Die sozialistische Internationale
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verschiedensten Diensten zur Verfügung gestellt, sie haben
durch ihre Presse und ihre Sendboten die N e u t r a l e n
für die Negierungspolitik ihrer Länder zu gewinnen ver-
sucht, sie haben den Regierungen s o z i a l i st i s ch e
M i n i st e r als Geiseln zur Wahrung des Burgfriedens
ausgeliefert und damit haben sie vor der Ar
beiterklasse, vor ihrer Gegenwart und
ihrer Zukunft, die Verantwortung für
diesen Krieg, für seine Ziele und seine
Methoden übernommen. Und wie die ein
zelnen Parteien, so versagte die berufenste Vertretung
der Sozialisten aller Länder: das internationale
s o z i a l i st i s ch e Bureau.
Diese Tatsachen haben es mitverschuldet, daß die inter
nationale Arbeiterklasse, die der nationalen Panik der
ersten Kriegsperiode nicht anheimfiel oder sich davon
befreite, noch bis jetzt, im zweiten Jahre des Völker-
mordens, keine Mittel und Wege fand, um den tat
kräftigen Kampf für den Frieden gleichzeitig in allen
Ländern aufzunehmen.
In dieser unerträglichen Lage haben
wir, die Vertreter der sozial! st ischen
Parteien, Gewerkschaften und ihrer
Minderheiten, wir Deutschen, Fran
zosen, Italiener, Russen, Polen, Let
ten, Rumänen, Bulgaren, Schweden,
Norweger, Holländer und Schweizer,
wir, dienichtari fdemBodender natio
nalen Solidarität mit der Ausbeuter
klasse, sondern auf dem Boden der in
ternationalen Solidarität des Prole
tariatsund desKlassenka m pfesstehen,
uns zusammengefunden, um die zer
rissenen Fäden der internationalenBe-
ziehungen neu zu knüpfen und die Ar
beiterklasse zur Selb st besinn ring und
zum Kampfe für den Frieden auszu -
rufen.
Dieser Kampf ist der K a m p f f ü r d i e F r e i h e i t,
für die Völkerverbrüderung, für den So
zialismus. Es gilt, dieses Ringen um den Frieden
aufzunehmen, für einen Frieden ohne Annexionen und
Kriegsentschädigungen. EinsolcherFriedeaber
ist nur möglich unter Verurteilung jedes
GedankensaneineVergewaltigungder
Rechte und Freiheiten der Völker. Weder
die Besetzung von ganzen Ländern noch von einzelnen
Landesteilen darf zu ihrer gewaltsamen Einverleibung
führen. Keine Annexion, weder eine offene
noch maskierte, auch keinezwangsweisewirt-
schaftlicheAngliederung,die durch politische
Entrechtung nur noch unerträglicher gemacht wird. Das
Selbstbestimmungsr e-ch tderVölkermuß
unerschütterlicherGrundfatzinderOrd-
nungdernationalenVerhält nissesein.
Proletarier!
Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft,
euren Mut, eure Ausdauer in den Dienst der herrschenden
Klassen gestellt. Nun gilt es, fürdieeigeneSache,
für die heiligen Ziele des Sozialismus, für die
Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten
Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen prole
tarischen Klassenkampf.
Aufgabe und Pflicht der S o z i a l i st e n der
kriegführenden Länder ist es, diesen Kampf
Befreiung öer Menschheit III
mit voller Wucht aufzunehmen, Aufgabe und Pflicht der
Sozial! st en der neutralen Staaten, ihre
Brüder in diesem Ringen gegen die blutige Barbarei
mit allen wirksamen Mitteln zu unterstützen.
Niemals in der Weltgeschichte gab es eine dringendere,
eine höhere, eine erhabenere Aufgabe, deren Erfüllung
unser gemeinsames Werk sein soll. Kein Opfer zu groß,
keine Last zu schwer, um dieses Ziel: den Frieden
unter den Völkern zu erreichen.
Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter!
Witwen und Waisen ! Verwundete und Verkrüppelte!
Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg
leidet, rufen wir zu: über die Grenzen, über
diedampfendenSchlachtfelder,über die
zerstörten Städte und Dörfer hinweg:
Proletarier aller Länder vereinigt euch!"
* *
*
Die Minderheiten, deren Vertreter in Zimmerwald
zusammenkamen, repräsentierten nur einen kleinen Teil
der ehemals so mächtigen Internationale. Ihnen standen
keine großen Organisationen zur Verfügung, ihr Wirken
war in jeder Weise durch den Kriegszustand behindert.
Sie waren nicht nur gefesselt durch die Regierungen,
sondern noch mehr durch die nationalistische Haltung der
Mehrheiten der großen sozialistischen Parteien, die völlig
im Dienst der Kriegspolitik der Regierungen aufgingen.
Und dennoch hatte die Zimmerwalder Konferenz einen
durchschlagenden Erfolg. Sie bewirkte mit Leichtigkeit
eine Annäherung zwischen den Sozialisten der krieg
führenden Länder — bezeichnend war dafür die gemein
same Erklärung der deutschen und der französischen Dele
gierten in Zimmerwald, die von Ad. Hoffmann,
G. Ledebour, A. Merrheim und A. Bour-
d e r o n abgegeben wurde — und schuf den gemeinsamen
grundsätzlichen Boden, aus dem die sozialistischen Par
teien der einzelnen Le ider ihre Wirksamkeit entfalten
konnten. Sie rief endlich die Internationale Sozialistische
Kommission (mit dem Sitz in Bern) ins Leben, die an
Stelle des völlig lahmgelegten Internationalen So
zialistischen Bureaus in Funktion trat, um gleichsam als
Notbrücke zwischen den einzelnen Sektionen der Inter
nationale zu fungieren.
In den ersten Monaten nach der Zimmerwalder Kon
ferenz schloß sich eine Reihe namhafter Organisationen
ihren Beschlüssen an: so die Unabhängige Arbeiterpartei
Englands (I. L. P.), die British Socialist Party, die
sozialistischen Parteien Amerikas u. a. In den krieg
führenden Ländern bewirkten die Zimmerwalder Pa
rolen, trotz der ungeheuer erschwerten Parteiagitation,
eine außerordentliche Belebung der oppositionellen
Strömungen in der Arbeiterschaft. Ende April ISIS
kamen die Vertreter der Zimmerwalder Parteien in
K i e n t a l zu einer zweiten Konferenz zusammen, die
folgende Richtlinien über die Stellung des Prole
tariats zu den Friedensfragen annahm:
„l. Die moderne Entwicklung der bürgerlichen Eigen
tumsverhältnisse erzeugte die imperialistischen Gegensätze.
Ihr Ergebnis ist der gegenwärtige Weltkrieg, für dessen
Interessen die ungelösten nationalen Fragen, die dy
nastischen Bestrebungen und alle historischen Überbleibsel
des Feudalismus ausgenützt werden. Das Ziel dieses
Krieges ist die Neueinteilung des bisherigen Kolonial
besitzes, die Unterwerfung wirtschaftlich rückständiger
Länder unter die Herrschaft des Finanzkapitals.
2. Der Krieg hebt weder die kapitalistische Wirtschaft noch
ig