AkteurInnen in einem mehrmonatigen transparenten Austausch Handlungsempfehlungen zu verschiedenen Themen
erarbeiten. Auf diese Weise sollen auch und insbesondere
Anliegen aus Ländern, die nicht zu den sieben „Auserwählten“ zählen, in die G7-Gespräche einfließen. In diesem Jahr
waren mehr als 500 VertreterInnen der Zivilgesellschaft aus
40 Ländern beteiligt. Höhepunkt des vom Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO) und
dem Forum Umwelt & Entwicklung koordinierten Prozesses war der zweitägige Civil7-Gipfel am 4. und 5. Mai, bei
dem Bundeskanzler Olaf Scholz das Abschluscommuniqué 1
entgegennahm.
Klarer Auftrag: Act now!
Welcher Maßnahmen bedarf es also in puncto offene Gesellschaften, humanitäre Hilfe und Konflikt, wirtschaftliche
Gerechtigkeit und Transformation, Klima- und Umweltgerechtigkeit und globale Gesundheit – den fünf Schwerpunktthemen des C7-Prozesses? Zum einen fordert die
immer mehr in Bedrängnis geratende Zivilgesellschaft ein
klares Bekenntnis und konkrete Maßnahmen der G7 zu
ihrem Schutz, etwa die Einrichtung einer G7-Civic Space
Task Force. Zum anderen sei bei Konflikten Vorsorge
grundsätzlich besser als Nachsorge, d. h. humanitäre Hilfe
dürfe durch effektive Konflikt- und Katastrophenprävention möglichst gar nicht erst notwendig werden. Komme es
dennoch zum Konfliktfall, müsse humanitäres Völkerrecht
stärker eingefordert und humanitäre Hilfe unter Einbindung lokaler Akteure bedingungslos und zugunsten aller
geleistet werden. Für wirtschaftliche Gerechtigkeit wird
im Communiqué gefordert, das aktuell auf Wachstum
und Profit ausgerichtete Wirtschaftssystem durch eines zu
ersetzen, das am Wohlergehen der Menschen orientiert ist,
auf dem Prinzip der Suffizienz aufbaut und Menschenrechte und die planetaren Grenzen respektiert. Dazu gehöre
auch, dass armen und (klima-)katastrophengebeutelten
Staaten unter anderem durch institutionell abgesicherte
Schuldenerleichterungen bzw. -erlasse und transformative
Entwicklungsfinanzierung aus ihrer finanziellen Notlage
geholfen wird. In Sachen Klima- und Umweltgerechtigkeit
benennen die C7 einen schnellen und sozial gerechten Kohleausstieg, die Transformation unserer Lebensmittelsysteme
und den Schutz und die Wiederherstellung der biologischen
Vielfalt als Aufgaben, die sofort und unter der Beteiligung
von Frauen, indigenen Völkern, lokalen AkteurInnen und
vulnerablen Gruppen angegangen werden müssen. Dazu
bedürfe es verstärkter technologischer Zusammenarbeit
und zusätzlicher finanzieller Unterstützung für Länder des
Globalen Südens. Und last but not least lautet die Message
der C7 im Bereich Gesundheit: Das Recht auf ein höchstmögliches Niveau an physischer und mentaler Gesundheit ist ein Menschenrecht und kein Privileg des Globalen
Nordens. Es muss von den G7 durch Investitionen sowie
Technologie- und Wissenstransfer sowie den sogenannten
TRIPS-Waiver (vgl. Beitrag von Nelly Grotefendt in dieser
Ausgabe) aktiv gefördert werden.
Der Auftrag, der bei allen Forderungen mitschwingt, ist
knapp und unmissverständlich: Act now! Diejenigen, die
sich für eine offene, gerechte und nachhaltige Gesellschaft
einsetzen, haben genug von leeren Worten. Die G7 müssen
jetzt handeln, bevor es zu spät ist!
Ein Appell trifft auf taube Ohren?
„Ich versichere Ihnen, dass wir [Ihre Empfehlungen und
Hinweise] in unsere Arbeit einbinden werden“ 2. Mit diesem Versprechen beendete Olaf Scholz seine Rede beim C7Gipfel, kurz bevor er das C7-Communiqué entgegennahm
und wieder verschwand. Zuvor hatte er die Expertise und
Erfahrung der Zivilgesellschaft hervorgehoben und erklärt:
„Wer Wandel voranbringen will, der sollte mit denen zusammenarbeiten, die für Wandel stehen“. Balsam für die
Seele all derjenigen, die über Monate mit großem Engagement am C7-Prozess mitgewirkt haben. Hoffnung, dass der
Appell der C7 zumindest teilweise angekommen ist, gaben
zunächst die Abschlusserklärungen der FachministerInnen
im Vorfeld des eigentlichen Gipfels. So haben sich etwa die
G7-UmweltministerInnen zum Kohleausstieg bekannt, so
ausführlich wie nie mit dem Thema Chemikalienmanagement befasst und die Verdopplung der finanziellen Unterstützung ärmerer, vom Klimawandel besonders betroffener Länder angekündigt – ein durchaus starkes Signal in
Richtung mehr Klima- und Umweltschutz. Auch andere
Anliegen der C7 lassen sich in den Communiqués der MinisterInnen wiederfinden, die angekündigten Maßnahmen
gehen aber zum Teil nicht weit genug. So bekennen sich die
EntwicklungsministerInnen zwar zum 0,7 %-Ziel bei der
Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022
63
Diejenigen, die sich für eine
offene, gerechte und nachhaltige
Gesellschaft einsetzen, haben
genug von leeren Worten.
Offiziellen Entwicklungshilfe (ODA), ohne eine konkrete
Frist bleibt es aber bei einem bloßen Lippenbekenntnis.
Positiv zu bewerten ist darüber hinaus die geplante Einrichtung eines Knotenpunkts für den mRNA-Technologietransfer in Südafrika, dieser soll jedoch „auf freiwilliger Basis“ erfolgen, und die umfassende Aussetzung der
geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Technologien für
den Zeitraum der Pandemie ist nicht in Sicht. Die GesundheitsministerInnen haben sich außerdem zum Ziel gesetzt,
gleichberechtigten Zugang zu medizinischen Leistungen zu
fördern; insgesamt liest sich die Erklärung jedoch eher wie
ein Papier zur Pandemiebekämpfung als eine allgemeine
Gesundheitsstrategie. Insbesondere werden Krankheiten,
die überwiegend im Globalen Süden auftreten, eher stiefmütterlich behandelt. Die FinanzministerInnen und ZentralbankchefInnen wiederum haben zwar viel Geld für die
Ukraine bereitgestellt, an anderer Stelle aber springen sie zu
kurz. So gibt es keine Bewegung beim Thema Schulden, und
auch in Sachen Sonderziehungsrechte bleibt es bei schon
bestehenden – und keineswegs realisierten – Versprechen. 3
„Die Berge stehen noch“
Beim eigentlichen G7-Gipfel der Staats- und Regierungschefs wurden dann auch keine wegweisenden Fortschritte
gemacht. „Die Berge stehen noch“, wie Olaf Scholz am Ende
der drei Tage in einem Interview 4 ohne größere Selbstkritik
einräumte. Das mit wissenschaftlichen Zahlen und Fakten
gespickte Abschluss-Communiqué zeigt zwar, dass sich die
G7-Länder des Ausmaßes der weltweiten Polykrise bewusst
sind. Viel mehr als die Bekräftigung bestehender Vereinbarungen, etwa des Pariser Klimaabkommens und der
Agenda 2030, folgte aber nicht aus dieser Erkenntnis. Wirtschaftswachstum bleibt oberste Priorität der sieben Industriestaaten, alle anderen Maßnahmen und Initiativen daran
ausgerichtet. So nutzt ein Bekenntnis zum 1,5 Grad-Ziel
wenig, wenn gleichzeitig Investitionen in den Gassektor,
insb. in Flüssiggas (LNG), als Ausnahme vom eigentlich
angestrebten Stopp öffentlicher Unterstützung für fossile
Energien zugelassen werden. Auch klare Beschlüsse zum
Kohleausstieg und dem Ende von Verbrennungsmotoren
bis 2030 blieben aus. Die Unterstützung für einen offenen
64
Aktuelles aus dem Forum
Klimaclub und der geplante Ausbau von sogenannten Just
Energy Transition Partnerships ist begrüßenswert; solche
bi- und multilateralen Formate müssen aber erst noch unter Beweis stellen, dass sie mehr zu bieten haben als ihre
vielversprechenden Namen.
Was die globale Ernährungskrise anbelangt, bleiben die
angekündigten 4,5 Milliarden US-Dollar weit hinter dem
zurück, was erforderlich wäre, um weltweit Menschen vor
dem Verhungern zu retten. Immerhin wurde dem Globalen
Süden Unterstützung für mehr Gesundheitssouveränität
versprochen und Technologietransfer und Hilfe beim Aufbau von Gesundheitsinfrastruktur zugesagt. Impfgerechtigkeit und die Bekämpfung von Krankheiten wie Malaria
und Polio waren aber nur Randthemen.
Nicht nur, dass viele der Forderungen aus der Zivilgesellschaft keinen Eingang in die Abschlusserklärung der
G7 gefunden haben. Auch der wachsende Druck auf Umwelt- und MenschenrechtsverteidigerInnen wird nur unzureichend adressiert. Am Ende danken die Staats- und
Regierungschefs den Engagement Groups dann für ihren
wichtigen Input. Bitte, gerne! Die G7 bleiben eben, was sie
schon immer waren: ein exklusiver Club.
Miriam Stahlhacke
Die Autorin studiert im Master Internationale Beziehungen
an der TU Dresden und ist gegenwärtig Praktikantin im
Forum Umwelt & Entwicklung.
1 https://civil7.org/wp-content/uploads/2022/05/Civil7Communique-2022-1.pdf
2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/redevon-bundeskanzler-scholz-beim-civil-7-summit-2022-am-5mai-2022-2030906
3 Siehe bspw. https://erlassjahr.de/blog/herr-lindner-vormschuldenberg-eine-auseinandersetzung-mit-den-positionendes-deutschen-finanzministers/
4 Interview in der ARD-Sendung „Farbe bekennen“, 28.06.2022.
PUBLIKATIONEN AUS DEM FORUM
C7-CO MMUN IQUÉ
In einem mehrmonatigen von VENRO und dem
Forum Umwelt & Entwicklung koordinierten
Prozess (Civil7) haben sich rund 500 VertreterInnen aus der Zivilgesellschaft aus mehr als 40
Ländern ausgetauscht und Forderungen an die G7
formuliert. Das C7-Communiqué spiegelt als Abschlussdokument dieses Prozesses die Positionen
und Prioritäten der Civil7 2022 wider.
Downlo ad unter:
https:// venro.org/publikationen/detail/civil7communique-2022
LET’S TALK CHEM ICALS Chemiepolitische Mittagstalks 2022
schläge diskutiert. Die Videoaufzeichnungen der
Mittagstalks sind online abrufbar.
In insgesamt fünf Chemiepolitischen Mittagstalks
hat das Forum Umwelt & Entwick lung gemeinsam
mit dem BUND, HEJSupport, PAN Deutschland
und WECF verschiedene Aspekte der deutschen
und internationalen Chemikalienpolitik kritisch
beleuchtet und Lösungs- und Verbesserungsvor-
SDG-G ESETZ ETRAC KER
Mit der Broschüre „Gesetze für Nachha ltigkeit –
Vorschläge für die 20. Legislaturperiode“ haben
wir dem Bundestag über 100 Vorschläge für Gesetze gemacht, deren Verabschiedung zur Umsetzung
der SDGs beitragen würden. Knapp die Hälfte
davon findet sich so oder in ähnlichem Maße im
Koalitionsvertrag wieder. Mit unserem SDG-Gesetzetracker schauen wir der Regierung und dem
Bundestag nun genau auf die Finger. Welche Ge-
REBAL ANCIN G POWE R
Konzernmacht hat in den letzten drei Jahrzehnten
massiv zugenommen, zeitgleich wurde die Macht
staatlicher Behörden und Regierungen massiv eingeschränkt. LobbyControl und das Forum Umwelt und Entwick lung organisierten im Frühjahr
2022 eine Konferenz, die eine Initialzündung für
zivilgesellschaft liche Arbeit zu Konzernmacht,
Wettbewerb und Marktmacht darstellt. Gemein-
Link zu den Videoaufzeichnungen:
https:// www.giftfreie-zukunft.org/mittagstalks
setze werden umgesetzt? Worüber wird derzeit im
Bundestag debattiert? Sind die geplanten Gesetze
für die Erreichung der SDGs ausreichend?
Link zur Website :
https:// www.2030watch.de/s dg-gesetzetracker
sam wurde diskutiert, was in der Vergangenheit
schiefgelaufen ist und wie wir es wieder richten
können. Die Webseite Rebalancing Power gibt einen Einblick in die Konferenz und will in Zukunft
über nächste Schritte informieren und Analysen
teilen.
Link zur Website :
https:// rebalancing-power.org /ueber- uns/
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