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Sozialisierung
das unentrinnbare Verhängnis, dem sich die Masse gar
nicht entziehen konnte. Mit der Selbstorganisation der
kapitalistischen Produktion, mit der Abschwächung der
Krisen zu Depressionen, weiter mit der Entwicklung der
sozialistischen Ideensysteme und der sozialpolitischen
Einrichtungen wurde immer mehr die Ausfassung vor
herrschend, dah es nicht Naturgesetze seien, welche das
Wirtschaftsleben regeln, sondern daß die Ökonomie
als menschliche und gesellschaftliche Einrichtung auch
geändert werden könne, ja, datz sich im Schohe der
bürgerlichen Volkswirtschaft bereits die Formen einer
neuen, moralischen Ansprüchen weit mehr genügenden
Ordnung vorbereiten. Hatten einmal solche Gedanken
gänge Wurzel gefaßt, so muhte in jeder gesellschaftlichen
Krise auch die Form der Wirtschaft fragwürdig werden,
und so brachte die tiefgehende Erschütterung des Krieges,
das soziale Chaos, welches er heraufführte, in allen
Menschen zunächst die Bereitschaft für eine neue bessere
Ordnung. Für die Arbeiterschaft kam hinzu, daß der
plötzliche Zusammenbruch der Armee auch eine kata
strophale Erschütterung des Anternehmekansehens zur
Folge hatte. So drängte iin Bewußtsein der Arbeiter
alles daraus, die privatkapitalistische Wirtschaftsform zu
überwinden. Überall hörten wir die Parole, daß die
Arbeiter nicht mehr für den Profit privater Kapitalisten
tätig sein wollten. Dieser psychologische Widerstand
darf nicht gering eingeschätzt werden. Er wirkte besonders
stark überall dort, wo vor dem Krieg und während des
selben den Arbeitern eine gut organisierte starke ünter-
nehmermacht gegenüberstand, wo die Industrie, straff
organisiert, für persönliche Unternehmerleistung wenig
Raum bietet und daher Pläne zur Verstaatlichung oder
zur gemeinwirtschaftlichen Organisation schon oft erörtert
worden waren.
Auch all diese Strömungen nimmt der Gilden
sozialismus in sich auf: er will dem moralischen Bewußt
sein sowohl genügen, also auch die Ergiebigkeit der Güter
erzeugung steigern. Aber er wendet sich ebensosehr gegen
die egoistischen Instinkte der Arbeiter. Ist doch vielen
unter diesen die Sozialisierung nur ein Ziel, weil sie ihr
Einkommen steigert. Nicht neue Pflichten, Verantwor
tung und Zwang zur höheren Leistung, sondern nur
größere Genüsse, leichteres Leben und eine sorglosere
Existenz erwarten sie von ihr. Der Gildensozialismus be
tont die Pflicht zur Arbeit, er will die Wirtschaftsform
nicht nur ändern im Interesse der in den Betrieben
Tätigen, sondern auch und vor allem im Interesse der
Allgemeinheit. Dies glaubt er erreichen zu können durch
die Verknüpfung der Allgemeinheit mit der Produktion.
Die Produktion soll in den einzelnen Wirtschaftszweigen,
z. B. im Bergbau, weder nach dem Diktat und zu Nutzen
der wenigen heutigen Besitzer betrieben werden, die viel
fach gar nicht in der Produktion tätig sind, noch im Inter
esse der Arbeiter allein. Sowohl die Unternehmer
wie die Arbeiter der wichtigsten Wirtschaftszweige be
sitzen ja ein Monopol, wenn sie geeint vorgehen, sie
können die Existenz der Gesellschaft in Frage stellen.
So wie/heute die Bergarbeiter die restlose Beherrschung
der Bergwerke und damit die unbegrenzte Möglichkeit
der Ausbeutung des ganzen Volkes zu ihren Gunsten
fordern könnten, wäre morgen die Möglichkeit gegeben,
daß die Transportarbeiter, die Postangestellten, die
Eisenbahner, die Bäcker, die Arbeiter der chemischen
Industrie, die landwirtschaftlichen Arbeiter usw. den
selben Anspruch für ihre Betriebe erhöben. Die Volks
wirtschaft würde in eine große Anzahl monopolistisch
organisierter Wirtschaftszweige zerfallen, der eine würde
den andern in den wirtschaftlichen Forderungen über
bieten, und es ist schwer abzusehen, wie überhaupt dieser
Widerstreit der Interessen geschlicküet werden sollte.
Wenn man die Produktion weder den Unternehmern
noch den Arbeitern überlassen will, wenn man die Füh
rung durch den Staat aus den oben erwähnten Gründen
einmütig ablehnt, — gibt es dann noch eine befriedigende
Lösung? Für diese Frage wußte man lange keine Ant
wort, und daraus erklärt es sich, daß bis in die letzte Zeit
hinein die Erörterung über die Form der Sozialisierung
so unfruchtbar geblieben war.
Der Gildensozialismus, dessen Grundsätze (wie schon
erwähnt) voneinander unabhängig gefunden wurden
und vertreten werden, schafft für jeden Wirtschaftszweig
einen besonderen Wirtschaftskörper und setzt diesen zu
sammen aus den Vertretern der einzelnen gesellschaft
lichen Schichten und Mächte, welche gerade an dem rich
tigen Arbeiten dieses Wirtschaftszweiges das maßgebende,
überwiegende Interesse haben. Er bildet also z. B. für
den Kohlenbergbau eine Verwaltungskörpcrschaft, be
stehend aus Vertretern aller Betriebsleitungen und der
Arbeiter- und Angestelltenschaft. Würde dieser Ver
waltungskörper nur von Delegierten dieser Gruppen ge
bildet werden, so hätten wir ein staatlich aufgebautes Mo
nopol vor uns, das die größte Gefahr für die Gesamtheit
bilden könnte. Darum treten in diese Verwaltungskörper
Delegierte der Verbraucher einstdas sind Stadtgemeinden,
Industrie und Landwirtschaft), sowie endlich Vertreter
der Allgemeinheit, entsendet vom Reichstag und der
Reichsregierung. Dieser Aufbau (der von der Mehrheit
der deutschen Sozialisierungskommission vorgeschlagen
wurde) z w i n g t die in dem Wirtschaftskörper vereinig
ten Interessen von vornherein zu einem Ausgleich. Eine
Vergewaltigung. ist nach dieser Zusammensetzung nicht
möglich.
Damit dieser Aufbau funktioniert, sind jedoch zwei
Voraussetzungen notwendig: erstens darf der Wirtschafts
körper nicht durch Interessen des Besitzes behindert sein,
und zweitens muß trotz der Vielheit im Verwaltungs
körper, trotz der widerstreitenden Interessen, welche in
ihm vertreten sind, ein leitender Wille, Initiative, Verant
wortungsfreudigkeit in der Leitung des Wirtschaftskör
pers gegeben sein.
Infolgedessen ist die E n t e i g n u n g der bisherigen
Besitzer (Entschädigung wird von den meisten Vertretern
dieses Gildensozialismus als zweckmäßig erachtet) not
wendig. Nur dadurch bekommt der Wirtschaftskörper die
freie Verfügung über die Produktionsmittel. Hingegen
würde ein unerträglicher Schwebezustand geschaffen, mit
fortgesetzter Möglichkeit zu Konflikten, wenn man die bis
herigen Eigentumsverhältnisse fortbestehen liehe und den
Verwaltungskörper, in ähnlicher Weise zusammengesetzt
wie oben angedeutet, danebenstellen würde. (Dies ist
im Wesen der Inhalt der Vorschläge, welche Walter
Rathenau machte, die vom Reichswirtschaftsministerium
in seinen Sozialisierungsplänen aufgenommen wurden.)
Eine solche Verkoppelung von Privat-, d. h. also Profit
wirtschaft und Gemeinwirtschaft würde fortgesetzt zu Kon
flikten führen. In diesen wäre der Unternehmer bzw.
Besitzer der Produktionsmittel der stärkere Teil; denn
man könnte unmöglich gegen seinen Willen verfahren
(wenn es sich z. B. um Rationalisierung des Betriebes,
Einführung neuer Maschinen usw. handelt), da er ja doch