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Der Gewerkschafts- und Genoffenschaftsgedanke
listen im Jahre 1839 faßte Beschlüsse zu einer systema
tischen Vorbereitung des Generalstreiks.
Im Jahre 1842 erreicht dann die Chartistenbewegtmg
ihren Höhenpunkt. Im August 1842 breitet sich der poli
tische Massenstreik über die nördliche Hälfte Englands aus.
Abermals vermeint die englische Arbeiterschaft vor dem
jähen Zusammenbruch des Kapitalismus zu stehen.
„Die Krise, glaubten die Arbeiter, habe einen Höhe
punkt erreicht, der die erlösende Katastrophe bringen müßte.
Je schlimmer der Geschäftsgang, desto größer die Freude
bei den Arbeitern. Die
Arbeiter riesen: Das
beschleunigt die Krise."
Diese Vorstellung von
dem nahen Ende des
Kapitalismus und die
grauenhafte Verelen
dung des englischen In
dustrieproletariats brach
ten wieder die Massen
streikidee, die schon der
Revolutionär Benbow
im Jahre 1831 mit lei
denschaftlicher Bered
samkeit verfochten hatte,
in Fluß, lind in der zwei
ten Augustwoche 1842
schien Benbows Traum
in Erfüllung zu gehen:
„Die Dampfkessel er
kalteten, die Kraftstühle
ruhten, die Hochöfen er
loschen, die Bergwerke
lagen verlassen da, die
Fabrikglocken verstumm
ten: alle Räder standen
still."
Rach blutigen Zu
sammenstößen, nach rück
sichtslosen Massenver
haftungen, unter den:
Druck des Elends kehr
ten die Arbeiter aber
wieder in die Fabriken
zurück — und „der ganze
moralische Vorteil des
Streiks fiel der Anti-
Corn - Law - Liga zu".
Durchweg läßt sich durch die Geschichte der politischen
Massenstreikbewegung der Nachweis erbringen, daß die
Massenstreikidee innig mit dem Gedanken
der nahen katastrophalen Auflösung des
Kapitalismus verknüpft ist. Die Selbstzersetzung
des Kapitalismus ist nach revolutionärer Auffassung derart
fortgeschritten, daß eine politische Massenstreikbewegung
den vollständigen Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft
und die Diktatur des Proletariats herbeiführt. Nach der
Auffassung Bakunins trägt die kapitalistische Gesellschaft
bereits den Todeskeim in sich, und sie ist daher durch die
kühne Initiative revolutionärer Gruppen durch einen
Generalstreik über den Haufen zu werfen. In der Be
wegung der sozialdemokratischen „Jungen" in den Krisen
jahren 1892 und 1893 stützt sich die G e n e r a l st r e i k -
i d e e ebenfalls auf die Theorie der bevor st ehenden
gewaltsamen Zersprengung des Kapi
talismus durch die sich ständig zuspitzenden, seinem
Wesen immanenten wirtschaftlichen und sozialen Gegen
sätze. Die Arbeiter haben nach jungsozialistischer Ansicht
nur noch sozialrevolutionäre Verbände zu bilden und durch
Massenbewegungen und Massenstreiks den Kapitalismus
aus den Fugen zu treiben. Der Syndikalismus der „Jun
gen" nimmt dann später in dem Kopfe Dr. Friedebergs
eine nicht wesentlich modifizierte Gestalt an. Im Zentrum
der Friedebergschen Taktik steht ebenfalls der Generalstreik.
Mit der russischen Revolution, unter den
großen Erschütterungen
der russischen Staats
gewalt durch politische
und ökonomische Mas
senbewegungen, greift
wieder die Vorstellung
um sich: der an sich durch
innere Gegensätze zer
riebene Kapitalismus
sei durch revolutionäre
Massenstreiks gewalt
sam auseinanderzu
sprengen. And nun setzt
Rosa Luxemburg
die russische Revolution
von 1906 der allge
meinen proletarischen
gleich und verkündet die
Theorie:
„Das zurückgeblie
benste Land (Rußland)
weist, gerade weil es
sich mit seiner bürger
lichen Revolution so un
verzeihlich verspätet hat, *
Wege und Methoden
des weiteren Klassen-
kampfes dem Prole
tariat Deutschlands und
der vorgeschrittensten
kapitalistischen Länder."
Gerade bei der Re
volutionärin Luxem
burg vereinigt sich die
Idee des revolutionä
ren Massenstreiks orga
nisch mit Marxischen
Anschauungen über den
katastrophalen Zusammenbruch des Kapitalismus. Rach
ihr hat der gewerkschaftliche und politische Kampf nur
die Bedeutung, das Bewußtsein, die Erkenntnis der Ar
beiterklasse zu sozialisieren:
„Indem man sie als Mittel der unmittelbaren Soziali
sierung auffaßt, versagen sie nicht nur diese ihnen ange
dichtete Wirkung, sondern büßen zugleich auch die andere
einzig mögliche soziale Bedeutung ein: sie hören aus,
Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischen
Revolution zu sein."
Die „Wege" und die „Methoden" der gesellschaftlichen
Amwälzung hat uns nach Rosa Luxentburg die russische
Revolution von 1905 aufgeschlossen. Die ganze ungewollte
und ungeregelte Aufeinanderfolge von partiellen Streiks,
Demonstrationsstreiks, Generalstreiks, Barrikadenkämpfen
der meist unorganisierten Arbeiter Rußlands sind für Rosa
Luxemburg die Bewegungsweise der prole-
Vrot unä Freiheit
Titelzeichnung von H. Frauenfeläer für äas anarchistische Wochenblatt
„Revolutionär" 1. Mai 1909