Die sozialistische Internationale
127
der Delegierten entrollten ein anschauliches Bild der ge
drückten Lage des Proletariats in den verschiedenen Län
dern. Der immer stärker werdenden Macht des Kapitals,
dem die staatlichen Gewalten untertan waren, stand eine
ausgebeutete, verelendende Masse des Proletariats ge
genüber, die nur zu einem kleinen Teil in die politische
und gewerkschaftliche Bewegung hineingezogen war.
Wohl konnten die Delegierten von großen Erfolgen in
einzelnen Ländern berichten, wohl zeigte sich auch, daß
überall, in der Alten und Neuen Welt, in Amerika ebenso
wie in Rußland oder in den Balkanländern, eine mächtige
Gärung vorhanden war und gewaltige soziale Konflikte
heranreiften. Aber gleichzeitig klang aus fast allen Be
richten der Wunsch heraus, daß ein Mittel gefunden
werde, um die noch gleichgültigen
Massen aufzurütteln und in Be
wegung zu sehen. Als ein solcher
Hebel wurde der K a m p f um
d i e Aufbesserung der
Lebenslage der Ar
beiterschaft erklärt. „Das
Ziel, auf dessen Erreichung es
vor allem ankommt" — rief Dr.
Viktor Adler, der Führer
der österreichischen Delegation
aus — „heißt: Hebung des phy
sischen, intellektuellen und mo
ralischen Zustandes des Proleta
riats ... In der letzten Stunde,
wenn nun die kapitalistische Ge
sellschaftsordnung zusammen
bricht — und sie wird ganz von
selbst zusammenbrechen, ohne daß,
sozusagen, man dabei nachzu
helfen brauchte —, dann wird
das Schicksal des Proletariats
sich entscheiden nach dem Grade
geistiger Entwicklung, den es er
reicht haben wird. Wir besitzen
weniger Einfluß auf das Ein
treten dieses Moments, als wir
selbst anzunehmen pflegen. Aber
eins liegt in unserer Macht: uns
für diesen Augenblick vorzube
reiten. Von dieser Vorbereitung
hängt die Zukunft ab. Wird sie
Sklaven finden, welche ihre Ket
ten brechen, oder Massen, welche entschlossen sind, frei
zu werden? Bereit sein — das ist alles. Das ist der
Grund, weshalb wir überall eine Arbeiterschutz
gesetzgebung verlangen, welche unerläßlich ist für
eine gute soziale Hygiene."
Neben der Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung wurde
auf dem Kongreß die Frage des Achtstundentages
in den Vordergrund gerückt. K e i r H a r d i e , der Ver
treter von 56 000 organisierten schottischen Bergleuten,
verlangte internationale Verständigung der Arbeiter zum
Kampf gegen Lohndruck und Arbeitslosigkeit, zum Kampf
für einen Normalarbeitstag von acht Stunden. „Wir
Engländer"—rief er aus — „sind eine nordische, praktische
und kaltblütige Nation! Wir erwarten den Fortschritt
von etwas Greifbarerem und Vernünftigerem als bloße
Worte es sind oder eine blutige Revolution, die, wenn sic
morgen beginnen würde, kaum etwas Gutes herbei
führen könnte. Die Vorlegung eines Gesetzes zu
gunsten des Achtstundentages würde mehr
als alle Revolutionen bewirken, d. h., sie würde selbst eine
solche sein, und zwar die allerwirksamste."
Die Worte Adlers und Keir Hardies geben die Stim
mung der großen Mehrheit des Pariser Kongresses
wieder. Aus dieser Stimmung heraus konzentrierten
sich die Debatten mehr und mehr aus die Frage der
internationalen Arbeitergesetzgebung. Die schließlich an
genommene Resolution bildete den Ausgangspunkt des
internationalen Kampfes um den Arbeiterschutz, der von
den politischen Parteien und den Gewerkschaften der
einzelnen Länder aufgenommen wurde. Diese Reso
lution, die aus einer Verschmelzung der Anträge Bebel
und G u e s d e entstanden und in einzelnen Punkten
von Morris, Keir Hardie,
S ch e r r e r u. a. modifiziert
worden war, lautete:
„Der Internationale Arbeiter-
Kongreß von Paris:
In der Überzeugung, daß die
Emanzipation der Arbeit und der
Menschheit nur ausgehen kann
von dem als Klasse und inter
national organisierten Proleta
riat, welches sich die politische
Macht erringt, um die Expro
priation des Kapitalismus und
die gesellschaftliche Besitzergrei
fung der Produktionsmittel ins
Werk zu setzen:
In Erwägung:
daß die kapitalistische Produk
tionsweise in ihrer rapiden Ent
wicklung nach und nach alle
Länder mit moderner Kultur
umfaßt;
daß die Entwicklung der kapi
talistischen Produktionsweise die
steigende Ausbeutung der Ar
beiter bedeutet;
daß die immer intensiver wer
dende Ausbeutung die politische
Unterdrückung, ökonomische Un
terjochung und physische wie
moralische Degeneration der Ar
beiterklasse verursacht;
daß es infolgedessen die Pflicht
der Arbeiter aller Länder ist, mit allen ihnen zu Gebote
stehenden Mitteln eine soziale Organisation zu be
kämpfen, welche sie unterdrückt und überhaupt jede freie
Entwicklung der Menschheit bedroht; daß es sich jedoch
vor allen Dingen darum handelt, den zerstörenden Wir
kungen der gegenwärtigen ökonomischen Ordnung tätigen
Widerstand entgegenzusetzen,
beschließt der Kongreß:
Eine wirksame Arbeiterschuhgesctzgebung ist in allen
Ländern, welche von der kapitalistischen Produktions
weise beherrscht werden, absolut notwendig.
Als Grundlage für diese Gesetzgebung fordert der
Kongreß:
a) Festsetzung eines höchstens acht Stunden betra
genden Arbeitstages für jugendliche Arbeiter;
b) Verbot der Arbeit der Kinder unter 14 Jahren und
Herabsetzung des Arbeitstages auf sechs Stunden für
beide Geschlechter;
Blumen für äes Arbeiters Maitag
Nach einer Zeichnung von Walker Lrane