Das Nätesystem in Deutschland
171
22*
An die Arbeiter- und Soldatenräte Tentschlands.
Genossen! Kameraden!
Bor zwei Wochen habt Ihr der Freiheit eine Gasse geöffnet. Euer
Mut, Euere revolutionäre Tatkraft hat das alte Silstein, die Militär
diktatur und den mittelalterlichen Monarchismus zertrümmert. Jetzt
gilt es, die Errungenschaften der Revolution zu sichern und auszubauen.
Jetzt gilt es, die Mächte der Gegenrevolution, die nach dem
ersten Schrecken aus ihren Winkeln hervorkriechen, niederzuhalten.
Der Vollzugsrat der Groß.Berliner Arbeiter- und
Soldatenräte erblickte in dem Sturm und Drang der ersten Revo
lutionstage seine Aufgabe darin, eine Regierung von Bolks-
beauftragten zu schaffen, die die Leitung und Verwaltung des
neuen republikanischen Staatswesens in Deutschland und Preußen
zu übernehmen hatte. Der Vollzugsrat der Groß-Berliner Arbeiler
und Soldatenräte maßt sich aber
keine Diktaturgewalt über bie Arbeiter- und Soldatcnräte
Deutschlands an. Er ist vielmehr der Meinung, daß nur durch eine
feste Zusammenfassung aller deutschen Arbeiter- und
Soldalenräte die Errungenschaften der Revolution gesichert werden
können. Mißtrauen und Mißverständnisse drohen in das Gefüge der
deutschen Arbeiter- und Soldatenräte einen Keil zu treiben. Be
strebungen sind im Gange, das Reichsgebiet zu zerschlagen und
die unheilvolle mittelalterliche Kleinstaaterei in neuer Form
wieder einzuführen. Die Verwirklichung der großen demokratischen
und sozialistischen Ziele verlangt aber die Erhaltung eines großen
deutschen Wirtschafts- und Sprachgebietes. Der Vollzugsrat der
Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte will keine feindselige
Trennung zwischen Nord und Süd. Er will, daß das befreite
Deutschland der Schwierigkeiten, die mit dem Friedensschlüsse ver
bunden sind, Herr werde; er will, daß die Demobilisierung sich
in geordneten Bahnen vollzieht, daß die Gefahren, die der Volks
ernährung drohen, glatt und ohne Reibung beseitigt werden.
Diese Aufgaben können nur erfüllt werden durch ein harmonisches
Zusammenarbeiten aller Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands.
Die bisherige Tätigkeit des Bollzugsrates von Groß-Berlin stellt ein
Provisorium dar, das so schnell als möglich auf eine breitere
Grundlage gestellt werden soll. Solange eine gesetzgebende Versamm
lung nicht das letzte Wort über die Verfassung und Neuordnung des
republikanischen Deutschland gesprochen hat, müssen die Arbeiter- und
Soldatcnräte den Willen des deutschen Volkes zum Ausdruck bringen.
Wir fordern Euch deshalb auf, so schnell als möglich zu einer
Delegierten-Versammlung in Berlin
zusammenzutreten. Schnelles Handeln tut not. Es ist daher nicht
möglich, ein einheitliches, allgemein gültiges Wahlsystem vorzuschlagen.
Wir empfehlen vielmehr, aus den zurzeit bestehenden Arbeiter und Sol
datenräten Delegierte zu wählen und nach Berlin zu senden. Die Dele
gierten-Versammlung darf, wenn sie arbeitsfähig sein soll, im Höchstfall
nur 500 Mitglieder umfassen., Unter Zugrundelegung der Bolks-
zählnngsergebnisse vom Jahre 1910 würde auf rund 200000 Seelen
ein Delegierter kommen. Für die noch bestehenden großen Heeres
verbände ist auf je 100000 Mann ein Delegierter zu wählen. Die Wahlen
müßten, um zu einem schnellen Ergebnis zu kommen, auf territorialer
Grundlage erfolgen. Wir empfehlen, bei den Wahlen die Berhältniszahlen
der in dem Bezirk vertretenen Arbeiter und Soldaten zu berücksichtigen.
Wir schlagen Euch vor, die Delegierten-Versammlung
spätestens am Montag, den 16. Dezember d. Js.
im Sitzungssaal des Preußischen Abgeordnetenhauses zu Berlin zu
sammentreten zu lassen. Ihre Aufgabe würde sein, die Wahl
eines provisorischen Zcntralrates der Arbeiter- nnd Svl-
datenräte Deutschlands vorzunehmen; die Ausarbeitung eines für
alle deutschen Arbeiter- und Soldatenräte maßgebenden Wahlsystems zu
übernehmen; Entschließung über die künftige gesetzgebende Versammlung
zu fassen und zu sonstigen politischen Fragen Stellung zu nehmen.
Genossen! Kameraden! Laßt uns schnell, laßt uns einmütig handeln.
Nehmt nnsern Vorschlag an und führt so schnell als möglich die
Wahlen durch. Ihr habt die Revolution gemacht, laßt uns auch
gemeinsam ihre Früchte ernten. Die genaue Aufstellung des
Wahlschlüssels wird schnellstens veröffentlicht werden.
Berlin, den 23. November.
Der Vollzngsrat des Arbeiter- und Soldatenrats Groß-Berlin.
Richard Müller. Molkenbuhr.
Für die Ostfront:
Bergmann. Georg Maier. Saar.
Linlaäung zur Delegierten-Versammlung äer Arbeiter- unä
Soläatenräte November 1918
die politische Macht überlassen mußte, da siegte
innerhalb dieser Parteien abermals die opportu
nistische Richtung, die sich zur Demokratie bekannte,
und deren politische Ausdrucksform, die National
versammlung, forderte, während nur ein kleiner
Teil sich scharf gegen die Demokratie wandte und
das Rätesystem als Mittel zur Überwindung des
kapitalistischen Klassenstaates und zur Verwirk
lichung des Sozialismus für notwendig hielt.
Abermals zeigte sich die Wahrheit der Engels-
schen Worte: die Sozialdemokratie hatte wohl den
proletarischen Klassenkampf geführt, aber immer
nur allgemeine Fragen dabei in den Vordergrund
gestellt, während die großen Fragen, die sich bei
einer politischen Krise von selbst aus die Tages
ordnung stellen, niemals erörtert worden waren.
Und diese große Frage stand im November 1918
plötzlich vor der Sozialdemokratie. Sie wurde
nicht entschieden wie es Karl Marx und Frie
drich Engels gefordert haben; die Mehrheit
der Sozialdemokratie entschied sich für die formale
Demokratie und damit für ein bürgerliches Ideal.
Allgemein ist der Begriff der Demokratie der
Begriff der politischen Gleichberechtigung. Damit
wird sie zum Höhepunkt der politischen Ideologie
des Bürgertums und der Intellektuellen, die ihr
politisches Ideal der Freiheit und Gleichheit ver
wirklicht sehen. Die Demokratie bedeutet für diese
Schichten die Vollendung der gesellschaftlichen
Solidarität, die sich aus der politischen Gleich
berechtigung ergeben soll. Diese Ideologie erfaßt
nicht nur das Bürgertum, sondern auch große
Massen des Proletariats unter Führung der alten
Sozialdemokratie.
Die Demokratie, die politische Gleichberechtigung
bringt der Menschheit nicht die Freiheit und Gleich
heit. Als vor mehr als 130 Jahren die Ideale der
großen französischen Revolution, die demokratischen
Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die
ganze Menschheit mit neuen Hoffnungen erfüll
ten, mochten sie ihre historische Berechtigung ge
habt haben. Die Menschheit wurde befreit von
den Fesseln des Feudalismus, aber sie mußte auf
sich nehmen die weit schwereren des Kapitalismus.
In den demokratischen Staatsgebilden sahen wir
jahrhundertelang die Schreckensbilder der Not der
breiten Massen, sahen wir die furchtbarsten Klassen
kämpfe; unter der kapitalistischen Wirtschaft bleibt
die politische Gleichberechtigung ein leerer Wahn.
Kann man von Freiheit reden, wenn der Arbeiter
seine Arbeitskraft dem Unternehmer verkaufen
muß, wenn der Besitzende den Besitzlosen aus
beutet? Erweist sich die Idee der Demokratie
nicht als ein Betrug, wenn die Gleichheit vor dem
Gesetz bestenfalls zur Freiheit der Beherrschung
und der Ausbeutung der werktätigen Bevölke
rung durch den Kapitalismus wird? Wird nicht
die Freiheit im kapitalistischen Staatswesen zur
Freiheit des Verhungerns, und die Brüderlich
keit zur Heuchelei, zur schmachvollen Wohltätig
keitsprotzerei? Treffend hat Karl Marx die
kapitalistische Demokratie gegeißelt, als er in seiner
Analyse der Erfahrungen der Kommune sagte:
Der geknechteten Klasse wird in einigen Jahren
einmal gestattet, darüber zu entscheiden, welche